Vorwort
zur Zweiten Auflage
«Das
Christentum als mystische Tatsache» nannte der Verfasser diese
Schrift, als er in ihr vor acht Jahren den Inhalt von Vorträgen zusammenfaßte,
die er im Jahre 1902 gehalten hatte. Mit diesem Titel sollte auf den
besonderen Charakter des Buches gedeutet werden. Es ist in ihm nicht
bloß der mystische Gehalt des Christentums geschichtlich darzustellen
versucht worden, sondern es sollte die Entstehung des Christentums aus
der mystischen Anschauung heraus geschildert werden. Es lag dabei der
Gedanke zugrunde, daß in dieser Entstehung geistige Tatsachen wirkten,
die nur durch eine solche Anschauung gesehen werden können. Der Inhalt
des Buches allein kann rechtfertigen, daß sein Verfasser «mystisch»
nicht eine Anschauung nennt, welche sich mehr an unbestimmte Gefühlserkenntnisse
als an «streng wissenschaftliche Darlegung» hält. In weiten
Kreisen wird ja gegenwärtig «Mystik» in einer solchen Art
verstanden und dadurch wohl auch von vielen für ein Gebiet des menschlichen
Seelenlebens erklärt, das mit «echter Wissenschaft» nichts
zu tun haben kann. Im Sinne dieses Buches wird das Wort «Mystik
» gebraucht für die Darstellung einer geistigen Tatsache, die in
ihrem Wesen nur erkannt werden kann, wenn die Erkenntnis aus den Quellen
des geistigen Lebens selbst hergenommen ist. Wer eine Erkenntnisart,
die aus solchen Quellen schöpft, ablehnt, der wird zu dem Inhalt dieses
Buches keine Stellung gewinnen können. Nur wer «Mystik» in
dem Sinne gelten läßt, daß in ihr eben solche Klarheit herrschen kann
wie in wahrer Darstellung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, der
wird darauf sich einlassen, wie hier der Inhalt des Christentums als
Mystik auch mystisch geschildert wird. Denn nicht nur auf den Inhalt
der Schrift kommt es an, sondern – und vor allem darauf – aus welchen
Erkenntnismitteln heraus in ihr dargestellt wird.
In unserer
gegenwärtigen Zeit haben viele noch die heftigsten Abneigungen gegen
solche Erkenntnismittel. Sie sehen sie als wahrer Wissenschaftlichkeit
widersprechend an. Und dies ist der Fall nicht nur bei denjenigen, welche
bloß eine in ihrem Sinne gehaltene Weltauffassung auf dem Boden «echter
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse» gelten lassen wollen, sondern
auch bei solchen, welche als Bekenner des Christentums dessen Wesen
betrachten wollen. Der Verfasser dieser Schrift steht auf dem Boden
einer Auffassung, welche einsieht, daß die naturwissenschaftlichen Errungenschaften
unserer Gegenwart die Erhebung zu wahrer Mystik fordern. Diese Auffassung
kann zeigen, daß eine andere Stellung zur Erkenntnis gerade im Widerspruch
steht zu allem, was diese naturwissenschaftlichen Errungenschaften darbieten.
Mit denjenigen Erkenntnismitteln, welche so manche allein anwenden möchten,
die da meinen, auf dem festen Boden der Naturwissenschaften zu stehen,
können die Tatsachen dieser Naturwissenschaft eben nicht umfaßt werden.
Nur wer
zugeben kann, daß volles Gerechtwerden gegenüber unserer gegenwärtigen,
so bewundernswerten Naturerkenntnis mit echter Mystik vereinbar ist,
der wird dieses Buch nicht ablehnen.
Durch dasjenige,
was hier «mystische Erkenntnis» genannt wird, soll in diesem
Buche gezeigt werden, wie der Quell des Christentums sich seine Voraussetzungen
geschaffen hat in den Mysterien der vorchristlichen Zeit. In dieser
«vorchristlichen Mystik» wird der Boden aufgezeigt, in dem
als ein Keim von selbständiger Art das Christentum gedeiht. Dieser Gesichtspunkt
macht möglich, das Christentum in seiner selbständigen Wesenheit zu
verstehen, trotzdem man seine Entwicklung aus der vorchristlichen Mystik
verfolgt. Bei Außerachtlassung dieses Gesichtspunktes ist es nur zu
leicht möglich, daß diese Selbständigkeit verkannt wird, indem man glaubt,
in dem Christentum habe sich nur weiterentwickelt, was in der vorchristlichen
Mystik schon da war. In diesen Fehler verfallen viele Meinungen der
Gegenwart, welche den Inhalt des Christentums vergleichen mit vorchristlichen
Anschauungen, und dann glauben, die christlichen seien nur eine Fortbildung
dieser vorchristlichen. Das vorliegende Buch soll zeigen, daß Christentum
die vorherige Mystik voraussetzt wie der Pflanzenkeim seinen Boden.
Es will die Wesenheit des Christentums gerade in ihrer Eigenart betonen
durch die Erkenntnis seiner Entstehung, sie aber nicht auslöschen.
Mit tiefer
Befriedigung darf der Verfasser erwähnen, daß er mit solcher Darstellung
des «Wesens des Christentums » die Zustimmung einer Persönlichkeit
gefunden hat, welche durch ihre bedeutungsvollen Schriften über das
Geistesleben der Menschheit die Bildung unserer Zeit im tiefsten Sinne
bereichert hat. Edouard Schuré, der Verfasser der «Grands Initiés»(*),
stimmte den Gesichtspunkten dieses Buches bis zu dem Grade zu, daß er
selbst dessen Übersetzung ins Französische besorgte (unter dem Titel
«Les mystéres antiques et les mystéres chrétiennes»). Nur
nebenher und als Symptom dafür, daß in der Gegenwart eine Sehnsucht
besteht, das Wesen des Christentums im Sinne dieses Buches zu verstehen,
soll erwähnt werden, daß die erste Auflage außer ins Französische auch
in andere europäische Sprachen übersetzt ist.
Irgend
etwas Wesentliches an der ersten Auflage zu ändern, hat sich der Verfasser
bei Veranstaltung dieser zweiten Auflage nicht veranlaßt gesehen. Dagegen
finden sich in derselben Erweiterungen des vor acht Jahren Dargestellten.
Auch ist versucht worden, manches genauer und ausführlicher zu fassen,
als es damals hat geschehen können. Leider ist der Verfasser durch viele
Arbeit gezwungen gewesen, lange Zeit verstreichen zu lassen zwischen
dem Augenblicke, da die erste Auflage vergriffen
Geschrieben im Mai 1910.
Rudolf Steiner
*Dieses
Buch liegt in deutscher Übersetzung von Marie Steiner vor: «Die
großen Eingeweihten» von Edouard Schuré [12., ungekürzte
Auflage München 1956]
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