Das
Lazarus-wunder
Unter den
«Wundern», die Jesus zugeschrieben werden, muß zweifellos
der Auferweckung des Lazarus in Bethanien eine ganz besondere Bedeutung
zugesprochen werden. Alles vereinigt sich, um dem, was hier der Evangelist
erzählt, eine hervorragende Stellung im Neuen Testamente anzuweisen.
Man muß bedenken, daß die Erzählung nur im Evangelium des Johannes steht,
also desjenigen Evangelisten, der durch die bedeutungsvollen Einleitungsworte
seines Evangeliums eine ganz bestimmte Auffassung seiner Mitteilungen
herausfordert. Johannes beginnt mit den Sätzen: «Im Urbeginne
war das Wort, und das Wort war bei Gott; und ein Gott war das Wort ...
Und das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine
Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller
Hingabe und Wahrheit.» Wer an den Anfang seiner Ausführungen solche
Worte setzt, der will gleichsam mit Fingern darauf deuten, daß er in
einem besonders tiefen Sinne ausgelegt sein will. Wer hier mit bloßen
Verstandeserklärungen kommen will, oder mit anderen Dingen, die an der
Oberfläche bleiben, der gleicht dem, welcher meint, Othello hätte auf
der Bühne die Desdemona «wirklich» ermordet. Was kann denn
Johannes mit seinen Einleitungsworten nur sagen wollen? Daß er von etwas
Ewigem spricht, von etwas, das im Urbeginne war, das sagt er doch deutlich.
Er erzählt Tatsachen; aber sie sollen nicht als solche Tatsachen
genommen werden, die Auge und Ohr betrachten, und an denen der logische
Verstand seine Künste übt. Das «Wort», das in dem Weltengeiste
ist, verbirgt er hinter den Tatsachen. Diese Tatsachen sind für ihn
das Mittel, in dem sich ein höherer Sinn auslebt. Und man darf daher
voraussetzen, daß sich in der Tatsache einer Totenerweckung, die Augen,
Ohren und dem logischen Verstande die größten Schwierigkeiten macht,
der allertiefste Sinn verbirgt.
Dazu kommt noch ein weiteres. Renan hat in seinem «Leben
Jesu» bereits darauf hingewiesen, daß unzweifelhaft die Auferweckung
des Lazarus auf das Ende des Lebens Jesu von entscheidendem Einfluß
gewesen sein muß. Ein solcher Gedanke erscheint von dem Standpunkte
aus, den Renan einnimmt, unmöglich. Denn warum sollte gerade die Tatsache,
daß sich im Volke der Glaube verbreitete, Jesus habe einen Mann vom
Tode erweckt, seinen Gegnern so gefährlich scheinen, daß sie darob zu
dem Urteile kamen: Können Jesus und das Judentum zusammen leben? Es
geht nicht an mit Renan zu behaupten: «Die andern Wunder Jesu
waren flüchtige Ereignisse, auf gutem Glauben weiter erzählt und im
Munde des Volkes übertrieben, und man kam nicht mehr darauf zurück,
nachdem sie geschehen waren. Doch dieses war ein wahrhaftiges Ereignis,
das öffentlich bekannt wurde und mit welchem man die Pharisäer zum Schweigen
bringen wollte. Alle Feinde Jesu waren über das verursachte Aufsehen
erbittert. Man erzählt, sie versuchten Lazarus zu töten. » Es
ist unerfindlich, warum das so sein sollte, wenn Renan recht hätte mit
seiner Ansicht, daß es sich in Bethanien bloß um die Inszenierung einer
Scheinhandlung gehandelt hätte, die dazu dienen sollte, den Glauben
an Jesum zu stärken: «Vielleicht ließ sich Lazarus, noch blaß
von seiner Krankheit, einem Toten gleich in Leichentücher hüllen und
in sein Familiengrab legen. Diese Gräber waren große, in den Fels gehauene
Kammern, in die man durch eine viereckige Öffnung hineinkam, die mit
einem riesigen Felsblock verschlossen wurde. Martha und Maria eilten
Jesu entgegen und führten ihn zum Grabe, noch bevor er Bethanien betreten
hatte. Die schmerzliche Erregung, die Jesus am Grabe seines totgeglaubten
Freundes empfand, mochte von den Anwesenden für das Zittern und Schauern
gehalten werden (Joh. 11, 33 und 38), das die Wunder zu begleiten pflegte.
Nach dem Volksglauben beruhte nämlich die göttliche Kraft im Menschen
gleichsam auf einem epileptischen und konvulsivischen Prinzip. Jesus
– immer unsere Annahme vorausgesetzt – wünschte den, welchen er geliebt
hatte, noch einmal zu sehen, und als der Leichenstein fortgerollt wurde,
trat Lazarus hervor in seinen Leichentüchern, das Haupt in ein Schweißtuch
gehüllt. Diese Erscheinung mußte natürlich allgemein als Auferstehung
gelten. Der Glaube kennt kein anderes Gesetz als das Interesse für das,
was ihm Wahrheit ist.» Erscheint eine solche Auslegung nicht geradezu
naiv, wenn man, wie Renan, an sie die Ansicht knüpft: «Alles scheint
dafür zu sprechen, daß das Wunder von Bethanien wesentlich dazu beitrug,
Jesu Tod zu beschleunigen»? Dennoch liegt zweifellos dieser letzteren
Behauptung Renans eine richtige Empfindung zugrunde. Nur kann Renan diese
seine Empfindung mit seinen Mitteln nicht deuten und rechtfertigen.
Jesus mußte etwas ganz besonders Wichtiges in Bethanien vollbracht haben,
damit gerade im Hinblick darauf die Worte gerechtfertigt erscheinen:
«Da versammelten die Hohepriester und Ältesten einen Rat und sprachen:
Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen.» (Joh. 11,47.) Renan
vermutet auch etwas Besonderes. «Es muß jedoch» anerkannt
werden, daß diese Erzählung des Johannes wesentlich verschiedener Art
ist, von den Wunderberichten, dem Ausfluß der Volksphantasie, von denen
die Synoptiker voll sind. Fügen wir noch dazu, daß Johannes der einzige
Evangelist ist, der genaue Kenntnis der Beziehungen Jesu zur Familie
in Bethanien hatte, und daß es unbegreiflich wäre, wie eine Volksschöpfung
in dem Rahmen von so persönlichen Erinnerungen hätte Platz finden können.
Wahrscheinlich war also das Wunder keines der ganz legendären, für die
niemand verantwortlich ist. Kurz, ich glaube, daß in Bethanien etwas
geschehen sei, was als eine Auferstehung gelten konnte. » Heißt
das im Grunde nicht: Renan vermutet, daß in Bethanien etwas geschehen
ist, für das er keine Erklärung hat? Er verschanzt sich auch hinter
die Worte: «Bei der Länge der Zeit, und einem einzigen Text gegenüber,
der deutliche Spuren nachträglicher Zusätze aufweist, ist es unmöglich,
zu entscheiden, ob in diesem Falle alles Erdichtung sei, oder ob denn
wirklich ein Vorfall in Bethanien dem Gerücht als Grundlage dient.»
-Wie, wenn man es hier mit etwas zu tun hätte, demgegenüber der Text
nur richtig gelesen zu werden braucht, um zum wahren Verständnisse zu
kommen? Vielleicht hört man dann auf, von «Erdichtung» zu
reden.
Zugegeben werden muß, daß die ganze Erzählung im Johannes-Evangelium
in einen geheimnisvollen Schleier gehüllt ist. Man braucht, um das einzusehen,
nur auf Eines hinzudeuten. Was für einen Sinn sollten, wenn die Erzählung
im physischen Sinne wörtlich zu nehmen wäre, Jesu Worte haben: «Die
Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn
Gottes dadurch geehrt werde. » Dies ist die gebräuchliche Übersetzung
der entsprechenden Evangelienworte; doch kommt man besser zum Sachverhalt,
wenn man – was auch dem Griechischen entsprechend richtig ist – übersetzt:
«zur Erscheinung (zur Offenbarung) Gottes, daß der Sohn Gottes
dadurch offenbar werde». Und was sollten die anderen Worte bedeuten:
Jesus spricht «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an
mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.« (Johannes 11,
4 und 25.) Es wäre eine Trivialität zu glauben, Jesus habe sagen wollen:
Lazarus sei nur krank geworden, damit er seine Kunst an ihm zeigen könne.
Und es wäre eine weitere Trivialität, zu meinen, Jesus habe behaupten
wollen, der Glaube an ihn mache einen Toten im gewöhnlichen Wortsinne
wieder lebendig. Was wäre denn besonders an einem Menschen, der vom
Tode auferstanden ist, wenn er nach der Auferstehung derselbe wäre wie
vor dem Sterben? Ja, was hätte es für einen Sinn, wenn das Leben eines
solchen Menschen bezeichnet würde mit den Worten: «Ich bin die
Auferstehung und das Leben»? Sofort kommt Leben und Sinn in Jesu
Worte, wenn wir sie als den Ausdruck eines geistigen Ereignisses und
dann in gewisser Weise sogar wörtlich so verstehen, wie sie
im Texte sind. Jesus sagt doch: Er sei die Auferstehung, die an Lazarus
geschehen ist; und er sei das Leben, das Lazarus lebt. Man
nehme doch wörtlich, was Jesus im Johannes-Evangelium ist.
Er ist das «Wort, das Fleisch geworden ist». Er ist das
Ewige, das im Urbeginne war. Ist er wirklich die Auferstehung: dann
ist das «Ewige, Anfängliche» in Lazarus auferstanden. Man
hat es also mit einer Auferweckung des ewigen «Wortes» zu
tun. Und dieses «Wort» ist das Leben, zu dem Lazarus auferweckt
worden ist. Man hat es mit einer «Krankheit» zu tun. Aber
mit einer Krankheit, die nicht zum Tode führt, sondern die zur «Ehre
Gottes», das ist, zur Offenbarung Gottes dient. Ist in Lazarus
das «ewige Wort» auferstanden, dann dient wirklich der ganze
Vorgang dazu, den Gott in Lazarus erscheinen zu lassen. Denn Lazarus
ist durch den ganzen Vorgang ein anderer geworden. Vorher lebte nicht
das «Wort», der Geist, in ihm; jetzt lebt dieser Geist in
ihm. Dieser Geist ist in ihm geboren worden. Gewiß ist doch mit jeder
Geburt eine Krankheit, die Krankheit der Mutter, verknüpft. Aber diese
Krankheit führt nicht zum Tode, sondern zu neuem Leben. Bei Lazarus
wird dasjenige «krank», aus dem der «neue Mensch»,
der vom «Wort» durchdrungene Mensch geboren wird.
Wo ist das Grab, aus dem das «Wort» geboren ist? Man braucht,
um auf diese Frage Antwort zu erhalten, nur an Plato zu denken, der
den Leib des Menschen ein Grab der Seele nennt. Und man braucht sich
nur zu erinnern, daß auch Plato von einer Art Auferstehung spricht,
wenn er auf das Lebendigwerden der geistigen Welt in dem Leibe deutet.
Was Plato die geistige Seele nennt, das bezeichnet Johannes als das
«Wort». Und Christus ist ihm das «Wort». Plato
hätte sagen können: Wer geistig wird, der hat ein Göttliches aus dem
Grabe seines Leibes auferstehen lassen. Und für Johannes ist das, was
durch das «Leben Jesu» geschehen ist, diese Auferstehung.
Kein Wunder, wenn er also Jesum sagen läßt: «Ich bin die
Auferstehung».
Kein Zweifel kann sein, daß der Vorgang in Bethanien eine Erweckung
im geistigen Sinne ist. Lazarus ist ein anderer geworden als er vorher
war. Er ist zu einem Leben erstanden, von dem das «ewige Wort»
sagen konnte: «Ich bin dieses Leben. » Was also ist mit
Lazarus vorgegangen? Es ist der Geist in ihm lebendig geworden. Er ist
des Lebens teilhaftig geworden, das ewig ist. – Man braucht sein Erlebnis
nur auszusprechen mit den Worten derer, die in die Mysterien eingeweiht
wurden, und der Sinn enthüllt sich sofort. Was sagt doch Plutarch über
den Zweck der Mysterien? Sie hätten dazu gedient, die Seele vom körperlichen
Leben abzuziehen und mit den Göttern zu vereinigen. Man lese, wie Schelling
die Empfindungen eines Eingeweihten beschreibt: «Der Eingeweihte
wurde durch die empfangenen Weihen selbst ein Glied jener magischen
Kette, er selber ein Kabire, aufgenommen in den unzerreißbaren Zusammenhang
und, wie die alte Inschrift sich ausdrückt, dem Heer der oberen Götter
zugesellt» (Schelling, Philosophie der Offenbarung). Und man kann
den Umschwung, der im Leben dessen vorging, der die Mysterienweihen
empfing, nicht bedeutungsvoller bezeichnen als mit den Worten, die Ädesius
seinem Schüler, dem Kaiser Konstantin sagt: «Wenn du einst an
den Mysterien teilnimmst, wirst du dich schämen, überhaupt nur als Mensch
geboren zu sein.»
Man durchtränke seine ganze Seele mit solchen Empfindungen, und man
wird das rechte Verhältnis zu dem Vorgang in Bethanien gewinnen. Man
erlebt dann etwas ganz Besonderes bei der Erzählung des Johannes. Eine
Gewißheit dämmert auf, die keine logische Auslegung, kein rationalistischer
Erklärungsversuch geben kann. Ein Mysterium im wahren Sinn des Wortes
steht vor uns. In Lazarus ist das «ewige Wort » eingezogen.
Er ist, um im Sinn der Mysterien zu sprechen, ein Initiierter (Eingeweihter)
geworden (siehe «Mysterien und Mysterienweisheit»). Und der
Vorgang, der uns erzählt wird, muß ein Initiationsvorgang sein.
Stellen wir den ganzen Vorgang einmal als Initiation vor uns hin. Lazarus
wird von Jesus geliebt (Johannes 11, 36). Kein Liebhaben im gewöhnlichen
Sinne kann damit gemeint sein. Das widerspräche dem Sinn des Johannes-Evangeliums,
in dem Jesus das «Wort» ist. Jesus hat Lazarus lieb gehabt,
weil er ihn für reif hielt, um das «Wort» in ihm zu erwecken.
Es waren Beziehungen Jesu zur Familie in Bethanien vorhanden. Das heißt
doch nur, Jesus hat in dieser Familie alles vorbereitet, was zum großen
Schlußakt des Dramas hinführen sollte: zur Auferweckung des Lazarus.
Dieser ist Schüler Jesu. Er ist ein solcher Schüler, daß Jesus mit Gewißheit
annehmen kann: mit ihm werde sich einst die Erweckung vollziehen. Der
Schlußakt eines Erweckungsdramas bestand in einer bildhaften, das Geistige
offenbarenden Handlung. Der Mensch mußte nicht nur das «Stirb
und Werde» begreifen: er mußte es in einer geistig-wirklichen
Handlung selbst vollziehen. Das Irdische, dessen sich der höhere Mensch
im Sinne der Mysterien zu schämen hat, mußte abgetan werden. Der irdische
Mensch mußte des bildhaft-wirklichen Todes sterben. Daß dann sein Leib
in einen somnambulen Schlaf durch drei Tage versetzt wurde, kann gegenüber
der Größe der Lebenswandlung, die vorging, eben doch nur als ein äußerlicher
Vorgang bezeichnet werden, dem ein ungleich bedeutsamerer geistiger
entspricht. Aber diese Handlung war doch auch das Erlebnis, das das
Leben des Mysten in zwei Teile teilte. Wer den höheren Inhalt solcher
Handlungen nicht lebensvoll kennt, der vermag sie nicht zu verstehen.
Man kann sie ihm nur durch einen Vergleich nahebringen. Man kann den
ganzen Inhalt von Shakespeares Hamlet mit ein paar Worten zusammenfassen.
Wer sich dieser Worte bemächtigt, kann in gewissem Sinne sagen: er kenne
den Inhalt des Hamlet. Und logisch kennt er ihn auch. Anders aber erkennt
ihn der, welcher den ganzen Reichtum der Shakespearischen Handlung auf
sich wirken läßt. Durch seine Seele ist ein Lebensinhalt gezogen, der
sich durch keine bloße Beschreibung ersetzen läßt. Die Hamlet-Idee ist
ihm künstlerische, persönliche Erfahrung geworden. -Durch den magisch-bedeutungsvollen
Vorgang, der mit der Initiation verknüpft ist, vollzieht sich im Menschen
auf einer höheren Stufe ein ähnlicher Vorgang. Er erlebt bildhaft,
was er geistig erringt. Das Wort «bildhaft» ist hier so
gemeint, daß eine äußere Tatsache zwar sinnlich wirklich sich vollzieht,
daß sie aber als solche doch Bild ist. Man hat es mit keinem unwirklichen
Bild, sondern mit einem wirklichen zu tun. Der irdische Leib ist drei
Tage lang wirklich tot gewesen. Aus dem Tode heraus entsteht das neue
Leben. Dieses Leben hat den Tod überdauert. Der Mensch hat das Vertrauen
zu dem neuen Leben gewonnen. – So ist es mit Lazarus gewesen. Jesus
hat ihn für die Erweckung vorbereitet. Es handelt sich um eine bildhaft-wirkliche
Krankheit. Um eine Krankheit, die eine Initiation ist, und die nach
drei Tagen zum wirklich neuen Leben führt:(*)
Lazarus ist reif, diese Handlung an sich zu vollziehen. Er hüllt sich
in das Gewand der Mysten. Er schließt sich in einem Zustande von Leblosigkeit,
die zugleich bildhafter Tod ist, ein. Und da Jesus kam, da waren die
drei Tage erfüllt. «Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene
lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir,
daß du mich erhöret hast.» (Johannes 11, 41).Der Vater hatte Jesum
erhöret, denn Lazarus war zum Schlußakte des großen Erkenntnisdramas
gekommen. Er hatte erkannt, wie man zur Auferstehung gelangt. Eine Einweihung
in die Mysterien war vollzogen. Was man sich im ganzen Altertum unter
einer solchen Einweihung gedacht hatte, lag vor. Es war durch Jesus,
als Initiator, geschehen. So hatte man sich immer die Vereinigung mit
dem Göttlichen vorgestellt.
An Lazarus hat Jesus im Sinne uralter Traditionen das große Wunder der
Lebensverwandlung vollbracht. Damit ist das Christentum an die Mysterien
angeknüpft. Lazarus war durch den Christus Jesus selbst ein Eingeweihter
geworden. Er war dadurch fähig geworden, sich in die höheren Welten
zu erheben. Er war aber zugleich der erste christliche und von dem Christus
Jesus selbst Eingeweihte. Er war durch seine Einweihung fähig geworden,
zu erkennen, daß das in ihm lebendig gewordene «Wort» in
dem Christus Jesus Person geworden war, daß also in sinnlicher Persönlichkeitserscheinung
in seinem Erwecker dasselbe vor ihm stand, was geistig in ihm offenbar
geworden war. – Von diesem Gesichtspunkte aus sind bedeutungsvoll die
Worte Jesu (Johannes 11, 42): «Aber ich weiß, daß du mich stets
erhörest; doch um des umherstehenden Volkes willen sage ich es: auf
daß sie zu dem Glauben geführt werden, daß du mich gesandt hast. »
Das heißt, es handelt sich darum, daß offenbar werde: in Jesus lebt
der «Sohn des Vaters» so, daß, wenn er das eigene Wesen
in dem Menschen erweckt, dieser zum Mysten werde. Jesus drückt damit
aus, daß in den Mysterien der Sinn des Lebens verborgen war, daß sie
zu diesem Sinn hinführten. Er ist das lebendige Wort; in ihm ist Person
geworden, was uralte Tradition war. Und der Evangelist darf das mit
dem Satze aussprechen: in ihm ist das Wort Fleisch geworden. Er darf
in Jesus selbst ein verkörpertes Mysterium sehen. Und ein Mysterium
ist deshalb das Evangelium des Johannes. Man lese es so, daß die Tatsachen
nur Geist sind; und man wird es richtig lesen. Hätte es ein alter Priester
geschrieben: er hätte von einem traditionellen Ritus erzählt. Dieser
Ritus wird für Johannes Person. Er wird zum «Leben Jesu».
Wenn ein großer neuerer Forscher von den Mysterien sagt – Burckhardt,
Die Zeit Konstantins –: die Mysterien seien Dinge, über «welche
man nie ins klare kommen werde», so hat er eben den Weg zu dieser
Klarheit nicht erkannt. Man nehme das Johannes-Evangelium vor sich und
schaue in bildhaft-körperhafter Wirklichkeit das Erkenntnisdrama, das
die Alten vorführten, und man hat den Blick auf das Mysterium
gerichtet.
Man kann in den Worten «Lazare, komm heraus» den Ruf wieder
erkennen, mit dem die ägyptischen Priester-Initiatoren diejenigen wieder
ins Leben des Alltags zurückriefen, welche, um dem Irdischen abzusterben
und die Überzeugung von dem Dasein des Ewigen zu gewinnen, sich den
weltentrückenden Prozessen der «Einweihung» unterzogen.
Aber Jesus hatte damit das Mysteriengeheimnis geoffenbart. Es wird erklärlich,
daß einen solchen Vorgang die Juden an Jesu ebensowenig ungesühnt lassen
konnten, wie die Griechen es hätten an Aischylos ungesühnt
lassen können, wenn er die Mysteriengeheimnisse verraten hätte. Es kam
Jesus darauf an, in der Lazarus-Initiation vor alles «Volk, das
umherstehend» war, einen Vorgang hinzustellen, der im Sinne alter
Priesterweisheit nur in der Verborgenheit des Mysteriums sich vollziehen
durfte. Diese Initiation sollte zum Verständnis des «Mysteriums
von Golgatha» vorbereiten. Vorher konnten über das, was mit einem
solchen Initiationsvorgang sich vollzog, nur die etwas wissen, die da
«schauten», das heißt eingeweiht waren; jetzt aber sollten
eine Überzeugung von den Geheimnissen der höheren Welten gewinnen können
auch die, welche «glaubten, auch wenn sie nicht schauten».
*Was
hier beschrieben ist, bezieht sieh auf die alten Einweihungen, die
wirklich einen dreitägigen schlafartigen Zustand nötig hatten. Keine
wirkliche neuere Einweihung hat dies nötig. Diese führt im Gegenteil
zu einem mehr bewußten Erleben; und das gewöhnliche Bewußtsein wird
innerhalb der Einweihungsdramatik niemals herabgestimmt.
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