Vorurteile aus vermeintlicher Wissenschaft
Es ist gewiß richtig, daß es im
Geistesleben der Gegenwart vieles gibt, was demjenigen, der nach
Wahrheit sucht, das Bekenntnis zu den geisteswissenschaftlichen
(theosophischen) Erkenntnissen schwierig macht. Und dasjenige, was in
den Aufsätzen über die «Lebensfragen der
theosophischen Bewegung» gesagt ist, kann als Andeutung der
Gründe erscheinen, welche insbesondere bei dem gewissenhaften
Wahrheitsucher in dieser Richtung bestehen. Ganz phantastisch
muß manche Aussage des Geisteswissenschafters dem erscheinen,
welcher sie prüft an den sicheren Urteilen, die er glaubt aus
dem sich bilden zu müssen, was er als die Tatsachen der
naturwissenschaftlichen Forschung kennengelernt hat. Dazu kommt,
daß diese Forschung auf den gewaltigen Segen hinzuweisen vermag,
den sie dem menschlichen Fortschritt gebracht hat und fortdauernd
bringt. Wie überwältigend wirkt es doch, wenn eine
Persönlichkeit, welche lediglich auf die Ergebnisse dieser
Forschung eine Weltansicht aufgebaut wissen will, die stolzen Worte
zu sagen vermag: «Denn es liegt ein Abgrund zwischen diesen
beiden extremen Lebensauffassungen: die eine für diese Welt
allein, die andere für den Himmel. Bis heute hat jedoch die
menschliche Wissenschaft nirgends die Spuren eines Paradieses, eines
Lebens der Verstorbenen oder eines persönlichen Gottes
aufgefunden, diese unerbittliche Wissenschaft, die alles
ergründet und zerlegt, die vor keinem Geheimnis
zurückschreckt, die den Himmel hinter den Nebelsternen
ausforscht, die unendlich kleinen Atome der lebenden Zellen wie der
chemischen Körper analysiert, die Substanz der Sonne
auseinanderlegt, die Luft verflüssigt, von einem Ende der Erde
zum andern bald sogar drahtlos telegraphiert, heute bereits durch die
undurchsichtigen Körper durchsieht, die Schiffahrt unter dem
Wasser und in der Luft einführt, uns neue Horizonte mittelst des
Radiums und anderer Entdeckungen eröffnet; diese Wissenschaft,
die, nachdem sie die wahre Verwandtschaft aller lebenden Wesen unter
sich und ihre allmählichen Formwandlungen nachgewiesen hat,
heute das Organ der menschlichen Seele, das Gehirn ins Bereich ihrer
gründlichen Forschung zieht.» (Prof. August Forel, Leben
und Tod. München 1908, Seite 3.) Die Sicherheit, mit welcher man
auf solcher Grundlage zu bauen glaubt, verrät sich in den
Worten, welche Forel an die obigen Auslassungen knüpft:
«Indem wir von einer monistischen Lebensauffassung ausgehen,
die allein allen wissenschaftlichen Tatsachen Rechnung
trägt, lassen wir das Übernatürliche beiseite und
wenden wir uns an das Buch der Natur.» So sieht sich der ernste
Wahrheitsucher vor zwei Dinge gestellt, die einer bei ihm etwa
vorhandenen Ahnung von der Wahrheit der geisteswissenschaftlichen
Mitteilungen starke Hemmungen in die Wege stellen. Lebt in ihm ein
Gefühl für solche Mitteilungen, ja empfindet er durch eine
feinere Logik auch ihre innere Begründung:
er kann zur
Unterdrückung solcher Regungen gedrängt werden, wenn er
sich zweierlei sagen muß. Erstens finden die Autoritäten,
welche die Beweiskraft der sicheren Tatsachen kennen, daß alles
«Übersinnliche» nur der Phantasterei und dem
unwissenschaftlichen Aberglauben entspringt. Zweitens laufe ich
Gefahr, durch die Hingabe an solches Übersinnliche ein
unpraktischer, für das Leben unbrauchbarer Mensch zu werden.
Denn alles, was für das praktische Leben geleistet wird,
muß fest im «Boden der Wirklichkeit» wurzeln.
Es werden nun nicht alle,
die in einen solchen Zwiespalt hineinversetzt sind, sich leicht
durcharbeiten bis zu der Erkenntnis, wie es sich mit den beiden
charakterisierten Dingen wirklich verhält. Könnten sie das,
dann würden sie zum Beispiel in bezug auf den ersten Punkt das
folgende sehen: Mit der naturwissenschaftlichen Tatsachenforschung
stehen die Ergebnisse der Geisteswissenschaft nirgends in
Widerspruch. Überall, wo man unbefangen auf das
Verhältnis der beiden hinsieht, zeigt sich vielmehr für
unsere Zeit etwas ganz anderes. Es stellt sich heraus, daß diese
Tatsachenforschung hinsteuert zu dem Ziele, das sie in gar nicht zu
ferner Zeit in volle Harmonie bringen wird mit dem, was die
Geistesforschung aus ihren übersinnlichen Quellen für
gewisse Gebiete feststellen muß. Aus Hunderten von Fällen,
die zum Belege für diese Behauptung beigebracht werden
könnten, sei hier ein charakteristischer hervorgehoben.
In meinen Vorträgen
über die Entwickelung der Erde und der Menschheit wird darauf
hingewiesen, daß die Vorfahren der jetzigen Kulturvölker
auf einem Landesgebiet gewohnt haben, welches sich einstmals an der
Stelle der Erdoberfläche ausdehnte, die heute von einem
großen Teile des Atlantischen Ozeans eingenommen wird. In den
Aufsätzen «Aus der Akasha-Chronik» ist mehr auf die
seelisch-geistigen Eigenschaften dieser atlantischen Vorfahren
hingewiesen worden. In mündlicher Rede wurde auch oft
geschildert, wie die Oberfläche des Erdgebietes im alten
Atlantischen Land ausgesehen hat. Es wurde gesagt: damals war die
Luft durchschwängert von Wassernebeldünsten. Der Mensch
lebte im Wassernebel, der sich niemals für gewisse Gebiete bis
zur völligen Reinheit der Luft aufhellte. Sonne und Mond konnten
nicht so gesehen werden wie heute, sondern umgeben von farbigen
Höfen. Eine Verteilung von Regen und Sonnenschein, wie sie
gegenwärtig stattfindet, gab es damals nicht. Man kann
hellseherisch dies Alte Land durchforschen: die Erscheinung des
Regenbogens gab es damals nicht. Sie trat erst in der
nachatlantischen Zeit auf. Unsere Vorfahren lebten in einem
Nebelland. Diese Tatsachen sind durch rein übersinnliche
Beobachtung gewonnen; und es muß sogar gesagt werden, daß
der Geistes-forscher am besten tut, wenn er sich aller
Schlußfolgerungen aus seinen naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen peinlich genau entäußert; denn durch solche
Schlußfolgerungen wird ihm leicht der unbefangene innere Sinn
der Geistesforschung in die Irre geführt. Nun aber vergleiche
man mit solchen Feststellungen gewisse Anschauungen, zu denen sich
einzelne Naturforscher in der Gegenwart gedrängt fühlen. Es
gibt heute Forscher, welche sich durch die Tatsachen
bemüßigt finden, anzunehmen, daß die Erde in einer
bestimmten Zeit ihrer Entwickelung in eine Wolkenmasse eingebettet
war. Sie machen darauf aufmerksam, daß auch gegenwärtig der
bewölkte Himmel den unbewölkten überwiege, so daß
das Leben auch jetzt noch zum großen Teile unter der Wirkung
eines Sonnenlichtes stehe, das durch Wolkenbildung abgeschwächt
werde, daß man also nicht sagen dürfe: das Leben hätte
sich nicht entwickeln können in der einstigen Wolkenhülle.
Sie weisen ferner darauf hin, daß diejenigen Organismen der
Pflanzenwelt, welche man zu den ältesten zählen kann,
solche waren, die auch ohne direktes Sonnenlicht sich entwickeln. So
fehlen unter den Formen dieser älteren Pflanzenwelt diejenigen,
welche wie die Wüstenpflanzen unmittelbares Sonnenlicht und
wasserfreie Luft brauchten. Ja, auch bezüglich der Tierwelt hat
ein Forscher (Hilgard) darauf aufmerksam gemacht, daß die
Riesenaugen ausgestorbener Tiere (zum Beispiel der Ichthyosaurier)
darauf hinweisen, wie in ihrer Epoche eine dämmerhafte
Beleuchtung auf der Erde vorhanden gewesen sein müsse. Es
fällt mir nicht bei, solche Anschauungen als nicht
korrekturbedürftig anzusehen. Sie interessieren den
Geistesforscher auch weniger durch das, was sie feststellen, als
durch die Richtung, in welche die Tatsachenforschung sich
gedrängt sieht. Hat doch auch vor einiger Zeit die auf mehr oder
weniger Haeckelschem Standpunkt stehende Zeitschrift
«Kosmos» einen beherzigenswerten Aufsatz gebracht, der aus
gewissen Tatsachen der Pflanzen- und Tierwelt auf die
Möglichkeit eines einstigen atlantischen Festlandes hinwies.
— man könnte, wenn man eine größere Anzahl
solcher Dinge zusammenstellte, leicht zeigen, wie sich wahre
Naturwissenschaft in einer Richtung bewegt, die sie in der Zukunft
einmünden lassen wird in den Strom, der gegenwärtig schon
bewässert werden kann aus den Quellen der Geistesforschung. Es
kann gar nicht scharf genug betont werden: mit den Tatsachen
der Naturwissenschaft steht Geistesforschung nirgends im Widerspruch.
Wo von ihren Gegnern ein solcher Widerspruch gesehen wird, da bezieht
er sich eben gar nicht auf die Tatsachen, sondern auf die
Meinungen, welche sich diese Gegner gebildet haben und von
denen sie glauben, daß sie aus den Tatsachen sich
notwendig ergeben. In Wahrheit hat aber zum Beispiel die oben
angeführte Meinung Forels nicht das geringste mit den Tatsachen
der Nebelsterne, mit dem Wesen der Zellen, mit der Verflüssigung
der Luft und so weiter zu tun. Diese Meinung stellt sich als
nichts anderes dar denn als ein Glaube, den sich viele aus
ihrem am Sinnlich-Wirklichen haftenden Glaubensbedürfnis heraus
gebildet haben und den sie neben die Tatsachen hinstellen.
Dieser Glaube hat etwas stark Blendendes für den
Gegenwartsmenschen. Er verführt zu einer inneren Intoleranz ganz
besonderer Art. Die ihm anhängen, verblenden sich dahin,
daß sie ihre eigene Meinung nur für allein
«wissenschaftlich» ansehen und die Anschauung anderer als
nur aus Vorurteil und Aberglauben entspringen lassen. So ist es doch
wirklich sonderbar, wenn in einem eben erschienenen Buche über
die Erscheinungen des Seelenlebens (Hermann Ebbinghaus, Abriß
der Psychologie) die folgenden Sätze zu lesen sind: «Hilfe
gegen das undurchdringliche Dunkel der Zukunft und die
unüberwindliche Macht feindlicher Gewalten schafft sich die
Seele in der Religion. Unter dem Druck der Ungewißheit
und in dem Schrecken großer Gefahren drängen sich dem
Menschen nach Analogie der Erfahrungen, die er in den Fällen des
Nichtwissens und Nichtkönnens sonst gemacht hat,
naturgemäß Vorstellungen zu, wie auch hier geholfen werden
könnte, so Wie man in Feuersnot an das rettende Wasser, in
Kampfesnot an den helfenden Kameraden denkt.» «Auf den
niederen Kulturstufen, wo der Mensch sich noch sehr machtlos und auf
Schritt und Tritt von unheimlichen Gefahren umlauert fühlt,
überwiegt begreiflicherweise durchaus das Gefühl der Furcht
und dementsprechend der Glaube an böse Geister und Dämonen.
Auf höheren Stufen dagegen, wo der reiferen Einsicht in den
Zusammenhang der Dinge und der größeren Macht über sie
ein gewisses Selbstvertrauen und ein stärkeres Hoffen
entspringt, tritt auch das Gefühl des Zutrauens zu den
unsichtbaren Mächten in den Vordergrund und eben damit der
Glaube an gute und wohlwollende Geister. Aber im ganzen bleiben
beide, Furcht und Liebe, nebeneinander, dauernd charakteristisch
für das Fühlen des Menschen gegenüber seinen
Göttern, nur eben je nach Umständen beide in verschiedenem
Verhältnis zueinander.» — «Das sind die Wurzeln
der Religion... Furcht und Not sind ihre Mütter; und obwohl
sie im wesentlichen durch Autorität fortgepflanzt wird, nachdem
sie einmal entstanden ist, so wäre sie doch längst
ausgestorben, wenn sie aus jenen beiden nicht immer wieder neu
geboren würde.» — Wie ist in diesen Behauptungen
alles verschoben, alles durcheinandergeworfen; wie ist das
Durcheinandergeworfene von falschen Punkten aus beleuchtet. Wie stark
ferner steht der Meinende unter dem Einfluß des Glaubens,
daß seine Meinung eine allgemein-verbindliche Wahrheit sein
muß. Zunächst ist durcheinandergeworfen der Inhalt des
religiösen Vorstellens mit dem religiösen
Gefühlsinhalt. Der Inhalt des religiösen Vorstellens
ist aus dem Gebiete der übersinnlichen Welten genommen. Das
religiöse Gefühl, zum Beispiel Furcht und Liebe
gegenüber den übersinnlichen Wesenheiten, wird ohne
weiteres zum Schöpfer des Inhaltes gemacht und ohne alle
Bedenken angenommen, daß dem religiösen Vorstellen etwas
Wirkliches gar nicht entspreche. Nicht im entferntesten wird an die
Möglichkeit gedacht, daß es eine echte Erfahrung
geben könne von übersinnlichen Welten und daß an die
durch solche Erfahrung gegebene Wirklichkeit sich hinterher die
Gefühle von Furcht und Liebe klammern, wie ja schließlich
auch keiner in Feuersnot an das rettende Wasser, in Kampfesnot an den
helfenden Kameraden denkt, wenn er nicht Wasser und Kamerad vorher
gekannt hat. Geisteswissenschaft wird in solcher Betrachtung dadurch
für eine Phantasterei erklärt, daß man das
religiöse Fühlen zum Schöpfer von Wesenheiten werden
läßt, welche man einfach für nicht vorhanden ansieht.
Solcher Denkungsart fehlt eben ganz das Bewußtsein davon,
daß es möglich ist, den Inhalt der übersinnlichen Welt
zu erleben, wie es möglich für die äußeren Sinne
ist, die gewöhnliche Sinnenwelt zu erleben. — das
Sonderbare tritt bei solchen Ansichten oft ein: sie verfallen in
diejenige Art der Schlußfolgerung für ihren Glauben,
die sie als die anstößige bei den Gegnern hinstellen. So
findet sich in der obenangeführten Schrift von Forel der Satz:
«Leben wir denn nicht in einer hundertmal wahreren,
wärmeren und interessanteren Weise in dem Ich und in der Seele
unserer Nachkommen von neuem als in der kalten und nebelhaften Fata
morgana eines hypothetischen Himmels unter den ebenso hypothetischen
Gesängen und Trompetenklängen vermuteter Engel und
Erzengel, die wir uns doch nicht vorstellen können und die uns
daher nichts sagen.» Ja, aber was hat es denn mit der Wahrheit
zu tun, was «man» «wärmer»,
«interessanter» findet? Wenn es schon richtig ist, daß
aus Furcht und Hoffnung nicht ein geistiges Leben abgeleitet werden
soll, ist es dann richtig, dieses geistige Leben zu leugnen, weil man
es «kalt» und «uninteressant» findet? Der
Geistesforscher ist gegenüber solchen Persönlichkeiten,
welche auf dem «festen Boden wissenschaftlicher Tatsachen»
zu stehen behaupten, in der folgenden Lage. Er sagt ihnen: was ihr an
solchen Tatsachen vorbringt, aus Geologie, Paläontologie,
Biologie, Physiologie und so weiter, nichts wird von mir geleugnet.
Zwar bedarf manche eurer Behauptungen sicherlich der Korrektur durch
andere Tatsachen. Doch solche Korrektur wird die Naturwissenschaft
selbst bringen. Abgesehen davon sage ich «Ja» zu dem, was
ihr vorbringt. Euch zu bekämpfen fällt mir gar nicht bei,
wenn ihr Tatsachen vorbringt. Nun aber sind eure Tatsachen nur ein
Teil der Wirklichkeit. Der andere Teil sind die geistigen
Tatsachen, welche den Verlauf der sinnlichen erst erklärlich
machen. Und diese Tatsachen sind nicht Hypothesen, nicht etwas, was
«man» sich nicht vorstellen kann, sondern das
Erlebnis, die Erfahrung der Geistesforschung. Was ihr
vorbringt über die von euch beobachteten Tatsachen hinaus, ist,
ohne daß dies von euch bemerkt wird, nichts weiter als die
Meinung, daß es solche geistige Tatsachen nicht geben
könne. In Wahrheit bringt ihr zum Beweis für diese eure
Behauptung nichts vor, als daß euch solche geistige Tatsachen
unbekannt sind. Daraus folgert ihr, daß sie nicht existieren und
daß diejenigen Träumer und Phantasten seien, welche
vorgeben, von ihnen etwas zu wissen. Der Geistesforscher nimmt euch
nichts, aber auch gar nichts von eurer Welt; er fügt zu dieser
nur noch die seine hinzu. Ihr aber seid damit nicht zufrieden,
daß er so verfährt; ihr sagt — wenn auch nicht immer
klar -, «man» darf von nichts anderem sprechen, als wovon
wir sprechen; wir fordern nicht allein, daß man uns das zugibt,
wovon wir wissen, sondern wir verlangen, daß man alles das
für eitel Hirngespinst erklärt, wovon wir nichts wissen.
Wer auf solche «Logik» sich einlassen will, dem ist
allerdings vorläufig nicht zu helfen. Er mag mit dieser
Logik den Satz begreifen: «In unseren menschlichen Ahnen hat
unser Ich früher direkt gelebt und es wird in unseren direkten
oder indirekten Nachkommen weiter leben.» (Forel, Leben und Tod,
Seite 21.) Er soll aber nur nicht hinzufügen: «Die
Wissenschaft beweist es», wie es in der angeführten
Schrift geschieht. Denn die Wissenschaft «beweist» in
diesem Falle nichts, sondern der an die Sinnenwelt gefesselte Glaube
stellt das Dogma auf: Wovon ich mir nichts vorstellen kann, das
muß als Wahn gelten; und wer gegen meine Behauptung
sündigt, vergeht sich an echter Wissenschaft.
Wer die menschliche Seele
in ihrer Entwickelung kennt, der findet es ganz begreiflich, daß
durch die gewaltigen Fortschritte der Naturwissenschaft die Geister
zunächst geblendet sind und sich heute nicht zurechtfinden
können in den Formen, in denen hohe Wahrheiten traditionell
überliefert sind. Die Geisteswissenschaft gibt der Menschheit
solche Formen wieder zurück. Sie zeigt zum Beispiel, wie die
Schöpfungstage der Bibel Dinge wiedergeben, die dem
hellseherischen Blick sich entschleiern.
Der an die Sinnenwelt
gefesselte Geist findet nur, daß die Schöpfungstage den
Errungenschaften der Geologie und so weiter widersprechen. Die
Geisteswissenschaft ist bei dem Erkennen der tiefen Wahrheiten dieser
Schöpfungstage ebensoweit davon entfernt, sie als bloße
«Mythendichtung» zu verflüchtigen, wie irgendwie
allegorische oder symbolische Erklärungsarten anzuwenden.
Wie sie vorgeht, das ist allerdings denen ganz unbekannt,
welche noch immer von dem Widerspruch dieser Schöpfungstage mit
der Wissenschaft phantasieren. Auch darf nicht geglaubt werden,
daß die Geistesforschung ihr Wissen aus der Bibel schöpft.
Sie hat ihre eigenen Methoden, findet unabhängig von allen
Urkunden die Wahrheiten und erkennt sie dann wieder in diesen. Dieser
Weg ist aber notwendig für viele gegenwärtige
Wahrheitssucher. Denn diese fordern eine Geistesforschung, die in
sich denselben Charakter tragt wie die Naturwissenschaft. Und nur wo
das Wesen solcher Geisteswissenschaft nicht erkannt wird,
verfällt man in die Ratlosigkeit, wenn es sich darum handelt,
die Tatsachen der übersinnlichen Welt vor den blendenden
Wirkungen der scheinbar auf Naturwissenschaft gebauten Meinungen zu
bewahren. Eine solche Gemütsverfassung wurde sogar schon
vorhergeahnt von einem seelisch warmen Manne, der aber für sein
Gefühl keinen geisteswissenschaftlichen übersinnlichen
Inhalt finden konnte. Schon vor beinahe achtzig Jahren schrieb eine
solche Persönlichkeit, Schleiermacher, an Lücke, der um
vieles jünger war als er selbst: «Wenn Sie den
gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaft betrachten, wie sie
sich immer mehr zu einer umfassenden Weltkunde gestaltet, was ahndet
Ihnen von der Zukunft, ich will nicht einmal sagen für unsere
Theologie, sondern für unser evangelisches Christentum... Mir
ahndet, daß wir werden lernen müssen, uns ohne Vieles zu
behelfen, was Viele noch gewohnt sind, als mit dem Wesen des
Christentums unzertrennlich verbunden zu denken. Ich will gar nicht
vom Sechstagewerk reden, aber der Schöpfungsbegriff, wie
er gewöhnlich konstruiert wird ... wie lange wird er sich noch
halten können gegen die Gewalt einer aus wissenschaftlichen
Kombinationen, denen sich niemand entziehen kann, gebildeten
Weltanschauung? ... Was soll denn werden, mein lieber Freund? Ich
werde diese Zeit nicht mehr erleben, sondern kann mich ruhig schlafen
legen; aber Sie mein Freund, und Ihre Altersgenossen, was gedenken
Sie zu tun?» (Theologische Studien und Kritiken von Ullmann und
Umbreit, 1829, Seite 489.) Diesem Ausspruch liegt die Meinung
zugrunde, daß die «wissenschaftlichen Kombinationen
» ein notwendiges Ergebnis der Tatsachen seien. Wären sie
es, dann könnte sich ihnen «niemand» entziehen; und
wen dann sein Gefühl nach der übersinnlichen Welt zieht,
der kann wünschen, es möge ihm gegönnt sein, sich
«ruhig schlafen zu legen» vor dem Ansturm der Wissenschaft
gegen die übersinnliche Welt. Die Voraussage Schleiermachers hat
sich insofern erfüllt, als in weiten Kreisen die
«wissenschaftlichen Kombinationen» Platz ergriffen haben.
Aber zugleich gibt es gegenwärtig eine Möglichkeit, die
übersinnliche Welt auf ebenso «wissenschaftliche» Art
kennenzulernen wie die sinnlichen Tatsachenzusammenhänge. Wer
sich mit der Geisteswissenschaft so bekanntmacht, wie es
gegenwärtig schon möglich ist, der wird durch sie vor
manchem Aberglauben bewahrt sein, aber die übersinnlichen
Tatsachen in seinen Vorstellungsinhalt aufnehmen können, und
dadurch außer allem andern Aberglauben auch den abstreifen,
daß Furcht und Not diese übersinnliche Welt geschaffen
haben. — Wer sich zu dieser Anschauung durchzuringen vermag,
der wird dann auch nicht mehr gehemmt sein durch die Vorstellung, er
könne der Wirklichkeit und Praxis durch die Beschäftigung
mit der Geisteswissenschaft entfremdet werden. Er wird dann eben
erkennen, wie wahre Geisteswissenschaft nicht das Leben ärmer,
sondern reicher macht. Er wird durch sie gewiß zu keiner
Unterschätzung der Telephone, Eisenbahntechnik und
Luftschiffahrt verführt; aber er wird manches andere Praktische
noch sehen, das gegenwärtig unberücksichtigt bleibt, wo man
nur an die Sinnenwelt glaubt und daher nur einen Teil, nicht die
ganze Wirklichkeit, anerkennt.
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