Mysterien
und Mysterienweisheit
Etwas wie
ein geheimnisvoller Schleier liegt über der Art, wie innerhalb der alten
Kulturen diejenigen ihre geistigen Bedürfnisse befriedigten, welche
nach einem tieferen religiösen und Erkenntnisleben suchten als die Volksreligionen
bieten konnten. In das Dunkel rätselvoller Kulte werden wir geführt,
wenn wir der Befriedigung solcher Bedürfnisse nachforschen. Jede Persönlichkeit,
die solche Befriedigung findet, entzieht sich für einige Zeit unserer
Beobachtung. Wir sehen, wie ihr zunächst die Volksreligionen nicht geben
können, was ihr Herz sucht. Sie anerkennt die Götter; aber sie weiß,
daß in den gewöhnlichen Anschauungen über die Götter die großen Rätsel
fragen des Daseins sich nicht enthüllen. Sie sucht eine Weisheit, die
sorglich eine Gemeinschaft von Priesterweisen hütet. Sie sucht Zuflucht
bei dieser Gemeinschaft für die strebende Seele. Wird sie von den Weisen
reif befunden, so wird sie von ihnen auf eine Art, die sich dem Auge
des Außenstehenden entzieht, von Stufe zu Stufe hinaufgeführt zu höherer
Einsicht. Was mit ihr nun vorgeht, verhüllt sich den Uneingeweihten.
Sie scheint der irdischen Welt für einige Zeit völlig entrückt. Wie
in eine geheime Welt versetzt erscheint sie. – Und wenn sie wieder dem
Tageslicht gegeben ist, steht eine andere, eine völlig verwandelte Persönlichkeit
vor uns. Eine Persönlichkeit, die nicht Worte findet, die erhaben genug
sind, um auszudrücken, wie bedeutungsvoll das Erlebte für sie gewesen
ist. Sie erscheint sich nicht bildlich bloß, sondern im Sinne höchster
Wirklichkeit wie durch den Tod hindurchgegangen und zu neuem höheren
Leben erwacht. Und sie ist klar darüber, daß niemand ihre Worte recht
verstehen kann, der nicht ein Gleiches erlebt hat.
So war es mit den Personen, welche durch die Mysterien eingeweiht wurden
in jenen geheimnisvollen Weisheitsinhalt, der dem Volke entzogen wurde
und der über die höchsten Fragen Licht brachte. Neben der Volksreligion
bestand diese «geheime» Religion der Auserwählten. Ihr Ursprung
verschwimmt für den geschichtlichen Blick in das Dunkel des Völkerursprungs.
Man findet sie bei den alten Völkern überall, soweit man darüber eine
Einsicht gewinnen kann. Die Weisen dieser Völker reden mit der größten
Ehrerbietung von den Mysterien. – Was wurde in ihnen verhüllt? Und was
enthüllten sie dem, der in sie eingeweiht wurde?
Das Rätselhafte ihrer Erscheinung wird erhöht, wenn man gewahr wird,
daß die Mysterien von den Alten zugleich als etwas Gefährliches angesehen
wurden. Durch eine Welt von Furchtbarkeiten führte der Weg zu den Geheimnissen
des Daseins. Und wehe dem, der unwürdig zu ihnen gelangen wollte. –
Kein größeres Verbrechen gab es als den «Verrat» der Geheimnisse
an Uneingeweihte. Mit dem Tode und der Güterkonfiskation wurde der «Verräter»
gestraft. Man weiß, daß der Dichter Äschylus angeklagt wär, einiges
von den Mysterien auf die Bühne gebracht zu haben. Er konnte dem Tode
nur entgehen durch die Flucht zu dem Altar des Dionysos und durch den
gerichtlichen Nachweis, daß er gar kein Eingeweihter war.
Vielsagend
aber auch vieldeutig ist, was die Alten über diese Geheimnisse sagen.
Der Eingeweihte ist überzeugt, daß es sündhaft ist, zu sagen, was er
weiß; und auch daß es für den Uneingeweihten sündhaft ist, es zu hören.
Plutarch spricht von dem Schrecken der Einzuweihenden und vergleicht
den Zustand derselben mit der Vorbereitung zum Tode. Eine besondere
Lebensweise mußte den Einweihungen vorangehen. Sie war dazu angetan,
die Sinnlichkeit in die Gewalt des Geistes zu bringen. Fasten, einsames
Leben, Kasteiungen und gewisse seelische Übungen sollten dazu dienen.
Woran der Mensch im gewöhnlichen Leben hängt, sollte allen Wert für
ihn verlieren. Die ganze Richtung seines Empfindungs- und Gefühlslebens
mußte eine andere werden. – Man kann nicht im Zweifel sein über den
Sinn solcher Übungen und Prüfungen. Die Weisheit, die dem Einzuweihenden
dargeboten werden sollte, konnte nur dann die rechte Wirkung auf seine
Seele tun, wenn er vorher seine niedere Empfindungswelt umgestaltet
hatte. In das Leben des Geistes wurde er eingeführt. Er sollte eine
höhere Welt schauen. Zu ihr konnte er ohne vorherige Übungen und Prüfungen
kein Verhältnis gewinnen. Es kam eben auf dieses Verhältnis an. Wer
über diese Dinge recht denken will, muß Erfahrungen über die intimen
Tatsachen des Erkenntnislebens haben. Er muß empfinden, daß es zwei
weit auseinanderliegende Verhältnisse gibt zu dem, was die höchste Erkenntnis
darbietet. – Die Welt, die den Menschen umgibt, ist zunächst seine wirkliche.
Er tastet, hört und sieht ihre Vorgänge. Er nennt diese deshalb, weil
er sie mit seinen Sinnen wahrnimmt, wirklich. Und er denkt über sie
nach, um sich über ihre Zusammenhänge aufzuklären. – Was dagegen in
seiner Seele aufsteigt, ist ihm zuerst nicht in demselben Sinne Wirklichkeit.
Es sind das eben «bloße» Gedanken und Ideen. Bilder
der sinnlichen Wirklichkeit sieht er höchstens in ihnen. Sie haben selbst
keine Wirklichkeit. Man kann sie ja nicht betasten; man hört und sieht
sie nicht.
Es gibt
ein anderes Verhältnis zu der Welt. Wer unbedingt an der eben geschilderten
Art von Wirklichkeit hängt, wird es kaum begreifen. Es stellt sich für
gewisse Menschen in einem Zeitpunkte ihres Lebens ein. Für sie kehrt
sich das ganze Verhältnis zur Welt um. Sie nennen Gebilde, die in dem
geistigen Leben ihrer Seele auftauchen, wahrhaft wirklich. Und was Sinne
hören, tasten und sehen, dem schreiben sie nur eine Wirklichkeit niederer
Art zu. Sie wissen, daß sie, was sie da sagen, nicht beweisen
können. Sie wissen, daß sie von ihren neuen Erfahrungen nur erzählen
können. Und daß sie mit ihren Erzählungen dem Andern so gegenüberstehen
wie der Sehende mit der Mitteilung der Wahrnehmungen seines Auges dem
Blindgeborenen. Sie unternehmen die Mitteilung ihrer inneren Erlebnisse
in dem Vertrauen, daß um sie andere stehen, deren geistiges Auge zwar
noch geschlossen ist, deren gedankliches Verstehen aber durch die Kraft
des Mitgeteilten ermöglicht werden kann. Denn sie haben den Glauben
an die Menschheit und wollen geistige Augenaufschließer sein. Sie können
nur hinlegen die Früchte, die ihr Geist selbst gepflückt hat; ob der
andere sie sieht, hängt davon ab, ob er Verständnis hat für das, was
ein Geistesauge schaut. – Es ist im Menschen etwas, was ihn zunächst
hindert, mit Geistesaugen zu sehen. Er ist zuerst gar nicht dazu da.
Er ist, was er seinen Sinnen nach ist; und sein Verstand ist nur der
Erklärer und Richter seiner Sinne. Diese Sinne würden ihre
Aufgabe schlecht erfüllen, wenn sie nicht auf der Treue und Untrüglichkeit
ihrer Aussagen beständen. Ein Auge wäre ein schlechtes Auge, das nicht
von seinem Standpunkte aus die unbedingte Wirklichkeit seiner Gesichtswahrnehmungen
behauptete. Das Auge hat für sich Recht. Es verliert auch sein Recht
nicht durch das Geistesauge. Dies Geistesauge läßt nur zu, daß man die
Dinge des sinnlichen Auges in einem höheren Lichte sieht. Man leugnet
dann auch nichts von dem, was das sinnliche Auge geschaut hat. Aber
von dem Gesehenen strahlt ein neuer Glanz aus, den man früher nicht
gesehen hat. Und dann weiß man, daß man zuerst nur eine niedere Wirklichkeit
gesehen hat. Man sieht nunmehr dasselbe; aber man sieht es eingetaucht
in ein Höheres, in den Geist. Es handelt sich nun darum, ob man auch
empfindet und fühlt, was man sieht. Wer allein dem Sinnlichen gegenüber
mit lebendigen Empfindungen und Gefühlen dasteht, der sieht
in dem Höheren eine Fata Morgana, ein «bloßes» Phantasiegebilde.
Seine Gefühle sind eben nur auf das Sinnliche hingeordnet. Er greift
ins Leere, wenn er die Geistesgebilde fassen will. Sie ziehen sich vor
ihm zurück, wenn er nach ihnen tasten will. Sie sind eben «bloße»
Gedanken. Er denkt sie; er lebt nicht in ihnen. Bilder sind
sie ihm, unwirklicher als hinhuschende Träume. Als Schaumgebilde steigen
sie auf, wenn er sich seiner Wirklichkeit gegenüberstellt; sie verschwinden
gegenüber der massiven, in sich fest gebauten Wirklichkeit, von der
ihm seine Sinne mitteilen. -Anders der, welcher seine Empfindungen und
Gefühle gegenüber der Wirklichkeit verändert hat. Für den hat diese
Wirklichkeit ihre absolute Standfestigkeit, ihren unbedingten Wert verloren.
Nicht stumpf brauchen seine Sinne und seine Gefühle zu werden. Aber
sie fangen an, an ihrer unbedingten Herrschaft zu zweifeln; sie lassen
Raum für etwas anderes. Die Welt des Geistes fängt an diesen Raum zu
beleben.
Eine Möglichkeit liegt hier, die furchtbar sein kann. Es ist die, daß
der Mensch seine Empfindungen und Gefühle für die unmittelbare Wirklichkeit
verliert und sich keine neue vor ihm auftut. Er schwebt dann wie im
Leeren. Er kommt sich wie abgestorben vor. Die alten Werte sind dahin,
und keine neuen sind ihm erstanden. Die Welt und der Mensch sind dann
für ihn nicht mehr vorhanden. -Das ist aber gar nicht eine bloße Möglichkeit.
Es wird für jeden, der zu höherer Erkenntnis kommen will, einmal Wirklichkeit.
Er langt da an, wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt. Er
ist dann nicht mehr in der Welt. Er ist unter der Welt – in der Unterwelt.
Er vollzieht die -Hadesfahrt. Wohl ihm, wenn er nun nicht versinkt.
Wenn sich vor ihm eine neue Welt auftut. Er schwindet entweder dahin;
oder er steht als Verwandelter neu vor sich. In letzterem Falle steht
eine neue Sonne, eine neue Erde vor ihm. Aus dem geistigen Feuer ist
ihm die ganze Welt wiedergeboren.
Und so schildern die Eingeweihten, was durch die Mysterien aus ihnen
geworden ist. Menippus erzählt, daß er nach Babylon gereist sei, um
von den Nachfolgern des Zoroaster in den Hades und wieder zurück geführt
zu werden. Er sagt, daß er auf seinen Wanderungen durch das große Wasser
geschwommen sei; daß er durch Feuer und Eis gekommen sei. Man hört von
den Mysten, daß sie durch ein gezücktes Schwert erschreckt worden seien,
und daß dabei «Blut floß». Man versteht solche Worte, wenn
man die Durchgangsstätte von der niederen zu der höheren Erkenntnis
kennt. Man hat ja selbst gefühlt, wie alle feste Materie, wie alles
Sinnliche zu Wasser zerflossen ist; man hatte ja allen Boden verloren.
Alles, was man vorher als lebend empfunden hatte, war getötet worden.
Wie ein Schwert durch den warmen Körper geht, ist der Geist durch alles
sinnliche Leben gegangen; man hat das Blut der Sinnlichkeit fließen
sehen.
Aber ein
neues Leben ist erschienen. Man ist aus der Unterwelt emporgestiegen.
Der Redner Aristides spricht davon. «Ich glaubte den Gott zu berühren,
sein Nahen zu fühlen, und ich war dabei zwischen Wachen und Schlaf;
mein Geist war ganz leicht, so daß es kein Mensch sagen und begreifen
kann, der nicht «eingeweiht» ist.» Dieses neue Dasein
ist nicht den Gesetzen des niederen Lebens unterworfen. Werden und Vergehen
berühren es nicht. Man kann viel über das Ewige sprechen; wer nicht
das damit meint, was die aussagen, die nach der Hadesfahrt davon sprechen,
dessen Worte sind «Schall und Rauch». Die Eingeweihten haben
eine neue Anschauung von Leben und Tod. Sie halten sich nun erst befugt,
von Unsterblichkeit zu sprechen. Sie wissen, daß wer ohne Kenntnis derer,
die aus den Weihen heraus von Unsterblichkeit sprechen, etwas von ihr
sagt, das er nicht versteht. Ein solcher schreibt nur einem Dinge die
Unsterblichkeit zu, das den Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen
ist. – Nicht die bloße Überzeugung von der Ewigkeit des Lebenskerns
wollen die Mysten gewinnen. Nach der Auffassung der Mysterien wäre eine
solche Überzeugung ohne allen Wert. Denn nach solcher Auffassung
ist in dem Nicht-Mysten das Ewige gar nicht lebendig vorhanden. Spräche
er von einem Ewigen, so spräche er von einem Nichts. Es ist vielmehr
dieses Ewige selbst, was die Mysten suchen. Sie müssen in sich das Ewige
erst erwecken; dann können sie davon sprechen. Daher hat für sie das
harte Wort des Plato volle Wirklichkeit, daß in Schlamm versinkt, wer
nicht eingeweiht; und daß nur der in die Ewigkeit eingeht, der mystisches
Leben durchgemacht hat. So nur auch können die Worte in dem Sophokles-Fragment
verstanden werden: «Wie hochbeglückt gelangen jene ins Schattenreich
– die eingeweiht sind. Sie leben dort allein -den andern ist
nur Not und Ungemach bestimmt.»
Schildert
man also nicht Gefahren, wenn man von den Mysterien redet?
Ist es nicht ein Glück, ja ein Lebenswert höchster Art, den man demjenigen
raubt, den man an das Tor der Unterwelt führt? Furchtbar ist doch die
Verantwortlichkeit, die man dadurch auf sich lädt. Und dennoch: dürfen
wir uns dieser Verantwortlichkeit entziehen? So waren die Fragen, die
sich der Eingeweihte vorzulegen hatte. Er war der Meinung, daß zu seinem
Wissen sich das Volksgemüt verhält, wie zum Licht das Dunkel. Aber in
diesem Dunkel wohnt ein unschuldiges Glück. Es war die Meinung der Mysten,
daß in dieses Glück nicht frevelhaft eingegriffen werden dürfe. Denn
was wäre es zunächst denn gewesen: wenn der Myste sein Geheimnis «verraten»
hätte? Er hätte Worte, nichts als Worte gesprochen. Nirgends wären die
Empfindungen und Gefühle gewesen, die aus diesen Worten den Geist geschlagen
hätten. Dazu hätte ja die Vorbereitung, hätten die Übungen und Prüfungen,
hätte der ganze Wandel im Sinnesleben gehört. Ohne diese hätte man den
Hörer in die Leerheit, in die Nichtigkeit geschleudert. Man hätte ihm
genommen, was sein Glück ausmachte; und man hätte ihm nichts dafür geben
können. Ja man hätte ihm nicht einmal etwas nehmen können. Denn mit
bloßen Worten hätte man sein Empfindungsleben ja doch nicht ändern können.
Er hätte nur bei den Dingen seiner Sinne Wirklichkeit fühlen, erleben
können. Nicht mehr als eine furchtbare, lebenzerstörende Ahnung
hätte man ihm geben können. Als ein Verbrechen hätte man das auffassen
müssen. Es kann dies nicht mehr volle Gültigkeit haben für die Erringung
der Geist-Erkenntnis in der Gegenwart. Diese kann begrifflich verstanden
werden, weil die neuere Menschheit eine Begriffsfähigkeit hat, welche
der alten fehlte. Heute kann es solche Menschen geben, die Erkenntnis
der geistigen Welt durch eigenes Erleben haben; und ihnen können solche
gegenüberstehen, die dieses Erlebte begrifflich verstehen. Eine solche
Begriffsfähigkeit fehlte der älteren Menschheit. Es gleicht die alte
Mysterienweisheit einer Treibhauspflanze, die in Abgeschlossenheit gehegt
und gepflegt werden muß. Wer sie in die Atmosphäre der Alltagsanschauungen
trägt, der gibt ihr eine Lebensluft, in der sie nicht gedeihen kann.
Vor dem kaustischen Urteil moderner Wissenschaftlichkeit und Logik zerschmilzt
sie in nichts. Entäußern wir uns deshalb eine Zeitlang aller Erziehung,
die uns Mikroskop, Fernrohr und naturwissenschaftliche Denkweise gebracht
haben; reinigen wir unsere täppisch gewordenen Hände, die zuviel mit
Sezieren und Experimentieren beschäftigt waren, damit wir in den reinen
Tempel der Mysterien treten können. Dazu ist wahre Unbefangenheit notwendig.
Es kommt
für den Mysten zuerst auf die Stimmung an, in der er sich dem naht,
was er als das Höchste, als die Antworten auf die Rätselfragen des Daseins
empfindet. Gerade in unserer Zeit, in der man als Erkenntnis nur das
Grob-Wissenschaftliche anerkennen will, wird es schwer, zu glauben,
daß es in den höchsten Dingen auf eine Stimmung ankomme. Die Erkenntnis
wird ja dadurch zu einer intimen Angelegenheit der Persönlichkeit gemacht.
Für den Mysten ist sie aber eine solche. Man sage jemand die Lösung
des Welträtsels! Man gebe sie ihm fertig in die Hand! Der Myste wird
finden, daß alles leerer Schall ist, wenn nicht die Persönlichkeit in
der rechten Art dieser Lösung gegenübertritt. Diese Lösung ist nichts;
sie zerflattert, wenn nicht das Gefühl das besondere Feuer fängt, das
notwendig ist. Eine Gottheit trete dir entgegen! Sie ist entweder nichts
oder alles. Nichts ist sie, wenn du ihr entgegentrittst in der Stimmung,
in der du den Dingen des Alltags begegnest. Sie ist alles, wenn du für
sie vorbereitet, gestimmt bist. Was sie für sich ist, das ist eine Sache,
die dich nicht berührt: ob sie dich läßt, wie du bist, oder ob sie aus
dir einen anderen Menschen macht: darauf kommt es an. Aber das hängt
lediglich von dir ab. Eine Erziehung, eine Entwicklung intimster Kräfte
der Persönlichkeit muß dich vorbereitet haben, damit in dir entzündet,
ausgelöst werde, was eine Gottheit vermag. Es kommt auf den Empfang
an, den du dem bereitest, was dir entgegengebracht wird. Plutarch hat
von dieser Erziehung Mitteilung gemacht; er hat von dem Gruß erzählt,
den der Myste der Gottheit bietet, die ihm entgegentritt: «Denn
der Gott begrüßt gleichsam einen jeden von uns, der sich ihm hier nahet,
mit dem: Kenne dich selbst, was doch gewiß um nichts schlechter ist
als der gewöhnliche Gruß: Sei gegrüßt. Wir aber erwidern darauf der
Gottheit mit den Worten: Du bist, und bringen ihr damit den Gruß des
Seins als den wahren, ursprünglichen und allein ihr zukommenden.
-Denn wir haben eigentlich hier keinen Anteil an diesem Sein, sondern
eine jede sterbliche Natur, indem sie zwischen Entstehung und Untergang
in der Mitte liegt, zeigt bloß eine Erscheinung und ein schwaches und
unsicheres Wähnen von sich selbst; bemüht man sich nun mit dem Verstande
sie zu erfassen, so geht es wie bei stark zusammengepreßtem Wasser,
welches bloß durch den Druck und das Zusammenpressen gerinnt und das,
was von ihm umfaßt wird, verdirbt; der Verstand nämlich, indem er der
allzu deutlichen Vorstellung eines jeden der Zufälle und der Veränderung
unterworfenen Wesens nachjagt, verirrt sich bald zum Ursprung desselben,
bald zu seinem Untergang, und kann nichts Bleibendes oder wirklich Seiendes
auffassen. Denn man kann, wie Heraklit sich ausdrückt, nicht zweimal
in derselben Welle schwimmen, und ebensowenig ein sterbliches Wesen
zweimal in demselben Zustand ergreifen, sondern durch die Heftigkeit
und Schnelligkeit der Bewegung zerstört es sich und vereinigt sich wieder;
es entsteht und vergeht; es geht herzu und geht weg. Daher das, was
wird, nie zum wahren Sein gelangen kann, weil die Entstehung nie aufhört
oder einen Stillstand hat, sondern schon beim Samen die Veränderung
anfängt, indem sie einen Embryo bildet, dann ein Kind, dann einen Jüngling,
einen Mann, einen Alten und einen Greis, indem sie die ersten Entstehungen
und Alter stets vernichtet durch die darauffolgenden. Daher ist es lächerlich,
wenn wir uns vor dem einen Tode fürchten, da wir schon auf
so vielfache Art gestorben sind und sterben. Denn nicht bloß, wie Heraklit
sagt, ist der Tod des Feuers das Entstehen der Luft, und der Tod der
Luft das Entstehen des Wassers, sondern man kann dieses noch deutlicher
an dem Menschen selbst wahrnehmen; der kräftige Mann stirbt, wenn er
ein Greis wird, der Jüngling, indem er ein Mann wird, der Knabe, indem
er ein Jüngling wird, das Kind, indem es ein Knabe wird. Das Gestrige
ist Sterben in dem Heutigen, das Heutige stirbt in dem Morgenden; keines
bleibt oder ist ein Einziges, sondern wir werden Vieles, indem die Materie
sich um ein Bild, um eine gemeinschaftliche Form herumtreibt. Denn wie
könnten wir, wenn wir stets dieselben wären, jetzt an andern Dingen
Gefallen finden als früherhin, die entgegengesetzten Dinge lieben und
hassen, bewundern und tadeln, anderes reden, anderen Leidenschaften
uns ergeben, wenn wir nicht auch eine andere Gestalt, andere Formen
und andere Sinne annähmen? Denn ohne Veränderung läßt sich nicht wohl
in einen andern Zustand kommen, und der, welcher sich verändert, ist
auch nicht mehr derselbe; wenn er aber nicht derselbe ist, so ist er
auch nicht mehr und verändert sich aus eben diesem, indem er ein anderer
wird. Die sinnliche Wahrnehmung verführte uns nur, weil wir das wahre
Sein nicht kennen, was bloß scheint, dafür zu halten.» (Plutarch,
Über das «EI» zu Delphi, 17 und 18 ).
Plutarch charakterisiert sich des öfteren als einen Eingeweihten. Was
er uns hier schildert, ist Bedingung des Mystenlebens. Der Mensch gelangt
zu einer Weisheit, durch die der Geist zunächst die Scheinhaftigkeit
des sinnlichen Lebens durchschaut. In den Fluß des Werdens wird alles
eingetaucht, was die Sinnlichkeit als Sein, als Wirklichkeit anschaut.
Und wie das mit allen anderen Dingen der Welt geschieht, so auch mit
dem Menschen selbst. Vor seinem Geistesauge zerflattert er selbst; seine
Ganzheit löst sich in Teile, in vergängliche Erscheinungen auf. Geburt
und Tod verlieren ihre auszeichnende Bedeutung; sie werden zu Augenblicken
der Entstehung und des Vergehens wie alles dasjenige, was sonst geschieht.
In dem Zusammenhang von Werden und Vergehen kann das Höchste nicht gefunden
werden. Es kann nur gesucht werden in dem, was wahrhaft bleibend ist,
was zurückschaut auf das Vergangene und vorschaut auf das Zukünftige.
Es ist eine höhere Erkenntnisstufe: dieses Rück- und Vorschauende zu
finden. Es ist der Geist, der sich in und an dem Sinnlichen offenbart.
Er hat nichts zu tun mit dem sinnlichen Werden. Er entsteht nicht und
vergeht nicht in derselben Art wie die Sinneserscheinungen. Wer allein
in der Sinnenwelt lebt, hat diesen Geist als verborgenen in sich; wer
die Scheinhaftigkeit der Sinnenwelt durchschaut, hat ihn als offenbare
Wirklichkeit in sich. Wer zu solchem Durchschauen gelangt, hat ein neues
Glied an sich entwickelt. Es ist mit ihm etwas vorgegangen wie mit der
Pflanze, die erst nur grüne Blätter hatte und dann eine farbige Blüte
aus sich treibt. Gewiß: die Kräfte, durch welche die Blume geworden,
lagen verborgen schon vor Entstehung der Blüte in der Pflanze, aber
sie sind erst mit dieser Entstehung zur Wirklichkeit geworden. Auch
in dem nur sinnlichen Menschen liegen verborgen die göttlich-geistigen
Kräfte; aber erst in dem Mysten sind sie offenbare Wirklichkeit. Darin
liegt die Verwandlung, die mit dem Mysten vorgegangen ist. Er hat zur
vorher vorhandenen Welt, durch seine Entwicklung, etwas Neues hinzugefügt.
Die sinnliche Welt hat aus ihm einen sinnlichen Menschen gemacht und
ihn dann sich selbst überlassen. Die Natur hat damit ihre Sendung erfüllt.
Was sie selbst mit den im Menschen wirksamen Kräften vermag, ist erschöpft.
Aber noch nicht sind diese Kräfte selbst erschöpft. Sie liegen wie verzaubert
in dem rein natürlichen Menschen und harren ihrer Erlösung. Sie können
sich nicht selbst erlösen; sie verschwinden in Nichts, wenn der Mensch
sie nun nicht ergreift und weiter entwickelt; wenn er nicht das, was
in ihm verborgen ruht, zum wirklichen Dasein erweckt. – Die Natur entwickelt
sich vom Unvollkommensten zum Vollkommenen. Vom Leblosen führt sie durch
eine weite Stufenreihe die Wesen durch alle Formen des Lebendigen bis
zum sinnlichen Menschen. Dieser schließt in seiner Sinnlichkeit die
Augen auf und wird sich als sinnlich-wirkliches, als veränderliches
Wesen gewahr. Aber er verspürt auch noch die Kräfte in sich, aus denen
diese Sinnlichkeit geboren ist. Diese Kräfte sind nicht das Veränderliche,
denn aus ihnen ist ja das Veränderliche entsprungen. Der Mensch trägt
sie in sich als Zeichen, daß mehr in ihm lebt, als was er sinnlich wahrnimmt.
Was durch sie werden kann, ist noch nicht. Der Mensch fühlt, daß in
ihm etwas aufleuchtet, was alles geschaffen, mit Einschluß seiner selbst;
und er fühlt, daß dieses Etwas das sein wird, was ihn zu höherem Schaffen
beflügeln wird. Es ist in ihm, es war vor seiner sinnlichen Erscheinung
und wird nach dieser sein. Er ist durch es geworden, aber er darf es
ergreifen und selbst an seinem Schaffen teilnehmen. Solche Gefühle leben
in dem alten Mysten nach der Einweihung. Er fühlte das Ewige, das Göttliche.
Sein Tun soll ein Glied werden in dem Schaffen dieses Göttlichen. Er
darf sich sagen: ich habe in mir ein höheres «Ich» entdeckt,
aber dieses «Ich» reicht hinaus über die Grenzen meines
sinnlichen Werdens; es war vor meiner Geburt, es wird nach meinem Tode
sein. Geschaffen hat dieses «Ich» von Ewigkeit; schaffen
wird es in Ewigkeit. Meine sinnliche Persönlichkeit ist ein Geschöpf
dieses «Ich». Aber es hat mich eingegliedert in sich; es
schafft in mir; ich bin sein Teil. Was ich nunmehr schaffe, ist ein
Höheres als das Sinnliche. Meine Persönlichkeit ist nur ein Mittel für
diese schaffende Kraft, für dieses Göttliche in mir. So hat der Myste
seine Vergottung erfahren.
Ihren
wahren Geist nannten die Mysten die Kraft, die also in ihnen aufleuchtete.
Sie waren die Ergebnisse dieses Geistes. Wie wenn ein neues Wesen in
sie eingezogen und von ihren Organen Besitz ergriffen hätte, so kam
ihnen ihr Zustand vor. Es war ein Wesen, das zwischen ihnen, als sinnlichen
Persönlichkeiten, und zwischen der allwaltenden Weltenkraft, der Gottheit,
stand. Diesen seinen wahren Geist suchte der Myste. Ich bin Mensch geworden
in der großen Natur: so sprach er zu sich. Aber die Natur hat ihr Geschäft
nicht vollendet. Diese Vollendung muß ich selbst übernehmen. Aber ich
kann es nicht in dem groben Reiche der Natur, zu der auch meine sinnliche
Persönlichkeit gehört. Was in diesem Reiche sich entwickeln kann, ist
entwickelt. Deshalb muß ich heraus aus diesem Reiche. Ich muß im Reiche
der Geister weiter bauen, da, wo die Natur stehen geblieben ist. Ich
muß mir eine Lebensluft schaffen, die in der äußeren Natur nicht zu
finden ist. Diese Lebensluft wurde für die Mysten in den Mysterientempeln
bereitet. Dort wurden die in ihnen schlummernden Kräfte erweckt; dort
wurden sie in höhere, schaffende, in Geistnaturen umgewandelt. Ein zarter
Prozeß war diese Verwandlung. Er konnte die rauhe Tagesluft nicht vertragen.
Hatte er aber seine Aufgabe erfüllt, dann war der Mensch durch ihn ein
Fels geworden, der im Ewigen gegründet war und der allen Stürmen trotzen
konnte. Nur durfte er nicht glauben, daß er anderen in unmittelbarer
Form mitteilen könne, was er erlebt.
Plutarch teilt mit, daß in den Mysterien «die größten Aufschlüsse
und Deutungen über die wahre Natur der Dämonen zu finden seien».
Und von Cicero erfahren wir, daß in den Mysterien, «wenn sie erklärt
und auf ihren Sinn zurückgeführt werden, mehr die Natur der Dinge als
die der Götter erkannt werde» (Plutarch, Über den Verfall der
Orakel; und Cicero, Über die Natur der Götter). Aus solchen Mitteilungen
ersieht man klar, daß es für Mysten höhere Aufschlüsse gab über die
Natur der Dinge, als jene waren, welche die Volksreligion zu geben vermochte.
Ja, man sieht daraus, daß die Dämonen, also die geistigen Wesenheiten,
und die Götter selbst einer Erklärung bedurften. Man ging also zu Wesenheiten
zurück, die höherer Art als Dämonen und Götter sind. Und solches lag
im Wesen der Mysterienweisheit. Das Volk stellte Götter und Dämonen
in Bildern vor, deren Inhalt ganz der sinnlich-wirklichen Welt entnommen
war. Mußte nicht derjenige, der die Wesenheit des Ewigen durchschaute,
an der Ewigkeit solcher Götter irre werden! Wie sollte der Zeus der
Volksvorstellung ein ewiger sein, da er die Eigenschaften eines vergänglichen
Wesens an sich trug? – Eines war den Mysten klar: zu seiner Vorstellung
von den Göttern kommt der Mensch auf andere Art als zu der Vorstellung
anderer Dinge. Ein Ding der Außenwelt zwingt mich, mir eine ganz bestimmte
Vorstellung von ihm zu machen. Dieser Art gegenüber hat die Bildung
der Göttervorstellungen etwas Freies, ja Willkürliches. Der Zwang der
Außenwelt fehlt. Das Nachdenken lehrt uns, daß wir mit den Göttern etwas
vorstellen, für das es keine äußere Kontrolle gibt. Das versetzt den
Menschen in eine logische Unsicherheit. Er fängt an, sich selbst als
den Schöpfer seiner Götter zu fühlen. Ja, er frägt sich: wie komme ich
dazu, in meiner Vorstellungswelt über die physische Wirklichkeit hinauszugehen?
Solchen Gedanken mußte der Myste sich hingeben. Da lagen für ihn berechtigte
Zweifel. Man sehe sich, so mochte er denken, nur alle Göttervorstellungen
an. Gleichen sie nicht den Geschöpfen, die man in der Sinneswelt antrifft?
Hat sich sie der Mensch nicht geschaffen, indem er diese oder jene Eigenschaften
von dem Wesen der Sinneswelt weggedacht oder hinzugedacht hat? Der Unkultivierte,
der die Jagd liebt, schafft sich einen Himmel, in dem die herrlichsten
Götterjagden abgehalten werden. Und der Grieche versetzt in seinen Olymp
Götter-persönlichkeiten, zu denen die Vorbilder in der wohlbekannten
griechischen Wirklichkeit waren.
Mit rauher Logik hat der Philosoph Xenophanes (575 bis 480) auf diese
Tatsache hingewiesen. Wir wissen, daß die älteren griechischen Philosophen
durchaus von der Mysterienweisheit abhängig waren. Von Heraklit ausgehend,
soll das noch im besonderen bewiesen werden. Deshalb darf, was Xenophanes
sagt, ohne weiteres als Mystenüberzeugung genommen werden. Es heißt:
Menschen, die denken die Götter nach ihrem Bilde geschaffen,
Ihre Sinne sollen sie haben und Stimme und Körper.
Aber wenn Hände besäßen die Rinder oder die Löwen,
Um mit den Händen zu malen und Arbeit zu tun wie die Menschen
Würden der Götter Gestalten sie malen und bilden die Leiber
So, wie sie selber an Körper beschaffen wären ein jeder,
Pferde den Pferden und Rinder den Rindern gleichende Götter.
Zum Zweifler an allem Göttlichen kann der Mensch werden durch solche
Einsicht. Er kann die Götterdichtungen von sich weisen und nur als Wirklichkeit
anerkennen, wozu ihn seine sinnlichen Wahrnehmungen zwingen. Aber zu
einem solchen Zweifler wurde der Myste nicht. Er sah ein, daß dieser
Zweifler einer Pflanze gleicht, die sich sagte: meine farbige Blume
ist null und eitel; denn abgeschlossen bin ich mit meinen grünen Blättern;
was ich zu ihnen hinzufüge, vermehrt sie nur um einen trügerischen Schein.
Aber ebensowenig konnte der Myste bei also geschaffenen Göttern, bei
den Volksgöttern, stehen bleiben. Könnte die Pflanze denken, so würde
sie einsehen, daß die Kräfte, welche die grünen Blätter geschaffen haben,
auch bestimmt sind, die farbige Blume zu schaffen. Aber sie würde nicht
ruhen, diese Kräfte selbst zu erforschen, um sie zu schauen. Und so
hielt es der Myste mit den Volksgöttern. Er leugnete sie nicht, er erklärte
sie nicht für eitel; aber er wußte, daß vom Menschen sie geschaffen
sind. Dieselben Naturkräfte, dasselbe göttliche Element, die in der
Natur schaffen, schaffen auch im Mysten. Und in ihm erzeugen sie Göttervorstellungen.
Er will diese götterschaffende Kraft schauen. Sie gleicht nicht den
Volksgöttern; sie ist ein Höheres. Auch darauf deutet Xenophanes:
Ein Gott ist unter Göttern der größte und unter den Menschen,
Weder in Körper den Sterblichen ähnlich noch gar an Gedanken.
Dieser
Gott war auch der Gott der Mysterien. Einen «verborgenen Gott»
konnte man ihn nennen. Denn nirgends – so stellte man sich vor – ist
er für den bloß sinnlichen Menschen zu finden. Wende deine Blicke hinaus
auf die Dinge; du findest kein Göttliches. Strenge deinen Verstand an;
du magst einsehen, nach welchen Gesetzen die Dinge entstehen und vergehen;
aber auch dein Verstand weist dir kein Göttliches. Durchtränke deine
Phantasie mit religiösem Gefühl; du kannst die Bilder von Wesen schaffen,
die du für Götter halten magst, doch dein Verstand zerpflückt sie dir,
denn er weist dir nach, daß du sie selbst geschaffen und dazu den Stoff
aus der Sinnenwelt entlehnt hast. Sofern du als verständiger
Mensch die Dinge um dich herum betrachtest, mußt du Gottesleugner sein.
Denn Gott ist nicht für deine Sinne und für deinen Verstand, der dir
die sinnlichen Wahrnehmungen erklärt. Gott ist eben in der Welt verzaubert.
Und du brauchst seine eigene Kraft, um ihn zu finden. Diese Kraft mußt
du in dir erwecken. Das sind die Lehren, die ein alter Einzuweihender
empfing. Und nun begann für ihn das große Weltendrama, in das er lebendig
verschlungen wurde. In nichts Geringerem bestand dieses Drama als in
der Erlösung des verzauberten Gottes. Wo ist Gott? Das war die Frage,
die dem Mysten sich vor die Seele stellte. Gott ist nicht, aber die
Natur ist. In der Natur muß er gefunden werden. In ihr hat er sein Zaubergrab
gefunden. In einem höheren Sinne faßt der Myste die Worte: Gott ist
die Liebe. Denn Gott hat diese Liebe bis zum äußersten gebracht. Er
hat sich selbst in unendlicher Liebe hingegeben; er hat sich ausgegossen;
er hat sich in die Mannigfaltigkeit der Naturdinge zerstückelt; sie
leben, und er lebt nicht in ihnen. Er ruht in ihnen. Er lebt im Menschen.
Und der Mensch kann das Leben des Gottes in sich erfahren. Soll er ihn
zur Erkenntnis kommen lassen, muß er diese Erkenntnis schaffend erlösen.
– Der Mensch blickt nun in sich. Als verborgene Schöpferkraft, noch
Dasein-los, wirkt das Göttliche in seiner Seele. In dieser Seele ist
eine Stätte, in der das verzauberte Göttliche wieder aufleben kann.
Die Seele ist die Mutter, die das Göttliche aus der Natur empfangen
kann. Lasse die Seele von der Natur sich befruchten, so wird sie ein
Göttliches gebären. Aus der Ehe der Seele mit der Natur wird es geboren.
Das ist nun kein «verborgenes» Göttliches mehr, das ist
ein offenbares. Es hat Leben, wahrnehmbares Leben, das unter den Menschen
wandelt. Es ist der entzauberte Geist im Menschen, der Sproß des verzauberten
Göttlichen. Der große Gott, der war, ist und sein wird, der ist er wohl
nicht; aber er kann doch in gewissem Sinne als dessen Offenbarung genommen
werden. Der Vater bleibt ruhig im Verborgenen; dem Menschen
ist der Sohn aus der eigenen Seele geboren. Die mystische Erkenntnis
ist damit ein wirklicher Vorgang im Weltprozesse. Sie ist eine Geburt
eines Gottessprossen. Sie ist ein Vorgang, so wirklich wie ein anderer
Naturvorgang, nur auf einer höheren Stufe. Das ist das große Geheimnis
des Mysten, daß er selbst seinen Gottessprossen schaffend erlöst, daß
er sich zuvor aber vorbereitet, um diesen von ihm geschaffenen Gottessprossen
auch anzuerkennen. Dem Nicht-Mysten fehlt die Empfindung von dem Vater
dieses Sprossen. Denn dieser Vater ruht in Verzauberung. Jungfräulich
geboren erscheint der Sproß. Die Seele scheint unbefruchtet ihn geboren
zu haben. Alle ihre anderen Geburten sind von der Sinnenwelt empfangen.
Man sieht und tastet hier den Vater. Er hat sinnliches Leben. Der Gottes-Sproß
allein ist von dem ewigen, verborgenen Vater-Gott selbst empfangen.
|