Die Kernpunkte der sozialen Frage
Die Kernpunkte der sozialen Frage: Kapitel I. Die wahre Gestalt der sozialen Frage, erfasst aus dem Leben der modernen Menschheit
I. Die wahre Gestalt der sozialen Frage, erfasst aus dem Leben der
modernen Menschheit
Offenbart sich nicht aus der Weltkriegskatastrophe heraus die moderne
soziale Bewegung durch Tatsachen, die beweisen, wie unzulänglich
Gedanken waren, durch die man jahrzehntelang das proletarische Wollen
zu verstehen glaubte? Was gegenwärtig sich aus früher niedergehaltenen
Forderungen des Proletariats und im Zusammenhange damit an die
Oberfläche des Lebens drängt, nötigt dazu, diese Frage zu stellen. Die
Mächte, welche das Niederhalten bewirkt haben, sind zum Teil
vernichtet. Das Verhältnis, in das sich diese Mächte zu den sozialen
Triebkräften eines großen Teiles der Menschheit gesetzt haben,
kann nur erhalten wollen, wer ganz ohne Erkenntnis davon ist, wie
unvernichtbar solche Impulse der Menschennatur sind.
Manche Persönlichkeiten, deren Lebenslage es ihnen möglich machte,
durch ihr Wort oder ihren Rat hemmend oder fördernd einzuwirken auf
die Kräfte im europäischen Leben, die 1914 zur Kriegskatastrophe
drängten, haben sich über diese Triebkräfte den größten
Illusionen hingegeben. Sie konnten glauben, ein Waffensieg ihres
Landes werde die sozialen Anstürme beruhigen. Solche Persönlichkeiten
mußten gewahr werden, daß durch die Folgen ihres
Verhaltens die sozialen Triebe erst völlig in die Erscheinung traten.
Ja, die gegenwärtige Menschheitskatastrophe erwies sich als dasjenige
geschichtliche Ereignis, durch das diese Triebe ihre volle Schlagkraft
erhielten. Die führenden Persönlichkeiten und Klassen mußten ihr
Verhalten in den letzten schicksalsschweren Jahren stets von dem
abhängig machen, was in den sozialistisch gestimmten Kreisen der
Menschheit lebte. Sie hätten oftmals gerne anders gehandelt, wenn sie
die Stimmung dieser Kreise hätten unbeachtet lassen können. In der
Gestalt, die gegenwärtig die Ereignisse angenommen haben, leben die
Wirkungen dieser Stimmung fort.
Und jetzt, da in ein entscheidendes Stadium eingetreten ist, was
jahrzehntelang vorbereitend heraufgezogen ist in der
Lebensentwickelung der Menschheit: jetzt wird zum tragischen
Schicksal, daß den gewordenen Tatsachen sich die Gedanken nicht
gewachsen zeigen, die im Werden dieser Tatsachen entstanden sind.
Viele Persönlichkeiten, die ihre Gedanken an diesem Werden ausgebildet
haben, um dem zu dienen, was in ihm als soziales Ziel lebt, vermögen
heute wenig oder nichts in bezug auf Schicksalsfragen, die von den
Tatsachen gestellt werden.
Noch glauben zwar manche dieser Persönlichkeiten, was sie seit langer
Zeit als zur Neugestaltung des menschlichen Lebens notwendig gedacht
haben, werde sich verwirklichen und dann als mächtig genug erweisen,
um den fordernden Tatsachen eine lebensmögliche Richtung zu geben. -
Man kann absehen von der Meinung derer, die auch jetzt noch wähnen,
das Alte müsse sich gegen die neueren Forderungen eines großen
Teiles der Menschheit halten lassen. Man kann seinen Blick einstellen
auf das Wollen derer, die von der Notwendigkeit einer neuen
Lebensgestaltung überzeugt sind. Man wird doch nicht anders können,
als sich gestehen: Es wandeln unter uns Parteimeinungen wie
Urteilsmumien, die von der Entwickelung der Tatsachen zurückgewiesen
werden. Diese Tatsachen fordern Entscheidungen, für welche die Urteile
der alten Parteien nicht vorbereitet sind. Solche Parteien haben sich
zwar mit den Tatsachen entwickelt; aber sie sind mit ihren
Denkgewohnheiten hinter den Tatsachen zurückgeblieben. Man braucht
vielleicht nicht unbescheiden gegenüber heute noch als
maßgeblich geltenden Ansichten zu sein, wenn man glaubt, das
eben Angedeutete aus dem Verlaufe der Weltereignisse in der Gegenwart
entnehmen zu können. Man darf daraus die Folgerung ziehen, gerade
diese Gegenwart müsse empfänglich sein für den Versuch, dasjenige im
sozialen Leben der neueren Menschheit zu kennzeichnen, was in seiner
Eigenart auch den Denkgewohnten der sozial orientierten
Persönlichkeiten und Parteirichtungen ferne liegt. Denn es könnte wohl
sein, daß die Tragik, die in den Lösungsversuchen der sozialen
Frage zutage tritt, gerade in einem Mißverstehen der wahren
proletarischen Bestrebungen wurzelt. In einem Mißverstehen
selbst von seiten derjenigen, welche mit ihren Anschauungen aus diesen
Bestrebungen herausgewachsen sind. Denn der Mensch bildet sich
keineswegs immer über sein eigenes Wollen das rechte Urteil.
Gerechtfertigt kann es deshalb erscheinen, einmal die Fragen zu
stellen, was will die moderne proletarische Bewegung in
Wirklichkeit? Entspricht dieses Wollen demjenigen, was gewöhnlich von
proletarischer oder nicht proletarischer Seite über dieses Wollen
gedacht wird? Offenbart sich in dem, was über die «soziale Frage» von
vielen gedacht wird, die wahre Gestalt dieser «Frage»? Oder ist
ein ganz anders gerichtetes Denken nötig? An diese Frage wird
man nicht unbefangen herantreten können, wenn man nicht durch die
Lebensschicksale in die Lage versetzt war, in das Seelenleben des
modernen Proletariats sich einzuleben. Und zwar desjenigen Teiles
dieses Proletariats, der am meisten Anteil hat an der Gestaltung,
welche die soziale Bewegung der Gegenwart angenommen hat.
Man hat viel gesprochen über die Entwickelung der modernen Technik und
des modernen Kapitalismus. Man hat gefragt, wie innerhalb dieser
Entwickelung das gegenwärtige Proletariat entstanden ist, und wie es
durch die Entfaltung des neueren Wirtschaftslebens zu seinen
Forderungen gekommen ist. In all dem, was man in dieser Richtung
vorgebracht hat, liegt viel Treffendes. Daß damit aber ein
Entscheidendes doch nicht berührt wird, kann sich dem aufdrängen, der
sich nicht hypnotisieren läßt von dem Urteil: Die äußern
Verhältnisse geben dem Menschen das Gepräge seines Lebens. Es
offenbart sich dem, der sich einen unbefangenen Einblick bewahrt in
die aus inneren Tiefen heraus wirkenden seelischen Impulse.
Gewiß ist, daß die proletarischen Forderungen sich
entwickelt haben während des Lebens der modernen Technik und des
modernen Kapitalismus; aber die Einsicht in diese Tatsache gibt noch
durchaus keinen Aufschluß darüber, was in diesen Forderungen
eigentlich als rein menschliche Impulse lebt. Und solange man
in das Leben dieser Impulse nicht eindringt, kann man wohl auch der
wahren Gestalt der «sozialen Frage» nicht beikommen.
Ein Wort, das oftmals in der Proletarierwelt ausgesprochen wird, kann
einen bedeutungsvollen Eindruck machen auf den, der in die tiefer
liegenden Triebkräfte des menschlichen Wollens zu dringen vermag. Es
ist das: Der moderne Proletarier ist «klassenbewußt»
geworden. Er folgt den Impulsen der außer ihm bestehenden
Klassen nicht mehr gewissermaßen instinktiv, unbewußt; er
weiß sich als Angehöriger einer besonderen Klasse und ist
gewillt, das Verhältnis dieser seiner Klasse zu den andern im
öffentlichen Leben in einer seinen Interessen entsprechenden Weise zur
Geltung zu bringen. Wer ein Auffassungsvermögen hat für seelische
Unterströmungen, der wird durch das Wort «klassenbewußt» in dem
Zusammenhang, in dem es der moderne Proletarier gebraucht, hingewiesen
auf wichtigste Tatsachen in der sozialen Lebensauffassung derjenigen
arbeitenden Klassen, die im Leben der modernen Technik und des
modernen Kapitalismus stehen. Ein solcher muß vor allem
aufmerksam darauf werden, wie wissenschaftliche Lehren über das
Wirtschaftsleben und dessen Verhältnis zu den Menschenschicksalen
zündend in die Seele des Proletariers eingeschlagen haben. Hiermit
wird eine Tatsache berührt, über welche viele, die nur über das
Proletariat denken können, nicht mit demselben, nur ganz
verschwommene, ja in Anbetracht der ernsten Ereignisse der Gegenwart
schädliche Urteile haben. Mit der Meinung, dem «ungebildeten»
Proletarier sei durch den Marxismus und seine Fortsetzung durch die
proletarischen Schriftsteller der Kopf verdreht worden, und mit dem,
was man sonst in dieser Richtung oft hören kann, kommt man nicht zu
einem auf diesem Gebiete in der Gegenwart notwendigen Verständnis der
geschichtlichen Weltlage. Denn man zeigt, wenn man eine solche Meinung
äußert, nur, daß man nicht den Willen hat, den Blick auf
ein Wesentliches in der gegenwärtigen sozialen Bewegung zu lenken. Und
ein solches Wesentliches ist die Erfüllung des proletarischen
Klassenbewußtseins mit Begriffen, die ihren Charakter aus der
neueren wissenschaftlichen Entwickelung heraus genommen haben.
In diesem Bewußtsein wirkt als Stimmung fort, was in Lassalles
Rede über die <Wissenschaft und die Arbeiter» gelebt hat. Solche
Dinge mögen manchem unwesentlich erscheinen, der sich für einen
«praktischen Menschen» hält. Wer aber eine wirklich fruchtbare
Einsicht in die moderne Arbeiterbewegung gewinnen will, der
muß seine Aufmerksamkeit auf diese Dinge richten. In dem,
was gemäßigte und radikale Proletarier heute fordern, lebt nicht
etwa das in Menschen-Impulse umgewandelte Wirtschaftsleben so, wie es
sich manche Menschen vorstellen, sondern es lebt die
Wirtschafts-Wissenschaft, von welcher das proletarische
Bewußtsein ergriffen worden ist. In der wissenschaftlich
gehaltenen und in der journalistisch popularisierten Literatur der
proletarischen Bewegung tritt dieses so klar zutage. Es zu leugnen,
bedeutet ein Augenverschließen vor den wirklichen Tatsachen. Und
eine fundamentale, die soziale Lage der Gegenwart bedingende Tatsache
ist die, daß der moderne Proletarier in wissenschaftlich
gearteten Begriffen sich den Inhalt seines Klassenbewußtseins
bestimmen läßt. Mag der an der Maschine arbeitende Mensch von
«Wissenschaft» noch so weit entfernt sein; er hört den Aufklärungen
über seine Lage von seiten derjenigen zu, welche die Mittel zu dieser
Aufklärung von dieser «Wissenschaft» empfangen haben. Alle die
Auseinandersetzungen über das neuere Wirtschaftsleben, das
Maschinenzeitalter, den Kapitalismus mögen noch so einleuchtend auf
die Tatsachengrundlage der modernen Proletarierbewegung hinweisen; was
die gegenwärtige soziale Lage entscheidend aufklärt, erfließt
nicht unmittelbar aus der Tatsache, daß der Arbeiter an die
Maschine gestellt worden, daß er in die kapitalistische
Lebensordnung eingespannt worden ist. Es fließt aus der andern
Tatsache, daß ganz bestimmte Gedanken sich innerhalb
seines Klassenbewußtseins an der Maschine und in der
Abhängigkeit von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausgebildet
haben. Es könnte sein, daß die Denkgewohnheiten der Gegenwart
manchen verhindern, die Tragweite dieses Tatbestandes ganz zu erkennen
und ihn veranlassen, in seiner Betonung nur ein dialektisches Spiel
mit Begriffen zu sehen. Demgegenüber muß gesagt werden: Um so
schlimmer für die Aussichten auf eine gedeihliche Einstellung in das
soziale Leben der Gegenwart bei denen, die nicht imstande sind, das
Wesentliche ins Auge zu fassen. Wer die proletarische Bewegung
verstehen will, der muß vor allem wissen, wie der Proletarier
denkt. Denn die proletarische Bewegung - von ihren
gemäßigten Reformbestrebungen an bis in ihre verheerendsten
Auswüchse hinein - wird nicht von «außermenschlichen Kräften»,
von «Wirtschaftsimpulsen» gemacht, sondern von Menschen; von
deren Vorstellungen und Willensimpulsen.
Nicht in dem, was die Maschine und der Kapitalismus in das
proletarische Bewußtsein hineinverpflanzt haben, liegen die
bestimmenden Ideen und Willenskräfte der gegenwärtigen sozialen
Bewegung. Diese Bewegung hat ihre Gedanken-Quelle in der neueren
Wissenschaftsrichtung gesucht, weil dem Proletarier Maschine und
Kapitalismus nichts geben konnten, was seine Seele mit einem
menschenwürdigen Inhalt erfüllen konnte. Ein solcher Inhalt ergab sich
dem mittelalterlichen Handwerker aus seinem Berufe. In der Art, wie
dieser Handwerker sich menschlich mit dem Berufe verbunden
fühlte, lag etwas, das ih'n das Leben innerhalb der ganzen
menschlichen Gesellschaft vor dem eigenen Bewußtsein in einem
lebenswerten Lichte erscheinen ließ. Er vermochte, was er tat,
so anzusehen, daß er dadurch verwirklicht glauben konnte, was er
als «Mensch» sein wollte. An der Maschine und innerhalb der
kapitalistischen Lebensordnung war der Mensch auf sich selbst, auf
sein Inneres angewiesen, wenn er nach einer Grundlage suchte, auf der
sich eine das Bewußtsein tragende Ansicht von dem errichten
läßt, was man als «Mensch» ist. Von der Technik, von dem
Kapitalismus strömte für eine solche Ansicht nichts aus. So ist es
gekommen, daß das proletarische Bewußtsein die Richtung
nach dem wissenschaftlich gearteten Gedanken einschlug. Es hatte den
menschlichen Zusammenhang mit dem unmittelbaren Leben verloren. Das
aber geschah in der Zeit, in der die führenden Klassen der Menschheit
einer wissenschaftlichen Denkungsart zustrebten, die selbst nicht mehr
die geistige Stoßkraft hatte, um das menschliche
Bewußtsein nach dessen Bedürfnissen allseitig zu einem
befriedigenden Inhalte zu führen. Die alten Weltanschauungen stellten
den Menschen als Seele in einen geistigen Daseinszusammenhang hinein.
Vor der neueren Wissenschaft erscheint er als Naturwesen innerhalb der
bloßen Naturordnung. Diese Wissenschaft wird nicht empfunden wie
ein in die Menschenseele aus einer Geistwelt fließender Strom,
der den Menschen als Seele trägt. Wie man auch über das Verhältnis der
religiösen Impulse und dessen, was mit ihnen verwandt ist, zu der
wissenschaftlichen Denkungsart der neueren Zeit urteilen mag: man
wird, wenn man unbefangen die geschichtliche Entwickelung betrachtet,
zugeben müssen, daß sich das wissenschaftliche Vorstellen aus
dem religiösen entwickelt hat. Aber die alten, auf religiösen
Untergründen ruhenden Weltanschauungen haben nicht vermocht, ihren
seelentragenden Impuls der neueren wissenschaftlichen Vorstellungsart
mitzuteilen. Sie stellten sich außerhalb dieser Vorstellungsart
und lebten weiter mit einem Bewußtseinsinhalt, dem sich die
Seelen des Proletariats nicht zuwenden konnten. Den führenden Klassen
konnte dieser Bewußtseinsinhalt noch etwas Wertvolles sein. Er
hing auf die eine oder die andere Art mit ihrer Lebenslage zusammen.
Diese Klassen suchten nicht nach einem neuen Bewußtseinsinhalt,
weil die Überlieferung durch das Leben selbst sie den alten noch
festhalten ließ. Der moderne Proletarier wurde aus allen alten
Lebenszusammenhängen herausgerissen. Er ist der Mensch, dessen Leben
auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden ist. Für ihn war mit
der Entziehung der alten Lebensgrundlagen zugleich die Möglichkeit
geschwunden, aus den alten geistigen Quellen zu schöpfen. Die standen
inmitten der Gebiete, denen er entfremdetworden war. Mit der modernen
Technik und dem modernen Kapitalismus entwickelte sich gleichzeitig -
in dem Sinne, wie man die großen weltgeschichtlichen Strömungen
gleichzeitig nennen kann - die moderne Wissenschaftlichkeit. Ihr
wandte sich das Vertrauen, der Glaube des modernen Proletariats zu.
Bei ihr suchte es den ihm notwendigen neuen Bewußtseinsinhalt.
Aber es war zu dieser Wissenschaftlichkeit in ein anderes Verhältnis
gesetzt als die führenden Klassen. Diese fühlten sich nicht genötigt,
die wissenschaftliche Vorstellungsart zu ihrer seelentragenden
Lebensauffassung zu machen. Mochten sie noch so sehr mit der
«wissenschaftlichen Vorstellungsart» sich durchdringen, daß in
der Naturordnung ein gerader Ursachenzusammenhang von den niedersten
Tieren bis zum Menschen führe: diese Vorstellungsart blieb doch
theoretische Überzeugung. Sie erzeugte nicht den Trieb, das Leben auch
empfindungsgemäß so zu nehmen, wie es dieser Überzeugung restlos
angemessen ist. Der Naturforscher Vogt, der naturwissenschaftliche
Popularisator Büchner: sie waren sicherlich von der wissenschaftlichen
Vorstellungsart durchdrungen. Aber neben dieser Vorstellungsart wirkte
in ihrer Seele etwas, das sie festhalten ließ an
Lebenszusammenhängen, die sich nur sinnvoll rechtfertigen aus dem
Glauben an eine geistige Weltordnung. Man stelle sich doch nur
unbefangen vor, wie anders die Wissenschaftlichkeit auf den wirkt, der
in solchen Lebenszusammenhängen mit dem eigenen Dasein verankert ist,
als auf den modernen Proletarier, vor den sein Agitator hintritt und
in den wenigen Abendstunden, die von der Arbeit nicht ausgefüllt sind,
in der folgenden Art spricht: Die Wissenschaft hat in der neueren Zeit
den Menschen ausgetrieben, zu glauben, daß sie ihren Ursprung in
geistigen Welten haben. Sie sind darüber belehrt worden, daß sie
in der Urzeit unanständig als Baumkletterer lebten, belehrt, daß
sie alle den gleichen rein natürlichen Ursprung haben. Vor eine nach
solchen Gedanken hin orientierte Wissenschaftlichkeit sah sich der
moderne Proletarier gestellt, wenn er nach einem Seelen-inhalt suchte,
der ihn empfinden lassen sollte, wie er als Mensch im Weltendasein
drinnen steht. Er nahm diese Wissenschaftlichkeit restlos ernst, und
zog aus ihr seine Folgerungen für das Leben. Ihn traf das
technische und kapitalistische Zeitalter anders als den Angehörigen
der führenden Klassen. Dieser stand in einer Lebensordnung drinnen,
welche noch von seelentragenden Impulsen gestaltet war. Er hatte alles
Interesse daran, die Errungenschaften der neuen Zeit in den Rahitien
dieser Lebensordnung einzuspannen. Der Proletarier war aus dieser
Lebensordnung seelisch herausgerissen. Ihm konnte diese Lebensordnung
nicht eine Empfindung geben, die sein Leben mit einem menschenwürdigen
Inhalt durchleuchtete. Empfinden lassen, was man als Mensch ist, das
konnte den Proletarier das einzige, was ausgestattet mit Glauben
erweckender Kraft aus der alten Lebensordnung hervorgegangen zu sein
schien: die wissenschaftliche Denkungsart.
Es könnte manchen Leser dieser Ausführungen wohl zu einem Lächeln
drängen, wenn auf die «Wissenschaftlichkeit» der proletarischen
Vorstellungsart verwiesen wird. Wer bei «Wissenschaftlichkeit» nur an
dasjenige zu denken vermag, was man durch vieljähriges Sitzen in
«Bildungsanstalten» sich erwirbt, und der dann diese
«Wissenschaftlichkeit» in Gegensatz bringt zu dem
Bewußtseinsinhalt des Proletariers, der «nichts gelernt» hat,
der mag lächeln. Er lächelt über Schicksal entscheidende Tatsachen des
gegenwärtigen Lebens hinweg. Diese Tatsachen bezeugen aber, daß
mancher hoch-gelehrte Mensch unwissenschaftlich lebt, während
der ungelehrte Proletarier seine Lebensgesinnung nach der Wissenschaft
hin orientiert, die er vielleicht gar nicht besitzt. Der Gebildete hat
die Wissenschaft aufgenommen; sie ist in einem Schubfach seines
Seelen-Innern. Er steht aber in Lebenszusammenhängen und läßt
sich von diesen seine Empfindungen orientieren, die nicht von dieser
Wissenschaft gelenkt werden. Der Proletarier ist durch seine
Lebensverhältnisse dazu gebracht, das Dasein so aufzufassen, wie es
der Gesinnung dieser Wissenschaft entspricht. Was die andern
Klassen «Wissenschaftlichkeit» nennen, mag ihm ferne liegen; die
Vorstellungsrichtung dieser Wissenschaftlichkeit orientiert sein
Leben. Für die andern Klassen ist bestimmend eine religiöse, eine
ästhetische, eine allgemeingeistige Grundlage; für ihn wird die
«Wissenschaft», wenn auch oft in ihren allerletzten
Gedanken-Ausläufen, Lebensglaube. Mancher Angehörige der «führenden»
Klassen fühlt sich «aufgeklärt», «freireligiös». Gewiß, in
seinen Vorstellungen lebt die wissenschaftliche Überzeugung; in seinen
Empfindungen aber pulsieren die von ihm unbemerkten Reste eines
überlieferten Lebensglaubens.
Was die wissenschaftliche Denkungsart nicht aus der alten
Lebensordnung mitbekommen hat: das ist das Bewußtsein, daß
sie als geistiger Art in einer geistigen Welt wurzelt. Über diesen
Charakter der modernen Wissenschaftlichkeit konnte sich der Angehörige
der führenden Klassen hinwegsetzen. Denn ihm erfüllt sich das Leben
mit alten Traditionen. Der Proletarier konnte das nicht. Denn seine
neue Lebenslage trieb die alten Traditionen aus seiner Seele. Er
übernahm die wissenschaftliche Vorstellungsart von den herrschenden
Klassen als Erbgut. Dieses Erbgut wurde die Grundlage seines
Bewußtseins vom Wesen des Menschen. Aber dieser «Geistesinhalt»
in seiner Seele wußte nichts von seinem Ursprung in einem
wirklichen Geistesleben. Was der Proletarier von den herrschenden
Klassen als geistiges Leben allein übernehmen konnte, verleugnete
seinen Ursprung aus dem Geiste.
Mir ist nicht unbekannt, wie diese Gedanken Nicht-proletarier und auch
Proletarier berühren werden, die mit dem Leben «praktisch» vertraut zu
sein glauben, und die aus diesem Glauben heraus das hier Gesagte für
eine lebens-fremde Anschauung halten. Die Tatsachen, welche aus der
gegenwärtigen Weltlage heraus sprechen, werden immer mehr diesen
Glauben als einen Wahn erweisen. Wer unbefangen diese Tatsachen sehen
kann, dem muß sich offenbaren, daß einer Lebensauffassung,
welche sich nur an das Außere dieser Tatsachen hält, zuletzt nur
noch Vorstellungen zugänglich sind, die mit den Tatsachen nichts mehr
zu tun haben. Herrschende Gedanken haben sich so lange «praktisch» an
die Tatsachen gehalten, bis diese Gedanken keine Ähnlichkeit mehr mit
diesen Tatsachen haben. In dieser Beziehung könnte die gegenwärtige
Weltkatastrophe ein Zuchtmeister für viele sein. Denn: Was haben sie
gedacht, daß werden kann? Und was ist geworden? Soll es so auch
mit dem sozialen Denken gehen?
Auch höre ich im Geiste den Einwurf, den der Bekenner proletarischer
Lebensauffassung aus seiner Seelenstimmung heraus macht: Wieder einer,
der den eigentlichen Kern der sozialen Frage auf ein Geleise ablenken
möchte, das dem bürgerlich Gesinnten bequem zu befahren scheint.
Dieser Bekenner durchschaut nicht, wie ihm das Schicksal sein
proletarisches Leben gebracht hat, und wie er sich innerhalb dieses
Lebens durch eine Denkungsart zu bewegen sucht, die ihm von den
«herrschenden» Klassen als Erbgut über-macht ist. Er lebt
proletarisch; aber er denkt bürgerlich. Die neue Zeit macht
nicht bloß notwendig, sich in ein neues Leben zu finden, sondern
auch in neue Gedanken. Die wissenschaftliche Vorstellungsart
wird erst zum leben-tragenden Inhalt werden können, wenn sie auf ihre
Art für die Bildung eines vollmenschlichen Lebensinhaltes eine solche
Stoßkraft entwickelt, wie sie alte Lebensauffassungen in ihrer
Weise entwickelt haben.
Damit ist der Weg bezeichnet, der zum Auffinden der wahren
Gestalt eines der Glieder innerhalb der neueren proletarischen
Bewegung führt. Am Ende dieses Weges ertönt aus der proletarischen
Seele die Überzeugung: Ich strebe nach dem geistigen Leben. Aber
dieses geistige Leben ist Ideologie, ist nur, was sich im
Menschen von den äußeren Weltvorgängen spiegelt, fließt
nicht aus einer besonderen geistigen Welt her. Was im Übergange zur
neuen Zeit aus dem alten Geistesleben geworden ist, empfindet die
proletarische Lebensauffassung als Ideologie. Wer die Stimmung in der
proletarischen Seele begreifen will, die sich in den sozialen
Forderungen der Gegenwart auslebt, der muß imstande sein, zu
erfassen, was die Ansicht bewirken kann, daß das geistige Leben
Ideologie sei. Man mag erwidern: Was weiß der
Durchschnittsproletarier von dieser Ansicht, die in den Köpfen der
mehr oder weniger geschulten Führer verwirrend spukt. Der so spricht,
redet am Leben vorbei, und er handelt auch am wirklichen Leben vorbei.
Ein solcher weiß nicht, was im Proletarierleben der letzten
Jahrzehnte vorgegangen ist; er weiß nicht, welche Fäden sich
spinnen von der Ansicht, das geistige Leben sei Ideologie, zu den
Forderungen und Taten des von ihm nur für «unwissend» gehaltenen
radikalen Sozialisten und auch zu den Handlungen derer, die aus
dumpfen Lebensimpulsen heraus «Revolution machen».
Darinnen liegt die Tragik, die über das Erfassen der sozialen
Forderungen der Gegenwart sich ausbreitet, daß man in vielen
Kreisen keine Empfindung für das hat, was aus der Seelenstimmung der
breiten Massen sich an die Oberfläche des Lebens heraufdrängt,
daß man den Blick nicht auf das zu richten vermag, was in den
Menschengemütern wirklich vorgeht. Der Nichtproletarier hört
angsterfüllt nach den Forderungen des Proletariers hin und vernimmt:
Nur durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel kann für mich ein
menschenwürdiges Dasein erreicht werden. Aber er vermag sich keine
Vorstellung davon zu bilden, daß seine Klasse beim Übergang aus
einer alten in die neue Zeit nicht nur den Proletarier zur Arbeit an
den ihm nicht gehörenden Produktionsmitteln aufgerufen hat, sondern
daß sie nicht vermocht hat, ihm zu dieser Arbeit einen tragenden
Seeleninhalt hinzuzugeben. Menschen, welche in der oben angedeuteten
Art am Leben vorbeisehen und vorbeihandeln, mögen sagen: Aber der
Proletarier will doch einfach in eine Lebenslage versetzt sein, die
derjenigen der herrschenden Klassen gleichkommt; wo spielt da die
Frage nach dem Seeleninhalt eine Rolle? Ja, der Proletarier mag selbst
behaupten: Ich verlange von den andern Klassen nichts für meine Seele;
ich will, daß sie mich nicht weiter ausbeuten können. Ich will,
daß die jetzt bestehenden Klassenunterschiede aufhören. Solche
Rede trifft doch das Wesen der sozialen Frage nicht. Sie enthüllt
nichts von der wahren Gestalt dieser Frage. Denn ein solches
Bewußtsein in den Seelen der arbeitenden Bevölkerung, das von
den herrschenden Klassen einen wahren Geistesinhalt ererbt hätte,
würde die sozialen Forderungen in ganz anderer Art erheben, als es das
moderne Proletariat tut, das in dem empfangenen Geistesleben nur eine
Ideologie sehen kann. Dieses Proletariat ist von dem ideologischen
Charakter des Geisteslebens überzeugt; aber es wird durch diese
Überzeugung immer unglücklicher. Und die Wirkungen dieses seines
Seelenunglückes, die es nicht bewußt kennt, aber intensiv
erleidet, überwiegen weit in ihrer Bedeutung für die soziale Lage der
Gegenwart alles, was nur die in ihrer Art auch berechtigte Forderung
nach Verbesserung der äußeren Lebenslage ist.
Die herrschenden Klassen erkennen sich nicht als die Urheber
derjenigen Lebensgesinnung, die ihnen gegenwärtig im Proletariertum
kampfbereit entgegentritt. Und doch sind sie diese Urheber dadurch
geworden, daß sie von ihrem Geistesleben diesem Proletariertum
nur etwas haben vererben können, was von diesem als Ideologie
empfunden werden muß.
Nicht das gibt der gegenwärtigen sozialen Bewegung ihr wesentliches
Gepräge, daß man nach einer Änderung der Lebenslage einer
Menschenklasse verlangt, obgleich es das natürlich Erscheinende ist,
sondern die Art wie die Forderung nach dieser Änderung aus den
Gedanken-Impulsen dieser Klasse in Wirklichkeit umgesetzt wird. Man
sehe sich doch die Tatsachen von diesem Gesichtspunkte aus nur einmal
unbefangen an. Dann wird man sehen, wie Persönlichkeiten, die ihr
Denken in der Richtung der proletarischen Impulse halten wollen,
lächeln, wenn die Rede darauf kommt, durch diese oder jene geistigen
Bestrebungen wolle man etwas beitragen zur Lösung der sozialen Frage.
Sie belächeln das als Ideologie> als eine graue Theorie. Aus
dem Gedanken heraus, aus dem bloßen Geistesleben heraus, so
meinen sie, werde gewiß nichts beigetragen werden können zu den
brennenden sozialen Fragen der Gegenwart. Aber sieht man genauer zu,
dann drängt es sich einem auf, wie der eigentliche Nerv, der
eigentliche Grundimpuls der modernen, gerade proletarischen Bewegung
nicht in dem liegt, wovon der heutige Proletarier spricht,
sondern liegt in Gedanken.
Die moderne proletarische Bewegung ist, wie vielleicht noch keine
ähnliche Bewegung der Welt - wenn man sie genauer anschaut, zeigt sich
dies im eminentesten Sinne -, eine Bewegung aus Gedanken
entsprungen. Dies sage ich nicht bloß wie ein im Nachdenken über
die soziale Bewegung gewonnenes Aperçu. Wenn es mir gestattet ist,
eine persönliche Bemerkung einzufügen, so sei es diese: Ich habe
jahrelang innerhalb einer Arbeiterbildungsschule in den
verschiedensten Zweigen proletarischen Arbeitern Unterricht erteilt.
Ich glaube dabei kennengelernt zu haben, was in der Seele des modernen
proletarischen Arbeiters lebt und strebt. Von da ausgehend habe ich
auch zu verfolgen Gelegenheit gehabt, was in den Gewerkschaften der
verschiedenen Berufe und Berufsrichtungen wirkt. Ich meine, ich
spreche nicht bloß vom Gesichtspunkte theoretischer Erwägungen,
sondern ich spreche aus, was ich glaube, als Ergebnis wirklicher
Lebenserfahrung mir errungen zu haben.
Wer - was bei den führenden Intellektuellen leider so wenig der Fall
ist - wer die moderne Arbeiterbewegung da kennengelernt hat, wo sie
von Arbeitern getragen wird, der weiß, welch
bedeutungsschwere Erscheinung dieses ist, daß eine
gewisse Gedanken-Richtung die Seelen einer großen Zahl von
Menschen in der intensivsten Weise ergriffen hat. Was gegenwärtig
schwierig macht, zu den sozialen Rätseln Stellung zu nehmen, ist,
daß eine so geringe Möglichkeit des gegenseitigen Verständnisses
der Klassen da ist. Die bürgerlichen Klassen können heute sich so
schwer in die Seele des Proletariers hineinversetzen, können so schwer
verstehen, wie in der noch unverbrauchten Intelligenz des
Proletariats Eingang finden konnte eine solche - mag man nun zum
Inhalt stehen wie man will -, eine solche an menschliche
Denkforderungen höchste Maßstäbe anlegende Vorstellungsart, wie
es diejenige Karl Marxens ist.
Gewiß, Karl Marxens Denksystem kann von dem einen angenommen,
von dem andern widerlegt werden, vielleicht das eine mit so gut
erscheinenden Gründen wie das andre; es konnte revidiert werden von
denen, die das soziale Leben nach Marxens und seines Freundes Engels
Tode von anderem Gesichtspunkte ansahen als diese Führer. Von dem
Inhalte dieses Systems will ich gar nicht sprechen. Der scheint mir
nicht als das Bedeutungsvolle in der modernen proletarischen Bewegung.
Das Bedeutungsvollste erscheint mir, daß die Tatsache
vorliegt: Innerhalb der Arbeiterschaft wirkt als mächtigster Impuls
ein Gedankensystem. Man kann geradezu die Sache in der folgenden Art
aussprechen: Eine praktische Bewegung, eine reine Lebensbewegung mit
alleralltäglichsten Menschheitsforderungen stand noch niemals so fast
ganz allein auf einer rein gedanklichen Grundlage wie diese
moderne Proletarierbewegung. Sie ist gewissermaßen sogar die
erste derartige Bewegung in der Welt, die sich rein auf eine
wissenschaftliche Grundlage gestellt hat. Diese Tatsache muß
aber richtig angesehen werden. Wenn man alles dasjenige ansieht, was
der moderne Proletarier über sein eigenes Meinen und Wollen und
Empfinden bewußt zu sagen hat, so scheint einem das
programmäßig Ausgesprochene bei eindringlicher Lebensbeobachtung
durchaus nicht als das Wichtige.
Als wirklich wichtig aber muß erscheinen, daß im
Proletarierempfinden für den ganzen Menschen entscheidend
geworden ist, was bei andern Klassen nur in einem einzelnen Gliede
ihres Seelenlebens verankert ist: die Gedankengrundlage der
Lebensgesinnung. Was im Proletarier auf diese Art innere Wirklichkeit
ist, er kann es nicht bewußt zugestehen. Er ist von diesem
Zugeständnis abgehalten dadurch, daß ihm das Gedankenleben als
Ideologie überliefert worden ist. Er baut in Wirklichkeit sein Leben
auf die Gedanken; empfindet diese aber als unwirkliche Ideologie.
Nicht anders kann man die proletarische Lebensauffassung und ihre
Verwirklichung durch die Handlungen ihrer Träger verstehen, als indem
man diese Tatsache in ihrer vollen Tragweite innerhalb der
neueren Menschheitsentwickelung durchschaut.
Aus der Art, wie in dem Vorangegangenen das geistige Leben des
modernen Proletariers geschildert worden ist, kann man erkennen,
daß in der Darstellung der wahren Gestalt der
proletarisch-sozialen Bewegung die Kennzeichnung dieses Geisteslebens
an erster Stelle erscheinen muß. Denn es ist wesentlich,
daß der Proletarier die Ursachen der ihn nicht befriedigenden
sozialen Lebenslage so empfindet und nach ihrer Beseitigung in einer
solchen Art strebt, daß Empfindung und Streben von diesem
Geistesleben die Richtung empfängt. Und doch kann er gegenwärtig noch
gar nicht anders als die Meinung spottend oder zornig ablehnen,
daß in diesen geistigen Untergründen der sozialen Bewegung etwas
liegt, was eine bedeutungsvolle treibende Kraft darstellt. Wie sollte
er einsehen, daß das Geistesleben eine ihn treibende Macht hat,
da er es doch als Ideologie empfinden muß? Von einem
Geistesleben, das so empfunden wird, kann man nicht erwarten,
daß es den Ausweg aus einer sozialen Lage findet, die man nicht
weiter ertragen will. Aus seiner wissenschaftlich orientierten
Denkungsart ist dem modernen Proletarier nicht nur die Wissen-schaft
selbst, sondern es sind ihm Kunst, Religion, Sitte, Recht zu
Bestandteilen der menschlichen Ideologie geworden. Er sieht in dem,
was in diesen Zweigen des Geisteslebens waltet, nichts von einer in
sein Dasein hereinbrechenden Wirklichkeit, die zu dem materiellen
Leben etwas hinzufügen kann. Ihm sind sie nur Abglanz oder Spiegelbild
dieses materiellen Lebens. Mögen sie immerhin, wenn sie entstanden
sind, auf dem Umwege durch das menschliche Vorstellen oder durch ihre
Aufnahme in die Willensimpulse auf das materielle Leben wieder
gestaltend zurückwirken:
Ursprünglich steigen sie als ideologische Gebilde aus diesem Leben
auf. Nicht sie können von sich aus etwas geben, das zur
Behebung der sozialen Schwierigkeiten führt. Nur innerhalb der
materiellen Tatsachen selbst kann etwas entstehen, was zum Ziele
geleitet.
Das neuere Geistesleben ist von den führenden Klassen der Menschheit
an die proletarische Bevölkerung in einer Form übergegangen, die seine
Kraft für das Bewußtsein dieser Bevölkerung ausschaltet. Wenn an
die Kräfte gedacht wird, welche der sozialen Frage die Lösung bringen
können, so muß dies vor allem andern verstanden werden. Bliebe
diese Tatsache weiter wirksam, so müßte sich das Geistesleben
der Menschheit zur Ohnmacht verurteilt sehen gegenüber den sozialen
Forderungen der Gegenwart und Zukunft. Von dem Glauben an diese
Ohnmacht ist in der Tat ein großer Teil des modernen
Proletariats überzeugt; und diese Überzeugung wird aus marxistischen
oder ähnlichen Bekenntnissen heraus zum Ausdruck gebracht. Man sagt,
das moderne Wirtschaftsleben hat aus seinen ältern Formen heraus die
kapitalistische der Gegenwart entwickelt. Diese Entwickelung hat das
Proletariat in eine ihm unerträgliche Lage gegenüber dem Kapitale
gebracht. Die Entwickelung werde weitergehen; sie werde den
Kapitalismus durch die in ihm selbst wirkenden Kräfte ertöten, und aus
dem Tode des Kapitalismus werde die Befreiung des Proletariats
erstehen. Diese Überzeugung ist von neueren sozialistischen Denkern
des fatalistischen Charakters entkleidet worden, den sie für einen
gewissen Kreis von Marxisten angenommen hat. Aber das Wesentliche ist
auch da geblieben. Dies drückt sich darinnen aus, daß es dem,
der gegenwärtig echt sozialistisch denken will, nicht beifallen
wird, zu sagen:
Wenn irgendwo ein aus den Impulsen der Zeit herausgeholtes, in einer
geistigen Wirklichkeit wurzelndes, die Menschen tragendes Seelenleben
sich zeigt, so wird von diesem die Kraft ausstrahlen können, die auch
der sozialen Bewegung den rechten Antrieb gibt.
Daß der zur proletarischen Lebensführung gezwungene Mensch der
Gegenwart gegenüber dem Geistesleben dieser Gegenwart eine solche
Erwartung nicht hegen kann, das gibt seiner Seele die Grundstimmung.
Er bedarf eines Geisteslebens, von dem die Kraft ausgeht, die seiner
Seele die Empfindung von seiner Menschenwürde verleiht. Denn als er in
die kapitalistische Wirtschaftsordnung der neueren Zeit hineingespannt
worden ist, wurde er mit den tiefsten Bedürfnissen seiner Seele auf
ein solches Geistesleben hingewiesen. Dasjenige Geistesleben aber, das
ihm die führenden Klassen als Ideologie überlieferten, höhlte seine
Seele aus. Daß in den Forderungen des modernen Proletariats die
Sehnsucht nach einem andern Zusammenhang mit dem Geistesleben wirkt,
als ihm die gegenwärtige Gesellschaftsordnung geben kann: dies gibt
der gegenwärtigen sozialen Bewegung die richtende Kraft. Aber diese
Tatsache wird weder von dem nicht proletarischen Teile der Menschheit
richtig erfaßt, noch von dem proletarischen. Denn der nicht
proletarische leidet nicht unter dem ideologischen Gepräge des
modernen Geisteslebens, das er selbst herbeigeführt hat. Der
proletarische Teil leidet darunter. Aber dieses ideologische Gepräge
des ihm vererbten Geisteslebens hat ihm den Glauben an die tragende
Kraft des Geistesgutes als solchen geraubt. Von der rechten Einsicht
in diese Tatsache hängt das Auffinden eines Weges ab, der aus den
Wirren der gegenwärtigen sozialen Lage der Menschheit herausführen
kann. Durch die gesellschaftliche Ordnung, welche unter dem
Einfluß der führenden Menschenklassen beim Heraufkommen der
neueren Wirtschaftsform entstanden ist, ist der Zugang zu einem
solchen Wege verschlossen worden. Man wird die Kraft gewinnen
müssen, ihn zu öffnen.
Man wird auf diesem Gebiete zum Umdenken dessen kommen, was man
gegenwärtig denkt, wenn man das Gewicht der Tatsache wird richtig
empfinden lernen, daß ein gesellschaftliches Zusammenleben der
Menschen, in dem das Geistesleben als Ideologie wirkt, eine der Kräfte
entbehrt, welche den sozialen Organismus lebensfähig machen. Der
gegenwärtige krankt an der Ohnmacht des Geisteslebens. Und die
Krankheit wird verschlimmert durch die Abneigung, ihr Bestehen
anzuerkennen. Durch die Anerkennung dieser Tatsache wird man eine
Grundlage gewinnen, auf der sich ein der sozialen Bewegung
entsprechendes Denken entwickeln kann.
Gegenwärtig vermeint der Proletarier eine Grundkraft seiner Seele zu
treffen, wenn er von seinem Klassenbewußtsein redet. Doch
die Wahrheit ist, daß er seit seiner Einspannung in die
kapitalistische Wirtschaftsordnung nach einem Geistesleben sucht, das
seine Seele tragen kann, das ihm das Bewußtsein seiner
Menschenwürde gibt; und daß ihm das als ideologisch
empfundene Geistesleben dieses Bewußtsein nicht entwickeln kann.
Er hat nach diesem Bewußtsein gesucht, und er hat, was er
nicht finden konnte, durch das aus dem Wirtschaftsleben geborene
Klassenbewußtsein ersetzt.
Sein Blick ist wie durch eine mächtige suggestive Kraft bloß
hingelenkt worden auf das Wirtschaftsleben. Und nun glaubt er nicht
mehr, daß anderswo, in einem Geistigen oder Seelischen, ein
Anstoß liegen könne zu dem, was notwendig eintreten müßte
auf dem Gebiete der sozialen Bewegung. Er glaubt allein, daß
durch die Entwickelung des ungeistigen, unseelischen Wirtschaftslebens
der Zustand herbeigeführt werden könne, den er als den
menschenwürdigen empfindet. So wurde er dazu gedrängt, sein Heil
allein in einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens zu suchen. Zu der
Meinung wurde er gedrängt, daß durch bloße Umgestaltung
des Wirtschaftslebens verschwinden werde all der Schaden, der herrührt
von der privaten Unternehmung, von dem Egoismus des einzelnen
Arbeitgebers und von der Unmöglichkeit des einzelnen Arbeitgebers,
gerecht zu werden den Ansprüchen auf Menschenwürde, die im
Arbeitnehmer leben. So kam der moderne Proletarier dazu, das einzige
Heil des sozialen Organismus zu sehen in der Überführung allen
Privatbesitzes an Produktionsmitteln in gemeinschaftlichen
Betrieb oder gar gemeinschaftliches Eigentum. Eine solche Meinung
ist dadurch entstanden, daß man gewissermaßen den Blick
abgelenkt hat von allem Seelischen und Geistigen und ihn nur
hingerichtet hat auf den rein ökonomischen Prozeß.
Dadurch stellte sich all das Widerspruchsvolle ein, das in der
modernen proletarischen Bewegung liegt. Der moderne Proletarier
glaubt, daß aus der Wirtschaft, aus dem Wirtschaftsleben selbst
sich alles entwickeln müsse, was ihm zuletzt sein volles Menschenrecht
geben werde. Um dies volle Menschenrecht kämpft er. Allein innerhalb
seines Strebens tritt etwas auf, was eben niemals aus dem
wirtschaftlichen Leben allein als eine Folge auftreten kann. Das ist
eine bedeutende, eine eindringliche Sprache redende Tatsache,
daß geradezu im Mittelpunkte der verschiedenen Gestaltungen der
sozialen Frage aus den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen
Menschheit heraus etwas liegt, von dem man glaubt, daß es aus
dem Wirtschaftsleben selbst hervorgehe, das aber niemals aus diesem
allein entspringen konnte, das vielmehr in der geraden
Fortentwickelungslinie liegt, die über das alte Sklavenwesen durch das
Leibeigenenwesen der Feudalzeit zu dem modernen Arbeitsproletariat
heraufführt. Wie auch für das moderne Leben die Warenzirkulation, die
Geldzirkulation, das Kapitalwesen, der Besitz, Wesen von Grund und
Boden und so weiter sich gestaltet haben, innerhalb dieses
modernen Lebens hat sich etwas herausgebildet, das nicht deutlich
ausgesprochen wird, auch von dem modernen Proletarier nicht
bewußt empfunden wird, das aber der eigentliche Grundimpuis
seines sozialen Wollens ist. Es ist dieses: Die moderne
kapitalistische Wirtschaftsordnung kennt im Grunde genommen nur Ware
innerhalb ihres Gebietes. Sie kennt Wertbildung dieser Waren innerhalb
des wirtschaftlichen Organismus. Und es ist geworden innerhalb des
kapitalistischen Organismus der neueren Zeit etwas zu einer
Ware, von dem heute der Proletarier empfindet: es darf
nicht Ware sein.
Wenn man einmal einsehen wird, wie stark als einer der Grundimpulse
der ganzen modernen proletarischen sozialen Bewegung in den
Instinkten, in den unterbewußten Empfindungen des modernen
Proletariers ein Abscheu davor lebt, daß er seine Arbeitskraft
dem Arbeitgeber ebenso verkaufen muß, wie man auf dem Markte
Waren verkauft, der Abscheu davor, daß auf dem
Arbeitskräftemarkt nach Angebot und Nachfrage seine Arbeitskraft ihre
Rolle spielt, wie die Ware auf dem Markte unter Angebot und Nachfrage,
wenn man darauf kommen wird, welche Bedeutung dieser Abscheu vor der
Ware Arbeitskraft in der modernen sozialen Bewegung hat, wenn man ganz
unbefangen darauf blicken wird, daß, was da wirkt, auch nicht
eindringlich und radikal genug von den sozialistischen Theorien
ausgesprochen wird, dann wir man zu dem ersten Impuls, dem
ideologisch empfundenen Geistesleben, den zweiten gefunden haben, von
dem gesagt werden muß, daß er heute die soziale Frage zu
einer drängenden, ja brennenden macht.
Im Altertum gab es Sklaven. Der ganze Mensch wurde wie eine
Ware verkauft. Etwas weniger vom Menschen, aber doch eben ein Teil des
Menschenwesens selber wurde in den Wirtschaftsprozeß
eingegliedert durch die Leibeigenschaft. Der Kapitalismus ist die
Macht geworden, die noch einem Rest des Menschenwesens den Charakter
der Ware aufdrückt: der Arbeitskraft. Ich will hier nicht sagen,
daß diese Tatsache nicht bemerkt worden sei. Im Gegenteil, sie
wird im sozialen Leben der Gegenwart als eine fundamentale Tatsache
empfunden. Sie wird als etwas gefühlt, was gewichtig in der modernen
sozialen Bewegung wirkt. Aber man lenkt, indem man sie betrachtet, den
Blick lediglich auf das Wirtschaftsleben. Man macht die Frage über den
Warencharakter zu einer bloßen Wirtschaftsfrage. Man glaubt,
daß aus dem Wirtschaftsleben heraus selbst die Kräfte kommen
müssen, welche einen Zustand herbeiführen, durch den der Proletarier
nicht mehr die Eingliederung seiner Arbeitskraft in den sozialen
Organismus als seiner unwürdig empfindet. Man sieht, wie die moderne
Wirtschaftsform in der neueren geschichtlichen Entwickelung der
Menschheit heraufgezogen ist. Man sieht auch, daß diese
Wirtschaftsform der menschlichen Arbeitskraft den Charakter der Ware
aufgeprägt hat. Aber man sieht nicht, wie es im Wirtschaftsleben
selbst liegt, daß alles ihm Eingegliederte zur Ware werden
muß. In der Erzeugung und in dem zweckmäßigen
Verbrauch von Waren besteht das Wirtschaftsleben. Man kann nicht die
menschliche Arbeitskraft des Warencharakters entkleiden, wenn man
nicht die Möglichkeit findet, sie aus dem Wirtschaftsprozeß
herauszureißen. Nicht darauf kann das Bestreben gerichtet sein,
den Wirtschaftsprozeß so umzugestalten, daß in ihm
die menschliche Arbeitskraft zu ihrem Rechte kommt, sondern darauf:
Wie bringt man diese Arbeitskraft aus dem Wirtschaftsprozeß
heraus, um sie von sozialen Kräften bestimmen zu lassen, die ihr den
Warencharakter nehmen? Der Proletarier ersehnt einen Zustand des
Wirtschaftslebens, in dem seine Arbeitskraft ihre angemessene Stellung
einnimmt. Er ersehnt ihn deshalb, weil er nicht sieht, daß der
Warencharakter seiner Arbeitskraft wesentlich von seinem völligen
Eingespanntsein in den Wirtschaftsprozeß herrührt. Dadurch,
daß er seine Arbeitskraft diesem Prozeß überliefern
muß, geht er mit seinem ganzen Menschen in demselben auf. Der
Wirtschaftsprozeß strebt so lange durch seinen eigenen Charakter
danach, die Arbeitskraft in der zweckmäßigsten Art zu
verbrauchen, wie in ihm Waren verbraucht werden, so lange man die
Regelung der Arbeitskraft in ihm liegen läßt. Wie hypnotisiert
durch die Macht des modernen Wirtschaftslebens, richtet man den Blick
allein auf das, was in diesem wirken kann. Man wird durch diese
Blickrichtung nie finden, wie Arbeitskraft nicht mehr Ware zu sein
braucht. Denn eine andere Wirtschaftsform wird diese Arbeitskraft nur
in einer andern Art zur Ware machen. Die Arbeitsfrage kann man nicht
in ihrer wahren Gestalt zu einem Teile der sozialen Frage machen,
solange man nicht sieht, daß im Wirtschaftsleben Warenerzeugung,
Warenaustausch und Warenkonsumtion nach Gesetzen vor sich gehen, die
durch Interessen bestimmt werden, deren Machtbereich nicht über die
menschliche Arbeitskraft ausgedehnt werden soll.
Das neuzeitliche Denken hat nicht trennen gelernt die ganz
verschiedenen Arten, wie sich auf der einen Seite dasjenige in das
Wirtschaftsleben eingliedert, was als Arbeitskraft an den Menschen
gebunden ist, und auf der andern Seite dasjenige, was, seinem
Ursprunge nach, unverbunden mit dem Menschen auf den Wegen sich
bewegt, welche die Ware nehmen muß von ihrer Erzeugung bis zu
ihrem Verbrauch. Wird sich durch eine in dieser Richtung gehende
gesunde Denkungsart die wahre Gestalt der Arbeitsfrage einerseits
zeigen, so wird anderseits sich durch diese Denkart auch erweisen,
welche Stellung das Wirtschaftsleben im gesunden sozialen Organismus
einnehmen soll.
Man sieht schon hieraus, daß die «soziale Frage» sich in drei
besondere Fragen gliedert. Durch die erste wird auf die gesunde
Gestalt des Geisteslebens im sozialen Organismus zu deuten sein; durch
die zweite wird das Arbeitsverhältnis in seiner rechten Eingliederung
in das Gemeinschaftsleben zu betrachten sein; und als drittes wird
sich ergeben können, wie das Wirtschaftsleben in diesem Leben wirken
soll.
Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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