I.
Kapitel
Der
Mensch, welcher sich auf sich selbst besinnt, kommt bald zu der
Einsicht, daß er außer dem Selbst, das er mit seinen
Gedanken, Gefühlen und vollbewußten Willensimpulsen
umfaßt, noch ein zweites kraftvolleres Selbst in sich
trägt. Er wird gewahr, wie er sich diesem zweiten Selbst
als einer höheren Macht unterordnet. Zunächst wird
der Mensch allerdings dieses zweite Selbst wie eine niedrigere
Wesenheit empfinden gegenüber demjenigen, das er mit
seinem klaren, nach dem Guten und Wahren neigenden
vollbewußten Seelenwesen umspannt. Und er wird diese
niedrigere Wesenheit zu überwinden trachten. Eine intimere
Selbstprüfung kann aber über das zweite Selbst noch
etwas anderes lehren. Wenn man im Leben öfter eine Art
Rückschau hält auf dasjenige, was man erlebt oder
getan hat, so wird man an sich eine eigentümliche
Entdeckung machen. Und man wird diese Erfahrung um so
bedeutungsvoller finden, je älter man wird. Wenn man sich
frägt: Was hast du in dieser oder jener Zeit deines Lebens
getan oder gesprochen?, dann stellt sich heraus, daß man
eine ganze Menge von Dingen getan hat, die man eigentlich erst
in einem späteren Lebensalter versteht. Da hat man vor
sieben oder acht Jahren, oder vielleicht vor zwanzig Jahren
Dinge getan, von denen man ganz genau weiß: Jetzt erst,
nach langer Zeit, reicht eigentlich dein Verstand so weit,
daß du die Dinge verstehen kannst, die du damals getan
oder gesprochen hast. - Viele Menschen machen solche
Selbstentdeckungen nicht, weil sie nicht darauf ausgehen. Aber
es ist außerordentlich fruchtbar, wenn der Mensch
öfter eine solche Einkehr in seine Seele hält. Denn
von einem solchen Moment, in welchem der Mensch gewahr wird: Du
hast eigentlich in früheren Jahren Dinge getan, die du
jetzt erst anfängst zu verstehen; damals war dein Verstand
noch nicht reif, um die Dinge zu verstehen, welche du getan
oder doch gesprochen hast, - von einem solchen Moment, in
welchem man eine Entdeckung dieser Art macht, geht etwas aus
wie die folgende Empfindung der Seele: Man fühlt sich wie
geborgen durch eine gute Macht, die in den eigenen Wesenstiefen
waltet; man fängt an, immer mehr und mehr Vertrauen zu
gewinnen zu der Tatsache, daß man eigentlich im
höchsten Sinne des Wortes doch nicht allein ist in der
Welt, und daß alles dasjenige, was man versteht, was man
bewußt kann, im Grunde genommen nur ein kleiner Teil
dessen ist, was man in der Welt vollbringt.
Man
kann, wenn man diese Beobachtung öfters macht, etwas, was
ja theoretisch sehr leicht einzusehen ist, zu voller
Lebenspraxis erheben. Theoretisch leicht einzusehen ist,
daß der Mensch im Leben nicht sehr weit kommen
könnte, wenn er alles, was er vollbringen muß, mit
vollbewußtem Verstande, mit einer alle Verhältnisse
überschauenden Intelligenz vollbringen müßte. Um
dies theoretisch einzusehen, braucht man nur die folgende
Überlegung anzustellen. In welchem Lebensabschnitt
vollbringt der Mensch eigentlich an sich selber die für
das Dasein wichtigsten Taten? Wann handelt er am allerweisesten
an sich selber? Das tut er ungefähr von der Geburt an bis
zu dem Zeitpunkte, bis zu dem er sich noch zurückerinnern
kann, wenn er im späteren Leben zurückblickt auf die
verflossenen Jahre seines Erdendaseins. Wenn man
zurückdenkt an das, was man vor drei, vier, fünf
Jahren und dann immer weiter zurück getan hat, so kommt
man bis zu einem gewissen Punkt der Kindheit; weiter geht die
Rückerinnerung nicht. Was davor liegt, können dem
Menschen die Eltern oder andere Personen erzählen; aber
die eigene Erinnerung reicht nur bis zu einem gewissen Punkt
zurück. Das ist auch der Zeitpunkt, in welchem der Mensch
gelernt hat, sich als ein Ich zu fühlen. Bei den Menschen,
deren Erinnerung über die Lebensnorm nicht hinausgeht,
muß immer ein solcher Lebenspunkt da sein. Vor diesem
Zeitpunkte aber hat die menschliche Seele am Menschen selbst
die allerweisesten Dinge getan, und niemals kann der Mensch
später, wenn er zu seinem Bewußtsein gekommen ist, so
Großartiges und Gewaltiges an sich selber leisten, wie er
in den allerersten Jahren seiner Kindheit aus
unterbewußten Seelengründen heraus vollzieht. Denn
man weiß, daß der Mensch durch seine Geburt in die
physische Welt das hineinträgt, was er mitgebracht hat als
die Früchte der früheren Erdenleben. Wenn der Mensch
geboren wird, ist zum Beispiel sein physisches Gehirn noch ein
sehr unvollkommenes Werkzeug. Es muß nun des Menschen
Seele in dieses Werkzeug erst die feineren Gliederungen
hineinarbeiten, die es zum Vermittler alles dessen machen,
wessen die Seele fähig ist. In der Tat arbeitet die
Menschenseele, bevor sie vollbewußt ist, an dem Gehirn so,
daß dieses ein solches Werkzeug werden kann, wie es
gebraucht wird zum Ausleben all der Fähigkeiten, Anlagen,
Eigenschaften und so weiter, welche der Seele eignen als
Ergebnisse ihrer früheren Erdenleben. Diese Arbeit am
eigenen Leibe ist von Gesichtspunkten geleitet, die weiser sind
als alles dasjenige, was der Mensch später aus seinem
vollen Bewußtsein heraus an sich tun kann. Und noch mehr:
während dieser Zeiten muß nicht nur das geschehen,
daß der Mensch sein Gehirn plastisch ausarbeitet, sondern
er muß lernen drei der wichtigsten Dinge für sein
Erdendasein.
Als
erstes lernt er die eigene Körperlichkeit im Raume
orientieren. Was damit gesagt ist, beachtet der heutige Mensch
eigentlich gar nicht. Es wird damit einer der wesentlichsten
Unterschiede des Menschen vom Tier berührt. Das Tier ist
von vornherein bestimmt, seine Gleichgewichtslage im Raume in
einer gewissen Art zu entwickeln; das eine Tier ist zum
Klettertier vorbestimmt, das andere zum Schwimmtier und so
weiter. Das Tier ist von vornherein so organisiert, daß es
sich in richtiger Weise in den Raum hineinstellt; und das ist
bis hinauf zu den menschenähnlichsten Säugetieren der
Fall. Wenn die Zoologen über dieses Faktum nachdenken
würden, so würden sie weniger betonen, daß zum
Beispiel Mensch und Tier so und so viele gleichartige Knochen
und Muskeln haben und so weiter; denn dieses kommt viel weniger
in Betracht als die Tatsache, daß der Mensch nicht von
vornherein die volle Anlage für seine
Gleichgewichtsverhältnisse mitbekommt. Er muß sich
diese erst aus seinem Gesamtwesen herausgestalten. Es ist
bedeutungsvoll, daß der Mensch an sich selbst arbeiten
muß, um sich aus einem Wesen, das nicht gehen kann, zu
einem solchen zu machen, das aufrecht gehen kann. Der Mensch
ist es selbst, der sich seine vertikale Lage, seine
Gleichgewichtslage im Raum gibt. Er bringt sich selbst in ein
Verhältnis zur Schwerkraft. Einer Betrachtung, welche
nicht in die Tiefe der Sache dringen will, wird es
selbstverständlich ein Leichtes sein, mit scheinbar guten
Gründen dies zu bestreiten. Man kann sagen, der Mensch sei
eben für seinen aufrechten Gang ebeno hinorganisiert wie
zum Beispiel ein Klettertier zum Klettern. Ein genaueres
Zusehen aber kann zeigen, daß es beim Tier die Eigenart
der Organisation ist, welche das Hineinstellen in den Raum
bewirkt. Beim Menschen aber ist es die Seele, welche sich in
Beziehung zum Raum bringt und die Organisation bezwingt.
Das
zweite, was der Mensch sich selber lehrt, und zwar aus der
Wesenheit heraus, welche von Verkörperung zu
Verkörperung als dieselbe weiterschreitet, ist die
Sprache. Durch sie setzt er sich zu seinen Mitmenschen in ein
Verhältnis, welches ihn zum Träger desjenigen
geistigen Lebens macht, das die physische Welt zunächst
von ihm aus durchdringt. Es ist oft mit gutem Grunde betont
worden, daß ein Mensch, der auf eine einsame Insel
versetzt würde und nicht mit andern Menschen zusammen
wäre, bevor er sprechen kann, die Sprache nicht lernen
würde. Was wir ererbt erhalten, was eingepflanzt ist
für spätere Jahre, so daß es den
Vererbungsprinzipien unterliegt, das hängt nicht davon ab,
daß der Mensch mit seinen Mitmenschen zusammen ist. Er ist
zum Beispiel von vornherein durch die
Vererbungsverhältnisse dazu veranlagt, im siebenten Jahre
die Zähne zu wechseln. Da könnte er auf einer
einsamen Insel sein, wenn er nur die Möglichkeit
hätte, heranzuwachsen, würde er die Zähne
wechseln. Sprechen aber lernt er nur, wenn sein Seelenwesen als
solches angeregt wird, als dasjenige, was von Leben zu Leben
getragen wird. Der Mensch muß in jener Zeit den Keim
für seine Kehlkopfentwickelung formen, in der er noch
nicht sein Ich-Bewußtsein hat. Vor der Zeit, bis zu der er
sich zurückerinnert, muß er den Keim legen zur
Formung seiner Kehlkopfentwickelung, so daß der Kehlkopf
zum Sprachorganismus werden kann.
Und
dann gibt es ein Drittes, von dem es weniger bekannt ist,
daß es der Mensch durch sich selbst lernt, durch das, was
er in seinem Innern von Verkörperung zu Verkörperung
trägt. Das ist das Leben innerhalb der Gedankenwelt
selber. Die Bearbeitung des Gehirns wird aus dem Grunde
vorgenommen, weil das Gehirn das Werkzeug des Denkens ist. Es
ist dieses Organ im Lebensbeginne deshalb noch plastisch, weil
der Mensch es selbst erst so formen soll, wie das Instrument
seines Denkens im Sinne der Wesenheit sein muß, die von
Leben zu Leben getragen wird. So wie das Gehirn unmittelbar
nach der Geburt ist, so mußte es werden gemäß
den Kräften, die von Eltern, Voreltern und so weiter
vererbt sind. Der Mensch aber muß in seinem Denken zum
Ausdruck bringen, was er als Eigenwesen ist, gemäß
seinen früheren Erdenleben. Deshalb muß er sich die
Eigentümlichkeiten seines Gehirns, die er ererbt hat, dann
umformen, wenn er - nach der Geburt - physisch unabhängig
von Eltern, Voreltern und so weiter geworden ist.
Man
sieht, daß der Mensch in den allerersten Jahren seines
Lebens bedeutungsvolle Dinge vollbringt. Er arbeitet im Sinne
höchster Weisheit an sich selber. Er könnte in der
Tat, wenn es auf seine Klugheit ankäme, das nicht
vollbringen, was er ohne seine Klugheit in der ersten
Lebenszeit vollbringen muß. Warum wird aus den
Seelentiefen, die außer dem Bewußtsein liegen, dies
alles vollbracht? Es geschieht aus dem Grunde, weil der Mensch
in den ersten Jahren seines Lebens mit seiner Seele, mit seiner
ganzen Wesenheit viel mehr angeschlossen ist an die geistigen
Welten der höheren Hierarchien, als dies später der
Fall ist. Für den Hellseher, der eine geistige
Entwickelung durchgemacht hat, so daß er die wirklichen
geistigen Vorgänge verfolgen kann, zeigt sich an dem
Zeitpunkte, in welchem der Mensch sein Ich-Bewußtsein so
erlangt, daß er sich später bis zu diesem Zeitpunkte
zurückerinnern kann, etwas ungeheuer Bedeutungsvolles.
Während das, was wir die «kindliche Aura»
nennen, in den ersten Lebensjahren wie eine wunderbare,
menschlich-übermenschliche Macht das Kind umschwebt - so
umschwebt, daß diese kindliche Aura, der eigentliche
höhere Teil des Menschen, überall seine Fortsetzung
in die geistige Welt hinein hat -, dringt in jenem Zeitpunkt,
bis zu welchem der Mensch sich zurückerinnern kann, diese
Aura mehr in das Innere des Menschen hinein. Der Mensch kann
sich, bis zu diesem Zeitpunkte zurück, als
zusammenhängendes Ich empfinden, weil dasjenige, was
früher an die höheren Welten angeschlossen war, dann
in sein Ich hineingezogen ist. Von da ab stellt das
Bewußtsein überall sich selber in Verbindung zu der
Außenwelt. Das geschieht im Kindesalter noch nicht. Da
waren die Dinge für den Menschen so, als wenn sie wie eine
Traumwelt ihn umschwebten. Aus einer Weisheit heraus, die nicht
in ihm ist, arbeitet der Mensch an sich. Diese Weisheit ist
mächtiger, umfassender als alle spätere bewußte
Weisheit. Diese höhere Weisheit verdunkelt sich für
die menschliche Seele, welche dann dafür die
Bewußtheit eintauscht. Sie wirkt aus der geistigen Welt
heraus tief in die Körperlichkeit herein, so daß der
Mensch durch sie sein Gehirn aus dem Geiste heraus formen kann.
Nicht mit Unrecht darf gesagt werden, von einem Kinde kann auch
der Weiseste lernen. Denn was an dem Kinde arbeitet, ist die
Weisheit, die dann später nicht in das Bewußtsein
eintritt, und durch welche der Mensch etwas wie einen
«Telephonanschluß» nach den geistigen
Wesenheiten hat, in deren Welt er sich zwischen dem Tode und
einer neuen Geburt befindet. Von dieser Welt strömt noch
etwas ein in die kindliche Aura, und der Mensch ist da
unmittelbar als einzelnes Wesen unterstehend der Führung
der ganzen geistigen Welt, zu welcher er gehört. Die
geistigen Kräfte aus dieser Welt strömen in das Kind
noch ein. Sie hören auf einzuströmen in dem
Zeitpunkte, bis zu dem die normale Rückerinnerung geht.
Diese Kräfte sind es, die den Menschen fähig machen,
sich in ein bestimmtes Verhältnis zur Schwerkraft zu
bringen. Sie sind es auch, die seinen Kehlkopf formen, die sein
Gehirn so bilden, daß es ein lebendiges Werkzeug für
Gedanken-, Empfindungs- und Willensausdruck wird.
Was
nun in allerhöchstem Maße in der Kindheit vorhanden
ist, daß der Mensch aus einem Selbst heraus arbeitet, das
noch mit höheren Welten in unmittelbarem Zusammenhange
steht, das bleibt bis zu einem gewissen Grade doch im
späteren Leben bestehen, trotzdem sich die
Verhältnisse im angegebenen Sinne ändern. Wenn man in
einem späteren Lebensabschnitt fühlt: man habe dies
oder jenes vor Jahren getan oder gesagt, was man erst jetzt
verstehen lernt, so hat man eben früher aus einer
höheren Weisheit heraus sich führen lassen. Und erst
nach Jahren ist man dazu gelangt, die Einsicht in die
Gründe zu besitzen, nach denen man sich verhalten hat. Aus
all dem kann man fühlen, wie man unmittelbar nach der
Geburt noch nicht so ganz entlaufen war der Welt, in welcher
man vor dem Eintreten in das physische Dasein war, und wie man
ihr ganz eigentlich niemals entlaufen kann. Es tritt das, was
man als seinen Anteil an höherer Geistigkeit hat, in das
physische Leben herein und folgt einem. Oft ist es so, daß
man fühlt: Was in einem gelegen ist, ist nicht nur ein
höheres Selbst, das nach und nach ausgebildet werden soll,
sondern es ist etwas, was schon da ist und einen dazu bringt,
daß man so oft über sich selber
hinauswächst.
Alles was der Mensch hervorbringen kann an Idealen, an
künstlerischem Schaffen, aber auch alles, was er
hervorbringen kann an naturgemäßen Heilkräften
im eigenen Leibe, durch die ein fortwährendes Ausgleichen
der Schädigungen des Lebens eintritt, alles das kommt
nicht von dem gewöhnlichen Verstande, sondern von den
tieferen Kräften, die in den ersten Jahren arbeiten an
unserer Orientierung im Raum, an der Prägung des
Kehlkopfes und am Gehirn. Denn es sind dieselben Kräfte
später noch im Menschen. Wenn oftmals bei
Lebensschädigungen gesagt wird, äußere
Kräfte können uns nicht helfen, es muß unser
Organismus die in ihm liegenden Heilkräfte aus sich
entwickeln, so hat man ja auch eine im Menschen vorhandene
weisheitsvolle Wirkung im Auge. Und weiter kommen aus derselben
Quelle auch die besten Kräfte, durch welche man zur
Erkenntnis der geistigen Welt gelangt, das heißt zu einem
wahren Hellsehertum.
Nun
liegt die Frage sehr nahe: Warum wirken die gekennzeichneten
höheren Kräfte nur in den ersten Kindheitsjahren in
den Menschen herein?
Die
eine Hälfte der Antwort kann man leicht geben; denn sie
liegt in folgendem. Wenn jene höheren Kräfte in
derselben Weise weiterwirkten, würde der Mensch immer Kind
bleiben; er würde nicht zum vollen Ich-Bewußtsein
kommen. Es muß in seine eigene Wesenheit verlegt werden,
was vorher von außen gewirkt hat. Aber es gibt einen
bedeutungsvolleren Grund, der noch mehr aufklären kann als
das eben Gesagte über die Geheimnisse des Menschenlebens;
und das ist der folgende. Durch die Geisteswissenschaft kann
erfahren werden, daß der menschliche Leib, wie er im
gegenwärtigen Erdenentwickelungsstadium ist, als ein
Gewordenes betrachtet werden muß, das aus anderen
Zuständen sich zu seiner gegenwärtigen Form
fortgebildet hat. Dem Kenner der Geisteswissenschaft ist
bekannt, daß diese Evolution sich so vollzogen hat,
daß auf die Gesamtwesenheit des Menschen verschiedene
Kräfte gewirkt haben; gewisse Kräfte auf den
physischen Leib, andere auf den Ätherleib, und andere auf
den Astralleib. Die menschliche Wesenheit ist zu ihrer
gegenwärtigen Form dadurch gekommen, daß auf sie jene
Wesenheiten gewirkt haben, die wir die luziferischen und die
ahrimanischen nennen. Durch diese Kräfte ist die
menschliche Wesenheit in einer gewissen Weise schlechter
geworden, als sie dann hätte werden müssen, wenn nur
diejenigen Kräfte wirksam gewesen wären, die von den
geistigen Weltenlenkern kommen, welche den Menschen in einer
geraden Weise weiter entwickeln wollen. Es ist ja die Ursache
der Leiden, der Krankheiten und auch des Todes darin zu suchen,
daß außer den Wesenheiten, welche den Menschen in
einer geraden Linie vorwärts entwickeln, noch die
luziferischen und die ahrimanischen walten, welche die
geradlinige Vorwärtsentwickelung stets durchkreuzen. In
dem, was der Mensch durch die Geburt ins Dasein hereinbringt,
liegt etwas, das besser ist als dasjenige, was in späterem
Leben der Mensch daraus machen kann.
Die
luziferischen und die ahrimanischen Kräfte haben in den
ersten Kindheitsjahren nur geringen Einfluß auf das
Menschenwesen; sie sind im wesentlichen in all dem nur wirksam,
was der Mensch durch sein bewußtes Leben aus sich macht.
Würde er länger als in den ersten Kindheitstagen
denjenigen Teil seines Wesens, der besser ist als sein anderer,
in voller Kraft in sich haben, so würde er der Wirkung
desselben nicht gewachsen sein, weil die entgegenstrebenden
luziferischen und ahrimanischen Kräfte seine
Gesamtwesenheit schwächen. Es hat der Mensch in der
physischen Welt eine solche Organisation, daß er die
unmittelbaren Kräfte der geistigen Welt, welche in den
ersten Kindheitsjahren an ihm wirksam sind, nur so lange an
sich ertragen kann, als er gleichsam kindlich weich und bildsam
ist. Er würde zerbrechen, wenn jene Kräfte, die der
Orientierung im Raume, der Formung des Kehlkopfes und des
Gehirns zugrunde liegen, auch im späteren Lebensalter noch
in unmittelbarer Art wirksam blieben. Diese Kräfte sind so
gewaltig, daß, wenn sie später noch wirken
würden, unser Organismus hinsiechen müßte unter
der Heiligkeit dieser Kräfte. Nur zu derjenigen
Betätigung muß sich der Mensch an diese Kräfte
wenden, welche ihn mit der übersinnlichen Welt in
bewußten Zusammenhang bringt.
Daraus aber geht uns ein Gedanke hervor, der große
Bedeutung hat, wenn er richtig verstanden wird. Er ist im Neuen
Testament mit den Worten ausgesprochen: «So ihr nicht
werdet wie die Kindlein, könnt ihr nicht in die Reiche der
Himmel kommen!» Denn was erscheint als das höchste
Ideal für den Menschen, wenn das als richtig angenommen
wird, was in dem Vorhergehenden gesagt ist? Doch wohl dieses:
sich immer mehr und mehr dem zu nähern, was man ein
bewußtes Verhältnis zu den Kräften nennen kann,
die in den ersten Kindheitsjahren unbewußt am Menschen
wirken. - Nur muß in Betracht gezogen werden, daß der
Mensch unter der Gewalt dieser Kräfte zusammenbrechen
müßte, wenn sie ohne weiteres in sein bewußtes
Leben hereinwirken würden. Deshalb ist für die
Erlangung jener Fähigkeiten, die ein Wahrnehmen der
übersinnlichen Welten herbeiführen, eine sorgsame
Vorbereitung notwendig. Diese Vorbereitung hat das Ziel, den
Menschen geeignet zu machen zum Ertragen dessen, was er im
gewöhnlichen Leben eben nicht ertragen kann.
*
Das
Durchgehen durch die aufeinanderfolgenden Verkörperungen
hat seine Bedeutung für die Gesamtentwickelung der
menschlichen Wesenheit. Diese ist in der Vergangenheit durch
aufeinanderfolgende Leben geschritten; sie schreitet weiter,
und parallel damit schreitet auch die Erde in ihrer
Entwickelung vorwärts. Es wird einmal der Zeitpunkt
kommen, in welchem die Erde am Ende ihrer Laufbahn angelangt
sein wird; dann muß der Erdplanet als physische Wesenheit
abfallen von der Gesamtheit der Menschenseelen, wie der
menschliche Leib mit dem Tode vom Geiste abfällt, wenn die
Menschenseele, um weiter zu leben, eintritt in das geistige
Reich, das ihr zwischen dem Tode und einer neuen Geburt
angemessen ist. Dies ins Auge gefaßt, muß als
höchstes Ideal erscheinen, daß es der Mensch beim
Erdentode so weit gebracht hat, daß er alle Früchte,
die er aus dem Erdenleben gewinnen kann, sich auch angeeignet
hat.
Nun
kommen diejenigen Kräfte, durch welche der Mensch jenen
andern nicht gewachsen ist, welche auf ihn in seiner Kindheit
wirken, aus dem Erdenorganismus. Ist dieser selbst einmal von
dem Menschenwesen abgefallen, so muß der Mensch , wenn er
sein Ziel erreicht haben soll, so weit gekommen sein, daß
er in der Tat sich mit seiner ganzen Wesenheit den Kräften
hingeben kann, die gegenwärtig nur in der Kindheit
tätig sind. Der Sinn der Entwickelung durch die
aufeinanderfolgenden Erdenleben hindurch ist also, den ganzen
Menschen, somit auch den bewußten Teil, allmählich
zum Ausdruck der Kräfte zu machen, die in den ersten
Lebensjahren unter Einwirkung der geistigen Welt an ihm - ihm
unbewußt - walten. Der Gedanke, der aus solchen
Betrachtungen heraus sich der Seele bemächtigt, muß
mit Demut, aber auch mit richtigem Bewußtsein der
Menschenwürde erfüllen. Es ist der Gedanke: Der
Mensch ist nicht allein; in ihm lebt etwas, was ihm immerdar
den Beweis liefern kann: Es kann der Mensch sich über sich
selbst erheben, zu etwas, was gegenwärtig schon über
ihn hinauswächst und was wachsen wird von Leben zu Leben.
Immer bestimmtere und bestimmtere Gestalt kann dieser Gedanke
annehmen; er liefert dann etwas ungeheuer Beruhigendes und
Erhebendes; aber durchdringt auch die Seele mit entsprechender
Demut und Bescheidenheit. - Was hat in diesem Sinne der Mensch
in sich? Wahrhaftig einen höheren, einen göttlichen
Menschen, von dem er sich lebendig durchdrungen fühlen
kann, sich sagend: Er ist mein Führer in mir.
Von
solchen Gesichtspunkten aus kommt wohl leicht der Gedanke in
die Seele, daß man mit allem, was man tun kann, den
Einklang suchen soll mit demjenigen im Menschenwesen, das
weiser ist als die bewußte Intelligenz. Und es wird von
dem unmittelbar bewußten Selbst auf ein erweitertes Selbst
hingewiesen, dem gegenüber alles, was falscher Stolz, und
alles, was Überhebung im Menschenwesen ist, abgetilgt und
bekämpft werden kann. Es bildet sich dieses Gefühl zu
einem andern fort, das ein richtiges Verständnis
eröffnet in bezug auf die Art, in welcher der Mensch
gegenwartig unvollkommen ist; und dies Gefühl
läßt erkennen, wie er vollkommen werden kann, wenn
einmal die in ihm waltende umfassendere Geistigkeit zu seinem
Bewußtsein dasselbe Verhältnis haben darf, das sie in
den ersten Kindheitsjahren zu dem unbewußten Seelenleben
hat.
Wenn nun die Rückerinnerung im Leben sich oftmals so
gestaltet, daß sie nicht bis in das vierte Kindheitsjahr
zurückgeht, so darf man doch sagen, daß die
Einwirkung des höheren Geistgebietes im obigen Sinne durch
die ersten drei Lebensjahre geht. Am Ende dieser Zeitspanne
wird der Mensch fähig, die Eindrücke der
Außenwelt mit seiner Ich-Vorstellung zu verbinden. Es ist
zwar richtig, daß diese zusammenhängende
Ich-Vorstellung nur so weit zurückgezählt werden
darf, als die Rückerinnerung reicht. Doch wird man sagen
müssen, daß im wesentlichen die Rückerinnerung
bis zum Beginne des vierten Lebensjahres reicht; nur ist sie
erst für den Anfang des deutlichen Ich-Bewußtseins so
schwach, daß sie unbemerkbar bleibt. Deshalb kann gelten,
daß jene höheren den Menschen in den Kindheitsjahren
bestimmenden Kräfte durch drei Jahre wirksam sein
können. Es ist der Mensch in der gegenwärtigen
mittleren Erdenorganisation somit so organisiert, daß er
nur drei Jahre diese Kräfte aufnehmen kann.
Stünde nun ein Mensch vor uns, und könnte es durch
irgendwelche Weltenmächte bewirkt werden, daß das
gewöhnliche Ich von diesem Menschen entfernt würde -
man müßte also annehmen: es könnte erreicht
werden, dieses gewöhnliche Ich, das mit dem Menschen durch
die Verkörperungen gegangen ist, aus physischem Leib,
Ätherleib und Astralleib zu entfernen -, und man
könnte dann in die drei Leiber ein solches Ich bringen,
das im Zusammenhange wirkt mit den geistigen Welten, - was
würde mit einem solchen Menschen geschehen müssen?
Nach drei Jahren müßte sein Leib zerbrechen! Es
müßte etwas geschehen durch das Weltenkarma, daß
das Geisteswesen, das mit den höheren Welten
zusammenhängt, nicht länger als drei Jahre in diesem
Leibe leben könnte. Erst am Ende aller Erdenleben wird der
Mensch das in sich haben können, was ihn länger als
drei Jahre mit jenem Geisteswesen leben läßt. Aber
dann wird der Mensch sich auch sagen: Nicht ich, sondern dieses
Höhere in mir, das immer da war, das arbeitet jetzt in
mir. - Bis dahin kann er das noch nicht sagen, sondern
höchstens dies: er fühle dieses Höhere, aber er
ist noch nicht mit seinem wirklichen realen Menschheits-Ich
dahin gekommen, es in sich zum vollen Leben zu bringen.
Würde nun irgend einmal in der mittleren Erdenzeit ein
menschlicher Organismus in die Welt gestellt, der in einem
späteren Lebensjahr durch gewisse Weltenmächte von
seinem Ich befreit würde, und dafür jenes Ich in sich
aufnähme, das sonst nur in den ersten drei Kindheitsjahren
wirkt, und das im Zusammenhang stünde mit den geistigen
Welten, in denen der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen
Geburt ist: wie lange könnte ein solcher Mensch im
Erdenleibe leben? - Drei Jahre ungefähr; denn dann
müßte durch das Weltenkarma etwas eintreten, was die
betreffende Menschheitsorganisation zerstörte.
Was
hier vorausgesetzt wurde, war aber in der Geschichte da. Der
menschliche Organismus, welcher bei der Johannestaufe am Jordan
stand, als das Ich des Jesus von Nazareth aus den drei Leibern
fortging, barg nach der Taufe in voller bewußter
Ausgestaltung jenes höhere Menschheitsselbst, das sonst,
den Menschen unbewußt, mit Weltenweisheit am Kinde wirkt.
Aber damit war die Notwendigkeit gegeben, daß dieses mit
der höhern Geisteswelt zusammenhängende Selbst nur
drei Jahre in dem entsprechenden Menschheitsorganismus leben
konnte. Es mußten dann die Tatsachen so verlaufen,
daß nach drei Jahren das irdische Leben des Wesens zu Ende
war.
Die
äußeren Ereignisse, welche im Leben des Christus
Jesus eintraten, sind durchaus so aufzufassen, daß sie
durch die auseinandergesetzten inneren Ursachen bedingt sind.
Sie stellen sich als äußerer Ausdruck dieser Ursachen
dar.
Damit ist der tiefere Zusammenhang gegeben zwischen dem, was
der Führer ist im Menschen, was wie im Dämmerlichte
in unsere Kindheit hereinscheint, was immer wirkt unter der
Oberfläche unseres Bewußtseins als das, was unser
Bestes ist, und zwischen dem, was einmal hereintrat in die
ganze Menschheitsevolution, so daß es drei Jahre in einer
menschlichen Hülle sein konnte.
Was
zeigt sich an diesem «höheren» Ich, das
zusammenhängt mit den geistigen Hierarchien, und das in
den Menschenleib des Jesus von Nazareth in der Zeit eintrat, so
daß sein Eintreten dargestellt wird symbolisch unter der
Signatur des herabsteigenden Geistes in Gestalt der Taube mit
den Worten: «Dies ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe
ich ihn gezeuget!» (denn so hießen die Worte
ursprünglich)? Wenn man dieses Bild ins Auge faßt, so
hat man das höchste menschliche Ideal vor sich
hingestellt. Denn es bedeutet nichts anderes, als daß in
der Geschichte des Jesus von Nazareth berichtet wird: In jedem
Menschen ist erkennbar der Christus! Und wenn auch keine
Evangelien und keine Überlieferung vorhanden wären,
die besagen: Irgend einmal habe ein Christus gelebt, - so
würde man durch Erkenntnis der Menschennatur erfahren,
daß der Christus im Menschen lebt.
Die
am Menschen im Kindheitsalter wirksamen Kräfte erkennen,
heißt den Christus im Menschen erkennen. Es entsteht nun
die Frage: Führt diese Erkenntnis auch zur Anerkennung der
Tatsache, daß dieser Christus wirklich einmal in einem
Menschenleibe auf Erden gewohnt hat? Ohne daß irgendwelche
Dokumente herangezogen werden, kann diese Frage bejaht werden.
Denn eine wirkliche seherische Selbsterkenntnis führt
für den gegenwärtigen Menschen dahin, einzusehen,
daß in der Menschenseele Kräfte gefunden werden
können, welche von diesem Christus ausgehen. In den ersten
drei Kindheitsjahren wirken diese Kräfte, ohne daß
der Mensch etwas dazu tut. Im späteren Leben können
sie wirken, wenn der Mensch durch innere Versenkung den
Christus in sich sucht. So wie nun gegenwärtig der Mensch
den Christus in sich findet, so konnte er dieses nicht immer.
Es gab Zeiten, wo keine innere Versenkung den Menschen zum
Christus führen konnte. Daß dies so ist, lehrt wieder
die seherische Erkenntnis. In der Zwischenzeit zwischen jener
Vergangenheit, da der Mensch den Christus in sich nicht finden
konnte, und der Gegenwart, da er ihn finden kann, liegt das
Erdenleben Christi. Und dieses Erdenleben selbst ist der Grund,
warum in der angegebenen Art der Mensch den Christus in sich
finden kann. So beweist sich für die seherische Erkenntnis
das Erdenleben Christi ohne alle geschichtlichen Urkunden.
Man
könnte denken, der Christus habe gesagt: Ich will für
euch Menschen ein solches Ideal sein, das in den Geist erhoben
euch dasjenige darstellt, was sonst im Leiblichen erfüllt
ist. In den ersten Lebensjahren lernt der Mensch physisch gehen
aus dem Geiste heraus; das heißt der Mensch weist sich
seinen Weg für das Erdenleben aus dem Geiste heraus. Er
lernt sprechen, das heißt die Wahrheit prägen aus dem
Geiste heraus, - oder mit anderen Worten: Der Mensch entwickelt
das Wesen der Wahrheit aus dem Laute heraus in den ersten drei
Jahren seines Lebens. Und auch das Leben, das der Mensch auf
der Erde als Ich-Wesen lebt, das bekommt sein Lebensorgan durch
das, was sich in den ersten drei Jahren der Kindheit ausbildet.
So also lernt der Mensch leiblich gehen, das heißt
«den Weg» finden, er lernt die «Wahrheit»
durch seinen Organismus darstellen, und er lernt das
«Leben» aus dem Geiste heraus im Leibe zum Ausdrucke
bringen. Keine bedeutungsvollere Umprägung des Wortes:
«Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, könnt ihr
nicht in die Reiche der Himmel kommen» scheint denkbar.
Und als ein bedeutsames Wort muß es gelten, daß die
Ich-Wesenheit des Christus so zum Ausdrucke kommt: «Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!» Wie die
höheren Geisteskräfte den Kindheitsorganismus -
diesem unbewußt - so gestalten, daß er leiblich wird
der Ausdruck für den Weg, die Wahrheit und das Leben, so
wird der Menschengeist allmählich dadurch, daß er
sich mit dem Christus durchdringt, bewußt der Träger
des Weges, der Wahrheit und des Lebens. Er macht sich dadurch
selbst im Laufe des Erdenwerdens zu jener Kraft, die im
Kindheitsalter in ihm waltet, ohne daß er der bewußte
Träger ist.
Solche Worte, wie die von dem Weg, der Wahrheit und dem Leben,
sind geeignet, die Türen der Ewigkeit zu öffnen. Sie
tönen dem Menschen aus seinen Seelengründen, wenn die
Selbsterkenntnis eine wahre, wesenhafte wird.
In
einem zweifachen Sinn eröffnen solche Betrachtungen den
Ausblick auf die geistige Führung des Menschen und der
Menschheit. Man findet als Mensch in sich den Christus durch
Selbsterkenntnis als den Führer, zu dem man seit Christi
Erdenzeit immer gelangen kann, weil er immer im Menschen ist.
Und man findet dann ferner, wenn man dasjenige, was man ohne
die geschichtlichen Dokumente erkannt hat, auf diese anwendet,
die wahre Natur dieser Dokumente. Sie sprechen geschichtlich
etwas aus, was im Innern der Seele sich durch sich selbst
offenbart. Sie sind deshalb zu jener Führung der
Menschheit zu zählen, welche die Hinlenkung der Seele auf
sich selbst bewirken soll.
Wird so die Ewigkeitsstimmung der Worte verstanden: «Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!», dann kann man
fühlen, daß es unberechtigt ist, zu fragen: Warum
tritt der Mensch , wenn er schon viele Verkörperungen
durchgemacht hat, immer wieder als Kind in das Dasein? Denn es
zeigt sich, daß diese scheinbare Unvollkommenheit eine
immerwährende Erinnerung an das Höchste ist, was im
Menschen lebt. Und man kann nicht oft genug - wenigstens
jedesmal am Eingange eines Lebens - an die große Tatsache
erinnert werden, was der Mensch eigentlich jener Wesenheit nach
ist, welche allem Erdensein zugrunde liegt, aber von den
Unvollkommenheiten dieses Seins nicht berührt wird.
Es
ist nicht gut, wenn man in der Geisteswissenschaft oder
Theosophie oder überhaupt im Okkultismus viel definiert,
viel in Begriffen redet. Besser ist es, wenn man
charakterisiert und eine Empfindung hervorzurufen versucht von
dem, was wirklich ist. Deshalb sollte auch hier versucht
werden, eine Empfindung anzuregen von dem, was die ersten drei
Jahre des Menschenlebens kennzeichnet, und wie sich dies
verhält zu jenem Lichte, das ausstrahlt von dem Kreuze auf
Golgatha. Diese Empfindung besagt, daß ein Impuls durch
die menschliche Evolution geht, von dem man mit Recht sagen
kann, daß das Paulinische Wort durch ihn Wahrheit werden
muß: «Nicht ich, sondern der Christus in mir!»
Man braucht nur zu wissen, was der Mensch in Wirklichkeit ist,
und man kann von solcher Erkenntnis aus zu der Einsicht in die
Wesenheit Christi vorschreiten. Wenn man aber durch die wahre
Menschheitsbetrachtung zu dieser Christus-Idee gekommen ist und
weiß, daß man den Christus am besten entdeckt, wenn
man ihn erst in sich selber sucht, und wenn man dann
zurückgeht zu den biblischen Urkunden, dann gewinnt erst
die Bibel ihren großen Wert. Und es gibt keinen
größeren, aber auch keinen bewußteren
Schätzer der Bibel als einen Menschen, der im angedeuteten
Sinne den Christus gefunden hat. Es wäre denkbar, daß
ein Wesen, man sage ein Marsbewohner, herunterkäme auf die
Erde, das nie etwas gehört hat von dem Christus und seinem
Wirken. Vieles, was sich hier auf der Erde abgespielt hat,
würde ein solcher Marsbewohner nicht verstehen; vieles,
was die Menschen heute interessiert, würde ihn nicht
interessieren. Aber das würde ihn interessieren, was der
Mittelpunktsimpuls der Erdenevolution ist: die Christus-Idee,
wie sie die Wesenheit des Menschen selber ausdrückt! - Wer
das begriffen hat, der erkennt dann erst recht die Bibel; denn
er findet, was er vorher in sich erschaut hat, in ihr in einer
wunderbaren Weise ausgedrückt und sagt sich dann: Ich
brauche gar nicht erzogen zu sein zu einer besonderen
Schätzung der Evangelien, sondern trete als ein
vollbewußter Mensch vor dieselben, und durch das, was ich
durch die Geisteswissenschaft erkannt habe, erscheinen sie mir
in ihrer ganzen Größe.
Es
ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, es werde
eine Zeit kommen, wo man der Ansicht sein wird: Die Menschen,
welche durch die Geisteswissenschaft erkannt haben, den Inhalt
der Evangelien in richtiger Weise zu schätzen, die werden
in denselben führende Schriften der Menschheit anerkennen
in einem Sinne, der diesen Schriften mehr gerecht wird, als man
ihnen bis zur Gegenwart geworden ist. Die Menschheit wird erst
lernen, durch die Erkenntnis des Wesens des Menschen selber das
einzusehen, was in diesen tiefen Urkunden ruht. Man wird sich
dann sagen: Wenn man dasjenige in den Evangelien findet, was so
zum Wesen des Menschen gehört, so muß dies durch die
Menschen in die Dokumente hineingekommen sein, die sie auf der
Erde geschrieben haben, so daß für die Verfasser
dieser Urkunden besonders gelten muß, was man bei einem
wahrhaftigen Nachdenken - je älter man wird, desto mehr -
sich vom eigenen Leben sagen muß. Man hat so manches
gemacht, was man erst viele Jahre hinterher versteht. In den
Schreibern der Evangelien können Menschen gesehen werden,
welche aus dem höheren Selbst heraus schrieben, das am
Menschen in den Kindheitsjahren arbeitet. So sind die
Evangelien Schriftwerke, welche aus der Weisheit stammen, die
den Menschen gestaltet. Der Mensch ist Offenbarung des Geistes
durch seinen Leib; die Evangelien sind solche Offenbarung durch
die Schrift.
Unter solchen Voraussetzungen bekommt der Inspirationsbegriff
wieder seine gute Bedeutung. Wie in das Gehirn in den ersten
drei Jahren der Kindheit höhere Kräfte
hineinarbeiten, so wurden hineingeprägt in die Seelen der
Evangelienschreiber aus den geistigen Welten Kräfte, aus
welchen heraus die Evangelien geschrieben wurden. - In einer
solchen Tatsache spricht sich die geistige Führung der
Menschheit aus. Eine Menschheit muß wahrhaftig
geführt werden, wenn innerhalb ihrer Personen wirken,
welche Urkunden aus denselben Kräften heraus schreiben,
aus welchen der Mensch selbst weisheitsvoll gestaltet wird. -
Und wie der einzelne Mensch Dinge sagt oder tut, die er erst in
einem späteren Lebensalter versteht, so hat die
Gesamtmenschheit in den Evangelienschreibern sich die Mittler
hervorgebracht, die in ihren Schriften Offenbarungen lieferten,
die erst nach und nach begriffen werden können. Es wird,
je weiter die Menschheit vorrückt, immer mehr und mehr das
Verständnis dieser Urkunden gefunden werden. Der Mensch
kann in sich die geistige Führung fühlen; die
Gesamtmenschheit kann sie in denjenigen Personen fühlen,
welche in der Art der Evangelienschreiber wirken.
Der
so gewonnene Begriff der Menschenführerschaft kann nun in
mancher Hinsicht erweitert werden. Man nehme an, ein Mensch
habe Schüler gefunden, einige Leute, die sich zu ihm
bekennen. Ein solcher wird durch echte Selbsterkenntnis leicht
gewahr werden, daß ihm gerade die Tatsache, daß er
Bekenner gefunden hat, das Gefühl gibt: was er zu sagen
habe, rühre nicht von ihm her. Es sei vielmehr so,
daß sich geistige Kräfte aus höheren Welten den
Bekennern mitteilen wollen, und diese finden in dem Lehrer das
geeignete Werkzeug, um sich zu offenbaren.
Einem solchen Menschen wird der Gedanke nahetreten: Als ich
Kind war, habe ich an mir durch Kräfte gearbeitet, die aus
der geistigen Welt hereinwirkten, und das, was ich jetzt als
mein Bestes geben kann, muß auch aus höheren Welten
hereinwirken; ich darf es nicht als meinem gewöhnlichen
Bewußtsein angehörig betrachten. Ja, ein solcher
Mensch darf sagen: etwas Dämonisches, etwas wie ein
Dämon - aber das Wort «Dämon» im Sinne
einer guten geistigen Macht genommen - wirkt aus einer
geistigen Welt durch mich auf die Bekenner. - So etwas empfand
Sokrates, von dem Plato erzählt, daß er von seinem
«Dämon» sprach als von dem, was ihn lenkte und
leitete. Viel hat man versucht, um diesen
«Dämon» des Sokrates zu erklären. Aber man
kann ihn nur erklären, wenn man sich dem Gedanken hingeben
will, daß Sokrates so etwas empfinden konnte, wie aus
obiger Betrachtung sich ergibt. Dann kann man auch begreifen,
daß durch die drei bis vier Jahrhunderte, da das
sokratische Prinzip in Griechenland gewirkt hat, eine Stimmung
durch Sokrates in die griechische Welt kam, die vorbereitend
wirken konnte für ein anderes großes Ereignis. Die
Stimmung, daß der Mensch nicht so, wie er dasteht,
dasjenige ganz ist, was aus höheren Welten hereinragt,
diese Stimmung wirkte weiter. Die Besten, bei denen diese
Stimmung vorhanden war, sind die gewesen, welche später
auch am besten das Wort verstanden: «Nicht ich, sondern
der Christus in mir! » Denn sie konnten sich sagen:
Sokrates hat noch wie von einem dämonisch aus höheren
Welten Wirkenden gesprochen; durch das Christus-Ideal wird
klar, wovon Sokrates gesprochen hat. Nur konnte Sokrates noch
nicht von Christus sprechen, weil zu seiner Zeit noch niemand
die Christus-Wesenheit in sich finden konnte.
Da
fühlen wir wieder etwas von geistiger Führung der
Menschheit: Nichts kann in die Welt hineingestellt werden ohne
Vorbereitung. Warum hat Paulus gerade die besten Anhänger
in Griechenland gefunden? Weil dort durch den Sokratismus der
Boden vorbereitet war durch die gekennzeichnete Stimmung. Das
heißt: Was später in der Menschheitsentwickelung
geschieht, führt zurück zu Ereignissen, die
früher gewirkt haben, und welche die Menschen reif gemacht
haben, um das Spätere auf sich wirken zu lassen.
Fühlen wir da nicht, wie weit der führende Impuls
reicht, der durch die menschliche Evolution geht, und wie er im
rechten Moment die richtigen Menschen dort hinstellt, wo sie
für die Evolution gebraucht werden? In solchen Tatsachen
spricht sich zunächst im allgemeinen die Führung der
Menschheit aus.
Beim
Übergange vom Kindheits- zum späteren Menschenalter
erhält sich die Lebensfähigkeit des menschlichen
Organismus, weil er sich in dieser Zeit ändern kann. Im
späteren Lebensalter kann er sich nicht mehr ändern;
daher kann er auch mit jenem Selbst nicht weiter bestehen.
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