Gesichtspunkte
Das naturwissenschaftliche
Denken hat das neuzeitliche Vorstellungsleben tiefgehend beeinflußt.
Immer unmöglicher wird es, von den geistigen Bedürfnissen,
von dem «Leben der Seele» zu sprechen, ohne sich mit den
Vorstellungsarten und Erkenntnissen der Naturwissenschaft auseinanderzusetzen.
Gewiß: es gibt noch viele Menschen, welche diese Bedürfnisse
befriedigen, ohne sich die Kreise von der naturwissenschaftlichen Strömung
im Geistesleben stören zu lassen. Diejenigen, welche den Pulsschlag
der Zeit hören, können nicht zu diesen gehören. Mit wachsender
Schnelligkeit erobern sich die aus der Naturerkenntnis geschöpften
Vorstellungen die Köpfe; und die Herzen folgen, wenn auch viel
weniger willig, wenn auch oft mutlos und zagend. Nicht allein auf die
Zahl derer kommt es an, die erobert sind; sondern darauf, daß
dem naturwissenschaftlichen Denken eine Kraft innewohnt, die dem Aufmerkenden
die Überzeugung gibt: dieses Denken enthält etwas, an dem
eine Weltanschauung der Gegenwart nicht vorbeigehen kann, ohne bedeutungsvolle
Eindrücke zu empfangen. Manche Auswüchse dieses Denkens nötigen
zu einem berechtigten Zurückweisen seiner Vorstellungen. Doch kann
man dabei nicht stehen bleiben in einem Zeitalter, in dem sich weite
Kreise dieser Denkungsart zuwenden und von ihr wie von einer Zaubermacht
angezogen werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß
einzelne Persönlichkeiten einsehen, wie wirkliche Wissenschaft
durch sich selbst über die «flache Kraft- und Stoffweisheit»
des Materialismus «längst» hinausgeführt hat.
Viel mehr, so scheint es, ist auf diejenigen zu achten, die mit Kühnheit
erklären: die naturwissenschaftlichen Vorstellungen sind es, auf
die auch eine neue Religion aufgebaut werden müsse. Wenn solche
dem, der die tieferen geistigen Interessen der Menschheit kennt, auch
flach und oberflächlich erscheinen, so muß er doch auf sie
hören; denn ihnen wendet sich die Aufmerksamkeit der Gegenwart
zu; und es sind Gründe zu der Ansicht vorhanden, daß sie
die Aufmerksamkeit in der nächsten Zukunft immer mehr gewinnen
werden. Und auch die anderen kommen in Betracht, die mit den Interessen
ihres Herzens hinter denen ihres Kopfes zurückgeblieben sind. Es
sind die, welche sich in ihrem Verstande den naturwissenschaftlichen
Vorstellungen nicht entziehen können. Die Beweislast drückt
auf sie. Aber die religiösen Bedürfnisse ihres Gemütes
können von diesen Vorstellungen nicht befriedigt werden. Für
eine solche Befriedigung liefern diese eine zu trostlose Perspektive.
Soll denn die Menschenseele sich für die Höhen der Schönheit,
Wahrheit und Güte begeistern, um in jedem einzelnen Fälle
wie eine vom materiellen Gehirn aufgetriebene Schaumblase am Ende in
Wesenlosigkeit hinweggefegt zu werden? Das ist eine Empfindung, die
auf vielen wie ein Alp lastet. Und die naturwissenschaftlichen Vorstellungen
lasten auch deshalb auf ihnen, weil sie mit einer gewaltigen autoritativen
Kraft sich aufdrängen. Solche Menschen verhalten sich, solange
sie nur können, blind gegen diesen Zwiespalt in ihrer Seele. Ja,
sie trösten sich damit, zu sagen, daß volle Klarheit in diesen
Dingen der menschlichen Seele versagt sei. Sie denken naturwissenschaftlich,
soweit die Erfahrung der Sinne und die Logik des Verstandes dies erfordern;
aber sie erhalten sich ihre anerzogenen religiösen Empfindungen
und bleiben am liebsten über diese Dinge in einer den Verstand
umnebelnden Dunkelheit. Sie haben nicht den Mut, sich zu einer Klarheit
durchzuringen.
So kann
kein Zweifel darüber sein: die naturwissenschaftliche Denkungsart
ist die mächtigste Gewalt im Geistesleben der Neuzeit. Und wer
von den geistigen Interessen der Menschheit spricht, darf an ihr nicht
achtlos vorübergehen. Aber zweifellos ist es auch, daß die
Art, wie sie zunächst die geistigen Bedürfnisse befriedigt,
eine oberflächliche und flache ist. Es wäre trostlos, wenn
diese Art die rechte wäre. Oder wäre es nicht niederdrückend,
wenn man zustimmen müßte, sobald einer sagt: «Der Gedanke
ist eine Form der Kraft. Wir gehen mit derselben Kraft, mit
der wir denken. Der Mensch ist ein Organismus, der verschiedene Formen
der Kraft in Gedankenkraft umwandelt, ein Organismus, den wir mit dem,
was wir «Nahrung» nennen, in Tätigkeit erhalten und
mit dem wir das, was wir Gedanken nennen, produzieren. Welch ein wundervoller
chemischer Prozeß, der ein bloßes Quantum Nahrung in die
göttliche Tragödie eines «Hamlet» verwandeln konnte!»?
Das ist geschrieben in einer Broschüre Robert G. Ingersolls,
die den Titel «Moderne Götterdämmerung» trägt.
– Mögen solche Gedanken äußerlich wenig Zustimmung finden,
wenn sie der eine oder andere ausspricht: das ist gleichgültig.
Die Hauptsache ist, daß Unzählige durch die naturwissenschaftliche
Denkungsart sich gezwungen sehen, sich im Sinne der obigen Sätze
zu den Vorgängen der Welt zu stellen, auch wenn sie die Meinung
haben, daß sie es nicht tun.
Gewiß wären diese Dinge trostlos, wenn die Naturwissenschaft
selbst zu dem Bekenntnisse zwänge, das viele ihrer neueren Propheten
verkünden. Am trostlosesten für den, welcher aus dem Inhalte
dieser Naturwissenschaft die Überzeugung gewonnen hat, daß
auf ihrem Naturgebiete ihre Denkungsart gültig, ihre Methoden unerschütterlich
sind. Denn ein solcher muß sich sagen: mögen sich die Leute
noch so sehr über einzelne Fragen herumstreiten; mögen Bände
nach Bänden geschrieben, Beobachtungen nach Beobachtungen gesammelt
werden über den «Kampf ums Dasein» und seine Bedeutungslosigkeit,
über «Allmacht » oder «Ohnmacht» der «Naturzüchtung»:
die Naturwissenschaft selbst bewegt sich in einer Richtung, die, innerhalb
gewisser Grenzen, Zustimmung in immer höherem Grade finden muß.
Aber sind
die Forderungen der Naturwissenschaft wirklich diejenigen, von denen
einige ihrer Vertreter sprechen? Daß sie es nicht sind, beweist
gerade das Verhalten dieser Vertreter selbst. Dieses ihr Verhalten ist
auf ihrem eigenen Gebiete nicht ein solches, wie viele es beschreiben
und für andere Gebiete fordern. Oder hätten Darwin
und Ernst Haeckel jemals die großen Entdeckungen auf
dem Gebiete der Lebensentwicklung gemacht, wenn sie, statt das Leben
und den Bau der Lebewesen zu beobachten, sich in das Laboratorium begeben
hätten, um chemische Versuche über ein aus einem Organismus
herausgeschnittenes Stück Gewebe anzustellen? Hätte Lyell
die Entwicklung der Erdrinde darstellen können, wenn er nicht die
Schichten der Erde und deren Inhalt untersucht, sondern dafür unzählige
Steine auf ihre chemischen Eigenschaften hin geprüft hätte?
Man wandle doch wirklich in den Spuren dieser Forscher, die sich wie
monumentale Gestalten innerhalb der neueren Wissenschaftsentwicklung
darstellen! Man wird es dann in den höheren Gebieten des Geisteslebens
treiben, wie sie es auf dem Felde der Naturbeobachtung getrieben haben.
Man wird dann nicht glauben, daß man das Wesen der «göttlichen»
Hamlettragödie begriffen habe, wenn man sagt: ein wundervoller
chemischer Prozeß habe ein Quantum Nahrung in diese Tragödie
umgewandelt. Man wird das ebensowenig glauben, wie irgendein Naturforscher
im Ernste glauben kann: er habe die Aufgabe der Wärme bei der Erdentwicklung
begriffen, wenn er die Wirkung der Wärme auf den Schwefel in der
chemischen Retorte studiert hat. Er sucht ja den Bau des menschlichen
Gehirns auch nicht dadurch zu begreifen, daß er ein Stückchen
aus dem Kopfe nimmt und untersucht, wie eine Lauge darauf wirkt, sondern
indem er sich frägt, wie es sich im Laufe der Entwicklung aus den
Organen niederer Organismen gestaltet hat.
Es ist also doch wahr: derjenige, welcher die Wesenheit des Geistes
untersucht, kann von der Naturwissenschaft nur lernen. Er braucht es
nur wirklich so zu machen, wie sie es macht. Er darf sich nur nicht
täuschen lassen durch das, was ihm einzelne Vertreter der Naturwissenschaft
vorschreiben wollen. Er soll forschen im geistigen Gebiete wie sie im
physischen; aber er braucht die Meinungen nicht zu übernehmen,
welche sie, getrübt durch ihr Denken über rein Physisches,
von der geistigen Welt vorstellen.
Man handelt nur im Sinne der Naturwissenschaft, wenn man den geistigen
Werdegang des Menschen ebenso unbefangen betrachtet, wie der Naturforscher
die sinnliche Welt beobachtet. Man wird dann allerdings auf dem Gebiete
des Geisteslebens zu einer Betrachtungsart geführt, die sich von
der bloß naturwissenschaftlichen ebenso unterscheidet wie die
geologische von der bloß physikalischen, die Untersuchung der
Lebensentwicklung von der Erforschung der bloßen chemischen Gesetze.
Man wird zu höheren Methoden geführt, die zwar nicht die naturwissenschaftlichen
sein können, aber doch ganz in ihrem Sinne gehalten sind. Dadurch
wird sich manche einseitige Ansicht der Naturforschung von einem andern
Gesichtspunkte modifizieren oder korrigieren lassen; aber man setzt
damit die Naturwissenschaft nur fort; man sündigt nicht gegen sie.
– Solche Methoden allein können dazu führen, in geistige Entwicklungen
wie in diejenige des Christentums oder anderer religiöser Vorstellungswelten
wirklich einzudringen. Wer sie anwendet, mag den Widerspruch mancher
Persönlichkeit erregen, die naturwissenschaftlich zu denken glaubt:
er weiß sich aber doch in vollem Einklänge mit einer wahrhaft
naturwissenschaftlichen Vorstellungsart.
Auch über die bloß geschichtliche Erforschung der Dokumente
des Geisteslebens muß ein also Forschender hinausschreiten. Er
muß es gerade wegen seiner aus der Betrachtung des natürlichen
Geschehens geschöpften Gesinnung. Es hat für die Darlegung
eines chemischen Gesetzes wenig Wert, wenn man die Retorten, Schalen
und Pinzetten beschreibt, die zu der Entdeckung des Gesetzes geführt
haben. Aber genau so viel und genau so wenig Wert hat es, wenn man,
um die Entstehung des Christentums darzulegen, die geschichtlichen Quellen
feststellt, aus denen der Evangelist Lukas geschöpft hat; oder
aus denen die «Geheime Offenbarung» des Johannes zusammengestellt
ist. Die «Geschichte» kann da nur der Vorhof der eigentlichen
Forschung sein. Nicht dadurch erfährt man etwas über die Vorstellungen,
welche in den Schriften des Moses oder in den Überlieferungen der
griechischen Mysten herrschen, daß man die geschichtliche Entstehung
der Dokumente verfolgt. In diesen haben doch die Vorstellungen, um die
es sich handelt, nur einen äußeren Ausdruck gefunden. Und
auch der Naturforscher, der das Wesen des «Menschen» erforschen
will, verfolgt nicht, wie das Wort «Mensch» entstanden ist,
und wie es in der Sprache sich fortgebildet hat. Er hält sich an
die Sache, nicht an das Wort, in dem die Sache ihren Ausdruck findet.
Und im Geistesleben wird man sich an den Geist und nicht an seine äußeren
Dokumente zu halten haben.
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