Die
ägyptische Mysterienweisheit
«Wenn
du, vom Leibe befreit, zum freien Äther emporsteigst, wirst ein unsterblicher
Gott du sein, dem Tode entronnen.» In diesem Ausspruch des Empedokles
erscheint wie kurz zusammengefaßt, was die alten Ägypter über das Ewige
im Menschen und seinen Zusammenhang mit dem Göttlichen gedacht haben.
Dafür ist ein Beweis das sogenannte «Totenbuch», das der
Fleiß der Forscher im neunzehnten Jahrhundert entziffert hat. (Vergleiche
Lepsius, Das Totenbuch der alten Ägypter. Berlin 1842.) Es ist «das
größte zusammenhängende Literaturwerk, das uns von den Ägyptern erhalten
ist». Man findet darin allerlei Lehren und Gebete, die jedem Verstorbenen
mit ins Grab gegeben wurden, damit er in ihnen einen Wegweiser habe,
wenn er der vergänglichen Hülle entledigt ist. Die intimsten Anschauungen
der Ägypter über das Ewige und die Weltentstehung sind in diesem Literaturwerke
enthalten. Diese Anschauungen deuten durchaus auf Göttervorstellungen,
die denen der griechischen Mystik ähnlich sind. -Osiris ist unter den
verschiedenen Göttern, die in den Landesteilen Ägyptens anerkannt wurden,
allmählich der vorzüglichste und allgemeinste geworden. In ihm wurden
die Vorstellungen über die anderen Gottheiten zusammengefaßt. Mag nun
das ägyptische Volk in seiner großen Masse was immer für Gedanken über
den Osiris gehabt haben, das «Totenbuch» deutet auf eine
Vorstellung der Priesterweisheit, die in Osiris eine Wesenheit sah,
wie sie in der Menschenseele selbst gefunden werden konnte. -Alles,
was man über den Tod und die Toten dachte, sagt das deutlich genug.
Wird der Leib dem Irdischen gegeben, innerhalb des Irdischen aufbewahrt,
so tritt das Ewige den Weg zum Ur-Ewigen an. Es erscheint zum Gericht
vor Osiris, den zweiundvierzig Totenrichter umgeben. Das Schicksal des
Ewigen im Menschen hängt davon ab, wie diese Totenrichter befinden.
Hat die Seele ihr Sündenbekenntnis abgelegt, ist sie versöhnt befunden
mit der ewigen Gerechtigkeit, so treten unsichtbare Mächte ihr entgegen,
die zu ihr sprechen: «Der Osiris N. ward geläutert in dem Teiche,
der da ist südlich vom Felde Hotep und nördlich von dem Felde der Heuschrecken,
wo die Götter des Grünens sich waschen in der vierten Stunde der Nacht
und in der achten des Tages mit dem Bilde des Herzens der Götter, übergehend
von der Nacht zum Tage. » Also der ewige Teil des Menschen wird
innerhalb der ewigen Weltordnung selbst als ein Osiris angesprochen.
Nach der Bezeichnung Osiris wird der persönliche Name des Betreffenden
genannt. Und auch der sich mit der ewigen Weltordnung Vereinigende bezeichnet
sich selbst als «Osiris». «Ich bin der Osiris N. Wachsend
unter den Blüten des Feigenbaums ist der Name des Osiris N.
» Der Mensch wird also ein Osiris. Das Osiris-Sein ist nur eine
vollkommene Entwicklungsstufe des Mensch-Seins. Es erscheint da selbstverständlich,
daß auch der innerhalb der ewigen Weltordnung richtende Osiris nichts
ist als ein vollkommener Mensch. Zwischen Mensch-Sein und Gott-Sein
ist ein Gradunterschied und ein Unterschied in der Zahl. Es liegt hier
die Mysterienanschauung vom Geheimnis der «Zahl» zugrunde.
Der Osiris als Weltwesen ist Einer; in jeder Menschenseele ist er deshalb
doch ungeteilt vorhanden. Jeder Mensch ist ein Osiris; und doch muß
auch der Eine Osiris als eine besondere Wesenheit vorgestellt werden.
Der Mensch ist in Entwicklung begriffen; und am Ende seiner Entwicklungslaufbahn
liegt sein Gott-Sein. Man muß vielmehr von einer Göttlichkeit,
nicht von einem fertigen, abgeschlossenen Gotteswesen innerhalb dieser
Anschauung sprechen.
Es ist nicht zu bezweifeln, daß für eine solche Anschauung
nur der wirklich in das Osiris-Dasein eintreten kann, der schon als
Osiris am Tor der ewigen Weltordnung anlangt. Das höchste Leben, das
der Mensch führen kann, wird also darin bestehen müssen, daß er sich
zum Osiris wandelt. Im echten Menschen muß schon innerhalb des vergänglichen
Lebens ein möglichst vollkommener Osiris leben. Der Mensch wird vollkommen,
wenn er wie ein Osiris lebt. Wenn er durchmacht, was Osiris durchgemacht
hat. Der Osiris-Mythos erhält damit seine tiefere Bedeutung. Er wird
zum Vorbilde dessen, der das Ewige in sich erwecken will. Osiris ist
von Typhon zerstückelt, getötet worden. Die Teile des Leichnams sind
von seiner Gemahlin Isis gehegt und gepflegt worden. Er hat nach dem
Tode seinen Lichtstrahl auf sie fallen lassen. Sie hat ihm den Horus
geboren. Dieser Horus übernimmt die irdischen Aufgaben des Osiris. Er
ist der zweite, noch unvollkommene, aber zum wahren Osiris fortschreitende
Osiris. --Der wahre Osiris ist in der Menschenseele. Diese ist zunächst
die vergängliche. Aber ihr Vergängliches ist bestimmt, das Ewige zu
gebären. Der Mensch mag sich daher als das Grab des Osiris betrachten.
Die niedere Natur (Typhon) hat die höhere in ihm getötet. Die Liebe
in seiner Seele (Isis) muß die Leichenteile hegen und pflegen, dann
wird die höhere Natur, die ewige Seele (Horus), geboren werden, die
zum Osiris-Dasein fortschreiten kann. Den makrokosmischen Osiris-Weltprozeß
muß der zum höchsten Dasein strebende Mensch in sich mikrokosmisch wiederholen.
Das ist der Sinn der ägyptischen «Einweihung», der Initiation.
Was Plato beschreibt als kosmischen Prozeß, daß der Schöpfer die Weltseele
in Kreuzesform auf den Weltleib gespannt hat, und daß der Weltprozeß
eine Erlösung dieser ans Kreuz geschlagenen Weltenseele ist, das mußte
mit dem Menschen im kleinen vorgehen, wenn er sich zum Osiris-Dasein
befähigen sollte. Der Einzuweihende mußte sich so entwickeln, daß sein
Seelenerlebnis, sein Osiris-Werden, mit dem kosmischen Osiris-Prozeß
in Eins zusammenschmolz. Wenn wir in die Initiationstempel blicken könnten,
in denen die Menschen der Osiris-Verwandlung unterzogen wurden, so würden
wir sehen, daß die Vorgänge ein Welt-Werden mikrokosmisch darstellen.
Der vom «Vater» stammende Mensch sollte in sich den Sohn
gebären. Was er in Wirklichkeit in sich trägt, den verzauberten Gott,
das sollte in ihm offenbar werden. Durch die Gewalt der irdischen Natur
wird dieser Gott in ihm niedergehalten. Diese niedere Natur muß erst
zu Grabe getragen werden, damit die höhere Natur auferstehen könne.
Was von den Initiationsvorgängen erzählt wird, kann daraus verstanden
werden. Der Mensch wurde geheimnisvollen Prozeduren unterworfen. Sein
Irdisches wurde dadurch getötet, sein Höheres erweckt. Es ist nicht
nötig, diese Prozeduren im einzelnen zu studieren. Man muß nur ihren
Sinn verstehen. Und dieser Sinn liegt in dem Bekenntnis, das jeder ablegen
konnte, der durch die Initiation gegangen ist. Er konnte sagen: «Mir
schwebte vor die unendliche Perspektive, an deren Ende die Vollkommenheit
des Göttlichen liegt. Ich habe gefühlt, daß die Kraft dieses Göttlichen
in mir liegt. Ich habe zu Grabe getragen, was in mir diese Kraft niederhält.
Ich bin abgestorben dem Irdischen. Ich war tot. Als niederer Mensch
war ich gestorben; ich war in der Unterwelt. Ich habe mit den Toten
verkehrt, das heißt mit denen, die schon eingefügt sind in den Ring
der ewigen Weltordnung. Ich bin nach meinem Verweilen in der Unterwelt
auferstanden von den Toten. Ich habe den Tod überwunden, aber nun bin
ich ein anderer geworden. Ich habe nichts mehr zu tun mit der vergänglichen
Natur. Diese ist bei mir durchtränkt von dem Logos. Ich gehöre nun zu
denen, die ewig leben und die sitzen werden zur Rechten des Osiris.
Ich werde selbst ein wahrer Osiris sein, vereinigt mit der ewigen Weltordnung,
und das Urteil über Tod und Leben wird in meine Hand gegeben sein.«
Dem Erlebnis mußte sich der Einzuweihende unterziehen, das ihn zu solchem
Bekenntnis führen konnte. Es ist ein Erlebnis höchster Art, was so an
den Menschen herantrat.
Man denke sich nun, ein Uneingeweihter hört davon, daß
jemand solchen Erlebnissen unterzogen wird. Er kann nicht wissen, was
in der Seele des Eingeweihten wirklich vorgegangen ist. Dieser ist für
ihn physisch gestorben, er hat im Grabe gelegen und ist auferstanden.
Was auf höherer Daseinsstufe geistige Wirklichkeit hat, das erscheint
in den Formen der sinnlichen Wirklichkeit ausgedrückt als ein Vorgang,
der die Naturordnung durchbricht, Das ist ein «,Wunder».
Ein solches «Wunder» war die Initiation. Wer sie wirklich
verstehen wollte, der mußte in sich die Kräfte erweckt haben, um auf
höheren Daseinsstufen zu stehen. Er mußte mit einem dazu schon vorbereiteten
Lebensläufe an diese höheren Erlebnisse herantreten. Mögen sich nun
diese vorbereiteten Erlebnisse im Einzelleben so oder so abspielen:
sie werden sich immer in eine ganz bestimmte typische Form bringen lassen.
Der Lebenslauf eines Initiierten ist also ein typischer. Man kann ihn
unabhängig von der Einzelpersönlichkeit beschreiben. Vielmehr wird man
eine Einzelpersönlichkeit nur dann als eine solche bezeichnen können,
die auf dem Wege zum Göttlichen ist, wenn sie die bestimmten typischen
Erlebnisse durchgemacht hat. Als eine solche Persönlichkeit lebte Buddha
bei seinen Anhängern; als eine solche erschien zunächst Jesus seiner
Gemeinde. Man weiß heute, welcher Parallelismus zwischen der Buddha-
und Jesus-Biographie besteht. Rudolf Seydel hat in seinem Buche «Buddha
und Christus» diesen Parallelismus schlagend nachgewiesen. Man
braucht die Einzelheiten nur zu verfolgen, um zu sehen, daß alle Einwände
gegen diesen Parallelismus nichtig sind.
Buddhas
Geburt wird durch einen weißen Elefanten angekündigt, der auf die Königin
Maja niederschwebt. Er zeigt an, daß Maja einen göttlichen Menschen
hervorbringen werde, der «alle Wesen zur Liebe und Freundschaft
stimmt, sie miteinander vereint zu innigem Bunde. » Im Lukas-Evangelium
heißt es: ... zu einer Jungfrau, die vertrauet war einem Manne mit Namen
Joseph vom Hause David, und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam
zu ihr hinein und sprach: Gegrüßet seist du, Holdselige ... Siehe du
wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Name soll Jesus heißen.
Der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden.» Die Brahmanen,
die indischen Priester, die wissen, was es heißt, ein Buddha wird geboren,
legen den Traum der Maja aus. Sie haben eine bestimmte typische Vorstellung
von einem Buddha. Das Leben der Einzelpersönlichkeit wird dieser Vorstellung
entsprechen müssen. Dementsprechend liest man bei Matthäus (2, 1 ff.):
Herodes «ließ versammeln alle Hohepriester und Schriftgelehrten
unter dem Volk und erforschete von ihnen, wo Christus sollte geboren
werden». – Der Brahmane Asita sagt über den Buddha: «Dieses
ist das Kind, das Buddha werden wird, der Erlöser, der Führer zu Unsterblichkeit,
Freiheit und Licht. » Dazu vergleiche man (Lukas 2, 25): «Und
siehe, ein Mensch war zu Jerusalem mit Namen Simeon, und derselbe Mensch
war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und
der heilige Geist war in ihm ... Und da die Eltern das Kind Jesus in
den Tempel brachten, daß sie für ihn täten, wie man pfleget nach dem
Gesetz; da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr,
nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast;
denn seine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast
vor allen Völkern. Ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis
deines Volkes Israel.» Von Buddha wird berichtet, daß er als zwölfjähriger
Knabe verloren gegangen sei, und daß er wieder gefunden wurde unter
einem Bäume, umgeben von Sängern und Weisen der Vorzeit, die er lehrte.
Dem entspricht Lukas (2, 41 ff.): «Und seine Eltern gingen alle
Jahre gen Jerusalem auf das Osterfest. Und da er zwölf Jahre alt war,
gingen sie hinauf gen Jerusalem nach Gewohnheit des Festes. Und da die
Tage vollendet waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb das Kind
Jesus in Jerusalem und seine Eltern wußtens nicht. Sie meinten aber,
er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten
ihn unter Freunden und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen
sie wiederum gen Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich, nach
dreien Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern,
daß er ihnen zuhörete und sie fragte; und alle waren verwundert, die
ihm zuhörten, über seinen Verstand und seine Antworten. » -Nachdem
Buddha in einer Einsamkeit gelebt hat und zurückkehrt, wird er empfangen
von dem Segensruf einer Jungfrau: «Selig die Mutter, selig der
Vater, selig die Gattin, denen du angehörst.» Er aber erwidert:
«Selig sind nur die, die im Nirwana sind», das heißt, die
in die ewige Weltordnung eingegangen sind. Bei Lukas (11, 27): «Und
es begab sich, da er solches redete, erhub ein Weib im Volke die Stimme
und sprach zu ihm: Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die
Brüste, die du gesogen hast. Er aber sprach: Ja, selig sind die, die
das Wort Gottes hören und bewahren, »Im Laufe seines Lebens tritt
der Versucher an Buddha heran und verspricht ihm alle Königreiche der
Erde. Buddha weist alles von sich mit den Worten: «Wohl weiß ich,
daß mir ein Reich beschieden ist, aber nicht ein weltliches Königreich
begehre ich; ich werde Buddha werden und alle Welt jauchzen machen vor
Freude.» Der Versucher muß bekennen: «Meine Herrschaft ist
dahin.» Jesus antwortet auf die gleiche Versuchung: «Heb
dich weg von mir, Satan! Denn es stehet geschrieben: Du sollst anbeten
Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.» «Da verließ
ihn der Teufel» (Matthäus 4, 10 f.). – Man könnte diese Beschreibung
des Parallelismus noch über viele Punkte ausdehnen: es würde sich das
gleiche ergeben. – Buddha endete in erhabener Weise. Auf einer Wanderung
fühlte er sich krank. Er kam zum Flusse Hiranja, in der Nähe von Kuschinagara.
Hier legte er sich auf einen von seinem Lieblingsjünger Ananda ausgebreiteten
Teppich. Sein Leib fing von innen an zu leuchten. Er endete verklärt,
als Lichtkörper, mit dem Ausspruche: «Nichts ist langwährend.»
Dieser Tod Buddhas entspricht der Verklärung Jesu: «Und es begab
sich nach diesen Reden bei acht Tagen, daß er zu sich nahm Petrus, Johannes
und Jakobus, und ging auf einen Berg, zu beten. Und da er betete, ward
die Gestalt seines Angesichts anders, und sein Kleid ward weiß und glänzte»
(Lukas 9,28). In diesem Punkte endet Buddhas Lebenslauf; der wichtigste
Teil im Leben Jesu aber beginnt damit: Leiden, Sterben, Auferstehung.
Und es liegt das Unterscheidende des Buddha von dem Christus in dem,
was nötigte, das Leben des Christus Jesus über das Buddha-Leben hinauszuführen.
Buddha und Christus werden nicht verstanden, wenn man sie bloß zusammenwirft.
(Das wird sich in dem Folgenden dieses Buches zeigen.) Andere Darstellungen
des Todes Buddhas kommen hier nicht in Betracht, wenn sie auch manche
tiefen Seiten der Sache enthüllen.
Die Übereinstimmung
in den beiden Heilandsleben zwingt einen eindeutigen Schluß auf. Wie
dieser Schluß ausfallen muß, darüber geben die Erzählungen selbst Auskunft.
Als die Priesterweisen von der Art der Geburt hören, wissen sie, um
was es sich handelt. Sie wissen, daß sie es mit einem Gottmenschen zu
tun haben. Sie wissen vorher, was es mit der Persönlichkeit für eine
Bewandtnis haben wird, die da auftritt. Und deshalb kann deren Lebenslauf
nur dem entsprechen, was sie als Lebenslauf eines Gottmenschen kennen.
In ihrer Mysterienweisheit erscheint für die Ewigkeit ein solcher Lebenslauf
vorgezeichnet. Er kann nur sein, wie er sein muß.
Wie ein ewiges Naturgesetz erscheint solch ein Lebenslauf. Wie ein chemischer
Stoff sich nur in einer ganz bestimmten Weise verhalten kann, so kann
ein Buddha, ein Christus nur in einer ganz bestimmten Weise leben. Man
erzählt seinen Lebenslauf nicht, indem man seine zufällige Biographie
schreibt; man erzählt ihn vielmehr, indem man die typischen Züge erzählt,
die in der Mysterienweisheit darüber für alle Zeiten enthalten sind.
Die Buddha-Legende ist ebensowenig eine Biographie im gewöhnlichen Sinne,
wie die Evangelien eine solche des Christus Jesus sein wollen. Beide
erzählen nicht ein Zufälliges; beide erzählen einen für einen Weltheiland
vorgezeichneten Lebenslauf. In den Mysterientraditionen haben wir für
beide die Vorlagen zu suchen, nicht in der äußerlichen, physischen Geschichte.
Buddha und Jesus sind im vornehmsten Sinne Eingeweihte für die, die
ihre göttliche Natur erkannt haben. (Jesus ist der durch die Innewohnung
der Christenwesenheit Eingeweihte.) Damit ist ihr Leben allem Vergänglichen
entrückt. Damit hat auf sie Anwendung, was man von Eingeweihten weiß.
Man erzählt nicht mehr die zufälligen Ereignisse ihres Lebens. Man sagt
von ihnen: «Im Urbeginn war das Wort, und das Wort war bei Gott,
und ein Gott war das Wort. ... Und das Wort ward Fleisch und wohnete
unter uns.» (Johannes 1, 1 und 14.)
Aber das
Jesus-Leben enthält mehr als das Buddha-Leben. Buddha schließt mit der
Verklärung. Das Bedeutungsvollste im Jesus-Leben beginnt nach der Verklärung.
Man übersetze das in die Sprache der Eingeweihten: Buddha ist bis zu
dem Punkte gelangt, wo in dem Menschen das göttliche Licht anfängt zu
glänzen. Er steht vor dem Tode des Irdischen. Er wird das Weltlicht.
Jesus geht weiter. Er stirbt nicht physisch in dem Augenblicke, in dem
ihn das Weltlicht durchklärt. Er ist in diesem Augenblicke ein Buddha.
Aber er betritt auch in diesem Augenblicke eine Stufe, die in einem
höheren Grade der Initiation ihren Ausdruck findet. Er leidet und stirbt.
Das Irdische verschwindet. Aber das Geistige, das Weltlicht verschwindet
nicht. Seine Auferstehung erfolgt. Er enthüllt sich als Christus für
seine Gemeinde. Buddha zerfließt im Augenblicke seiner Verklärung in
das selige Leben des Allgeistes. Christus Jesus erweckt diesen Allgeist
noch einmal in menschlicher Gestalt in das gegenwärtige Dasein. Solches
ward mit dem Initiierten bei den höheren Weihen in einem Sinne vollzogen,
der bildhaft ist. Die im Sinne des Osiris-Mythos Initiierten
waren zu solcher Auferstehung in ihrem Bewußtsein als in einem Bild-Erlebnis
gelangt. Diese «große» Initiation, aber nicht als Bild-Erlebnis,
sondern als Wirklichkeit, wurde also im Jesus-Leben zu der
Buddha-Initiation hinzugefügt. Buddha hat mit seinem Leben das erwiesen,
daß der Mensch der Logos ist, und daß er in diesen Logos, in das Licht
zurückkehrt, wenn sein Irdisches stirbt. In Jesus ist der Logos selbst
persönlich geworden. In ihm ist das Wort Fleisch geworden.
Was sich
also für die alten Mysterienkulte im Innern der Mysterientempel abgespielt
hat, das ist durch das Christentum als eine weltgeschichtliche Tatsache
aufgefaßt worden. Zu dem Christus Jesus, dem Initiierten, dem in einzig-großer
Weise Initiierten, hat sich die Gemeinde bekannt. Ihr hat er bewiesen,
daß die Welt eine göttliche ist. Die Mysterienweisheit wurde für die
christliche Gemeinde unlösbar verknüpft mit der Persönlichkeit des Christus
Jesus. Daß er gelebt hat, und daß seine Bekenner zu ihm gehörten: dieser
Glaube trat an die Stelle dessen, was man vorher mit den Mysterien hatte
erreichen wollen. – Fortan konnte ein Teil dessen, was vorher
nur durch die mystischen Methoden zu erreichen war, für diejenigen,
die zur Christengemeinde gehörten, durch die Überzeugung ersetzt werden,
daß in dem gegenwärtig gewesenen Worte das Göttliche gegeben sei. Nicht
das, wozu der Geist eines jeden Einzelnen lange vorbereitet werden muß,
war nunmehr allein maßgebend; sondern was die gehört und gesehen haben,
die um Jesus waren, und was durch sie überliefert ist. «Was von
Anfang her geschehen ist, was wir gehört, was wir mit unseren Augen
gesehen, was selbst geschauet, was unsere Hände berührt haben von dem
Worte des Lebens ..., was wir sahen und hörten, melden wir
euch, damit ihr Gemeinschaft mit uns habet. » So heißt es in der
ersten Epistel des Johannes. Und dieses unmittelbar Wirkliche soll als
ein lebendiges Band alle Generationen umfassen; es soll als Kirche mystisch
von Geschlecht zu Geschlecht sich weiterschlingen. So sind die Worte
Augustinus' zu verstehen: «Ich würde dem Evangelium nicht glauben,
wenn mich die Autorität der katholischen Kirche nicht dazu
bewegte. » Nicht in sich also haben die Evangelien ein Erkennungszeichen
für ihre Wahrheit; sondern man soll sie glauben, weil sie sich auf Jesu
Persönlichkeit gründen; und weil die Kirche von dieser Persönlichkeit
her auf geheimnisvolle Weise die Macht ableitet, sie als Wahrheit erscheinen
zu lassen. – Die Mysterien haben durch Tradition die Mittel
überliefert, zur Wahrheit zu kommen; die Christengemeinschaft pflanzt
diese Wahrheit selbst fort. Zu dem Vertrauen zu den im Innern des Menschen
aufleuchtenden mystischen Kräften bei der Einweihung sollte hinzukommen
das Vertrauen zu dem Einen, dem Ur-Initiator. Vergottung haben die Mysten
gesucht; sie wollten sie erleben. Jesus war vergottet; man
muß sich zu ihm halten; dann ist man innerhalb der von ihm gestifteten
Gemeinschaft selbst Teilhaber an der Vergottung: das wurde christliche
Überzeugung. Was in Jesus vergottet war, ist für seine ganze Gemeinschaft
vergottet. «Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der
Welt» (Matthäus 28, 20). Der da in Bethlehem geboren ist, hat
einen ewigen Charakter. Das Weihnachtsantiphon darf von der
Geburt Jesu sprechen, als wenn sie an jedem Weihnachtsfeste
geschehe: «Heute ist Christus geboren worden; heute
ist der Erlöser erschienen, heute singen die Engel auf Erden.
» – In dem Christus-Erlebnis hat man zu sehen eine ganz bestimmte
Stufe der Initiation. Wenn der Myste der vorchristlichen Zeit dieses
Christus-Erlebnis durchmachte, dann war er durch seine Einweihung in
einem Zustande, der ihn befähigte, etwas geistig – in höheren Welten
– wahrzunehmen, wofür es keine entsprechende Tatsache in der sinnlichen
Welt gab. Er erlebte das, was das Mysterium von Golgatha umschließt,
in der höheren Welt. Wenn nun der christliche Myste dieses Erlebnis
durch Initiation durchmacht, dann schaut er zugleich das geschichtliche
Ereignis auf Golgatha und weiß, daß in diesem Ereignis, das sich innerhalb
der Sinnenwelt abgespielt hat, der gleiche Inhalt ist wie vorher nur
in den übersinnlichen Tatsachen der Mysterien. Es hat sich also mit
dem «Mysterium von Golgatha» auf die christliche Gemeinde
das ausgegossen, was sich früher innerhalb des Mysterientempels über
die Mysten ausgegossen hat. Und die Initiation gibt den christlichen
Mysten die Möglichkeit, sich dieses Inhaltes des «Mysteriums von
Golgatha» bewußt zu werden, während der Glaube den Menschen unbewußt
teilhaftig werden läßt der mystischen Strömung, die von den im Neuen
Testamente geschilderten Ereignissen ausgegangen ist und seitdem das
Geistesleben der Menschheit durchzieht.
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