Einführung
Es gibt Zauberformeln,
die durch die Jahrhunderte der Geistesgeschichte hindurch
in immer neuer Art wirken. In Griechenland sah man eine
solche Formel als Wahrspruch Apollons an. Sie ist:
«Erkenne dich selbst.» Solche Sätze
scheinen ein unendliches Leben in sich zu bergen. Man
trifft auf sie, wenn man die verschiedensten Wege des
geistigen Lebens wandelt. Je weiter man fortschreitet, je
mehr man in die Erkenntnis der Dinge dringt, desto tiefer
erscheint der Sinn dieser Formeln. In manchen
Augenblicken unseres Sinnens und Denkens leuchten sie
blitzartig auf, unser ganzes inneres Leben erhellend. In
solchen Augenblicken lebt in uns etwas wie das
Gefühl auf, daß wir den Herzschlag der
Menschheitsentwicklung vernehmen. Wie nahe fühlen
wir uns doch Persönlichkeiten der Vergangenheit,
wenn uns bei einem ihrer Aussprüche die Empfindung
überkommt, sie offenbaren uns, daß sie solche
Augenblicke gehabt haben! Man fühlt sich dann in ein
intimes Verhältnis zu diesen Persönlichkeiten
gebracht. Man lernt z. B. Hegel intim kennen, wenn man im
dritten Bande seiner «Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie» auf die Worte
stößt: «Solches Zeug, sagt man, die
Abstraktionen, die wir betrachten, wenn wir so in unserem
Kabinett die Philosophen sich zanken und streiten lassen,
und es so oder so ausmachen, sind Wort-Abstraktionen. -
Nein! Nein! Es sind Taten des Weltgeistes, und darum des
Schicksals. Die Philosophen sind dabei dem Herrn
näher, als die sich nähren von den Brosamen des
Geistes; sie lesen oder schreiben die Kabinettsordres
gleich im Original: sie sind gehalten, diese
mitzuschreiben. Die Philosophen sind die Mysten, die beim
Ruck im innersten Heiligtum mit und dabei gewesen.»
Als Hegel dies gesprochen, hat er einen der oben
geschilderten Augenblicke erlebt. Er hat die Sätze
gesagt, als er in seinen Betrachtungen am Ende der
griechischen Philosophie angekommen war. Und er hat durch
sie gezeigt, daß ihm einmal blitzartig der Sinn der
neuplatonischen Weisheit, von der er an der Stelle
spricht, aufgeleuchtet hat. In dem Augenblicke dieses
Aufleuchtens war er mit Geistern wie Plotin, Proklus
intim geworden. Und wir werden mit ihm intim, indem wir
seine Worte lesen.
Und intim werden wir mit dem einsam sinnenden
Pfarrherrn in Zschopau, M. Valentinus Wigelius (Valentin
Weigel), wenn wir die Einleitungsworte seines 1578
geschriebenen Büchelchens «Erkenne dich
selbst» lesen. «Wir lesen bei den alten Weisen
dies nützliche Sprichwort ,Erkenne dich selbst',
welches, ob es schon recht von weltlichen Sitten
gebraucht wird, als: siehe dich selbst recht an, was du
seiest, forsche in deinem Busen, urteile über dich
selbst, und laß andere ungetadelt, ob es schon, sage
ich, auf das menschliche Leben, als von den Sitten
gebraucht worden ist, dennoch mögen wir solchen
Spruch ,Erkenne dich selbst' auch recht und wohl ziehen
auf die natürliche und übernatürliche
Erkenntnis des ganzen Menschen, also, daß sich der
Mensch nicht allein selber ansehe, und hiermit erinnere,
wie er sich in den Sitten vor den Leuten halten solle,
sondern daß er auch seine Natur erkenne, inwendig
und auswendig, im Geist und in der Natur; von wannen er
komme, und woraus er gemacht sei, wozu er geordnet
sei.» Valentin Weigel ist, von ihm eigenen
Gesichtspunkten aus, zu Erkenntnissen gelangt, die sich
ihm in den Wahrspruch Apollons zusammenfaßten.
Einer Reihe von tiefangelegten Geistern, die
mit dem Meister Eckhart (1250-1327) anhebt und
mit Angelus Silesius (1624-1677)
abschließt, und zu denen Valentin Weigel
gehört, kann ein ähnlicher Erkenntnisweg und
eine gleiche Stellung zu dem «Erkenne dich
selbst» zugeschrieben werden.
Gemeinsam ist diesen Geistern ein starkes
Gefühl dafür, daß in der Selbsterkenntnis
des Menschen eine Sonne aufgeht, die noch etwas ganz
anderes beleuchtet als die zufällige
Einzelpersönlichkeit des Betrachters. Was Spinoza in
der Ätherhöhe des reinen Gedankens zum
Bewußtsein gekommen ist, daß «die
menschliche Seele eine zureichende Erkenntnis von dem
ewigen und unendlichen Wesen Gottes» hat, das lebte
in ihnen als unmittelbare Empfindung; und die
Selbsterkenntnis war ihnen der Pfad, zu diesem ewigen und
unendlichen Wesen zu dringen. Ihnen war klar, daß
die Selbsterkenntnis in ihrer wahren Gestalt den Menschen
mit einem neuen Sinn bereichert, der ihm eine Welt
erschließt, die sich zu dem, was ohne diesen Sinn
erreichbar ist, verhält wie die Welt des
körperlich Sehenden zu der des Blinden. Man wird
nicht leicht eine bessere Darstellung von der Bedeutung
dieses neuen Sinnes erhalten, als sie J. G. Fichte in
seinen Berliner Vorlesungen, im Jahre 1813, gegeben hat.
«Denke man eine Welt von Blindgeborenen, denen darum
allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind,
die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter
diese, und redet ihnen von Farben und den andern
Verhältnissen, die nur durch das Licht für das
Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von
nichts, und dies ist das Glücklichere, wenn sie es
sagen; denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler
merken, und falls ihr ihnen nicht die Augen zu
öffnen vermögt, das vergebliche Reden
einstellen. - Oder sie wollen aus irgendeinem Grunde
eurer Lehre doch einen Verstand geben: so können sie
dieselbe nur verstehen von dem, was ihnen durch die
Betastung bekannt ist: sie werden das Licht und die
Farben, und die andern Verhältnisse der Sichtbarkeit
fühlen wollen, zu fühlen vermeinen, innerhalb
des Gefühles irgend etwas sich erkünsteln und
anlügen, was sie Farbe nennen. Dann
mißverstehen, verdrehen, mißdeuten sie.»
Ein ähnliches darf man von dem sagen, was die in
Rede stehenden Geister erstrebten. Einen neuen Sinn sahen
sie in der Selbsterkenntnis erschlossen. Und dieser Sinn
liefert, nach ihrer Empfindung, Anschauungen, die
für denjenigen nicht vorhanden sind, der in der
Selbsterkenntnis nicht sieht, was sie von allen anderen
Arten des Erkennens unterscheidet. Wem dieser Sinn sich
nicht geöffnet hat, der glaubt, Selbsterkenntnis
komme ähnlich zustande wie Erkenntnis durch
äußere Sinne, oder durch irgend welche andere
von außen her wirkende Mittel. Er meint:
«Erkenntnis sei Erkenntnis.» Das eine Mal nur
sei ihr Gegenstand etwas, was draußen in der Welt
liegt, das andere Mal sei dieser Gegenstand die eigene
Seele. Er hört nur Worte, im besten Falle abstrakte
Gedanken bei dem, was für tiefer Blickende die
Grundlage ihres Innenlebens ist; nämlich bei dem
Satze, daß wir bei aller anderen Art von Erkenntnis
den Gegenstand außer uns haben, bei der
Selbsterkenntnis innerhalb dieses Gegenstandes stehen,
daß wir jeden anderen Gegenstand als fertigen,
abgeschlossenen an uns herantreten sehen, in unserem
Selbst jedoch als Tätige, Schaffende das selbst
weben, was wir in uns beobachten. Dies kann als eine
bloße Worterklärung, vielleicht als
Trivialität erscheinen; es kann aber auch, recht
verstanden, als höheres Licht erscheinen, das jede
andere Erkenntnis neu beleuchtet. Wem es in der ersten
Weise erscheint, der ist in einer Lage wie ein Blinder,
dem man sagt: dort ist ein glänzender Gegenstand. Er
hört die Worte, der Glanz ist für ihn nicht da.
Man kann die Summe des Wissens einer Zeit in sich
vereinigen; empfindet man nicht die Tragweite der
Selbsterkenntnis, dann ist alles Wissen im höheren
Sinne ein blindes.
Die von uns unabhängige Welt lebt für
uns dadurch, daß sie sich unserem Geiste mitteilt.
Was uns da mitgeteilt wird, muß in der uns
eigentümlichen Sprache gefaßt sein. Ein Buch,
dessen Inhalt in einer uns fremden Sprache dargeboten
würde, wäre für uns bedeutungslos. Ebenso
wäre die Welt für uns bedeutungslos, wenn sie
nicht in unserer Sprache zu uns spräche. Dieselbe
Sprache, die von den Dingen zu uns dringt, vernehmen wir
aus uns selbst. Dann sind wir es aber auch, die sprechen.
Es handelt sich bloß darum, daß wir die
Verwandlung richtig belauschen, die eintritt, wenn wir
unsere Wahrnehmung den äußeren Dingen
verschließen und nur auf das hören, was dann
noch aus uns selbst tönt. Dazu gehört eben der
neue Sinn. Wird er nicht erweckt, so glauben wir in den
Mitteilungen über uns selbst auch nur solche
über ein uns äußeres Ding zu vernehmen;
wir meinen, irgendwo sei etwas verborgen, was zu uns in
derselben Weise spricht, wie die äußeren Dinge
sprechen. Haben wir den neuen Sinn, dann wissen wir,
daß seine Wahrnehmungen sich wesentlich von denen
unterscheiden, die sich auf äußere Dinge
beziehen. Dann wissen wir, daß dieser Sinn das nicht
außer sich läßt, was er wahrnimmt, wie das
Auge den gesehenen Gegenstand außer sich
läßt; sondern, daß er seinen Gegenstand
restlos in sich aufzunehmen vermag. Sehe ich ein Ding, so
bleibt das Ding außer mir; nehme ich mich wahr, so
ziehe ich selbst in meine Wahrnehmung ein. Wer außer
dem Wahrgenommenen noch etwas von seinem Selbst sucht,
der zeigt, daß ihm in der Wahrnehmung der
eigentliche Inhalt nicht aufleuchtet. Johannes
Tauler (1300 - 1361) hat diese Wahrheit mit den
treffenden Worten ausgesprochen: Wenn ich ein König
wäre, und wüßte es nicht, dann wäre
ich kein König. Wenn ich mir in meiner
Selbstwahrnehmung nicht aufleuchte, dann bin ich mir
nicht vorhanden. Leuchte ich mir auf, dann habe ich mich
aber auch in meiner Wahrnehmung in meiner ureigensten
Wesenheit. Es bleibt kein Rest von mir außer meiner
Wahrnehmung. J. G. Fichte deutet energisch mit folgenden
Worten auf den Unterschied der Selbstwahrnehmung von
jeder andern Art von Wahrnehmung: «Die meisten
Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich
für ein Stück Lava im Monde als für ein
Ich zu halten. Wer hierüber noch nicht
einig mit sich selbst ist, der versteht keine
gründliche Philosophie, und er bedarf keiner. Die
Natur, deren Maschine er ist, wird ihn schon ohne all
sein Zutun in allen Geschäften leiten, die er
auszuführen hat. Zum Philosophieren gehört
Selbständigkeit: und diese kann man sich nur selbst
geben. - Wir sollen nicht ohne Auge sehen wollen; aber
wir sollen auch nicht behaupten, daß das Auge
sehe.»
Die Wahrnehmung seiner selbst ist also zugleich
Erweckung seines Selbst. In unserer Erkenntnis
verbinden wir das Wesen der Dinge mit unserem eigenen
Wesen. Die Mitteilungen, die uns die Dinge in unserer
Sprache machen, werden zu Gliedern unseres eigenen
Selbst. Ein Ding, das mir gegenübersteht, ist nicht
mehr getrennt von mir, wenn ich es erkannt habe. Das, was
ich von ihm aufnehmen kann, gliedert sich meinem eigenen
Wesen ein. Erwecke ich nun mein eigenes Selbst, nehme ich
den Inhalt meines Innern wahr, dann erwecke ich auch zu
einem höheren Dasein, was ich von außen in mein
Wesen eingegliedert habe. Das Licht, das auf mich selbst
fällt bei meiner Erweckung, fällt auch auf das,
was ich von den Dingen der Welt mir angeeignet habe. Ein
Licht blitzt in mir auf und beleuchtet mich, und mit mir
alles, was ich von der Welt erkenne. Was immer ich
erkenne, es bliebe blindes Wissen, wenn nicht dieses
Licht darauf fiele. Ich könnte die ganze Welt
erkennend durchdringen: sie wäre nicht, was sie in
mir werden muß, wenn die Erkenntnis nicht in mir zu
einem höheren Dasein erweckt würde.
Was ich durch diese Erweckung zu den Dingen
hinzubringe, ist nicht eine neue Idee, ist nicht eine
inhaltliche Bereicherung meines Wissens; es ist ein
Hinaufheben des Wissens, der Erkenntnis, auf eine
höhere Stufe, auf der allen Dingen ein neuer Glanz
verliehen wird. So lange ich die Erkenntnis nicht zu
dieser Stufe erhebe, bleibt mir alles Wissen im
höheren Sinne wertlos. Die Dinge sind auch ohne mich
da. Sie haben ihr Sein in sich. Was soll es für eine
Bedeutung haben, daß ich mit ihrem Sein, das sie
draußen ohne mich haben, auch noch ein geistiges
Sein verknüpfe, das in mir die Dinge wiederholte?
Handelte es sich um eine bloße Wiederholung der
Dinge: es wäre sinnlos, diese zu vollführen. -
Aber es handelt sich nur so lange um eine bloße
Wiederholung, als ich nicht mit meinem eigenen Selbst den
in mich aufgenommenen geistigen Inhalt der Dinge zu einem
höheren Dasein erwecke. Geschieht dies, dann habe
ich das Wesen der Dinge in mir nicht wiederholt, sondern
ich habe es auf einer höheren Stufe wiedergeboren.
Mit der Erweckung meines Selbst vollzieht sich eine
geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt. Was
die Dinge in dieser Wiedergeburt zeigen, das ist ihnen
vorher nicht eigen. Da draußen steht der Baum. Ich
fasse ihn in meinen Geist auf Ich werfe mein inneres
Licht auf das, was ich erfaßt habe. Der Baum wird in
mir zu mehr, als er draußen ist. Was von ihm durch
das Tor der Sinne einzieht, wird in einen geistigen
Inhalt aufgenommen. Ein ideelles Gegenstück zu dem
Baume ist in mir. Das sagt über den Baum unendlich
viel aus, was mir der Baum draußen nicht sagen kann.
Aus mir heraus leuchtet dem Baume erst entgegen, was er
ist. Der Baum ist nun nicht mehr das einzelne Wesen, das
er draußen im Raume ist. Er wird ein Glied der
ganzen geistigen Welt, die in mir lebt. Er verbindet
seinen Inhalt mit anderen Ideen, die in mir sind. Er wird
ein Glied der ganzen Ideenwelt, die das Pflanzenreich
umfaßt; er gliedert sich weiter in die Stufenfolge
alles Lebendigen ein. - Ein anderes Beispiel: Ich werfe
einen Stein in horizontaler Richtung von mir. Er bewegt
sich in einer krummen Linie und fällt nach einiger
Zeit zu Boden. Ich sehe ihn in aufeinanderfolgenden
Zeitpunkten an verschiedenen Orten. Durch meine
Betrachtung gewinne ich folgendes: Der Stein steht
während seiner Bewegung unter verschiedenen
Einflüssen. Wenn er nur unter der Folge des
Stoßes stände, den ich ihm gegeben habe,
würde er in gerader Linie ewig fortfliegen, ohne
seine Schnelligkeit zu ändern. Nun aber übt die
Erde einen Einfluß auf ihn aus. Sie zieht ihn an
sich. Hätte ich ihn, ohne zu stoßen, einfach
losgelassen, so wäre er senkrecht zur Erde gefallen.
Seine Schnelligkeit hätte dabei fortwährend
zugenommen. Aus der Wechselwirkung dieser beiden
Einflüsse entsteht das, was ich wirklich sehe. -
Nehmen wir an, ich könnte die beiden Einflüsse
nicht gedankenmäßig trennen, und aus ihrer
gesetzmäßigen Verbindung das wieder
gedankenmäßig zusammenfügen, was ich sehe:
so bliebe es beim Gesehenen. Es wäre ein geistig
blindes Hinsehen; ein Wahrnehmen der aufeinanderfolgenden
Lagen, die der Stein einnimmt. In der Tat aber bleibt es
nicht dabei. Der ganze Vorgang vollzieht sich
zweimal. Einmal draußen; und da sieht ihn mein Auge;
dann läßt mein Geist den ganzen Vorgang noch
einmal entstehen, auf geistige Weise. Auf den geistigen
Vorgang, den mein Auge nicht sieht, muß mein innerer
Sinn gelenkt werden, dann geht ihm auf, daß ich, aus
meiner Kraft heraus, den Vorgang als geistigen erwecke. -
Wieder darf man einen Satz J. G. Fichtes anführen,
der diese Tatsache klar zur Anschauung bringt. «Der
neue Sinn ist demnach der Sinn für den Geist; der,
für den nur Geist ist und durchaus nichts
anderes, und dem auch das andere, das gegebene Sein,
annimmt die Form des Geistes, und sich darein verwandelt,
dem darum das Sein in seiner eigenen Form in der Tat
verschwunden ist. ... Es ist mit diesem Sinne gesehen
worden, seitdem Menschen da sind, und alles Große
und Treffliche, was in der Welt ist, und welches allein
die Menschheit bestehen macht, stammt aus den Gesichten
dieses Sinnes. Daß aber dieser Sinn sich selbst
gesehen haben sollte in seinem Unterschiede und
Gegensatze mit dem andern gewöhnlichen Sinne, war
nicht der Fall. Die Eindrücke der beiden Sinne
verschmolzen, das Leben zerfiel ohne Einigungsband in
diese zwei Hälften.» Das Einigungsband wird
dadurch geschaffen, daß der innere Sinn das
Geistige, das er in seinem Verkehr mit der Außenwelt
erweckt, in seiner Geistigkeit erfaßt. Dadurch
hört das, was wir von den Dingen in unseren Geist
aufnehmen, auf, als eine bedeutungslose Wiederholung zu
erscheinen. Es erscheint als ein Neues gegenüber
dem, was nur äußere Wahrnehmung geben kann. Der
einfache Vorgang des Steinwerfens, und meine Wahrnehmung
desselben erscheinen in einem höheren Lichte, wenn
ich mir klarmache, was mein innerer Sinn an der ganzen
Sache für eine Aufgabe hat. Um die beiden
Einflüsse und ihre Wirkungsweisen
gedankenmäßig zusammenzufügen, ist eine
Summe von geistigem Inhalt nötig, den ich mir
bereits angeeignet haben muß, wenn ich den
fliegenden Stein wahrnehme. Ich wende also einen in mir
bereits aufgespeicherten geistigen Inhalt an auf etwas,
das mir in der Außenwelt entgegentritt. Und dieser
Vorgang der Außenwelt gliedert sich dem bereits
vorhandenen geistigen Inhalt ein. Er erweist sich in
seiner Eigenart als ein Ausdruck dieses Inhalts. Durch
das Verständnis meines inneren Sinnes wird mir somit
erschlossen, was für ein Verhältnis der Inhalt
dieses Sinnes zu den Dingen der Außenwelt hat.
Fichte konnte sagen, ohne das Verständnis für
diesen Sinn zerfällt mir die Welt in zwei
Hälften: in Dinge außer mir, und in Bilder von
diesen Dingen in mir. Die beiden Hälften werden
vereinigt, wenn der innere Sinn sich versteht,
und ihm damit auch klar ist, was er selbst im
Erkenntnisprozesse den Dingen für Licht gibt. Und
Fichte durfte auch sagen, daß dieser innere Sinn
nur Geist sieht. Denn er siebt, wie der Geist
die Sinnenwelt dadurch aufklärt, daß er sie der
Welt des Geistigen eingliedert. Der innere Sinn
läßt in sich das äußere Sinnendasein
als geistige Wesenheit auf einer höheren Stufe
erstehen. Ein äußeres Ding ist ganz erkannt,
wenn kein Teil an ihm ist, der nicht in dieser Art eine
geistige Wiedergeburt erlebt hat. Jedes äußere
Ding gliedert sich somit einem geistigen Inhalt ein, der,
wenn er von dem innern Sinn erfaßt wird, das
Schicksal der Selbsterkenntnis teilt. Der geistige
Inhalt, der einem Dinge zugehört, ist durch die
Beleuchtung von innen, ebenso wie das eigene Selbst
restlos in die Ideenwelt eingeflossen. - Diese
Ausführungen enthalten nichts, was eines
logischen Beweises fähig oder
bedürftig wäre. Sie sind nichts anderes als
Ergebnisse der inneren Erfahrungen. Wer ihren Inhalt in
Abrede stellt, der zeigt nur, daß ihm diese innere
Erfahrung mangelt. Man kann mit ihm nicht streiten;
ebensowenig, wie man mit dem Blinden über die Farbe
streitet. - Es darf aber nicht behauptet werden, daß
diese innere Erfahrung nur durch die Begabung weniger
Auserwählter möglich gemacht werde. Sie ist
eine allgemein-menschliche Eigenschaft. Jeder kann auf
den Weg zu ihr gelangen, der sich nicht selbst vor ihr
verschließt. Dieses Verschließen ist allerdings
häufig genug. Und man hat bei Einwendungen, die nach
dieser Richtung gemacht werden, immer das Gefühl: es
handle sich gar nicht um solche, die die innere Erfahrung
nicht erlangen können, sondern um solche, die sich
durch ein Netz von allerlei logischen Gespinsten den
Zugang zu ihr verrammeln. Es ist fast so, wie wenn
jemand, der durch ein Fernrohr sieht, einen neuen
Planeten erblickt, dessen Dasein aber doch ableugnet,
weil ihm seine Rechnung gezeigt hat, daß an
dieser Stelle kein Planet sein darf.
Dabei ist aber bei den meisten Menschen doch
das deutliche Gefühl davon ausgeprägt, daß
mit dem, was die äußeren Sinne und der
zergliedernde Verstand erkennen, noch nicht alles gegeben
sein kann, was im Wesen der Dinge liegt. Sie glauben
dann, der Rest müsse ebenso in der Außenwelt
sein, wie die Dinge der äußeren Wahrnehmung
selbst. Sie meinen, es müsse etwas sein, was der
Erkenntnis unbekannt bleibt. Was sie dadurch erlangen
sollten, daß sie das wahrgenommene und mit dem
Verstande erfaßte Ding mit dem inneren Sinne auf
höherer Stufe noch einmal wahrnehmen, das versetzen
sie, als ein Unzugängliches, Unbekanntes in die
Außenwelt. Sie reden dann von Erkenntnisgrenzen, die
verhindern, daß wir zum «Ding an sich»
gelangen. Sie reden von dem unbekannten «Wesen»
der Dinge. Daß dieses «Wesen» der Dinge
aufleuchtet, wenn der innere Sinn sein Licht auf die
Dinge fallen läßt, das wollen sie nicht
anerkennen. Ein besonders laut sprechendes Beispiel
für den Irrtum, der hier verborgen liegt, hat die
berühmte «Ignorabimus»-Rede des
Naturforschers Du Bois-Reymond im Jahre 1876 geliefert.
Wir sollen überall nur so weit kommen, daß wir
in den Naturvorgängen Äußerungen der
«Materie» sehen. Was «Materie» selbst
ist, davon sollen wir nichts wissen können. Du
Bois-Reymond behauptet, daß wir niemals dahin werden
dringen können, wo Materie im Raume spukt. Der
Grund, warum wir dahin nicht dringen können, liegt
jedoch darin, daß dort überhaupt nichts gesucht
werden kann. Wer so wie Du Bois-Reymond spricht, der hat
ein Gefühl, daß die Naturerkenntnis Ergebnisse
liefere, die auf ein anderes, das sie nicht selbst geben
kann, hinweisen. Er will aber den Weg, der zu diesem
anderen führt, den Weg der inneren Erfahrung, nicht
betreten. Deshalb steht er ratlos der Frage nach der
«Materie», wie einem dunklen Rätsel,
gegenüber. Wer den Weg der inneren Erfahrung
betritt, in dem erlangen die Dinge eine Wiedergeburt; und
das, was an ihnen für die äußere Erfahrung
unbekannt bleibt, das leuchtet dann auf.
So klärt das Innere des Menschen sich
nicht nur über sich selbst, sondern es klärt
auch über die äußeren Dinge auf. Von
diesem Punkte aus öffnet sich eine unendliche
Perspektive für die menschliche Erkenntnis. Im
Innern leuchtet ein Licht, das seine Leuchtkraft nicht
nur auf dieses Innere beschränkt. Es ist eine Sonne,
die zugleich alle Wirklichkeit beleuchtet. Es
tritt in uns etwas auf, was uns mit der ganzen Welt
verbindet. Wir sind nicht mehr bloß der einzelne
zufällige Mensch, nicht mehr dieses oder jenes
Individuum. In uns offenbart sich die ganze Welt. Sie
enthüllt uns ihren eigenen Zusammenhang; und sie
enthüllt uns, wie wir selbst als Individuum mit ihr
zusammenhängen. Aus der Selbsterkenntnis heraus wird
die Welterkenntnis geboren. Und unser eigenes
beschränktes Individuum stellt sich geistig in den
großen Weltzusammenhang hinein, weil in ihm etwas
auflebt, was übergreifend ist über dieses
Individuum, was alles das mitumfaßt, dessen Glied
dieses Individuum ist.
Ein Denken, das sich nicht durch logische
Vorurteile den Weg zur inneren Erfahrung vermauert, kommt
letzten Endes stets zur Anerkennung der in uns waltenden
Wesenheit, die uns mit der ganzen Welt verknüpft,
weil wir durch sie den Gegensatz von innen und außen
in bezug auf den Menschen überwinden. Paul
Asmus, der früh verstorbene, scharfsinnige
Philosoph, spricht sich über diesen Tatbestand in
folgender Weise aus (vgl. dessen Schrift: «Das Ich
und das Ding an sich», S. 14 f): «Wir wollen es
uns durch ein Beispiel klarer machen; stellen wir uns ein
Stück Zucker vor; es ist rund, süß,
undurchdringlich usw.; dies sind lauter Eigenschaften,
die wir begreifen; nur eins dabei schwebt uns als ein
schlechthin Anderes vor, das wir nicht begreifen, das so
verschieden von uns ist, daß wir nicht hineinbringen
können, ohne uns selbst zu verlieren, von dessen
bloßer Oberfläche der Gedanke scheu
zurückprallt. Dies eine ist der uns unbekannte
Träger aller jener Eigenschaften; das Ansicht,
welches das innerste Selbst dieses Gegenstandes ausmacht.
So sagt Hegel richtig, daß der ganze Inhalt unserer
Vorstellung sich nur als Akzidens zu jenem dunklen
Subjekte verhalte, und wir, ohne in seine Tiefen zu
dringen, nur Bestimmungen an dieses Ansich heften, - die
schließlich, weil wir es selbst nicht auch keinen
wahrhaft objektiven Wert haben, subjektiv sind. Das
begreifende Denken hingegen hat kein solches
unerkennbares Subjekt, an dem seine Bestimmungen nur
Akzidenzen wären, sondern das
gegenständliche Subjekt fällt innerhalb des
Begriffes. Begreife ich etwas, so ist es in seiner
ganzen Fülle meinem Begriffe präsent; im
innersten Heiligtum seines Wesens bin ich zu Hause, nicht
deshalb, weil es kein eigenes Ansich hätte, sondern
weil es mich durch die über uns beiden
schwebende Notwendigkeit des Begriffes, der in mir
subjektiv, in ihm objektiv erscheint, zwingt, seinen
Begriff nachzudenken. Durch dies Nachdenken offenbart
sich uns, wie Hegel sagt, - ebenso wie dies unsere
subjektive Tätigkeit ist, - zugleich die wahre
Natur des Gegenstandes.» - So kann nur
sprechen, wer mit dem Lichte der inneren Erfahrung die
Erlebnisse des Denkens zu beleuchten vermag.
In meiner «Philosophie der Freiheit»
habe ich, von andern Gesichtspunkten ausgehend,
gleichfalls auf die Urtatsache des Innenlebens
hingewiesen (S. 50): «Es ist also zweifellos: in dem
Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo
wir dabei sein müssen, wenn etwas zustande kommen
soll. Und das ist doch gerade das, worauf es ankommt. Das
ist gerade der Grund, warum mir die Dinge so
rätselhaft gegenüberstehen: daß ich an
ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie
einfach vor; beim Denken aber weiß ich, wie es
gemacht wird. Daher gibt es keinen ursprünglicheren
Ausgangspunkt für das Betrachten alles
Weltgeschehens als das Denken.»
Wer das innere Erleben des Menschen so ansieht,
dem ist auch klar, welchen Sinn innerhalb des ganzen
Weltprozesses das menschliche Erkennen hat. Es ist nicht
eine wesenlose Beigabe zu dem übrigen Weltgeschehen.
Eine solche wäre es, wenn es eine bloße ideelle
Wiederholung dessen darstellte, was äußerlich
vorhanden ist. Im Erkennen vollzieht sich aber,
was sich in der Außenwelt nirgends vollzieht: Das
Weltgeschehen stellt sich selbst sein geistiges Wesen
gegenüber. Ewig wäre dieses Weltgeschehen nur
eine Halbheit, wenn es zu dieser Gegenüberstellung
nicht käme. Damit gliedert sich das innere Erleben
des Menschen dem objektiven Weltprozesse ein; dieser
wäre ohne es unvollständig.
Es ist ersichtlich, daß nur das Leben, das
vom inneren Sinn beherrscht wird, den Menschen in solcher
Weise über sich hinaushebt, sein im eigensten Sinne
höchstes Geistesleben. Denn nur in diesem Leben
enthüllt sich das Wesen der Dinge vor sich selbst.
Anders liegt die Sache mit dem niederen
Wahrnehmungsvermögen. Das Auge z.B., das das Sehen
eines Gegenstandes vermittelt, ist der Schauplatz eines
Vorganges, der irgend einem anderen äußeren
Vorgange, gegenüber dem inneren Leben, völlig
gleich ist. Meine Organe sind Glieder der räumlichen
Welt wie die anderen Dinge, und ihre Wahrnehmungen sind
zeitliche Vorgänge wie andere. Auch ihr Wesen
erscheint nur, wenn sie ins innere Erleben versenkt
werden. Ich lebe also ein Doppelleben: das Leben eines
Dinges unter anderen Dingen, das innerhalb seiner
Körperlichkeit lebt und durch seine Organe das
wahrnimmt, was außer dieser Körperlichkeit
liegt; und über diesem Leben ein höheres, das
kein solches Innen und Außen kennt, das
überspannend über die Außenwelt und
über sich selbst sich dehnt. Ich werde also sagen
müssen: einmal bin ich Individuum, beschränktes
Ich; das andere Mal bin ich allgemeines, universelles
Ich. Auch dieses hat Paul Asmus in treffliche
Worte gefaßt (vgl. dessen Buch: «Die
indogermanische Religion in den Hauptpunkten ihrer
Entwickelung», S. 29, im 1. Bd.): «Die
Tätigkeit, uns in ein anderes zu versenken, nennen
wir ,Denken'; im Denken hat das Ich seinen Begriff
erfüllt, es hat sich als einzelnes selbst
aufgegeben; deshalb befinden wir uns denkend in einer
für alle gleichen Sphäre, denn das Prinzip der
Besonderung, das da in dem Verhältnis unseres Ich zu
dem ihm Anderen liegt, ist verschwunden in der
Tätigkeit der Selbstaufhebung des einzelnen Ich, es
ist da nur die allen gemeinsame
Ichheit.»
Spinoza hat genau dasselbe im Auge, wenn er die
höchste Erkenntnistätigkeit als diejenige
beschreibt, die «von der zureichenden Vorstellung
des wirklichen Wesens einiger Attribute Gottes zur
zureichenden Erkenntnis des Wesens der Dinge»
vorschreitet. Dieses Vorschreiten ist nichts anderes als
das Beleuchten der Dinge mit dem Lichte der inneren
Erfahrung. Das Leben in dieser inneren Erfahrung
schildert Spinoza in herrlichen Farben: «Die
höchste Tugend der Seele ist, Gott zu erkennen, oder
die Dinge in der dritten - höchsten - Art der
Erkenntnis einzusehen. Diese Tugend wird um so
größer, je mehr die Seele in dieser
Erkenntnisart die Dinge erkennt; mithin erreicht der,
welcher die Dinge in dieser Erkenntnisart erfaßt,
die höchste menschliche Vollkommenheit und wird
folglich von der höchsten Freude erfüllt, und
zwar begleitet von den Vorstellungen seiner selbst und
der Tugend. Mithin entspringt aus dieser Art der
Erkenntnis die höchste Seelenruhe, die möglich
ist.» Wer die Dinge in solcher Art erkennt, der
verwandelt sich in sich selbst; denn sein einzelnes Ich
wird in solchen Augenblicken aufgesogen von dem All-Ich;
alle Wesen erscheinen nicht in untergeordneter Bedeutung
einem einzelnen beschränkten Individuum; sie
erscheinen sich selbst. Es ist auf dieser Stufe kein
Unterschied mehr zwischen Plato und mir; denn was uns
trennt, gehört einer niederen Erkenntnisstufe an.
Wir sind nur als Individuum getrennt; das in uns wirkende
Allgemeine ist ein- und dasselbe. Auch über diese
Tatsache läßt sich nicht streiten mit dem, der
von ihr keine Erfahrung hat. Er wird immerdar betonen:
Plato und du sind zwei. Daß diese Zweiheit, daß
alle Vielheit als Einheit wiedergeboren wird in dem
Aufleben der höchsten Erkenntnisstufe: das kann
nicht bewiesen, das muß erfahren werden. So
paradox es klingt, es ist eine Wahrheit: Die Idee, die
Plato vorstellte, und die gleiche Idee, die ich
vorstelle, sind nicht zwei Ideen. Es ist eine und
dieselbe Idee. Und nicht zwei Ideen sind, die eine in
Platos Kopf, die andere in meinem; sondern im
höheren Sinne durchdringen sich Platos Kopf und der
meine; es durchdringen sich alle Köpfe, welche die
gleiche, eine Idee fassen; und diese Idee ist nur als
einzige einmal vorhanden. Sie ist da; und die Köpfe
versetzen sich alle an einen und denselben Ort, um diese
Idee in sich zu haben.
Die Umwandlung, die im ganzen Wesen des
Menschen bewirkt wird, wenn er also die Dinge ansieht,
deutet mit schönen Worten die indische Dichtung
«Bhagavad Gita» an, von der Wilhelm von
Humboldt deshalb sagte, er sei seinem Schicksal dankbar
dafür, daß es ihn habe so lange leben lassen,
bis er in der Lage war, dieses Werk kennenzulernen. Das
innere Licht spricht in dieser Dichtung:
«Ein ewiger Strahl von mir, der ein
besonderes Dasein in der Welt des persönlichen
Lebens erlangt hat, zieht an sich die fünf Sinne und
die individuelle Seele, welche der Natur angehören.
- Wenn der überstrahlende Geist sich in Raum und
Zeit verkörperlicht, oder wenn er sich
entkörperlicht, so ergreift er die Dinge und nimmt
sie mit sich, wie der Windhauch die Wohlgerüche der
Blumen ergreift und mit sich fortreißt. Das innere
Licht beherrscht das Ohr, das Gefühl, den Geschmack
und den Geruch, sowie auch das Gemüt; es knüpft
das Band zwischen sich und den Sinnesdingen. Die Toren
wissen es nicht, wenn das innere Licht aufleuchtet und
erlischt, noch wenn es sich mit den Dingen vermählt;
nur wer des inneren Lichtes teilhaftig ist, kann davon
wissen.» So kräftig deutet die «Bhagavad
Gita» auf die Umwandlung des Menschen hin, daß
sie von dem «Weisen» sagt, er könne nicht
mehr irren, nicht mehr sündigen. Irrt er oder
sündigt er scheinbar, so müsse er seine
Gedanken oder seine Handlungen mit einem Lichte
beleuchten, vor dem nicht mehr als Irrtum und nicht mehr
als Sünde erscheint, was vor dem gewöhnlichen
Bewußt- sein als solche erscheint. «Wer sich
erhoben hat, und wessen Erkenntnis von der reinsten Art
ist, der tötet nicht und befleckt sich nicht, wenn
er auch einen anderen erschlagen würde.» Damit
ist nur auf die gleiche, aus der höchsten Erkenntnis
fließende Grundstimmung der Seele hingewiesen, von
der Spinoza, nachdem er sie in seiner «Ethik»
beschrieben, in die hinreißenden Worte ausbricht:
«Hiermit ist das beendet, was ich rücksichtlich
der Macht der Seele über die Affekte und über
die Freiheit der Seele habe darlegen wollen. Hieraus
erhellt, wie viel der Weise dem Unwissenden
überlegen ist und mächtiger als dieser, der nur
von den Lüsten getrieben wird. Denn der Unwissende
wird nicht allein von äußeren Ursachen auf
viele Weise getrieben und erreicht nie die wahre
Seelenruhe, sondern er lebt auch in Unkenntnis von sich,
von Gott und von den Dingen, und so wie sein Leiden
aufhört, hört auch sein Dasein auf;
während dagegen der Weise, als solcher, kaum eine
Erregung in seinem Geiste empfindet, sondern in der
gewissermaßen notwendigen Erkenntnis seiner, Gottes
und der Dinge niemals aufhört, zu sein, und immer
der wahren Seelenruhe genießt. Wenn auch der Weg,
welchen ich, als dahin führend, aufgezeichnet habe,
sehr schwierig erscheint, so kann er doch aufgefunden
werden. Und allerdings mag er beschwerlich sein, weil er
so selten gefunden wird. Denn wie wäre es
möglich, daß, wenn das Heil bei der Hand
wäre und ohne große Mühe gefunden werden
könnte, daß es von allen fast
vernachlässigt würde? Indes ist alles Erhabene
ebenso schwer, wie selten.»
In monumentaler Weise hat Goethe den
Gesichtspunkt der höchsten Erkenntnis in den Worten
angedeutet: «Kenne ich mein Verhältnis zu mir
selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's
Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben,
und es ist doch immer dieselbige.» Jeder hat seine
eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes
Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen
wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen
Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der
Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet
er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit.
Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er
dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein
Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst
sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit
auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen
dieselbige.
Das Verständnis für die Aufhebung des
Individuellen, des einzelnen Ich zum All-Ich in der
Persönlichkeit betrachten tiefere Naturen als das im
Innern des Menschen sich offenbarende Geheimnis, als das
Ur-Mysterium des Lebens. Auch dafür hat
Goethe einen treffenden Ausspruch gefunden:
«Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb' und
Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen
Erde.»
Nicht eine gedankliche Wiederholung, sondern
ein reeller Teil des Weltprozesses ist das, was sich im
menschlichen Innenleben abspielt. Die Welt wäre
nicht, was sie ist, wenn sich das zu ihr gehörige
Glied in der menschlichen Seele nicht abspielte. Und
nennt man das höchste, das dem Menschen erreichbar
ist, das Göttliche, dann muß man sagen,
daß dieses Göttliche nicht als ein
Äußeres vorhanden ist, um bildlich im
Menschengeiste wiederholt zu werden, sondern daß
dieses Göttliche im Menschen erweckt wird.
Dafür hat Angelus Silesius die rechten Worte
gefunden: «Ich weiß, daß ohne
mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd' ich zu
nicht, er muß vor Not den Geist
aufgeben.»«Gott mag nicht ohne mich ein
einzig's Würmlein machen: erhalt' ich's nicht mit
ihm, so muß es stracks zerkrachen.»Eine solche
Behauptung kann nur der machen, welcher voraussetzt,
daß im Menschen etwas zum Vorschein kommt, ohne
welches ein äußeres Wesen nicht existieren
kann. Wäre alles, was zum «Würmlein»
gehört, auch ohne den Menschen da, dann könnte
man unmöglich davon sprechen, daß es
«zerkrachen» müßte, wenn der Mensch
es nicht erhielte.
Als geistiger Inhalt kommt der innerste Kern
der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben
der Selbsterkenntnis bedeutet für den Menschen Weben
und Wirken innerhalb des Weltenkernes. Wer von
Selbsterkenntnis durchdrungen ist, vollzieht
natürlich auch sein eigenes Handeln im Lichte der
Selbsterkenntnis. Das menschliche Handeln ist - im
allgemeinen - bestimmt durch Motive. Robert
Hamerling, der Dichter-Philosoph, hat mit Recht
gesagt («Atomistik des Willens», S. 213 f.):
«Der Mensch kann allerdings tun, was er will - aber
er kann nicht wollen, was er will, weil sein Wille durch
Motive bestimmt ist! - Er kann nicht wollen, was er will?
Sehe man sich diese Worte doch einmal näher an. Ist
ein vernünftiger Sinn darin? Freiheit des Wollens
müßte also darin bestehen, daß man ohne
Grund, ohne Motiv etwas wollen könnte? Aber was
heißt denn Wollen anders, als einen Grund
haben, dies lieber zu tun oder anzustreben als
jenes? Ohne Grund, ohne Motiv etwas wollen, hieße
etwas wollen, ohne es zu wollen. Mit dem Begriff
des Wollens ist der des Motivs unzertrennlich
verknüpft. Ohne ein bestimmendes Motiv ist der Wille
ein leeres Vermögen: erst durch das Motiv
wird er tätig und reell. Es ist also ganz richtig,
daß der menschliche Wille insofern nicht ,frei' ist,
als seine Richtung immer durch das stärkste der
Motive bestimmt ist.» Für alles Handeln, das
nicht im Lichte der Selbsterkenntnis sich vollzieht,
muß das Motiv, der Grund des Handelns als Zwang
empfunden werden. Anders ist die Sache, wenn der Grund in
die Selbsterkenntnis eingefaßt wird. Dann ist dieser
Grund ein Glied des Selbst geworden. Das Wollen wird
nicht mehr bestimmt; es bestimmt sich selbst. Die
Gesetzmäßigkeit, die Motive des Wollens
herrschen nun nicht mehr über dem Wollenden, sondern
sind ein und dasselbe mit diesem Wollen. Die Gesetze
seines Handelns mit dem Lichte der Selbstbeobachtung
beleuchten, heißt, allen Zwang der Motive
überwinden. Dadurch versetzt sich das Wollen in das
Gebiet der Freiheit.
Nicht alles menschliche Handeln trägt den
Charakter der Freiheit. Nur das in jedem seiner Teile von
Selbstbeobachtung durchglühte Handeln ist ein
freies. Und weil die Selbstbeobachtung das individuelle
Ich hinaufhebt zum allgemeinen Ich, so ist das freie
Handeln das aus dem All-Ich fließende. Die alte
Streitfrage, ob der Wille des Menschen frei sei, oder
einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, einer
unabänderlichen Notwendigkeit unterliege, ist eine
unrichtig gestellte Frage. Unfrei ist das Handeln, das
der Mensch als Individuum vollbringt; frei dasjenige, das
er nach seiner geistigen Wiedergeburt vollzieht. Der
Mensch ist also nicht, im allgemeinen, entweder
frei, oder unfrei. Er ist sowohl das
eine wie das andere. Er ist unfrei vor seiner
Wiedergeburt; und er kann frei werden durch
diese Wiedergeburt. Die individuelle
Aufwärtsentwicklung des Menschen besteht in der
Umwandlung des unfreien Wollens in ein solches
mit dem Charakter der Freiheit. Der Mensch, der die
Gesetzmäßigkeit seines Handelns als seine
eigene durchdrungen hat, hat den Zwang dieser
Gesetzmäßigkeit, und damit die Unfreiheit
überwunden. Die Freiheit ist nicht von
vornherein eine Tatsache des Menschendaseins,
sondern ein Ziel.
Mit dem freien Handeln löst der Mensch
einen Widerspruch zwischen der Welt und sich. Seine
eigenen Taten werden Taten des allgemeinen Seins. Er
empfindet sich in vollem Einklange mit diesem allgemeinen
Sein. Jeden Mißklang zwischen sich und einem anderen
fühlt er als Ergebnis eines noch nicht völlig
erwachten Selbst. Das aber ist das Schicksal des Selbst,
daß es nur in seiner Trennung vom All den
Anschluß an dieses All finden kann. Der Mensch
wäre nicht Mensch, wenn er nicht abgeschlossen
wäre als Ich von allem anderen; aber er wäre
auch nicht im höchsten Sinne Mensch, wenn er nicht
als solch abgeschlossenes Ich aus sich heraus wieder sich
zum All-Ich erweiterte. Es gehört durchaus zum
menschlichen Wesen, daß es einen ursprünglich
in ihm gelegenen Widerspruch überwinde.
Wer den Geist lediglich als logischen Verstand
gelten lassen will, der mag sein Blut erstarren
fühlen bei dem Gedanken, daß in dem Geiste die
Dinge ihre Wiedergeburt erleben sollen. Er wird die
frische, lebendige Blume, draußen in ihrer
Farbenfülle, vergleichen mit dem kalten, blassen,
schematischen Gedanken der Blume. Er wird sich
besonders unbehaglich fühlen bei der Vorstellung,
daß der Mensch, der aus der Einsamkeit seines
Selbstbewußtseins heraus seine Motive zum Handeln
holt, freier sein soll als die ursprüngliche, naive
Persönlichkeit, die aus ihren unmittelbaren
Impulsen, aus der Fülle ihrer Natur heraus handelt.
Einem solchen das einseitig Logische Sehenden wird der,
welcher sich in sein Inneres versenkt, erscheinen wie ein
wandelndes Begriffsschema, wie ein Gespenst
gegenüber dem in seiner natürlichen
Individualität Verharrenden. - Dergleichen
Einwände gegen die Wiedergeburt der Dinge im Geiste
kann man vorzüglich bei denen hören, die zwar
mit gesunden Organen für sinnliche Wahrnehmung und
mit lebensvollen Trieben und Leidenschaften ausgestattet
sind, deren Beobachtungsvermögen aber gegenüber
den Gegenständen mit rein geistigem Inhalt versagt.
Sobald sie rein Geistiges wahrnehmen sollen, fehlt ihnen
die Anschauung; sie haben es mit bloßen
Begriffshülsen, wenn nicht gar mit leeren Worten zu
tun. Sie bleiben daher, wenn es sich um geistigen Inhalt
handelt, die «trockenen», «abstrakten
Verstandesmenschen». Wer aber im rein Geistigen eine
Beobachtungsgabe hat wie im Sinnlichen, für den wird
natürlich das Leben nicht ärmer, wenn er es
durch den geistigen Inhalt bereichert. Sehe ich hinaus
auf eine Blume: warum sollten ihre saftigen Farben auch
nur irgend etwas an Frische verlieren, wenn nicht nur
mein Auge die Farben, sondern auch mein innerer
Sinn noch das geistige Wesen der Blume sieht. Warum
sollte das Leben meiner Persönlichkeit ärmer
werden, wenn ich meinen Leidenschaften und Impulsen nicht
geistig-blind folge, sondern wenn ich sie durchleuchte
mit dem Lichte höherer Erkenntnis. Nicht ärmer,
sondern voller, reicher ist das im Geiste wiedergegebene
Leben.[1]
1. Die Furcht vor
einer Verarmung des Seelenlebens durch ein Aufsteigen
zum Geiste haben nur diejenigen
Persönlichkeiten, die den Geist nur in einer
Summe von abstrakten Begriffen kennen, welche von den
Sinnesanschauungen abgezogen sind. Wer in geistiger
Anschauung zu einem Leben sich erhebt, das an Inhalt,
an Konkretheit das sinnliche übertrifft, der
kann diese Furcht nicht haben. Denn nur in
Abstraktionen verblaßt das sinnliche Sein; im
«geistigen Anschauen» erscheint es erst in
seinem wahren Lichte, ohne von seinem sinnlichen
Reichtum etwas zu verlieren.
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