Die
Mysterienweisheit und der Mythos
Der Myste
suchte in sich Kräfte, er suchte Wesenheiten in sich auf, die dem Menschen
so lange unbekannt bleiben, als er in der gewöhnlichen Lebensanschauung
steckt. Der Myste stellt die große Frage nach seinen eigenen geistigen,
über die niedere Natur hinausgehenden Kräften und Gesetzen. Der Mensch
mit der gewöhnlichen, sinnlich-logischen Lebensanschauung schafft sich
Götter, oder wenn er zu der Einsicht des Schaffens kommt, dann leugnet
er sie. Der Myste erkennt, daß er Götter schafft; er erkennt,
warum er sie schafft; er ist sozusagen hinter die Naturgesetzmäßigkeit
des Götterschaffens gekommen. Es ist mit ihm so, wie wenn die Pflanze
plötzlich wissend würde und die Gesetze ihres eigenen Wachstums, ihrer
eignen Entwicklung kennen lernte. Sie entwickelt sich in holder Unbewußtheit.
Wüßte sie um ihre Gesetze, müßte sie ein ganz anderes Verhältnis zu
sich selbst gewinnen. Was der Lyriker empfindet, wenn er die Pflanze
besingt, was der Botaniker denkt, wenn er ihren Gesetzen nachforscht:
Das würde einer wissenden Pflanze als Ideal von sich selbst vorschweben.
– So ist es mit dem Mysten in bezug auf seine Gesetze, auf
die in ihm wirkenden Kräfte. Als Wissender muß er über sich hinaus ein
Göttliches schaffen. Und so stellten sich auch die Eingeweihten zu dem,
was das Volk über die Natur hinaus geschaffen hätte. So stellten sie
sich zu der Götter- und Mythenwelt des Volkes. Sie wollten die Gesetze
dieser Götter- und Mythenwelt erkennen. Da wo das Volk eine Göttergestalt,
wo es einen Mythos hatte: da suchten sie eine höhere Wahrheit. – Man
betrachte ein Beispiel: Die Athener waren von dem kretischen König Minos
gezwungen worden, ihm alle acht Jahre sieben Knaben und sieben Mädchen
zu liefern. Diese wurden dem Minotaurus, einem fürchterlichen Ungeheuer,
als Speise vorgeworfen. Als das dritte Mal die traurige Sendung nach
Kreta abgehen sollte, zog der Königssohn Theseus mit. Als dieser in
Kreta eintraf, nahm sich Ariadne, des König Minos eigene Tochter, seiner
an. Der Minotaurus hauste in dem Labyrinth, einem Irrgarten, aus dem
sich niemand herausfinden konnte, der hineingeraten war. Theseus wollte
seine Vaterstadt von dem schimpflichen Tribut befreien. Er mußte in
das Labyrinth, in das sonst des Ungeheuers Beute geworfen wurde. Er
wollte den Minotaurus töten. Er unterzog sich dieser Aufgabe; er überwand
den furchtbaren Feind und gelangte wieder ins Freie mit Hilfe eines
Fadenknäuels, das ihm Ariadne gereicht hatte. – Dem Mysten sollte klar
werden, wie der schaffende Menschengeist dazu kommt, eine derartige
Erzählung auszubilden. Wie der Botaniker das Pflanzenwachstum belauscht,
um seine Gesetze zu finden, so wollte er den schaffenden Geist belauschen.
Er suchte eine Wahrheit, einen Weisheitsgehalt da, wohin das
Volk einen Mythos gesetzt hatte. Sallustius verrät uns die Stellung
eines mystischen Weisen gegenüber einem solchen Mythos: «Man könnte
die ganze Welt einen Mythos nennen, der die Körper und Dinge sichtbarlich,
die Seelen und Geister verborgener Weise in sich schließt. Würde allen
die Wahrheit über die Götter gelehrt, so würden sie die Unverständigen,
weil sie sie nicht begreifen, gering schätzen, die Tüchtigeren aber
leicht nehmen; wird aber die Wahrheit in mythischer Umhüllung gegeben,
so ist sie vor Geringschätzung gesichert und gewährt den Antrieb zum
Philosophieren. »
Wenn man
den Wahrheitsgehalt eines Mythos als Myste suchte, so war man sich bewußt,
daß man etwas hinzufügte zu dem, was im Volksbewußtsein vorhanden war.
Man war sich klar, daß man sich über dieses Volksbewußtsein stellte,
wie sich der Botaniker über die wachsende Pflanze stellt. Man
sagte etwas ganz anderes, als im mythischen Bewußtsein vorhanden war;
aber man sah das, was man sagte, als eine tiefere Wahrheit an, die sich
symbolisch im Mythos zum Ausdrucke brachte. Der Mensch steht der Sinnlichkeit
als einem feindlichen Ungeheuer gegenüber. Er opfert ihr die Früchte
seiner Persönlichkeit. Sie verschlingt sie. Sie tut es so lange, bis
im Menschen der Überwinder (Theseus) erwacht. Seine Erkenntnis spinnt
ihm den Faden, durch den er sich wieder zurechtfindet, wenn er sich
in den Irrgarten der Sinnlichkeit begibt, um seinen Feind zu töten.
Das Mysterium der menschlichen Erkenntnis selbst ist in dieser Überwindung
der Sinnlichkeit ausgesprochen. Der Myste kennt dieses Mysterium, Es
ist durch dasselbe auf eine Kraft in der menschlichen Persönlichkeit
gedeutet. Das gewöhnliche Bewußtsein ist sich dieser Kraft nicht bewußt.
Aber sie wirkt doch in ihm. Sie erzeugt den Mythos, der dieselbe
Struktur hat wie die mystische Wahrheit. Diese Wahrheit symbolisiert
sich in dem Mythos. – Was liegt also in den Mythen? Es liegt in ihnen
eine Schöpfung des Geistes, der unbewußt schaffenden Seele. Die Seele
hat eine ganz bestimmte Gesetzmäßigkeit. Sie muß in einer bestimmten
Richtung wirken, um über sich hinaus zu schaffen. Auf der mythologischen
Stufe tut sie das in Bildern; aber diese Bilder sind nach Maßgabe der
Seelengesetzmäßigkeit gebaut. Man könnte auch sagen: wenn die Seele
über die Stufe des mythologischen Bewußtseins hinaus zu den tieferen
Wahrheiten vorschreitet, dann tragen diese dasselbe Gepräge wie vorher
die Mythen, denn eine und dieselbe Kraft ist bei ihrer Entstehung tätig.
Plotin, der Philosoph der neuplatonischen Schule (204–269 n. Chr.),
spricht sich über dieses Verhältnis von bildlich-mythischer Vorstellungsweise
zu höherem Erkennen mit Bezug auf die ägyptischen Priesterweisen aus:
«Die
ägyptischen Weisen bedienen sich, sei es auf Grund strenger Forschung,
sei es instinktiv, bei der Mitteilung ihrer Weisheit nicht der Schriftzeichen
zum Ausdruck ihrer Lehren und Sätze als der Nachahmungen von Stimme
und Rede, sondern sie zeichnen Bilder und legen in ihren Tempeln in
den Umrissen der Bilder den Gedankengehalt jeder Sache nieder, so daß
jedes Bild ein Wissens- und Weisheitsinhalt, ein Objekt und eine Totalität,
obschon keine Auseinandersetzung und Diskussion ist. Man löst dann den
Gehalt aus dem Bilde heraus und gibt ihm Worte und findet den Grund,
warum es so und nicht anders ist. »
Will man
das Verhältnis der Mystik zu mythischen Erzählungen kennen lernen, so
muß man sehen, wie die Weltanschauung derjenigen sich zum Mythischen
verhält, die sich mit ihrer Weisheit im Einklang wissen mit der Vorstellungsart
des Mysterienwesens. Ein solcher Einklang ist im vollsten Maße bei Plato
vorhanden. Wie er Mythen auslegt und wie er sie innerhalb seiner Darstellung
verwendet, kann als maßgebend gelten. Im «Phädrus», einem
Gespräche über die Seele, wird der Mythos von Boreas angeführt. Dieses
göttliche Wesen, das in dem einherbrausenden Winde gesehen wurde, erblickte
einst die schöne Orithya, die Tochter des attischen Königs Erechtheus,
die mit ihren Gespielinnen Blumen pflückte. Er wurde von Liebe zu ihr
ergriffen, raubte sie und brächte sie in seine Grotte. Plato läßt in
dem Gespräch den Sokrates eine rein verstandesmäßige Auslegung dieses
Mythos zurückweisen. Darnach soll eine ganz äußerliche, natürliche Tatsache
symbolisch in der Erzählung dichterisch ausgesprochen sein. Der Sturmwind
soll die Königstochter erfaßt und von dem Felsen hinabgeschleudert haben.
«Derartige Deutungen», sagt Sokrates, «sind gelehrte
Klügeleien, so beliebt und gewöhnlich sie heutzutage auch sein mögen.
Denn wer eine dieser mythologischen Gestalten zersetzt hat, der muß
der Konsequenz wegen auch alle übrigen in derselben Weise zweifelnd
beleuchten und natürlich zu erklären wissen. . . . Aber selbst wenn
eine solche Arbeit zu Ende gebracht werden könnte: unter allen Fällen
würde sie auf seiten dessen, der sie vollführt, keine glückliche Begabung,
sondern nur einen gefälligen Witz beweisen, eine bäuerische Weisheit
und eine lächerliche Voreiligkeit. . . . Deswegen lasse ich solche Untersuchungen
fahren und glaube, was allgemein davon gehalten wird. Nicht sie untersuche
ich, wie ich eben schon sagte, sondern mich selber, ob ich
nicht etwa auch ein Ungeheuer bin, mannigfacher gestaltet und infolgedessen
verworrener als eine Chimäre, wilder als Typhon, oder ob ich ein zahmeres
und einfacheres Wesen darstelle, dem ein Teil sittsamer und göttlicher
Natur verliehen worden ist. » Was Plato nicht billigt, ersieht
man daraus: eine verstandesmäßige, rationalistische Deutung der Mythen.
Das muß man zusammenhalten mit der Art, wie er selbst Mythen verwendet,
um durch sie sich auszusprechen. Da, wo er von dem Leben der Seele spricht,
wo er die Pfade des Vergänglichen verläßt und das Ewige in der Seele
aufsucht, wo also die Vorstellungen nicht mehr vorhanden sind, die sich
an das sinnliche Wahrnehmen und an das verstandesmäßige Denken anlehnen,
da bedient sich Plato des Mythos. Von dem Ewigen in der Seele redet
der «Phädrus ». Da wird denn die Seele dargestellt als ein
Gespann, das zwei nach allen Seiten mit Flügeln versehene Pferde hat
und einen Führer. Das eine der Pferde ist geduldig und weise, das andere
störrig und wild. Kommt dem Gespann ein Hindernis in den Weg, so benützt
dies das störrige Pferd, um das gute in seinem Willen zu behindern und
dem Führer Trotz zu bieten. Wenn das Gespann da anlangt, wo es den Göttern
auf dem Rücken des Himmels nachfolgen soll, da bringt das schlechte
Pferd das Gespann in Unordnung. Von der Gewalt, welche es hat, hängt
es ab, ob es von dem guten Pferde überwunden werden und das Gespann
sich über das Hindernis in das Reich des Übersinnlichen begeben kann.
So geschieht es also der Seele, daß sie nie ganz ungestört sich in das
Reich des Göttlichen erheben kann. Einige Seelen erheben sich zu dieser
Ewigkeitsschau mehr, die anderen weniger. Die Seele, welche das Jenseits
geschaut hat, die bleibt unversehrt bis zum nächsten Umzuge; diejenige,
welche – wegen des wilden Pferdes – nichts geschaut hat, die muß es
mit einem neuen Umzuge versuchen. Mit diesen Umzügen sind die verschiedenen
Seelenverkörperungen gemeint. Ein Umzug bedeutet das Leben der Seele
in einer Persönlichkeit. Das wilde Pferd stellt die niedere, das weise
Pferd die höhere Natur, der Führer die sich nach Vergöttlichung sehnende
Seele dar. Plato greift zum Mythos, um den Weg der ewigen Seele durch
die verschiedenen Wandlungen hindurch darzustellen. In gleicher Weise
wird, um das Innere des Menschen, das Nicht-Sinnlich-Wahrnehmbare, darzustellen,
in andern platonischen Schriften zum Mythos, zur symbolischen Erzählung
gegriffen.
Plato
befindet sich da völlig im Einklänge mit der mythischen und gleichnisartigen
Ausdrucksweise anderer. In der altindischen Literatur findet sich ein
Gleichnis, das dem Buddha zugeschrieben wird. Ein am Leben hängender
Mann, der um keinen Preis sterben will, der die Sinnenlust sucht, wird
von vier Schlangen verfolgt. Er hört eine Stimme, die ihm befiehlt,
die vier Schlangen von Zeit zu Zeit zu füttern, zu baden. Der Mann lief
aus Furcht vor den bösen Schlangen davon. Er hört wieder eine Stimme.
Die macht ihn auf fünf Mörder aufmerksam, die hinter ihm her sind. Abermals
läuft der Mann davon. Eine Stimme macht ihn auf einen sechsten Mörder
aufmerksam, der ihm den Kopf abschlagen will mit einem gezückten Schwert.
Wieder flüchtet der Mann. Er kommt in ein menschenleeres Dorf. Er hört
eine Stimme, die ihm sagt, daß baldigst Diebe das Dorf plündern werden.
Als der Mann weiter flieht, kommt er an eine große Wasserflut. Er fühlt
sich am diesseitigen Ufer nicht sicher; aus Strohhalmen, Hölzern und
Blättern macht er sich einen Korb; in ihm kommt er ans andere Ufer.
Jetzt ist er in Sicherheit; er ist Brahmane. Der Sinn dieser Gleichniserzählung
ist: Der Mensch muß durch die verschiedensten Zustände hindurchgehen,
bis er zum Göttlichen kommt. In den vier Schlangen sind die vier Elemente:
Feuer, Wasser, Erde, Luft zu sehen. In den fünf Mördern die fünf Sinne.
Das menschenleere Dorf ist die Seele, die den Eindrücken der Sinne entflohen
ist, aber auch noch nicht sicher ist, wenn sie mit sich allein ist.
Ergreift sie in ihrem Innern nur ihre niedere Natur, so muß sie zugrunde
gehen. Der Mensch muß sich den Kahn zusammenfügen, der ihn über die
Flut der Vergänglichkeit von dem einen Ufer, der sinnlichen Natur, zu
dem andern, der ewig-göttlichen, trägt.
Man betrachte
in diesem Lichte das ägyptische Osirismysterium. Osiris war allmählich
zu einer der wichtigsten ägyptischen Gottheiten geworden. Die Vorstellung
von ihm verdrängte andere bei gewissen Volksteilen vorhandene Göttervorstellungen.
Um Osiris und seine Gemahlin Isis hat sich nun ein bedeutungsvoller
Mythenkreis gebildet. Osiris war der Sohn des Sonnengottes, sein Bruder
war Typhon-Set, seine Schwester Isis. Osiris heiratete seine Schwester.
Er regierte mit ihr über Ägypten. Der böse Bruder Typhon sann darauf,
Osiris zu vernichten. Er ließ einen Kasten verfertigen, der genau die
Leibeslänge des Osiris hatte. Bei einem Gastmahle wurde der Kasten demjenigen
zum Geschenk angeboten, der genau hineinpaßte. Keinem außer Osiris gelang
das. Er legte sich hinein. Da stürzten sich Typhon und seine Genossen
auf Osiris, schlossen den Kasten zu und warfen ihn in den Strom. Als
Isis das Furchtbare vernahm, schweifte sie verzweifelnd überall umher,
um den Leichnam des Gatten zu suchen. Als sie ihn gefunden hatte, brachte
ihn Typhon neuerdings in seine Gewalt. Er zerriß ihn in vierzehn Stücke,
die in die verschiedensten Gegenden verstreut wurden. Verschiedene Osirisgräber
wurden in Ägypten gezeigt. Da und dort, an vielen Orten, sollten Teile
des Gottes bestattet sein. Osiris selbst aber entstieg der Unterwelt,
besiegte den Typhon; und es beschien ein Strahl von ihm die Isis, welche
dadurch den Sohn, Harpokrates oder Horus, gebar.
Und nun
vergleiche man mit diesem Mythos die Weltauffassung des griechischen
Philosophen Empedokles (490 bis 430 v. Chr.). Er nimmt an, daß das eine
Urwesen einst in die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft oder
in die Vielheit des Seienden zerrissen worden ist. Er stellt zwei Mächte
einander gegenüber, welche das Werden und Vergehen innerhalb dieser
Welt des Seienden bewirken, die Liebe und den Streit. Von den Elementen
sagt Empedokles:
Sie
selbst bleiben dieselben, doch durcheinander verlaufend
Werden sie Menschen und all die unzähligen anderen Wesen,
Jetzt in der Liebe Gewalt sich zu einem Gebilde versammelnd;
Jetzo durch Haß und Streit sich als einzelne wieder verstreuend.
Was sind
also die Dinge der Welt vom Standpunkte des Empedokles? Es sind die
verschieden gemischten Elemente. Sie konnten nur entstehen dadurch,
daß das Ur-Eine zerrissen worden ist in die vier Wesenheiten. Dieses
Ur-Eine ist also in die Elemente der Welt ausgegossen. Tritt uns ein
Ding entgegen, so ist es eines Teiles der ausgegossenen Gottheit teilhaftig.
Aber diese Gottheit ist in ihm verborgen. Sie hat erst sterben müssen,
damit die Dinge entstehen konnten. Und diese Dinge, was sind sie? Mischungen
der Gottesbestandteile, bewirkt in ihrer Struktur durch Liebe
und Haß. Deutlich sagt das Empedokles:
Hier
zum klaren Beweise den Bau aus menschlichen Gliedern,
Wie durch Liebe sich jetzt in Eins die Stoffe verbinden
Alle, so viele der Körper besitzt in der Blüte des Daseins;
Dann, in verderblichem Hader und Streit auseinandergerissen,
Irren sie wiederum einzeln umher am Rande des Lebens.
Ebenso ist's bei den Sträuchern und wasserbewohnenden Fischen
Und bei dem Wild des Gebirgs und den flügelgetragenen Schifflein.
Es kann
nur des Empedokles Ansicht sein, daß der Weise die in der Welt verzauberte,
in Liebe und Haß verschlungene göttliche Ur-Einheit wieder findet. Wenn
aber der Mensch das Göttliche findet, muß er selbst ein Göttliches sein.
Denn Empedokles steht auf dem Standpunkte, daß Gleiches nur durch Gleiches
erkannt werde. Seine Erkenntnisüberzeugung drückt Goethes Spruch aus:
Wär
nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt nicht in uns des Gottes eigene Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?
Diese
Gedanken über die Welt und den Menschen, die über die Sinneserfahrung
hinausgehen, konnte der Myste in dem Osiris-Mythos finden. Die göttliche
Schöpferkraft ist in die Welt ergossen. Sie erscheint als die vier Elemente.
Gott (Osiris) ist getötet. Der Mensch mit seiner Erkenntnis, die göttlicher
Art ist, soll ihn wieder erwecken; er soll ihn als Horus (Gottessohn,
Logos, Weisheit) wiederfinden in dem Gegensatz zwischen Streit (Typhon)
und Liebe (Isis). In griechischer Form spricht Empedokles selbst seine
Grundüberzeugung mit den Vorstellungen aus, die an den Mythos anklingen.
Liebe ist Aphrodite; Neikos der Streit. Sie binden und lösen die Elemente.
Die Darstellung
eines Mytheninhaltes in einem Stile, wie er hier beobachtet wird, darf
nicht mit einer bloß symbolischen oder gar allegorischen Ausdeutung
der Mythen verwechselt werden. Eine solche ist hier nicht gemeint. Die
Bilder, welche den Inhalt des Mythos ausmachen, sind nicht erfundene
Symbole für abstrakte Wahrheiten, sondern wirkliche seelische Erlebnisse
des Eingeweihten. Dieser erlebt die Bilder mit den geistigen Wahrnehmungsorganen,
wie der normale Mensch die Vorstellungen erlebt von den sinnlichen Dingen
mit den Augen und Ohren. So wenig aber eine Vorstellung für sich etwas
ist, wenn sie nicht in der Wahrnehmung durch den äußeren Gegenstand
erregt wird, so wenig ist das mythische Bild etwas ohne die Erregung
durch die wirklichen Tatsachen der geistigen Welt. Nur steht in bezug
auf die Sinneswelt der Mensch zunächst außerhalb der erregenden Dinge;
während er die Mythenbilder nur erleben kann, wenn er innerhalb der
entsprechenden geistigen Vorgänge steht. Um aber innerhalb zu stehen,
muß er, nach alter Mysten-Meinung, durch die Einweihung gegangen sein.
Die geistigen Vorgänge, in welchen er schaut, sind durch die Mythenbilder
dann gleichsam illustriert. Wer nicht als solche Illustration
der wahren geistigen Vorgänge das Mythische zu nehmen vermag, ist noch
nicht zum Verständnisse vorgedrungen. Denn die geistigen Vorgänge selbst
sind übersinnlich; und Bilder, die in ihrem Inhalt an die Sinneswelt
erinnern, sind nicht selbst geistig sondern eben nur eine Illustration
des Geistigen. Wer bloß in den Bildern lebt, der träumt; wer es dahin
gebracht hat, so das Geistige im Bild zu empfinden, wie man in der Sinneswelt
die Rose empfindet durch die Vorstellung der Rose, der erst lebt in
geistigen Wahrnehmungen. Es liegt hier auch der Grund, warum die Bilder
der Mythen nicht eindeutig sein können. Wegen ihres Charakters als Illustrationen
können dieselben Mythen verschiedene geistige Tatsachen ausdrücken.
Es ist deshalb auch kein Widerspruch, wenn Mythenerklärer einen Mythos
einmal auf diese, ein andermal auf eine andere geistige Tatsache beziehen.
Man kann
von diesem Gesichtspunkte aus einen Faden durch die mannigfaltigen griechischen
Mythen finden. Man betrachte die Herakles-Sage. Die zwölf Arbeiten,
die Herakles auferlegt werden, erscheinen in einem höheren Lichte, wenn
man bedenkt, daß er sich vor der letzten, der schwersten, in die eleusinischen
Mysterien einweihen läßt. Er soll im Auftrage des Königs Eurystheus
von Mykene den Höllenhund Cerberus aus der Unterwelt holen und ihn wieder
hinabbringen. Um einen Gang in die Unterwelt unternehmen zu können,
muß Herakles eingeweiht sein. Die Mysterien führten den Menschen durch
den Tod des Vergänglichen, also in die Unterwelt; und sie wollten durch
die Einweihung sein Ewiges vor dem Untergang retten. Er konnte als Myste
den Tod überwinden. Herakles überwindet die Gefahren der Unterwelt als
Myste. Das berechtigt, auch seine anderen Taten als innere Entwicklungsstufen
der Seele zu deuten. Er überwindet den nemeischen Löwen und bringt ihn
nach Mykene. Das heißt, er macht sich zum Herrscher der rein physischen
Kraft im Menschen; er bändigt diese. Er tötet weiter die neunköpfige
Hydra. Er überwindet sie mit Feuerbränden und taucht in ihre Galle seine
Pfeile, so daß sie unfehlbar werden. Das heißt, er überwindet niedere
Wissenschaft, das Sinneswissen durch das Feuer des Geistes und nimmt
aus dem, was er an diesem niederen Wissen gewonnen hat, die Kraft, um
das Niedere in dem Lichte zu sehen, das dem geistigen Auge eignet. Herakles
fängt die Hirschkuh der Artemis. Diese ist die Göttin der Jagd. Was
die freie Natur der Menschenseele bieten kann, das erjagt sich Herakles.
Ebenso können die anderen Arbeiten gedeutet werden. Es kann hier nicht
jedem Zuge nachgegangen werden; und nur wie der Sinn im allgemeinen
auf die innere Entwicklung hindeutet, das sollte dargestellt werden.
Eine ähnliche
Deutung ist für den Argonautenzug möglich. Phrixus und seine Schwester
Helle, die Kinder eines böotischen Königs, litten viel von ihrer Stiefmutter.
Die Götter sandten ihnen einen Widder mit einem goldenen Fell (Vlies),
der sie durch die Lüfte davontrug. Als sie über die Meerenge zwischen
Europa und Asien kamen, ertrank Helle. Die Meerenge heißt daher Hellespont.
Phrixus gelangte zum Könige von Kolchis, am östlichen Ufer des Schwarzen
Meeres. Er opferte den Widder den Göttern und schenkte das Vlies dem
Könige Aëtes. Dieser ließ es in einem Haine aufhängen und von einem
furchtbaren Drachen bewachen. Der griechische Held Jason unternahm es,
im Verein mit andern Helden, Herakles, Theseus, Orpheus, das Vlies aus
Kolchis zu holen. Es wurden ihm behufs Erlangung des Schatzes von Aëtes
schwere Arbeiten aufgetragen. Aber Medea, die zauberkundige Tochter
des Königs, unterstützte ihn. Er bändigte zwei feuerschnaubende Stiere,
er pflügte einen Acker und säte Drachenzähne, so daß geharnischte Männer
aus der Erde hervorwuchsen. Auf Medeas Rat warf er einen Stein unter
die Männer, worauf sie sich gegenseitig mordeten. Durch ein Zaubermittel
der Medea schläfert Jason den Drachen ein und kann dann das Vlies gewinnen.
Er tritt mit demselben die Rückfahrt nach Griechenland an. Medea begleitet
ihn als seine Gattin. Der König eilt den Flüchtenden nach. Medea tötet,
um ihn aufzuhalten, ihr Brüderchen Absyrtus und streut die Glieder ins
Meer. Aëtes wird durch das Einsammeln aufgehalten. So konnten die beiden
mit dem Vlies Jasons Heimat erreichen. – Jede einzelne Tatsache fordert
da eine tiefere Sinnerklärung heraus. Das Vlies ist etwas, das zum Menschen
gehört, das ihm unendlich wertvoll ist; das in der Vorzeit von ihm getrennt
worden ist, und dessen Wiedererlangung an die Überwindung furchtbarer
Mächte geknüpft ist. So ist es mit dem Ewigen in der Menschenseele.
Es gehört zum Menschen. Aber dieser findet sich getrennt von ihm. Seine
niedere Natur trennt ihn davon. Nur wenn er diese überwindet, einschläfert,
dann kann er es wieder erlangen. Es ist ihm möglich, wenn ihm das eigene
Bewußtsein (Medea) mit seiner Zauberkraft zu Hilfe kommt. Für Jason
wird Medea, was für Sokrates die Diotime als Lehrmeisterin der Liebe
wurde. Die eigene Weisheit des Menschen hat die Zauberkraft, um das
Göttliche nach Überwindung des Vergänglichen zu erlangen. Aus der niederen
Natur kann nur ein Menschlich-Niederes hervorgehen, die geharnischten
Männer, die durch die Kraft des Geistigen, den Rat der Medea, überwunden
werden. Auch wenn der Mensch schon sein Ewiges, das Vlies, gefunden
hat, ist er noch nicht in Sicherheit. Er muß einen Teil seines Bewußtseins
(Absyrtus) opfern. Dies fordert die Sinnenwelt, die wir nur als eine
mannigfaltige (zerstückelte) begreifen können. Man könnte für alles
dieses noch tiefer in die Schilderung der hinter den Bildern liegenden
geistigen Vorgänge eingehen; doch sollte hier nur das Prinzip der Mythenbildung
angedeutet werden.
Von besonderem
Interesse, im Sinne einer solchen Deutung, ist die Prometheus-Sage.
Prometheus und Epimetheus sind Söhne des Titanen Japetos. Die Titanen
sind Kinder der ältesten Göttergeneration, des Uranos (Himmel) und der
Gäa (Erde). Kronos, der jüngste der Titanen, hat seinen Vater vom Throne
gestoßen und die Weltherrschaft an sich gerissen. Dafür wurde er nebst
den übrigen Titanen von seinem Sohne Zeus überwältigt. Und Zeus wurde
der oberste der Götter. Prometheus stand im Titanenkampfe auf der Seite
des Zeus. Auf seinen Rat hat Zeus die Titanen in die Unterwelt verbannt.
Aber in Prometheus lebte doch die Gesinnung der Titanen fort. Er war
dem Zeus nur halber Freund. Als dieser die Menschen verderben wollte
wegen ihres Übermutes, da nahm sich Prometheus ihrer an, lehrte sie
die Kunst der Zahlen und der Schrift und anderes, was zur Kultur führt,
namentlich den Gebrauch des Feuers. Darob zürnte Zeus dem Prometheus.
Hephaistos, der Sohn des Zeus, mußte ein Frauenbild von großer Schönheit
bilden, das die Götter mit allen nur möglichen Gaben schmückten. Pandora
hieß die Frau: die Allbegabte. Hermes, der Götterbote, brachte sie zu
Epimetheus, dem Bruder des Prometheus. Sie brachte diesem ein Kästchen
mit als Geschenk der Götter. Epimetheus nahm das Geschenk an, trotzdem
ihm Prometheus geraten hatte, auf keinen Fall ein Geschenk von den Göttern
anzunehmen. Als das Kästchen geöffnet wurde, flogen alle möglichen menschlichen
Plagen heraus. Darinnen blieb nur die Hoffnung, und zwar darum, weil
Pandora den Deckel schnell verschloß. Die Hoffnung ist also als zweifelhaftes
Göttergeschenk geblieben. – Prometheus wurde auf des Zeus Befehl wegen
seines Verhältnisses zu den Menschen an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet.
Ein Adler frißt beständig an seiner Leber, die sich immer wieder ersetzt.
In quälendster Einsamkeit muß Prometheus seine Tage verbringen, bis
einer der Götter freiwillig sich opfert, das heißt sich dem Tode weiht.
Der Gequälte erträgt sein Leid als standhafter Dulder. Ihm ward kund,
daß Zeus durch den Sohn einer Sterblichen werde entthront werden, wenn
er sich nicht mit dieser Sterblichen vermählen werde. Dem Zeus war es
wichtig, dieses Geheimnis zu kennen; er sandte den Götterboten Hermes
zu Prometheus, um darüber etwas zu erfahren. Dieser verweigerte jede
Auskunft. – Die Herakles-Sage ist mit der Prometheus-Sage verknüpft.
Herakles kommt auf seinen Wanderungen auch an den Kaukasus. Er erlegte
den Adler, der des Prometheus Leber verzehrte. Der Kentaur Chiron, der,
obwohl an einer unheilbaren Wunde leidend, doch nicht sterben kann,
opfert sich für Prometheus. Dieser wird dann mit den Göttern versöhnt.
Die Titanen
sind die Kraft des Willens, die als Natur (Kronos) aus dem ursprünglichen
Weltgeist (Uranos) hervorgeht. Dabei hat man nicht etwa bloß an Willenskräfte
in abstrakter Form zu denken, sondern an wirkliche Willenswesen. Zu
ihnen gehört Prometheus. Damit ist sein Wesen charakterisiert. Aber
er ist nicht ganz Titane. Er hält es in gewissem Sinne mit Zeus, dem
Geiste, der die Weltherrschaft antritt, nachdem die ungebändigte Naturkraft
(Kronos) gebändigt ist. Prometheus ist also Repräsentant jener Welten,
welche dem Menschen das Vorwärtsdrängende, das halb Natur-, halb Geisteskraft
ist, den Willen, gegeben haben. Der Wille weist auf der einen Seite
zum Guten, auf der andern zum Bösen. Je nachdem er zum Geistigen neigt
oder zum Vergänglichen, gestaltet sich sein Schicksal. Dieses Schicksal
ist das Schicksal des Menschen selbst. Der Mensch ist an das Vergängliche
geschmiedet. An ihm nagt der Adler. Er muß dulden. Er kann Höchstes
nur erreichen, wenn er in der Einsamkeit sein Schicksal sucht. Er hat
ein Geheimnis. Es besteht darinnen, daß das Göttliche (Zeus) sich mit
einer Sterblichen, dem an den physischen Leib gebundenen menschlichen
Bewußtsein selbst vermählen muß, um einen Sohn, die Gott erlösende menschliche
Weisheit (den Logos) zu gebären. Dadurch wird das Bewußtsein unsterblich.
Er darf dieses Geheimnis nicht verraten, bis ein Myste (Herakles) an
ihn herantritt und die Gewalt beseitigt, die ihn fortwährend mit dem
Tode bedroht. Ein Wesen, halb Tier, halb Mensch, ein Kentaur, muß sich
opfern, um den Menschen zu erlösen. Der Kentaur ist der Mensch selbst,
der halb tierische, halb geistige Mensch. Er muß sterben, damit der
rein geistige Mensch erlöst werde. Was Prometheus, der menschliche Wille,
verschmäht, das nimmt Epimetheus, der Verstand, die Klugheit. Aber die
Gaben, die dem Epimetheus dargereicht werden, sind nur Leiden und Plagen.
Denn der Verstand haftet ja an dem Nichtigen, dem Vergänglichen. Und
nur eines bleibt – die Hoffnung, daß auch aus dem Vergänglichen einmal
werde das Ewige geboren werden.
Der Faden,
der durch die Argonauten –, die Herakles und die Prometheus-Sage führt,
bewährt sich auch bei der Odysseus-Dichtung Homers. Man kann die Anwendung
der Auslegungsweise hier gezwungen finden. Doch bei näherer Erwägung
alles in Betracht Kommenden müssen selbst dem stärksten Zweifler an
solchen Auslegungen alle Bedenken schwinden. Vor allen Dingen muß die
Tatsache überraschen, daß auch von Odysseus erzählt wird, daß er in
die Unterwelt hinabgestiegen ist. Man mag über den Dichter der Odyssee
im übrigen denken, wie man will: unmöglich kann man ihm zuschreiben,
daß er einen Sterblichen in die Unterwelt steigen läßt, ohne damit ihn
in ein Verhältnis zu dem zu bringen, was innerhalb der griechischen
Weltanschauung der Gang in die Unterwelt bedeutete. Er bedeutete aber
die Überwindung des Vergänglichen und die Auferweckung des Ewigen in
der Seele. Daß Odysseus solches vollbracht hat, muß also zugegeben werden.
Und damit gewinnen seine Erlebnisse ebenso wie diejenigen des Herakles
eine tiefere Bedeutung. Sie werden zu einer Schilderung eines Nicht-Sinnlichen,
des Entwicklungsganges der Seele. Dazu kommt, daß in der Odyssee nicht
so erzählt wird, wie das ein äußerer Tatsachenverlauf verlangt. Auf
Wunderschiffen legt der Held Fahrten zurück. Mit den tatsächlichen geographischen
Entfernungen wird in der willkürlichsten Weise umgesprungen. Es kann
eben gar nicht auf das Sinnlich-Wirkliche ankommen. Das wird verständlich,
wenn die sinnlich-wirklichen Vorgänge nur erzählt werden, um eine Geistesentwicklung
zu illustrieren. Außerdem sagt ja der Dichter selbst im Eingänge des
Werkes, daß es sich um das Suchen nach der Seele handelt:
Sage
mir, Muse, vom Manne, dem vielgewandten, der vielfach
Umgeirrt, nachdem er die heilige Troja zerstöret:
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Auch so viel im Meere der kränkenden Leiden erduldet,
Strebend zugleich für die eigene Seel und der Freunde
Zurückkunft.
Einen
Mann, der die Seele, das Göttliche, sucht, hat man vor sich; und die
Irrfahrten nach diesem Göttlichen werden erzählt. – Er kommt nach dem
Lande der Zyklopen. Das sind ungeschlachte Riesen mit einem Auge auf
der Stirn. Der fürchterlichste, Polyphem, verschlingt mehrere Gefährten.
Odysseus rettet sich, indem er den Zyklopen blendet. Man hat es mit
der ersten Station der Lebenspilgerschaft zu tun. Die physische Gewalt,
die niedere Natur muß überwunden werden. Wer ihr die Kraft nicht nimmt,
sie nicht blendet, wird von ihr verschlungen. -Odysseus gelangt dann
auf die Insel der Zauberin Circe. Sie verwandelt einige seiner Gefährten
in grunzende Schweine. Sie wird auch von ihm bezwungen. Circe ist die
niedere Geisteskraft, die am Vergänglichen hängt. Sie kann den Menschen
durch Mißbrauch nur noch tiefer in die Tierheit hinabstoßen. – Odysseus
muß sie überwinden. Dann kann er in die Unterwelt hinabsteigen. Er wird
Myste. Nun ist er den Gefahren ausgesetzt, denen der Myste beim Aufstieg
von den niederen zu den höheren Graden der Einweihung ausgesetzt ist.
Er gelangt zu den Sirenen, die den Vorüberfahrenden durch süße Zauberklänge
in den Tod locken. Das sind die Gebilde der niederen Phantasie, denen
der zunächst nachjagt, der sich von dem Sinnlichen freigemacht hat.
Er hat es bis zum frei schaffenden, aber nicht bis zum eingeweihten
Geiste gebracht. Er jagt Wahngebilden nach, von deren Gewalt er sich
befreien muß. -Odysseus muß die grauenvolle Durchfahrt zwischen Szylla
und Charybdis vollziehen. Der angehende Myste schwankt hin und her zwischen
Geist und Sinnlichkeit. Er kann noch nicht den vollen Wert des Geistes
erfassen; aber die Sinnlichkeit hat doch auch schon den früheren Wert
verloren. Ein Schiffbruch bringt alle Gefährten Odysseus' ums Leben;
er allein rettet sich zu der Nymphe Kalypso, die ihn freundlich aufnimmt
und sieben Jahre pflegt. Endlich entläßt sie ihn auf des Zeus
Befehl in die Heimat. Der Myste ist auf einer Stufe angekommen, auf
der außer dem Würdigen, Odysseus allein, alle Mitstrebenden scheitern.
Dieser Würdige aber genießt eine Zeitlang, die durch die mystisch-symbolische
Zahl sieben bestimmt wird, die Ruhe allmählicher Einweihung.
– Noch bevor Odysseus in der Heimat anlangt, kommt er auf die Insel
der Phäaken. Hier findet er gastliche Aufnahme. Die Tochter des Königs
schenkt ihm ihre Teilnahme; und der König Alkinous selbst bewirtet ihn
und ehrt ihn. Noch einmal tritt an Odysseus die Welt heran mit ihren
Freuden; und der Geist, der an der Welt hängt (Nausikaa), erwacht in
ihm. Aber er findet den Weg nach der Heimat, nach dem Göttlichen. In
seinem Hause erwartet ihn zunächst nichts Gutes. Seine Gemahlin Penelope
ist von einer zahlreichen Freierschar umgeben. Sie verspricht einem
jeden die Heirat, wenn sie ein bestimmtes Gewebe fertig habe. Sie entgeht
der Einhaltung ihres Versprechens dadurch, daß sie stets in der Nacht
wieder auflöst, was sie bei Tag geweht hat. Die Freier müssen von Odysseus
überwunden werden, damit er wieder in Ruhe mit seiner Gattin vereint
sein könne. Die Göttin Athene verwandelt ihn in einen Bettler, damit
er bei seinem Eintritte zunächst nicht erkannt werde. So überwindet
er die Freier. – Das eigene tiefere Bewußtsein, die göttlichen Kräfte
der Seele sucht Odysseus. Mit ihnen will er vereint sein. Ehe sie der
Myste findet, muß er alles überwinden, was als Freier sich um die Gunst
dieses Bewußtseins bewirbt. Es ist die Welt der niederen Wirklichkeit,
die vergängliche Natur, aus welcher die Schar dieser Freier stammt.
Die Logik, die man an sie wendet, ist ein Gespinst, das sich immer wieder
auflöst, wenn man es gesponnen hat. Die Weisheit (die Göttin Athene)
ist die sichere Führerin zu den tiefsten Seelenkräften. Sie verwandelt
den Menschen in einen Bettler, das ist, sie entkleidet ihn alles dessen,
was aus der Vergänglichkeit stammt.
Ganz in
die Mysterienweisheit getaucht erscheinen die eleusinischen Feste, welche
zu Ehren der Demeter und des Dionysos in Griechenland gefeiert wurden.
Eine heilige Straße führte von Athen nach Eleusis. Sie war mit geheimnisvollen
Zeichen besetzt, welche die Seele in eine erhabene Stimmung bringen
konnten. In Eleusis waren geheimnisvolle Tempelgebäude, deren Dienst
von Priesterfamilien besorgt wurde. Die Würde und die Weisheit, an die
die Würde gebunden war, erbten sich in den Priesterfamilien von Generation
zu Generation fort. (Über die Einrichtung dieser Stätten findet man
belehrende Aufschlüsse in den «Ergänzungen zu den letzten Untersuchungen
auf der Akropolis in Athen» von Karl Bötticher; Philologus Suppl.
Band 3, Heft 3.) Die Weisheit, welche befähigte, hier den Dienst zu
tun, war die griechische Mysterienweisheit. Die Feste, die zweimal im
Jahre gefeiert wurden, boten das große Weltdrama von dem Schicksal des
Göttlichen in der Welt und dem der Menschenseele. Die kleinen Mysterien
wurden im Februar, die großen im September begangen. Mit den Festen
waren Einweihungen verbunden. Die symbolische Darstellung des Welt-
und Menschendramas bildete den Schlußakt der Mystenweihen, die hier
vorgenommen wurden. Der Göttin Demeter zu Ehren sind ja die eleusinischen
Tempel errichtet worden. Sie ist eine Tochter des Kronos. Dem Zeus hatte
sie vor dessen Vermählung mit Hera eine Tochter, Persephone, geboren.
Diese war einst beim Spiel von Pluto, dem Gott der Unterwelt, geraubt
worden. Demeter durcheilte wehklagend die weite Erde, sie zu suchen.
In Eleusis wurde sie auf einem Stein sitzend von den Töchtern des Keleus,
eines Gebieters von Eleusis, gefunden. Sie trat in Gestalt einer alten
Frau in den Dienst der Familie des Keleus, zur Pflege des Sohnes der
Gebieterin. Sie wollte diesem Sohne die Unsterblichkeit geben. Deshalb
verbarg sie ihn jede Nacht im Feuer. Als die Mutter das einmal gewahrte,
da weinte und wehklagte sie. Die Erteilung der Unsterblichkeit war fortan
unmöglich. Demeter verließ das Haus. Keleus erbaute einen Tempel. Die
Trauer der Demeter um Persephone war unendlich groß. Sie ließ Unfruchtbarkeit
über die Erde kommen. Die Götter mußten sie versöhnen, wenn nicht Furchtbares
geschehen sollte. Da wurde Pluto von Zeus bewogen, die Persephone wieder
in die Oberwelt zu entlassen. Vorher aber gab ihr der Gott der Unterwelt
noch einen Granatapfel zu essen. Dadurch war sie gezwungen, doch immer
und immer wieder periodenweise in die Unterwelt hinabzusteigen. Ein
Dritteil des Jahres verbrachte sie fortan in der Unter-, zwei Dritteile
in der Oberwelt. Demeter war versöhnt; sie kehrte zum Olymp zurück.
In Eleusis aber, der Stätte ihrer Angst, stiftete sie den Festdienst,
der fortan immer an ihr Schicksal erinnern sollte.
Unschwer
erkennt man den Sinn des Demeter-Persephone-Mythos. Was abwechselnd
in der Unter- und der Oberwelt ist, das ist die Seele. Die Ewigkeit
der Seele und deren ewige Verwandlung durch Geburt und Tod hindurch
wird im Bilde dargestellt. Vom Unsterblichen, der Demeter, stammt die
Seele. Sie ist aber von dem Vergänglichen entführt, und selbst zur Anteilnahme
an dem Schicksal der Vergänglichkeit bestimmt worden. Sie hat von der
Frucht in der Unterwelt genossen: die menschliche Seele ist mit dem
Vergänglichen gesättigt; sie kann daher nicht dauernd in den Höhen des
Göttlichen wohnen. Sie muß immer wieder zurück ins Reich der Vergänglichkeit.
Demeter ist die Repräsentantin jenes Wesens, aus dem das menschliche
Bewußtsein entsprungen ist; aber es muß dieses Bewußtsein dabei so gedacht
werden, wie es durch die geistigen Kräfte der Erde hat entstehen können.
Demeter ist also die Urwesenheit der Erde; und die Begabung der Erde
mit den Samenkräften der Feldfrüchte durch sie deutet nur auf eine noch
tiefere Seite ihres Wesens hin. Dieses Wesen will dem Menschen die Unsterblichkeit
geben. Demeter verbirgt des Nachts ihren Pflegling im Feuer. Aber der
Mensch kann die reine Gewalt des Feuers (des Geistes) nicht ertragen.
Demeter muß davon ablassen. Sie kann nur einen Tempeldienst stiften,
durch den der Mensch, soweit er es vermag, des Göttlichen teilhaftig
werden kann.
Die eleusinischen
Feste waren ein laut sprechendes Bekenntnis des Glaubens an die Ewigkeit
der Menschenseele. Dieses Bekenntnis fand in dem Persephone-Mythos seinen
bildhaften Ausdruck. Zusammen mit Demeter und Persephone wurde in Eleusis
Dionysos gefeiert. Wie in Demeter die göttliche Schöpferin des Ewigen
im Menschen, so wurde in Dionysos das ewig in der ganzen Welt sich wandelnde
Göttliche verehrt. Der Gott, der in die Welt ausgegossen, zerstückelt
worden ist, um geistig wieder geboren zu werden (vergleiche Seite 72
f), mußte mit der Demeter zusammen gefeiert werden. (Eine glänzende
Darstellung des Geistes der eleusinischen Mysterien findet man in dem
Buche «Sanctuaires d'Orient» von Edouard Schuré. Paris 1898.)
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