Die Kernpunkte der sozialen Frage
Die Kernpunkte der sozialen Frage: Kapitel IV. Internationale Beziehungen der sozialen Organismen
IV. Internationale Beziehungen der sozialen Organismen
Die innere Gliederung des gesunden sozialen Organismus macht auch die
internationalen Beziehungen dreigliedrig. Jedes der drei Gebiete wird
sein selbständiges Verhältnis zu den entsprechenden Gebieten der
andern sozialen Organismen haben. Wirtschaftliche Beziehungen des
einen Landesgebietes werden zu ebensolchen eines andern entstehen,
ohne daß die Beziehungen der Rechtsstaaten darauf einen
unmittelbaren Einfluß haben. Und umgekehrt, die Verhältnisse der
Rechtsstaaten werden sich innerhalb gewisser Grenzen in völliger
Unabhängigkeit von den wirtschaftlichen Beziehungen ausbilden. Durch
diese Unabhängigkeit im Entstehen der Beziehungen werden diese
in Konfliktfällen ausgleichend aufeinander wirken können.
Interessenzusammenhänge der einzelnen sozialen Organismen werden sich
ergeben, welche die Landesgrenzen als unbeträchtlich für das
Zusammenleben der Menschen erscheinen lassen werden. - Die geistigen
Organisationen der einzelnen Landesgebiete werden zueinander in
Beziehungen treten können, die nur aus dem gemeinsamen
Geistesleben der Menschheit selbst sich ergeben. Das vom Staate
unabhängige, auf sich gestellte Geistesleben wird Verhältnisse
ausbilden, die dann unmöglich sind, wenn die Anerkennung der geistigen
Leistungen nicht von der Verwaltung eines geistigen Organismus,
sondern vom Rechtsstaate abhängt. In dieser Beziehung herrscht auch
kein Unterschied zwischen den Leistungen der ganz offenbar
internationalen Wissenschaft und denjenigen anderer geistiger Gebiete.
Ein geistiges Gebiet stellt ja auch die einem Volke eigene Sprache dar
und alles, was sich in unmittelbarem Zusammenhange mit der Sprache
ergibt. Das Volksbewußtsein selbst gehört in dieses Gebiet. Die
Menschen eines Sprachgebietes kommen mit denen eines andern nicht in
unnatürliche Konflikte, wenn sie sich nicht zur Geltendmachung ihrer
Volkskultur der staatlichen Organisation oder der wirtschaftlichen
Gewalt bedienen wollen. Hat eine Volkskultur gegenüber einer andern
eine größere Ausbreitungsfähigkeit und geistige Fruchtbarkeit,
so wird die Ausbreitung eine gerechtfertigte sein, und sie wird sich
friedlich vollziehen, wenn sie nur durch die Einrichtungen zustande
kommt, die von den geistigen Organismen abhängig sind.
Gegenwärtig wird der Dreigliederung des sozialen Organismus noch der
schärfste Widerstand von seiten derjenigen Menschheitszusammenhänge
erwachsen, die aus den Gemeinsamkeiten der Sprachen und Volkskulturen
sich entwickelt haben. Dieser Widerstand wird sich brechen müssen an
dem Ziel, das sich aus den Lebensnotwendigkeiten der neueren Zeit die
Menschheit als Ganzes immer bewußter wird setzen müssen. Diese
Menschheit wird empfinden, daß ein jeder ihrer Teile zu einem
wahrhaft menschenwürdigen Dasein nur kommen kann, wenn er sich
lebenskräftig mit allen anderen Teilen verbindet. Volkszusammenhänge
sind neben anderen naturgemäßen Impulsen die Ursachen, durch die
sich Rechts- und Wirtschaftsgemeinsamkeiten geschichtlich gebildet
haben. Aber die Kräfte, durch welche die Volkstümer wachsen, müssen
sich in einer Wechselwirkung entfalten, die nicht gehemmt ist durch
die Beziehungen, welche die Staatskörper und
Wirtschaftsgenossenschaften zueinander entwickeln. Das wird erreicht,
wenn die Volksgemeinschaften die innere Dreigliederung ihrer sozialen
Organismen so durchführen, daß jedes der Glieder seine
selbständigen Beziehungen zu anderen sozialen Organismen entfalten
kann.
Dadurch bilden sich vielgestaltige Zusammenhänge zwischen
Völkern, Staaten und Wirtschaftskörpern, die jeden Teil der Menschheit
mit anderen Teilen so verbinden, daß der eine in seinen eigenen
Interessen das Leben der andern mitempfindet. Ein Völkerbund
entsteht aus wirklichkeitsgemäßen Grundimpulsen heraus.
Er wird nicht aus einseitigen Rechtsanschauungen «eingesetzt» werden
müssen.
Von besonderer Bedeutung muß einem wirklichkeitsgemäßen
Denken erscheinen, daß die hier dargestellten Ziele eines
sozialen Organismus zwar ihre Geltung haben für die gesamte
Menschheit, daß sie aber von jedem einzelnen sozialen
Organismus verwirklicht werden können, gleichgültig, wie sich andere
Länder zu dieser Verwirklichung vorläufig verhalten. Gliedert sich ein
sozialer Organismus in die naturgemäßen drei Gebiete, so können
die Vertretungen derselben als einheitliche Körperschaft mit anderen
in internationale Beziehungen treten, auch wenn diese anderen für sich
die Gliederung noch nicht vorgenommen haben. Wer mit dieser Gliederung
vorangeht, der wird für ein gemeinschaftliches Menschheitsziel wirken.
Was getan werden soll, wird sich durchsetzen viel mehr durch die
Kraft, welche ein in wirklichen Menschheitsimpulsen wurzelndes Ziel
im Leben erweist, als durch eine Feststellung auf Kongressen
und aus Verabredungen heraus. Auf einer Wirklichkeitsgrundlage ist
dieses Ziel gedacht; im wirklichen Leben, an jedem Punkte der
Menschengemeinschaften läßt es sich erstreben.
Wer in den letzten Jahrzehnten die Vorgänge im Leben der Völker und
Staaten von einem Gesichtspunkte aus verfolgte, wie derjenige dieser
Darstellung ist, der konnte wahrnehmen, wie die geschichtlich
gewordenen Staatengebilde mit ihrer Zusammenfassung von Geistes-,
Rechts- und Wirtschaftsleben sich in internationale Beziehungen
brachten, die zu einer Katastrophe drängten. Ebenso aber konnte ein
solcher auch sehen, wie die Gegenkräfte aus unbewußten
Menschheitsimpulsen heraus zur Dreigliederung wiesen. Diese wird das
Heilmittel gegen die Erschütterungen sein, welche der
Einheitsfanatismus bewirkt hat. Aber das Leben der «maßgebenden
Menschheitsleiter» war nicht darauf eingestellt, zu sehen, was sich
seit langem vorbereitete. Im Frühling und Frühsommer 1914 konnte man
noch «Staatsmänner» davon sprechen hören, daß der Friede Europas
dank der Bemühungen der Regierungen nach menschlicher Voraussicht
gesichert sei. Diese «Staatsmänner» hatten eben keine Ahnung davon,
daß, was sie taten und redeten, mit dem Gang der wirklichen
Ereignisse nichts mehr zu tun hatte. Aber sie galten als die
«Praktiker». Und als «Schwärmer» galt damals wohl, wer entgegen den
Anschauungen der «Staatsmänner» Anschauungen durch die letzten
Jahrzehnte hindurch sich ausbildete, wie sie der Schreiber dieser
Ausführungen monatelang vor der Kriegskatastrophe zuletzt in Wien vor
einem kleinen Zuhörerkreise aussprach (vor einem größeren wäre
er wohl verlacht worden). Er sagte über das, was drohte, ungefähr das
Folgende: Die in der Gegenwart herrschenden Lebenstendenzen werden
immer stärker werden, bis sie sich zuletzt in sich selber vernichten
werden. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig
durchblickt, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen
Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge,
die auftritt für denjenigen, der das Dasein durchschaut. Das ist das
Furchtbare, was so bedrückend wirkt und was selbst dann, wenn man
allen Enthusiasmus sonst für das Erkennen der Lebensvorgänge durch die
Mittel einer geisterkennenden Wissenschaft unterdrücken könnte, einen
dazu bringen müßte, von dem Heilmittel so zu sprechen, daß
man Worte darüber der Welt gleichsam entgegenschreien möchte.
Wenn der soziale Organismus sich so weiter entwickelt, wie er es
bisher getan hat, dann entstehen Schäden der Kultur, die für diesen
Organismus dasselbe sind, was Krebsbildungen im menschlichen
natürlichen Organismus sind. Aber die Lebensanschauung herrschender
Kreise bildete auf diesem Untergrunde des Lebens, den sie nicht sehen
konnte und wollte, Impulse aus, die zu Maßnahmen führten, die
hätten unterbleiben sollen und zu keinen solchen, die geeignet waren,
Vertrauen der verschiedenen Menschengemeinschaften zueinander zu
begründen. - Wer glaubt, daß unter den unmittelbaren Ursachen
der gegenwärtigen Weltkatastrophe die sozialen Lebensnotwendigkeiten
keine Rolle gespielt haben, der sollte sich überlegen, was aus den
politischen Impulsen der in den Krieg drängenden Staaten dann geworden
wäre, wenn die «Staatsmänner» in den Inhalt ihres Wollens diese
sozialen Notwendigkeiten aufgenommen hätten. Und was unterblieben
wäre, wenn man durch solchen Willensinhalt etwas anderes zu tun gehabt
hätte als die Zündstoffe zu schaffen, die dann die Explosion bringen
mußten. Wenn man in den letzten Jahrzehnten das schleichende
Krebs-Erkranken in den Staatenbeziehungen als Folge des sozialen
Lebens der führenden Teile der Menschheit ins Auge faßte, so
konnte man verstehen, wie eine in allgemeinen menschlichen
Geistesinteressen stehende Persönlichkeit angesichts des Ausdruckes,
welchen das soziale Wollen in diesen führenden Teilen annahm, schon
1888 sagen mußte: «Das Ziel ist: die gesamte Menschheit in ihrer
letzten Gestaltung zu einem Reiche von Brüdern zu machen, die, nur den
edelsten Beweggründen nachgehend, gemeinsam sich weiter bewegen. Wer
die Geschichte nur auf der Karte von Europa verfolgt, könnte glauben,
ein gegenseitiger allgemeiner Mord müsse unsere nächste Zukunft
erfüllen», aber nur der Gedanke, daß ein «Weg zu den wahren
Gütern des menschlichen Lebens» gefunden werden müsse, kann den Sinn
für Menschenwürde aufrechterhalten. Und dieser Gedanke ist ein
solcher, «der mit unsern ungeheuern kriegerischen Rüstungen und denen
unserer Nachbarn nicht im Einklange zu stehen scheint, an den ich aber
glaube, und der uns erleuchten muß, wenn es nicht überhaupt
besser sein sollte, das menschliche Leben durch einen
Gemeinbeschluß abzuschaffen und einen offiziellen Tag des
Selbstmordes anzuberaumen.» (So Herman Grimm 1888 auf S.46 seines
Buches: «Fünfzehn Essays. Vierte Folge. Aus den letzten fünf Jahren».)
Was waren die «kriegerischen Rüstungen» anderes als Maßnahmen
solcher Menschen, welche Staatsgebilde in einer Einheitsform
aufrechterhalten wollten, trotzdem diese Form durch die Entwickelung
der neuen Zeit dem Wesen eines gesunden Zusammenlebens der Völker
widersprechend geworden ist? Ein solches gesundes Zusammenleben aber
könnte bewirkt werden durch denjenigen sozialen Organismus, welcher
aus den Lebensnotwendigkeiten der neueren Zeit heraus gestaltet ist.
Das österreichisch-ungarische Staatsgebilde drängte seit mehr als
einem halben Jahrhundert nach einer Neugestaltung. Sein geistiges
Leben, das in einer Vielheit von Völkergemeinschaften wurzelte,
verlangte nach einer Form, für deren Entwickelung der aus veralteten
Impulsen gebildete Einheitsstaat ein Hemmnis war. Der
serbisch-österreichische Konflikt, der am Ausgangspunkte der
Weltkriegskatastrophe steht, ist das vollgültigste Zeugnis dafür,
daß die politischen Grenzen dieses Einheitsstaates von einem
gewissen Zeitpunkte an keine Kulturgrenzen sein durften für das
Völkerleben. Wäre eine Möglichkeit vorhanden gewesen, daß das
auf sich selbst gestellte, von dem politischen Staate und seinen
Grenzen unabhängige Geistesleben sich über diese Grenzen hinüber in
einer Art hätte entwickeln können, die mit den Zielen der Völker im
Einklange gewesen wäre, dann hätte der im Geistesleben verwurzelte
Konflikt sich nicht in einer politischen Katastrophe entladen müssen.
Eine dahin zielende Entwickelung erschien allen, die in
Österreich-Ungarn sich einbildeten, «staatsmännisch» zu denken, als
eine volle Unmöglichkeit, wohl gar als der reine Unsinn. Deren
Denkgewohnheiten ließen nichts anderes zu als die Vorstellung,
daß die Staatsgrenzen mit den Grenzen der nationalen
Gemeinsamkeiten zusammenfallen. Verstehen, daß über die
Staatsgrenzen hinweg sich geistige Organisationen bilden können, die
das Schulwesen, die andere Zweige des Geisteslebens umfassen, das war
diesen Denkgewohnheiten zuwider. Und dennoch: dieses «Undenkbare» ist
die Forderung der neueren Zeit für das internationale Leben. Der
praktisch Denkende darf nicht an dem scheinbar Unmöglichen hängen
bleiben und glauben, daß Einrichtungen im Sinne dieser Forderung
auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen; sondern er muß
sein Bestreben gerade darauf richten, diese Schwierigkeiten zu
überwinden. Statt das «staatsmännische» Denken in eine Richtung zu
bringen, welche den neuzeitlichen Forderungen entsprochen hätte, war
man bestrebt, Einrichtungen zu bilden, welche den Einheitsstaat gegen
diese Forderungen aufrechterhalten sollten. Dieser Staat wurde dadurch
immer mehr zu einem unmöglichen Gebilde. Und im zweiten Jahrzehnt des
zwanzigsten Jahrhunderts stand er davor, für seine Selbsterhaltung in
der alten Form nichts mehr tun zu können und die Auflösung zu
erwarten, oder das innerlich Unmögliche äußerlich durch die
Gewalt aufrechtzuerhalten, die sich auf die Maßnahmen des
Krieges begründen ließ. Es gab 1914 für die
österreichisch-ungarischen «Staatsmänner» nichts anderes als dieses:
Entweder sie mußten ihre Intentionen in die Richtung der
Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus lenken und dies der
Welt als ihren Willen, der ein neues Vertrauen hätte erwecken können,
mitteilen, oder sie mußten einen Krieg entfesseln zur
Aufrechterhaltung des Alten. Nur wer aus diesen Untergründen heraus
beurteilt, was 1914 geschehen ist, wird über die Schuldfrage gerecht
denken können. Durch die Teilnahme vieler Völkerschaften an dem
österreichisch-ungarischen Staatsgebilde wäre diesem die
weltgeschichtliche Aufgabe gestellt gewesen, den gesunden sozialen
Organismus vor allem zu entwickeln. Man hat diese Aufgabe nicht
erkannt. Diese Sünde wider den Geist des weltgeschichtlichen Werdens
hat Österreich-Ungarn in den Krieg getrieben.
Und das Deutsche Reich? Es ist gegründet worden in einer Zeit, in der
die neuzeitlichen Forderungen nach dem gesunden sozialen Organismus
ihrer Verwirklichung zustrebten. Diese Verwirklichung hätte dem Reiche
seine weltgeschichtliche Daseinsberechtigung geben können. Die
sozialen Impulse schlossen sich in diesem mitteleuropäischen Reiche
wie in dem Gebiete zusammen, das für ihr Ausleben weltgeschichtlich
vorbestimmt erscheinen konnte. Das soziale Denken, es trat an vielen
Orten auf; im Deutschen Reiche nahm es eine besondere Gestalt an, aus
der zu ersehen war, wohin es drängte. Das hätte zu einem
Arbeits-Inhalt für dieses Reich führen müssen. Das hätte seinen
Verwaltern die Aufgaben stellen müssen. Es hätte die Berechtigung
dieses Reiches im modernen Völkerzusammenleben erweisen können, wenn
man dem neugegründeten Reiche einen Arbeits-Inhalt gegeben hätte, der
von den Kräften der Geschichte selbst gefordert gewesen wäre. Statt
mit dieser Aufgabe sich ins Große zu wenden, blieb man bei
«sozialen Reformen» stehen, die aus den Forderungen des Tages sich
ergaben, und war froh, wenn man im Auslande die Mustergültigkeit
dieser Reformen bewunderte. Man kam daneben immer mehr dazu,
die äußere Welt-Machtstellung des Reiches auf Formen gründen zu
wollen, die aus den ausgelebtesten Arten des Vorstellens über die
Macht und den Glanz der Staaten heraus gebildet waren. Man gestaltete
ein Reich, das ebenso wie das österreichisch-ungarische Staatsgebilde
dem widersprach, was in den Kräften des Völkerlebens der neueren Zeit
sich geschichtlich ankündigte. Von diesen Kräften sahen die Verwalter
dieses Reiches nichts. Das Staatsgebilde, das sie im
Auge hatten, konnte nur auf der Kraft des Militärischen ruhen.
Dasjenige, das von der neueren Geschichte gefordert ist, hätte auf der
Verwirklichung der Impulse für den gesunden sozialen Organismus ruhen
müssen. Mit dieser Verwirklichung hätte man sich in die
Gemeinsamkeit des modernen Völkerlebens anders hineingestellt, als man
1914 in ihr stand. Durch ihr Nicht-Verstehen der neuzeitlichen
Forderungen des Völkerlebens war 1914 die deutsche Politik an dem
Nullpunkte ihrer Betätigungsmöglichkeit angelangt. Sie hatte in den
letzten Jahrzehnten nichts bemerkt von dem, was hätte geschehen
sollen; sie hatte sich beschäftigt mit allem Möglichen, was in den
neuzeitlichen Entwickelungskräften nicht lag und was durch seine
Inhaltlosigkeit «wie ein Kartengebäude zusammenbrechen»
mußte.
Von dem, was sich in dieser Art als das tragische Schicksal des
Deutschen Reiches aus dem geschichtlichen Verlauf heraus ergab, würde
ein getreues Spiegelbild entstehen, wenn man sich herbeiließe,
die Vorgänge innerhalb der maßgebenden Orte in Berlin Ende Juli
und 1.August 1914 zu prüfen und vor die Welt getreulich hinzustellen.
Von diesen Vorgängen weiß das In- und Ausland noch wenig. Wer
sie kennt, der weiß, wie die deutsche Politik damals sich als
die eines Kartenhauses verhielt, und wie durch ihr Ankommen im
Nullpunkt ihrer Betätigung alle Entscheidung, ob und wie der Krieg zu
beginnen war, in das Urteil der militärischen Verwaltung übergehen
mußte. Wer maßgebend in dieser Verwaltung war,
konnte damals aus den militärischen Gesichtspunkten heraus nicht
anders handeln> als gehandelt worden ist> weil von
diesen Gesichtspunkten die Situation nur so gesehen werden
konnte, wie sie gesehen worden ist. Denn außer dem militärischen
Gebiet hatte man sich in eine Lage gebracht, die zu einem Handeln gar
nicht mehr führen konnte. Alles dieses würde sich als eine
weltgeschichtliche Tatsache ergeben, wenn jemand sich fände, der
darauf dringt, die Vorgänge in Berlin von Ende Juli und 1. August,
namentlich alles das, was sich am 1. August und 31. Juli zutrug, an
das Tageslicht zu bringen. Man gibt sich noch immer der Illusion hin,
durch die Einsicht in diese Vorgänge könne man doch nichts gewinnen,
wenn man die vorbereitenden Ereignisse aus der früheren Zeit kennt.
Will man über das reden, was man gegenwärtig die «Schuldfrage» nennt,
so darf man diese Einsicht nicht meiden. Gewiß kann man auch
durch anderes über die längst vorher vorhandenen Ursachen wissen; aber
diese Einsicht zeigt, wie diese Ursachen gewirkt haben.
Die Vorstellungen, die Deutschlands Führer damals in den Krieg
getrieben haben, sie wirkten dann verhängnisvoll fort. Sie wurden
Volksstimmung. Und sie verhinderten, daß während der letzten
Schreckensjahre die Einsicht bei den Machthabern sich durch die
bitteren Erfahrungen entwickelte, deren Nichtvorhandensein vorher in
die Tragik hineingetrieben hatte. Auf die mögliche Empfänglichkeit,
die sich aus diesen Erfahrungen heraus hätte ergeben können, wollte
der Schreiber dieser Ausführungen bauen, als er sich bemühte,
innerhalb Deutschlands und Österreichs in dem Zeitpunkte der
Kriegskatastrophe, der ihm der geeignete erschien, die Ideen von dem
gesunden sozialen Organismus und deren Konsequenzen für das politische
Verhalten nach außen an Persönlichkeiten heranzubringen, deren
Einfluß damals noch sich hätte für eine Geltendmachung dieser
Impulse betätigen können. Persönlichkeiten, welche es mit dem
Schicksal des deutschen Volkes ehrlich meinten, beteiligten sich
daran, einen solchen Zugang für diese Ideen zu gewinnen. Man sprach
vergebens. Die Denkgewohnheiten sträubten sich gegen solche Impulse,
welche dem nur militärisch orientierten Vorstellungsleben als
etwas erschienen, mit dem man nichts Rechtes anfangen könne. Höchstens
daß man fand, «Trennung der Kirche von der Schule», ja, das wäre
etwas. In solcher Bahn liefen eben die Gedanken der «staatsmännisch»
Denkenden schon seit lange, und in eine Richtung, die zu
Durchgreifendem führen sollte, ließen sie sich nicht bringen.
Wohlwollende sprachen davon, ich solle diese Gedanken
«veröffentlichen». Das war in jenem Zeitpunkte wohl der
unzweckmäßigste Rat. Was konnte es helfen, wenn auf dem Gebiete
der «Literatur» unter manchem andern auch von diesen Impulsen
gesprochen worden wäre; von einem Privatmanne. In der Natur dieser
Impulse liegt es doch, daß sie damals eine Bedeutung nur
hätten erlangen können durch den Ort, von dem aus sie gesprochen
worden wären. Die Völker Mitteleuropas hätten, wenn von der rechten
Stelle im Sinne dieser Impulse gesprochen worden wäre, gesehen,
daß es etwas geben kann, was ihrem mehr oder weniger
bewußten Drang entsprochen hätte. Und die Völker des russischen
Ostens hätten ganz gewiß in jenem Zeitpunkte Verständnis gehabt
für eine Ablösung des Zarismus durch solche Impulse. Daß sie
dies Verständnis gehabt hätten, kann nur der in Abrede stellen, der
keine Empfindung hat für die Empfänglichkeit des noch unverbrauchten
osteuropäischen Intellekts für gesunde soziale Ideen. Statt der
Kundgebung im Sinne solcher Ideen kam Brest-Litowsk.
Daß militärisches Denken die Katastrophe Mittel- und Osteuropas
nicht abwenden konnte, das vermochte sich nur eben dem - militärischen
Denken zu verbergen. Daß man an die Unabwendbarkeit der
Katastrophe nicht glauben wollte, das war die Ursache des Unglückes
des deutschen Volkes. Niemand wollte einsehen, wie man an den Stellen,
bei denen die Entscheidung lag, keinen Sinn hatte für
weltgeschichtliche Notwendigkeiten. Wer von diesen Notwendigkeiten
etwas wußte, dem war auch bekannt, wie die englischsprechenden
Völker Persönlichkeiten in ihrer Mitte hatten, welche durchschauten,
was in den Volkskräften Mittel- und Osteuropas sich regte. Man konnte
wissen, wie solche Persönlichkeiten der Überzeugung waren, in Mittel-
und Osteuropa bereite sich etwas vor, was in mächtigen sozialen
Umwälzungen sich ausleben muß. In solchen Umwälzungen, von denen
man glaubte, daß in den englisch sprechenden Gebieten für sie
weder schon geschichtlich eine Notwendigkeit, noch eine Möglichkeit
vorlag. Auf solches Denken richtete man die eigene Politik ein. In
Mittel- und Osteuropa sah man das alles nicht, sondern orientierte die
Politik so, daß sie «wie ein Kartengebäude zusammenstürzen»
mußte. Nur eine Politik, die auf die Einsicht gebaut gewesen
wäre, daß man in englisch sprechenden Gebieten großzügig,
und ganz selbstverständlich vom englischen Gesichtspunkte, mit
historischen Notwendigkeiten rechnete, hätte Grund und Boden gehabt.
Aber die Anregung zu solcher Politik wäre wohl besonders den
«Diplomaten» als etwas höchst Überflüssiges erschienen.
Statt eine solche Politik, die zu Gedeihlichem hätte auch für Mittel-
und Osteuropa vor dem Hereinbrechen der Weltkriegskatastrophe führen
können trotz der Großzügigkeit der englisch orientierten
Politik, zu treiben, fuhr man fort, in den eingefahrenen
Diplomatengeleisen sich weiter zu bewegen. Und während der
Kriegsschrecken lernte man aus bitteren Erfahrungen nicht, daß
es notwendig geworden war, der Aufgabe, welche von Amerika aus in
politischen Kundgebungen der Welt gestellt worden ist, von Europa aus
eine andere entgegenzustellen, die aus den Lebenskräften dieses Europa
heraus geboren war. Zwischen der Aufgabe, die aus amerikanischen
Gesichtspunkten Wilson gestellt hatte, und derjenigen, die in den
Donner der Kanonen als geistiger Impuls Europas hineingetönt hätte,
wäre eine Verständigung möglich gewesen. Jedes andere
Verständigungs-Gerede klang vor den geschichtlichen Notwendigkeiten
hohl. - Aber der Sinn für ein Aufgaben-Stellen aus der Erfassung der
im neueren Menschheitsleben liegenden Keime fehlte denen, die aus den
Verhältnissen heraus an die Verwaltung des Deutschen Reiches
herankamen. Und deshalb mußte der Herbst 1918 bringen, was er
gebracht hat. Der Zusammenbruch der militärischen Gewalt wurde
begleitet von einer geistigen Kapitulation. Statt wenigstens in dieser
Zeit sich aufzuraffen zu einer aus europäischem Wollen heraus geholten
Geltendmachung der geistigen Impulse des deutschen Volkes, kam die
bloße Unterwerfung unter die vierzehn Punkte Wilsons. Man
stellte Wilson vor ein Deutschland, das von sich aus nichts zu sagen
hatte. Wie auch Wilson über seine eigenen vierzehn Punkte denkt, er
kann doch Deutschland nur in dem helfen, was es selbst will. Er
mußte doch eine Kundgebung dieses Wollens erwarten. Zu
der Nichtigkeit der Politik vom Anfange des Krieges kam die andere vom
Oktober 1918; kam die furchtbare geistige Kapitulation, herbeigeführt
von einem Manne, auf den viele in deutschen Landen so etwas wie eine
letzte Hoffnung setzten.
Unglaube an die Einsicht aus geschichtlich wirkenden Kräften heraus;
Abneigung, hinzusehen auf solche aus Erkenntnis geistiger
Zusammenhänge sich ergebenden Impulse: das hat die Lage Mitteleuropas
hervorgebracht. Jetzt ist durch die Tatsachen, die sich aus der
Wirkung der Kriegskatastrophe ergeben haben, eine neue Lage
geschaffen. Sie kann gekennzeichnet werden durch die Idee der sozialen
Impulse der Menschheit, so wie diese Idee in dieser Schrift gemeint
ist. Diese sozialen Impulse sprechen eine Sprache, der gegenüber die
ganze zivilisierte Weit eine Aufgabe hat. Soll das Denken über
dasjenige, was geschehen muß, heute gegenüber der sozialen Frage
ebenso auf dem Nullpunkt angelangen, wie die mitteleuropäische Politik
für ihre Aufgaben 1914 angekommen war? Landesgebiete, die sich von den
damals in Frage kommenden Angelegenheiten abseits halten konnten:
gegenüber der sozialen Bewegung dürfen sie es nicht. Gegenüber dieser
Frage sollte es keine politischen Gegner, sollte es keine Neutralen
geben; sollte es nur geben eine gemeinschaftlich wirkende Menschheit,
welche geneigt ist, die Zeichen der Zeit zu vernehmen und ihr Handeln
nach diesen Zeichen einzurichten. Man wird aus den Intentionen, die in
dieser Schrift vorgetragen sind, heraus verstehen, warum der in dem
folgenden Kapitel wiedergegebene Aufruf an das deutsche Volk und an
die Kulturwelt von dem Schreiber dieser Ausführungen vor einiger Zeit
verfaßt worden, und von einem Komitee, das für ihn Verständnis
gefaßt hat, der Welt, vor allem den mitteleuropäischen Völkern
mitgeteilt worden ist. Gegenwärtig sind andere Verhältnisse als zu der
Zeit, in der sein Inhalt engeren Kreisen mitgeteilt worden ist.
Dazumal hätte ihn die öffentliche Mitteilung ganz notwendig zur
«Literatur» gemacht. Heute muß die Öffentlichkeit ihm dasjenige
bringen, was sie ihm vor kurzer Zeit noch nicht hätte bringen können:
verstehende Menschen, die in seinem Sinne wirken wollen, wenn er des
Verständnisses und der Verwirklichung wert ist. Denn was jetzt
entstehen soll, kann nur durch solche Menschen entstehen.
Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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