Die Kernpunkte der sozialen Frage
Die Kernpunkte der sozialen Frage: Kapitel V. Anhang: An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!
V. Anhang: An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!
Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten glaubte das deutsche Volk seinen
vor einem halben Jahrhundert aufgeführten Reichsbau. Im August 1914
meinte es, die kriegerische Katastrophe, an deren Beginn es sich
gestellt sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann
es nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung muß nach
solchem Erlebnis eintreten. Denn dieses Erlebnis hat die Meinung eines
halben Jahrhunderts, hat insbesondere die herrschenden Gedanken der
Kriegsjahre als einen tragisch wirkenden Irrtum erwiesen. Wo liegen
die Gründe dieses verhängnisvollen Irrtums? Diese Frage muß
Selbstbesinnung in die Seelen der Glieder des deutschen Volkes
treiben. Ob jetzt die Kraft zu solcher Selbstbesinnung vorhanden ist,
davon hängt die Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ab. Dessen
Zukunft hängt davon ab, ob es sich die Frage in ernster Weise zu
stellen vermag: wie bin ich in meinen Irrtum verfallen? Stellt es sich
diese Frage heute, dann wird ihm die Erkenntnis aufleuchten, daß
es vor einem halben Jahrhundert ein Reich gegründet, jedoch
unterlassen hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen
Volkheit entspringende Aufgabe zu stellen. - Das Reich war gegründet.
In den ersten Zeiten seines Bestandes war man bemüht, seine inneren
Lebensmöglichkeiten nach den Anforderungen, die sich durch alte
Traditionen und neue Bedürfnisse von Jahr zu Jahr zeigten, in Ordnung
zu bringen. Später ging man dazu über, die in materiellen Kräften
begründete äußere Machtstellung zu festigen und zu
vergrößern. Damit verband man Maßnahmen in bezug auf die
von der neuen Zeit geborenen sozialen Anforderungen, die zwar manchem
Rechnung trugen, was der Tag als Notwendigkeit erwies, denen aber doch
ein großes Ziel fehlte, wie es sich hätte ergeben sollen aus
einer Erkenntnis der Entwickelungskräfte, denen die neuere Menschheit
sich zuwenden muß. So war das Reich in den Weltzusammenhang
hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende
Zielsetzung. Der Verlauf der Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger
Weise geoffenbart. Bis zum Ausbruche derselben hatte die
außerdeutsche Welt in dem Verhalten des Reiches nichts sehen
können, was ihr die Meinung hätte erwecken können: die Verwalter
dieses Reiches erfüllen eine weltgeschichtliche Sendung, die nicht
hinweggefegt werden darf. Das Nichtfinden einer solchen Sendung durch
diese Verwalter hat notwendig die Meinung in der außerdeutschen
Welt erzeugt, die für den wirklich Einsichtigen der tiefere Grund des
deutschen Niederbruches ist.
Unermeßlich vieles hängt nun für das deutsche Volk an seiner
unbefangenen Beurteilung dieser Sachlage. Im Unglück müßte die
Einsicht auftauchen, welche sich in den letzten fünfzig Jahren nicht
hat zeigen wollen. An die Stelle des kleinen Denkens über die
allernächsten Forderungen der Gegenwart müßte jetzt ein
großer Zug der Lebensanschauung treten, welcher die
Entwickelungskräfte der neueren Menschheit mit starken Gedanken zu
erkennen strebt, und der mit mutigem Wollen sich ihnen widmet.
Aufhören müßte der kleinliche Drang, der alle diejenigen als
unpraktische Idealisten unschädlich macht, die ihren Blick auf diese
Entwickelungskräfte richten. Aufhören müßte die Anmaßung
und der Hochmut derer, die sich als Praktiker dünken, und die doch
durch ihren als Praxis maskierten engen Sinn das Unglück herbeigeführt
haben. Berücksichtigt müßte werden, was die als Idealisten
verschrieenen, aber in Wahrheit wirklichen Praktiker über die
Entwickelungsbedürfnisse der neuen Zeit zu sagen haben.
Die «Praktiker» aller Richtungen sahen zwar das Heraufkommen ganz
neuer Menschheitsforderungen seit langer Zeit. Aber sie wollten diesen
Forderungen innerhalb des Rahmens altüberlieferter Denkgewohnheiten
und Einrichtungen gerecht werden. Das Wirtschaftsleben der neueren
Zeit hat die Forderungen hervorgebracht. Ihre Befriedigung auf dem
Wege privater Initiative schien unmöglich. Überleitung des privaten
Arbeitens in gesellschaftliches drängte sich der einen Menschenklasse
auf einzelnen Gebieten als notwendig auf; und sie wurde
verwirklicht da, wo es dieser Menschenklasse nach ihrer
Lebensanschauung als ersprießlich erschien. Radikale Überführung
aller Einzelarbeit in gesellschaftliche wurde das Ziel einer
anderen Klasse, die durch die Entwickelung des neuen Wirtschaftslebens
an der Erhaltung der überkommenen Privatziele kein Interesse hat.
Allen Bestrebungen, die bisher in Anbetracht der neueren
Menschheitsforderungen hervorgetreten sind, liegt ein Gemeinsames
zugrunde. Sie drängen nach Vergesellschaftung des Privaten und rechnen
dabei auf die Übernahme des letzteren durch die Gemeinschaften (Staat,
Kommune>, die aus Voraussetzungen stammen, welche nichts mit den
neuen Forderungen zu tun haben. Oder auch, man rechnet mit neueren
Gemeinschaften (zum Beispiel Genossenschaften), die nicht voll im
Sinne dieser neuen Forderungen entstanden sind, sondern die aus
überlieferten Denkgewohnheiten heraus den alten Formen nachgebildet
sind.
Die Wahrheit ist, daß keine im Sinne dieser alten
Denkgewohnheiten gebildete Gemeinschaft aufnehmen kann, was man von
ihr aufgenommen wissen will. Die Kräfte der Zeit drängen nach der
Erkenntnis einer sozialen Struktur der Menschheit, die ganz anderes
ins Auge faßt, als was heute gemeiniglich ins Auge gefaßt
wird. Die sozialen Gemeinschaften haben sich bisher zum größten
Teil aus den sozialen Instinkten der Menschheit gebildet. Ihre Kräfte
mit vollem Bewußtsein zu durchdringen, wird Aufgabe der Zeit.
Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der
natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die
Lunge besorgen muß, so ist dem sozialen Organismus die
Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des
anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner
Selbständigkeit mit den anderen zusammenwirken muß.
Das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als selbständiges
Glied des sozialen Organismus nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen
sich ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein Gefüge
bringt, daß es sich von einem anderen Gliede des sozialen
Organismus, dem politisch wirksamen, aufsaugen läßt. Dieses
politisch wirksame Glied muß vielmehr in voller Selbständigkeit
neben dem wirtschaftlichen bestehen, wie im natürlichen Organismus das
Atmungssystem neben dem Kopfsystem. Ihr heilsames Zusammenwirken kann
nicht dadurch erreicht werden, daß beide Glieder von einem
einzigen Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan aus versorgt werden,
sondern daß jedes seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung hat,
die lebendig zusammenwirken. Denn das politische System muß die
Wirtschaft vernichten, wenn es sie übernehmen will; und das
wirtschaftliche System verliert seine Lebenskräfte, wenn es politisch
werden will.
Zu diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß in voller
Selbständigkeit und aus seinen eigenen Lebensmöglichkeiten heraus
gebildet ein drittes treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch
der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von
dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und Verwaltung
ausgestatteten dritten Gliede überliefert werden muß, der aber
nicht von ihnen verwaltet und anders beeinflußt werden kann, als
die nebeneinander bestehenden Gliedorganismen eines natürlichen
Gesamtorganismus sich gegenseitig beeinflussen.
Man kann schon heute das hier über die Notwendigkeiten des sozialen
Organismus Gesagte in allen Einzelheiten vollwissenschaftlich
begründen und ausbauen. In diesen Ausführungen können nur die
Richtlinien hingestellt werden, für alle diejenigen, welche diesen
Notwendigkeiten nachgehen wollen.
Die deutsche Reichsgründung fiel in eine Zeit, in der diese
Notwendigkeiten an die neuere Menschheit herantraten. Seine Verwaltung
hat nicht verstanden, dem Reich eine Aufgabe zu stellen durch den
Blick auf diese Notwendigkeiten. Dieser Blick hätte ihm nicht nur das
rechte innere Gefüge gegeben; er hätte seiner äußeren Politik
auch eine berechtigte Richtung verliehen. Mit einer solchen Politik
hätte das deutsche Volk mit den außerdeutschen Völkern
zusammenleben können.
Nun müßte aus dem Unglück die Einsicht reifen. Man müßte
den Willen zum möglichen sozialen Organismus entwickeln. Nicht ein
Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der Außenwelt
gegenübertreten, sondern ein geistiges, politisches und
wirtschaftliches System in ihren Vertretern müßten als
selbständige Delegationen mit denen verhandeln wollen, von denen
das Deutschland niedergeworfen worden ist, das sich durch die
Verwirrung der drei Systeme zu einem unmöglichen sozialen Gebilde
gemacht hat.
Man hört im Geiste die Praktiker, welche über die Kompliziertheit des
hier Gesagten sich ergehen, die unbequem finden, über das
Zusammenwirken dreier Körperschaften auch nur zu denken, weil sie
nichts von den wirklichen Forderungen des Lebens wissen mögen, sondern
alles nach den bequemen Forderungen ihres Denkens gestalten
wollen. Ihnen muß klar werden: entweder man wird sich bequemen,
mit seinem Denken den Anforderungen der Wirklichkeit sich zu fügen,
oder man wird vom Unglücke nichts gelernt haben, sondern das
herbeigeführte durch weiter entstehendes ins Unbegrenzte vermehren.
Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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