Die
Evangelien
Was über
das «Leben Jesu» einer geschichtlichen Betrachtung unterzogen
werden soll, ist in den Evangelien enthalten. Alles, was darüber nicht
aus dieser Quelle stammt, läßt sich nach dem Urteile eines derjenigen,
die als die größten geschichtlichen Kenner der Sache gelten, Harnack,
«bequem auf eine Quartseite schreiben». Aber was für Urkunden
sind diese Evangelien? Das vierte, das «Johannes-Evangelium»,
weicht von den anderen so sehr ab, daß diejenigen, welche auf diesem
Gebiete den Weg geschichtlicher Untersuchung glauben wandeln
zu müssen, zu dem Urteile kommen: «Wenn Johannes die echte Überlieferung
über das Leben Jesu hat, dann ist die der drei ersten Evangelien (der
Synoptiker) unhaltbar; haben die Synoptiker recht, dann ist der vierte
Evangelist als Quelle abzulehnen» (Otto Schmiedel, Die
Hauptprobleme der Leben Jesu-Forschung Seite 15). Das ist eine vom Standpunkte
des Geschichtsforschers ausgesprochene Behauptung. Hier, wo es sich
um den mystischen Gehalt der Evangelien handelt, ist dieser Gesichtspunkt
weder anzuerkennen noch abzulehnen. Wohl aber muß hingedeutet werden
auf solches Urteil: «Gemessen mit dem Maßstabe der Übereinstimmung,
Inspiration und Vollständigkeit, lassen diese Schriften sehr viel zu
wünschen übrig, und auch nach menschlichem Maßstab gemessen, leiden
sie an nicht wenigen Unvollkommenheiten.« So urteilt ein christlicher
Theologe (Harnack in «Wesen des Christentums»).
Wer auf dem Standpunkte eines mystischen Ursprungs der Evangelien steht,
für den erklären sich ohne Zwang die nicht übereinstimmenden Dinge;
für den gibt es auch eine Harmonie zwischen dem vierten Evangelium und
den drei ersten. Denn alle diese Schriften können gar nicht bloße geschichtliche
Überlieferungen im gewöhnlichen Wortsinne sein wollen. Sie
wollten ja (vergleiche Seite 101 f) keine geschichtliche Biographie
geben. Was sie geben wollten, lag immer schon als typisches Leben des
Gottessohnes in den Mysterientraditionen vorgebildet. Man schöpfte nicht
aus der Geschichte, sondern aus den Mysterientraditionen. Nun waren
natürlich in den verschiedenen Mysterienkultstätten diese Traditionen
nicht bis zu wörtlicher Übereinstimmung gleichgestaltet. Immerhin gab
es eine so große Übereinstimmung, daß die Buddhisten das Leben ihres
Gottmenschen schon fast genau ebenso erzählten wie die Evangelisten
des Christentums das des ihrigen. Aber Verschiedenheiten gab es natürlich
doch. Man braucht nun nur anzunehmen, daß die vier Evangelisten aus
vier verschiedenen Mysterientraditionen schöpften. Es spricht für die
hochragende Persönlichkeit Jesu, daß er in vier, verschiedenen Traditionen
angehörigen Schriftgelehrten den Glauben erweckt: er sei derjenige,
der ihrem Typus eines Eingeweihten in so vollkommenem Grade entspricht,
daß sie sich zu ihm wie zu einer Persönlichkeit verhalten können, die
den typischen Lebenslauf lebt, der in ihren Mysterien vorgezeichnet
ist. Dann haben sie im übrigen sein Leben nach Maßgabe ihrer
Mysterientraditionen beschrieben. Und wenn die drei ersten Evangelisten
(die Synoptiker) ähnlich erzählen, so beweist das nicht mehr,
als daß sie aus ähnlichen Mysterientraditionen geschöpft haben. Der
vierte Evangelist hat seine Schrift durchtränkt mit Ideen, die an den
Religionsphilosophen Philo erinnern. Das beweist wieder nichts anderes,
als daß er aus derselben mystischen Tradition hervorgegangen ist, der
auch Philo nahegestanden hat. – Man hat es in den Evangelien mit verschiedenen
Bestandteilen zu tun. Erstens mit Tatsachenmitteilungen, die so auftreten,
daß sie zunächst den Anspruch zu erheben scheinen, als ob sie historische
Tatsachen sein sollten. Zweitens mit Gleichnisreden, die sich der Tatsachenerzählung
nur bedienen, um eine tiefere Wahrheit zu versinnbildlichen. Und drittens
mit Lehren, die als Gehalt der christlichen Weltansicht gemeint sein
sollen. Im Johannes-Evangelium steht kein eigentliches Gleichnis.
Es schöpfte eben aus einer mystischen Schule, in der man der Gleichnisse
nicht zu bedürfen glaubte. – Wie aber sich geschichtlich gebende Taten
und Gleichnisse in den ersten Evangelien verhalten, darauf wirft ein
helles Licht die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaumes. Bei
Markus 11, 11 ff lesen wir: «Und der Herr ging ein zu Jerusalem
in den Tempel, und er besah alles; und am Abend ging er hinaus gen Bethanien
mit den Zwölfen. Und des andern Tages, da sie von Bethanien gingen,
hungerte ihn. Und sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte;
da trat er hinzu, ob er etwas drauf fände. Und da er hinzu kam, fand
er nichts denn nur Blätter; denn es war noch nicht Zeit, daß Feigen
sein sollten. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Nun esse von dir
niemand keine Frucht ewiglich.» Lukas erzählt an derselben Stelle
ein Gleichnis (13,6 f.): «Er sagte ihnen aber dies Gleichnis:
Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberge;
und kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem
Weingärtner: Siehe, ich bin drei Jahre lang alle Jahre gekommen und
habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaum und finde keine. Haue ihn
ab. Was hindert er das Land.» Es ist das ein Gleichnis, das die
Wertlosigkeit der alten Lehre symbolisieren soll, die in dem unfruchtbaren
Feigenbaume dargestellt wird. Was bildlich gemeint ist, erzählt Markus
wie eine Tatsache, die sich geschichtlich zu geben scheint. Man darf
annehmen, daß Tatsachen in den Evangelien deshalb überhaupt nicht als
geschichtlich genommen werden wollen, so als ob sie nur als Tatsachen
der Sinneswelt zu gelten hätten, sondern als mystisch; als Erlebnisse,
zu deren Wahrnehmung die geistige Anschauung notwendig ist, und die
aus verschiedenen mystischen Traditionen stammen. Dann aber hört auf
ein Unterschied zu sein zwischen dem Johannes-Evangelium und den Synoptikern.
Für die mystische Auslegung kommt eben die geschichtliche Untersuchung
gar nicht in Betracht. Mag das eine oder das andere Evangelium ein paar
Jahrzehnte früher oder später entstanden sein: für den Mystiker sind
alle von gleichem historischen Wert; das Johannes-Evangelium genau so
wie die anderen.
Und die
«Wunder»: sie bieten der mystischen Erklärung nicht die
geringsten Schwierigkeiten. Sie sollen die physische Gesetzmäßigkeit
der Welt durchbrechen. Das tun sie nur so lange, als man sie für Vorgänge
hält, die sich im Physischen, im Vergänglichen so zugetragen haben sollen,
daß sie die gewöhnliche Sinneswahrnehmung hätte ohne weiteres durchschauen
können. Sind sie aber Erlebnisse, die nur auf einer höheren, auf der
geistigen Daseinsstufe durchschaut werden können, dann ist es von ihnen
selbstverständlich, daß sie nicht aus den Gesetzen der physischen Naturordnung
begriffen werden können.
Man muß also die Evangelien erst richtig lesen, dann
wird man wissen, inwiefern sie von dem Stifter des Christentums erzählen
wollen. Sie wollen im Stile von Mysterienmitteilungen erzählen. Sie
erzählen, wie ein Myste von einem Eingeweihten erzählt. Nur überliefern
sie die Einweihung als eine einzigartige Eigentümlichkeit eines Einzigen.
Und sie machen das Heil der Menschheit davon abhängig, daß sich die
Menschen an diesen eigenartig Eingeweihten halten. Was zu den Eingeweihten
gekommen war, das war das «Reich Gottes». Der Einzigartige
hat dieses Reich allen denen gebracht, die zu ihm halten wollen. Aus
einer persönlichen Angelegenheit des Einzelnen ist eine Gemeindeangelegenheit
derjenigen geworden, die Jesus als ihren Herren anerkennen wollen.
Man kann begreifen, daß das so geworden ist, wenn man
annimmt, daß die Mysterienweisheit in die israelitische Volksreligion
eingebettet worden ist. Aus dem Judentum ist das Christentum hervorgegangen.
Daß wir mit demselben dem Judentum Mysterienanschauungen, die als ein
gemeinsames Gut des griechischen, des ägyptischen Geisteslebens sich
gezeigt haben, gleichsam aufgepfropft finden: darüber brauchen wir nicht
erstaunt zu sein. Wenn man die Volksreligionen untersucht, findet man
verschiedene Vorstellungen über das Geistige. Geht man überall auf die
tiefere Priesterweisheit zurück, die als der geistige Kern der verschiedenen
Volksreligionen sich ergibt, so findet man überall Übereinstimmung.
Plato weiß sich in Übereinstimmung mit den ägyptischen Priesterweisen,
indem er in seiner philosophischen Weltanschauung den Kern der griechischen
Weisheit darlegen will. Von Pythagoras wird erzählt, daß er Reisen nach
Ägypten, nach Indien gemacht habe; und daß er bei den Weisen dieser
Länder in die Schule gegangen sei. Zwischen den philosophischen Lehren
des Plato und dem tieferen Sinn der mosaischen Schriften fanden Persönlichkeiten,
die ungefähr um die Zeit der Entstehung des Christentums lebten, so
viel Übereinstimmung, daß sie Plato einen attisch redenden Moses nannten.
Mysterienweisheit war also überall vorhanden. Aus dem
Judentum heraus nahm sie eine Form an, die sie annehmen mußte, wenn
sie Weltreligion werden wollte. – Das Judentum erwartete den Messias.
Kein Wunder, daß die Persönlichkeit eines einzigartigen Initiierten
von den Juden nur so aufgefaßt werden konnte, daß dieser Einzige der
Messias sein müsse. Ja, von hier aus fällt sogar ein besonderes Licht
auf die Tatsache, daß Volksangelegenheit wurde, was vorher in den Mysterien
nur Einzelangelegenheit war. Die jüdische Religion war von jeher Volksreligion.
Das Volk sah sich als Ganzes an. Sein Jao war der Gott des ganzen Volkes.
Sollte der Sohn geboren werden, so konnte er nur wieder der Volksheiland
werden. Nicht der einzelne Myste durfte für sich erlöst werden; dem
ganzen Volke mußte diese Erlösung zuteil werden. Innerhalb der Grundgedanken
der jüdischen Religion ist es also begründet, daß einer für alle stirbt.
– Und daß es auch innerhalb des Judentums Mysterien gab, die aus dem
Dunkel des geheimen Kultus in die Volksreligion getragen werden konnten,
das ist gewiß. Eine ausgebildete Mystik bestand neben der an den äußeren
Formeln des Pharisäertums hängenden Priesterweisheit. Wie anderswo wird
diese geheimnisvolle Mysterienweisheit auch hier beschrieben. Als einst
ein Eingeweihter solche Weisheit vortrug und seine Hörer den geheimen
Sinn ahnten, da sprachen sie: «0 Greis, was hast du getan? O daß
du geschwiegen hättest! Du glaubst auf dem unermeßlichen Meere ohne
Segel und Mast fahren zu können.
Was unternimmst du? Willst du in die Höhe steigen? Das vermagst du nicht.
Willst du dich in die Tiefe versenken? Da gähnt dir ein unermeßlicher
Abgrund entgegen.» Und von vier Rabbinen erzählen die Kabbalisten,
denen auch das obige entstammt. Vier Rabbinen haben die geheimen Pfade
zum Göttlichen gesucht. Der erste starb; der zweite verlor den Verstand;
der dritte richtete ungeheure Verwüstungen an; und nur der vierte, der
Rabbi Akiba, ging in Frieden hinein und wieder heraus.
Man sieht,
daß es auch im Judentum den Boden gab, auf dem sich ein einzigartiger
Initiierter entwickeln konnte. Ein solcher brauchte sich nur zu sagen:
ich will nicht, daß das Heil die Sache weniger Auserwählter bleibe.
Ich will alles Volk an diesem Heil teilnehmen lassen. Er mußte hinaustragen
in alle Welt, was die Auserlesenen in den Tempeln der Mysterien erlebt
hatten. Er mußte es auf sich nehmen wollen, durch seine Persönlichkeit
im Geiste das seiner Gemeinde zu sein, was der Mysterienkult früher
denen war, die an ihm teilgenommen hatten. Gewiß: die Erlebnisse
der Mysterien konnte er dieser seiner Gemeinde nicht ohne weiteres geben.
Das konnte er auch nicht wollen. Aber die Gewißheit wollte er allen
geben von dem, was in den Mysterien als Wahrheit angeschaut wurde. Das
Leben, das in den Mysterien strömte, wollte er durch die fernere geschichtliche
Entwicklung der Menschheit strömen lassen. So wollte er sie auf eine
höhere Stufe des Daseins heben. «Selig sind, die da glauben und
nicht schauen.» Die Gewißheit, daß es ein Göttliches gibt, wollte
er in der Form des Vertrauens unerschütterlich in die Herzen
pflanzen. Wer außen steht und dieses Vertrauen hat, der kommt gewiß
weiter, als wer ohne dieses Vertrauen dasteht. Wie ein Alp mußte es
auf Jesu Gemüt gelastet haben, daß unter den Außenstehenden doch viele
sein können, die den Weg nicht finden. Die Kluft zwischen Einzuweihenden
und «Volk» sollte weniger groß sein. Das Christentum sollte
ein Mittel sein, durch das jeder den Weg finden konnte. Ist er nicht
reif dazu, so ist ihm wenigstens nicht die Möglichkeit abgeschnitten,
daß er in einer gewissen Unbewußtheit der Mysterienströmung teilhaftig
werde. «Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu
machen, was verloren ist.» Etwas genießen können von den Früchten
der Mysterien sollten auch fortan diejenigen, welche nicht an der Einweihung
noch teilnehmen können. Nicht von den «äußerlichen Gebärden»
sollte fortan das Reich Gottes ganz und gar abhängig sein, nein, «es
ist nicht hier oder dort; es ist inwendig in euch». Ihm handelte
es sich weniger darum, wie weit dieser oder jener im Reiche des Geistes
kommt; ihm kam es darauf an, daß alle die Überzeugung haben:
es gebe ein solches geistiges Reich. «Freuet euch nicht, daß euch
die Geister untertan sind; freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel
angeschrieben sind.» Das heißt, habet Vertrauen zum Göttlichen:
es wird die Zeit kommen, da ihr es findet.
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