Vorwart zur ersten Auflage [1901]
Was ich in dieser
Schrift darstelle, bildete vorher den Inhalt von
Vorträgen, die ich im verflossenen Winter in der
theosophischen Bibliothek zu Berlin gehalten habe. Ich
wurde von Gräfin und Grafen Brockdorff
aufgefordert, über die Mystik vor einer
Zuhörerschaft zu sprechen, der die Dinge eine
wichtige Lebensfrage sind, um die es sich dabei handelt.
- Vor zehn Jahren hätte ich es noch nicht wagen
dürfen, einen solchen Wunsch zu erfüllen. Nicht
als ob damals die Ideenwelt, die ich heute zum Ausdruck
bringe, noch nicht in mir gelebt hätte. Diese
Ideenwelt ist schon ganz in meiner «Philosophie der
Freiheit» enthalten. Um aber diese Ideenwelt so
auszusprechen, wie ich es heute tue, und sie so zur
Grundlage einer Betrachtung zu machen, wie es in dieser
Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas ganz
anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest
überzeugt sein. Dazu gehört ein intimer Umgang
mit dieser Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens
bringen können. Erst jetzt, nachdem ich diesen
Umgang genossen habe, wage ich, so zu sprechen, wie man
es in dieser Schrift wahrnehmen wird.
Wer nicht unbefangen auf meine
Ideenwelt eingeht, entdeckt in ihr Widerspruch über
Widerspruch. Ich habe erst kürzlich ein Buch
über die Weltanschauungen des neunzehnten
Jahrhunderts (Berlin 1900) dem großen Naturforscher
Ernst Haeckel gewidmet, und es in eine
Rechtfertigung seiner Gedankenwelt ausklingen lassen. Ich
spreche in den folgenden Ausführungen voll
zustimmender Hingebung über die Mystiker vom
Meister Eckhart bis Angelus Silesius.
Von anderen «Widersprüchen», die mir der
oder jener noch vorzählt, will ich gar nicht
sprechen. - Ich bin nicht verwundert darüber, wenn
ich von der einen Seite als «Mystiker», von der
anderen als «Materialist» verurteilt werde. -
Wenn ich finde, daß der Jesuitenpater Müller
eine schwierige chemische Aufgabe gelöst hat, und
ich ihm deshalb rückhaltlos in dieser Sache
zustimme, so darf man mich wohl nicht als Anhänger
des Jesuitismus verurteilen, ohne bei Einsichtigen als
Tor zu gelten.
Wer gleich mir seine eigenen Wege wandelt,
muß manches Mißverständnis über sich
ergehen lassen. Er kann das aber im Grunde leicht
ertragen. Sind ihm solche Mißverständnisse
Zumeist doch selbstverständlich, wenn er sich die
Geistesart seiner Beurteiler vergegenwärtigt. Ich
sehe nicht ohne humoristische Empfindungen auf manche
«kritische» Urteile zurück, die ich im
Laufe meiner Schriftstellerlaufbahn erfahren habe. Im
Anfange ging die Sache. Ich schrieb über Goethe und
in Anknüpfung an diesen. Was ich da sagte, klang
manchem so, daß er es in seine Denkschablonen
unterbringen konnte. Man tat das, indem man sagte: Es
«darf eine Arbeit wie Rudolf Steiners
Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften
Goethes geradezu als das beste bezeichnet werden, was in
dieser Frage überhaupt geschrieben worden ist».
Als ich später eine selbständige Schrift
veröffentlichte, war ich schon um ein gut Teil
dümmer geworden. Denn nun gab ein wohlmeinender
Kritiker den Rat: «Bevor er weiter fortfährt,
zu reformieren und seine ,Philosophie der Freiheit' in
die Welt setzt, ist ihm dringend anzuraten, sich erst zu
einem Verständnisse jener beiden Philosophen (Hume
und Kant) hindurchzuarbeiten.» Der Kritiker kennt
leider bloß, was er in Kant und Hume zu lesen
versteht; er rät mir also im Grunde nur, mir bei
diesen Denkern auch nichts weiter vorzustellen wie er:
Wenn ich das erreicht haben werde, wird er mit mir
zufrieden sein. - Als nun meine «Philosophie der
Freiheit» erschien, war ich einer Beurteilung wie
der unwissendste Anfänger bedürftig. Sie
ließ mir ein Herr zuteil werden, den wohl kaum etwas
anderes zum Bücherschreiben nötigt, als die
Tatsache, daß er unzählige fremde - nicht
verstanden hat. Er belehrt mich tiefsinnig, daß ich
meine Fehler bemerkt hätte, wenn ich «tiefere
psychologische, logische und erkenntnistheoretische
Studien gemacht hätte»; und er zählt mir
gleich die Bücher auf, die ich lesen soll, damit ich
so klug werde wie er: «Mill, Sigwart, Wundt, Riehl,
Paulsen, B. Erdmann». - Besonders ergötzlich
war mir der Rat eines Mannes, dem es so sehr imponiert,
wie er Kant «versteht», daß er sich gar
nicht denken kann, jemand habe Kant gelesen und
urteile doch anders als er. Er gibt mir dabei gleich die
betreffenden Kapitel in Kants Schriften an, aus denen ich
ein ebenso tiefgründiges Kantverständnis
schöpfen könne, wie er es hat.
Ich habe ein paar typische
Beurteilungen meiner Ideenwelt hieher gesetzt. Obwohl sie
an sich unbedeutend sind. scheinen sie mir doch geeignet
zu sein, als Symptome auf Tatsachen Zu weisen, die heute
als schwere Hindernisse sich dem in den Weg stellen, der
sich in den höherer Erkenntnisfragen
schriftstellerisch betätigt. Ich muß schor
meinen Weg gehen, gleichgültig, ob der eine mir der
guten Rat gibt, Kant zu lesen; oder ob der andere mich
verketzert, weil ich Haeckel zustimme. Und so habe ich
denn auch über die Mystik geschrieben,
gleichgültig dar über, was ein gläubiger
Materialist auch urteilen mag. ich möchte bloß
- damit nicht ganz unnötig Druckerschwärze
verschwendet werde - denjenigen, die mir vielleicht jetzt
raten, Haeckels «Welträtsel» zu lesen,
mitteilen, daß ich in den letzten Monaten etwa
dreißig Vorträge über dieses Buch gehalten
habe.
Ich hoffe in meiner Schrift gezeigt zu haben,
daß man ein treuer Bekenner der
naturwissenschaftlichen Weltanschauung sein und doch die
Wege nach der Seele aufsuchen kann, welche die
richtig verstandene Mystik führt. Ich gehe
sogar noch weiter und sage: Nur wer den Geist im Sinne
der wahren Mystik erkennt, kann ein volles
Verständnis der Tatsachen in der Natur gewinnen. Man
darf wahre Mystik nur nicht verwechseln mit dem
«Mystizismus» verworrener Köpfe. Wie die
Mystik irren kann, habe ich in meiner «Philosophie
der Freiheit» S. 139ff. gezeigt.
Berlin, September 1901 Rudolf Steiner
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