LEBEN UND TOD
Berlin, 27. Oktober 1910
Wenn man so manche heutige Äußerung betrachtet, die
getan wird über das Verhältnis des Menschen zu Leben
und Tod, kann man an einen Ausspruch erinnert werden, den
Shakespeare den düsteren Hamlet tun läßt:
Der große Cäsar, tot und Lehm geworden,
Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.
O daß die Erde, der die Welt gebebt,
Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt.
Einen solchen Ausspruch kann mancher tun, der im Sinne der
Auseinandersetzungen, die vor acht Tagen gemacht wurden, unter
der suggestiven Wirkung mancher Zeitvorstellungen steht, die
auf dem Boden der Naturwissenschaft gewonnen werden, und der
sich bewogen fühlte, alle die Bewegungen der einzelnen
Stoffe, die den menschlichen Leib aufbauen, nach dem Tode
zu verfolgen, der vor allen Dingen sich berechtigt glaubt zu
fragen: Was tun Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und so
weiter, die den menschlichen Leib aufbauen, nach dem Tode des
Menschen? Abgesehen davon, daß es heute viele
Menschen gibt, die von dem suggestiven Wort «Ewigkeit des
Stoffes» beeinflußt werden, gibt es wieder andere,
die ganz und gar die Möglichkeit verlieren, im unendlich
leeren Raum anderes sich zu denken als den Stoff mit
seinen Wirkungen. Daß es allerdings bei
Auseinandersetzungen dieser Art immer darauf ankommt, in
möglichst genauer Weise vor allen Dingen die Begriffe und
Ideen festzuhalten, das kann man mancher Betrachtung über
das Wesen des Todes ansehen. Bei mancher Betrachtung, welche
den Begriff eines Gegensatzes zwischen Tod und Leben aufstellt
und dabei, wie es immer wieder und wieder vorkommt, vor allen
Dingen ganz vergißt, daß Tod und Leben ein
Gegensatz ist, der von dem Wesen abhängt, auf das er
sich bezieht, — bei einer genaueren Betrachtung
darf man gar nicht in derselben Weise über den Tod der
Pflanze, des Tieres oder des Menschen sprechen. Inwiefern dies
der Fall ist, sollen die nachfolgenden Auseinandersetzungen mit
enthalten. Aber wie wenig man sich über die Worte klar
ist, welche auf diesem Gebiete gebraucht werden, das mag sich
uns daraus zeigen, daß zum Beispiel in der
Physiologie des großen Naturforschers Huxley
sich folgendes findet.
Da
wird gesagt, daß man unterscheiden müsse zwischen dem
lokalen, örtlichen Tod und dem allgemeinen Tod, dem Tod
der Gewebe in einem Organismus, und dann wird ausdrücklich
gesagt, daß das Leben des Menschen hänge an Gehirn,
an Lungen, an Herz, daß aber dies eine Dreiheit sei, die
man eigentlich zurückführen könne auf eine
Zweiheit, daß man nämlich, wenn man künstlich
die Atmung unterhält, einem Menschen ganz gut das Gehirn
wegnehmen könnte und er doch fortleben würde. Das
heißt, es wird gesagt, das Leben dauere fort, auch wenn
das Gehirn weggenommen ist. Das will sagen: Wenn der Mensch
nicht mehr imstande ist, irgendeine Vorstellung von dem zu
gewinnen, was um ihn herum ist oder was in ihm vorgeht, wenn
das Leben bloß als Lebensvorgang im Organismus durch eine
künstliche Atmung unterhalten werden könnte, so
würde der Organismus fortleben im Sinne dieser
naturwissenschaftlichen Definition. Und man könnte
eigentlich nicht von einem Tode sprechen, trotzdem gar
nicht ein Gehirn da sei.
Das
ist eine Idee, daß jeder, wenn er sich für ein Leben
ohne Gehirn nicht bedanken würde, so doch wenigstens, wenn
er auch eine solche Definition plausibel finden könnte, in
seiner Empfindung sich klar sein müßte, daß
gerade diese Erklärung zeigt, wie die
naturwissenschaftliche Definition von Leben in dieser Form
überhaupt nicht auf den Menschen anwendbar ist. Denn
niemand würde das Leben eines Organismus — wenn auch
eines menschlichen — das Leben des Menschen nennen
können, wenn auch im Übrigen die Tatsache, auf die
angespielt wird, ganz richtig ist.
Nun
ist man auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete heute schon
etwas weiter als vor vielleicht zehn Jahren, wo man sich fast
genierte, überhaupt von Leben zu sprechen und alles Leben
auf das Leben der kleinsten Lebewesen
zurückführte. Dieses Leben der kleinsten
Organismen sah man als einen komplizierten chemischen
Prozeß an. Da würde es sich nach dieser Anschauung
darum handeln, daß, wenn diese Definition zu einer
Weltanschauung ausgedehnt würde, nur davon
gesprochen werden könnte, daß die kleinsten Teile des
Lebens weiterleben, so daß dann nur von einer Erhaltung
des Stoffes gesprochen werden könnte. Nun ist heute
— zum Beispiel gegenüber den Forschungen
über das Radium — der Begriff des Ewigen des Stoffes
ein etwas schwankender geworden. Aber es soll jetzt nur darauf
aufmerksam gemacht werden, daß man heute auf
naturwissenschaftlichem Gebiet schon versucht, von einer Art
Selbständigkeit wenigstens der kleinsten Lebewesen zu
sprechen. Man sagt: die kleinsten Lebewesen vermehren sich
durch Teilung, eines teilt sich in zwei, zwei in vier und so
weiter. Da könnte man nichts angeben von einem Tode, denn
das erste lebt in den zweiten weiter, und wenn diese sterben,
leben sie in den nächsten fort.
Es
haben nun die, welche daraufhin von einer Ewigkeit der
einzelligen Wesen sprechen wollten, nach einer Definition
des Todes gesucht. Aber gerade diese Definition für das
Wesen des Todes ist außerordentlich charakteristisch. Man
hat das Charakteristikum des Todes darin gefunden, daß bei
einem Tode eine Leiche zurückbleibt. Und da bei
einzelligen Wesen keine Leiche zurückbleibt, können
sie auch nicht in Wahrheit sterben. Also man sucht das
Charakteristikum dessen, um was es sich im tiefsten
Lebensgründe handelt, in dem, was vom Leben
zurückbleibt. Nun wird es ohne weiteres klar sein,
daß das, was vom Leben zurückbleibt, allmählich
in leblosen Stoff übergeht. So lebloser Stoff wird nun im
Tode der äußere Organismus des kleinsten, der
äußere Organismus des kompliziertesten
Lebewesens. Allein wenn man die Bedeutung des Todes für
das Leben in Betracht ziehen will, darf man nicht darauf sehen,
was übrigbleibt, was also ins Leblose übergeht,
sondern man muß auf die Ursache, auf die Prinzipien
des Lebens sehen, solange das Leben da ist.
Ich
sagte, man könne nicht in derselben Weise von Tod sprechen
bei Pflanzen wie bei Tieren und Menschen, weil man da eine
wichtige Erscheinung nicht in Betracht zieht. Die findet sich
auch bei gewissen niederen Tieren, zum Beispiel bei den
Eintagsfliegen, und sie besteht darin, daß die Mehrzahl
der Pflanzen und der niederen Tiere die
Eigentümlichkeit hat, daß in dem Moment, wo der
Befruchtungsprozeß angelegt ist und die
Möglichkeit eines neuen Lebewesens geschaffen ist, das
Absterben des alten beginnt. Bei der Pflanze beginnt in dem
Moment ihr rückwärtsgehender Prozeß, der
Prozeß des Absterbens, wo sie in sich die Möglichkeit
der Anlage einer neuen Pflanze aufgenommen hat. Von denjenigen
Pflanzen, bei denen man das beobachten kann, kann man also ganz
gewiß sagen: Die Ursache, die ihnen das Leben weggenommen
hat, liegt in dem neuen oder den neuen Lebewesen; die haben
nichts davon zurückgelassen in dem alten Wesen.
Durch eine einfache Überlegung könnte man sich
überzeugen, daß dies so ist. Es gibt gewisse
Pflanzen, die dauern, die wiederholt blühen und
Früchte tragen, wo sozusagen immer neue
Pflanzengebilde, wie Schmarotzer, aufgepflanzt werden auf
den alten Stamm. Aber da können Sie sich überzeugen,
daß sie sich die Möglichkeit weiterzuleben
damit erkaufen, daß sie gewisse Teile in das Leblose
hineinstoßen, in den Tod, das heißt, sich mit einer
Rinde umgeben. Von einer Pflanze, die sich mit einer Rinde
umgeben, das Leblose an sich tragen und weiterleben kann,
muß man ganz berechtigt sagen, daß sie einen
Überschuß an Leben hat. Und weil sie diesen
Überschuß hat, den sie nicht abgeben wird — sie
gibt nur ab, was die jungen Lebewesen brauchen muß
sie sich dadurch sichern, daß sie den Tod nach außen
abstößt. So kann man aber auch sagen, daß
jegliches Lebewesen, das in sich die Möglichkeit
enthält, über die Hervorbringung eines neuen
Lebewesens hinauszuleben, in die Notwendigkeit versetzt ist, in
sich selber fortdauernd das Leben selbst zu überwinden,
indem es den unorganischen Stoff, den unbelebten Stoff
aufnimmt. Und das ist beim Tier, das ist beim Menschen
hinlänglich zu beobachten.
Da
haben wir also eine Auseinandersetzung zwischen Tod und Leben
in dem Wesen selber. Wir haben da eine Wechselwirkung zwischen
einem lebendigen Glied, das in einer Richtung sich entwickelt,
und einem fortwährenden In-sich-Hereinsetzen eines andern
Gliedes, das sich nach der Tod-Richtung entwickelt. Wenn wir
nun von diesem Gesichtspunkte ausgehend bis in das innerste
Wesen des Menschen hineinrücken wollen, so müssen wir
allerdings einiges von dem uns wieder vor Augen führen,
was öfter schon gesagt worden ist, was aber nie
überflüssig ist, weil es durchaus noch nicht zu den
gang und gäben Wahrheiten gehört.
Wenn man in Anlehnung an ganz gewöhnliche
Vorstellungen — das wollen wir in der ersten
Hälfte des Vortrages tun — geisteswissenschaftlich
an die Frage nach Leben und Tod herangeht, muß man daran
erinnern, daß allerdings dasjenige, was hier in Betracht
kommt, heute sehr, sehr wenig anerkannt ist. Es handelt sich um
eine Wahrheit, die der heutigen Menschheit ebenso neu ist, wie
eine andere, die heute zu den Trivialitäten
gehört, vor drei Jahrhunderten der Menschheit neu,
beziehungsweise unbekannt war. Ich habe schon öfter darauf
hingewiesen, daß es heute für den Naturforscher und
für den, der auf naturwissenschaftliche Begriffe seine
Anschauungen aufbaut, eine Selbstverständlichkeit ist,
daß man den Satz anerkennt: «Alles Lebendige stammt
von Lebendigem.» Natürlich spreche ich hier nur mit
jener Einschränkung, mit der auch auf
naturwissenschaftlichem Gebiete von diesem Satz
gesprochen wird. Wir brauchen uns dabei gar nicht
einzulassen auf die Frage der Urzeugung, denn es kann von
vornherein bemerkt werden, daß der analoge Satz, der dann
genannt werden wird, ebenso auf geisteswissenschaftlichem
Gebiete gebraucht wird.
Es
ist noch nicht lange her, daß der große Naturforscher
Francesco Redi mit aller Energie den Satz
durchfechten mußte: «Alles Lebendige stammt von
Lebendigem.» Denn man hatte vor diesem Naturforscher des
siebzehnten Jahrhunderts nicht bloß in Laienkreisen,
sondern auch in naturwissenschaftlichen Kreisen es
durchaus für möglich gehalten, daß aus
verfaulendem Flußschlamm, aus in Verfaulung
übergegangenen organischen Stoffen sich neue
Organismen herausentwickeln könnten. Von
Würmern, sogar von Fischen glaubte man dies. Diese
Anschauung, daß Lebendiges sich nur aus Lebendigem
entwickeln kann, ist noch nicht alt. Und Francesco Redi hat vor
kurzer Zeit, vor wenigen Jahrhunderten, einen solchen Sturm der
Entrüstung hervorgerufen, daß er nur mit
knapper Not dem Schicksal des Giordano Bruno entgangen ist.
Wenn man bedenkt, daß die Moden der Zeit sich ändern,
so kann man sagen, an dem Schicksal dieser Wahrheit kann man
Mut gewinnen für das Schicksal derjenigen Wahrheit, die
wir nun hier werden aussprechen müssen. Denn diese
Wahrheit: Lebendiges kann nur von Lebendigem stammen-rief
damals einen Sturm von Entrüstung hervor. Man liefert ja
heute diejenigen, die gezwungen sind, für andere Gebiete
ähnliche Wahrheiten aus dem Born des Wissens
heraufzuholen, nicht mehr den Flammen des Scheiterhaufens
aus. Das ist nicht mehr Mode. Aber man macht sich heute
über solche lustig; man spottet über den, der solche
Dinge mitteilen kann. Und man macht die, welche gezwungen
sind, solche Dinge in bezug auf geistige Entwicklung
auszusprechen, geistig tot. Aber das Schicksal der eben
genannten Wahrheit besteht auch noch darin, daß sie
heute eine Selbstverständlichkeit, eine Trivialität
geworden ist für den, der urteilsfähig ist.
Welcher Fehler lag denn zugrunde, als man diese Wahrheit:
Lebendiges kann nur von Lebendigem stammen — noch nicht
anerkannt hatte? Ein ganz einfacher Beobachtungsfehler!
Man schaute das an, was man unmittelbar sah, und versuchte
nicht einzudringen in die Tatsache, daß einem Lebewesen
wirklich ein von einem anderen Lebewesen !unterlassener
Keim zugrunde liegt, so daß also ein neues Lebendiges von
einer bestimmten Art nur dadurch entstehen kann, daß
ein altes Lebendiges einen Keim zurückläßt von
einer gleichen Art. Das heißt: man schaute auf die
Umgebung des sich entwickelnden Lebendigen und hätte
eigentlich auf das sehen sollen, was von einem andem Lebewesen
zurückgeblieben ist und sich innerhalb dieser Umgebung
entwickelte. So aber machte man es in all den Jahrhunderten vor
der Zeit des Francesco Redi. Man könnte ganz interessante
Ausführungen bringen aus Büchern, welche im
siebenten, achten Jahrhundert genau so viel galten wie heute
autoritativ geltende Schriften der modernsten Naturforscher,
und in denen ganz genau klassifiziert hingestellt worden ist,
wie sich zum Beispiel aus einem mürbe geschlagenen
Ochsenkadaver Hornissen entwickelten, aus einem Eselkadaver
Wespen und so weiter. Das wurde hübsch eingeteilt.
Und genau nach derselben Methode, nach der man damals
Fehler gemacht hat, macht man heute in bezug auf das
Geistig-Seelische des Menschen Fehler.
Man
sieht einen Menschen ins Dasein treten und betrachtet
seine individuelle Entwickelung von der Geburt angefangen durch
das weitere Leben. Man sieht, wie sich die Gestalt, die
verschiedenen Fähigkeiten, die Anlagen entwickeln. Uber
das Genauere dieser Entwickelung werden wir in einem
späteren Vortrag sprechen. Aber wenn man das Wesen der
menschlichen Gestaltung, das Wesen dessen, um was es sich
handelt, erkennen will, hat man namentlich die Frage: Wie sind
die Vererbungsverhältnisse, wie sieht es in der
Umgebung aus, aus der der Mensch herausgekommen ist? Das ist
genau dieselbe Methode, als wenn man den Schlamm rings um den
entstehenden Wurm ansieht und nicht auf das Ei blickt. In dem,
was sich als Anlagen, als verschiedene Fähigkeiten in dem
Menschen heranbildet, ist genau zu unterscheiden zwischen dem
Charakteristischen, was sich überträgt von
Eltern, Voreltern und so weiter, und einem gewissen Kern,
welchen der, der wirklich betrachtet, nicht verkennen wird. Nur
wer dem geistig-seelischen Element gegenüber ebenso
vorgehen wird, wie vor Francesco Redi die Naturforscher
äußerlich vorgegangen sind, wird es verkennen
können, wie sich ein Kern des Menschen deutlich darstellt,
der nicht zurückgeführt werden kann auf das,
was vererbt ist von Eltern, Großeltern und so weiter.
In
dem, was sich in einem Menschen heranentwickelt, haben wir
daher zu unterscheiden das, was von der Umgebung stammt,
von dem, was nie aus der Umgebung hergeleitet werden kann. Bei
einem pflanzlichen oder tierischen Lebewesen wird man immer
finden, daß das neu entstehende Wesen im wesentlichen
darauf angelegt ist, es bis zum Gattungsmäßigen des
Vorfahren zu bringen. Nehmen Sie die höchsten Tiere. Wie
weit bringen sie es? Bis zum Gattungsmäßigen. Und auf
das Gattungsmäßige sind sie angelegt.
Gewiß werden manche sagen: Hat denn das Pferd, hat ein
Hund oder eine Katze keine Individualität? Sie
werden glauben, man könnte ebensogut das
Individuelle der Katze, des Pferdes und so weiter schildern,
vielleicht auch in einer Biographie, wie man das Individuelle
eines Menschen schildern kann. Wer es will, der mag es tun.
Aber er sollte es nicht als etwas Wirkliches, sondern als etwas
Symbolisches nehmen, wenn zum Beispiel den Schülern
die Schulaufgabe gestellt wird — wie ich und meine
Kollegen in der Jugend sie haben machen müssen —,
die Biographie ihrer Schreibfeder zu schreiben. Da könnte
man sonst dann auch von der Biographie einer Schreibfeder
sprechen. Aber gegenüber der Wirklichkeit handelt es sich
nicht darum,
Analogien und Vergleiche zu pflegen, sondern auf das
Wesentliche loszugehen. Das ist beim Menschen das
Individuelle, was den Menschen nicht zu einem
Gattungswesen macht, sondern zu der ganz bestimmten
Individualität, die ein jeder Mensch ist. Auf die
Ausgestaltung des Individuellen steuert ein jeder Mensch
ebenso hin, wie die Pflanze auf die Gestaltung der Gattung
hinsteuert. Und darauf, daß der Mensch in der Entwickelung
über das Gattungsgemäße einen
Überschuß hat in der Individualität, beruht jede
Entwicklung, jeder Fortschritt in der Erziehung wie in der
geschichtlichen Entwickelung. Wenn nicht bei jedem Menschen ein
geistig-seelischer, individueller Kern da wäre, der sich
geistig-seelisch so entwickelt wie das Tier physisch bei der
Gattung, gäbe es keine Geschichte. Dann könnte man
beim Menschengeschlecht nur von einer Gattung sprechen.
Dann könnte man auch nur von einer Entwickelung
sprechen, aber nicht von einer Geschichte und von einer
Kultur-Entwickelung. Daher wird die Naturwissenschaft von einer
Gattungs- oder Art-Entwickelung der Pferde sprechen, aber nicht
von einer Geschichte.
Wir
haben also in der Entwickelung eines jeden Menschen einen
geistig-seelischen Kern zu sehen, der ganz dieselbe
Bedeutung hat wie beim Tier das Gattungsgemäße. Das
Gattungsmäßige im Tierreich entspricht im Menschen
dem Individuellen. Wenn aber im Tierreich ein jegliches Wesen,
das zum Gattungsmäßigen hinsteuert, die Gattung des
Ahnen wiederholt und nur entstehen kann auf
Grundläge der Samenanlage des Ahnen, der physischen
Keimanlage, dann kann das Individuelle des einzelnen
Menschen nicht aus irgend etwas entstehen, was hier in der
physischen Welt ist, sondern lediglich aus etwas, was ein
Geistig-Seelisches ist. Das heißt: ein geistig-seelischer
Kern, der mit der menschlichen Geburt ins Dasein tritt, weist
nicht auf eine Gattung Mensch bloß zurück, insofern
der Mensch zurückgeht auf Ahnen, auf Eltern und Voreltern,
sondern er weist auf einen solchen Ahnen, der
geistig-seelischer Art ist, auf ein Wesen, das
vorangegangen ist, das individuell nicht zur Gattung Mensch,
überhaupt zu keiner Gattung gehört, sondern zu dieser
selben Menschen-Individualität. Wird also ein Mensch
geboren, so wird mit ihm ein individueller Kern geboren, der
auf nichts anderes hin angelegt ist als nur wieder auf diesen
individuellen menschlichen Kern. Wie das Tier seine Gattung
sucht, so sucht der Mensch sein Individuell-Menschliches. Das
heißt: wie dieser individuelle Kern mit der Geburt
erscheint, so ist er vorher dagewesen, ebenso wahr wie ein
Gattungskeim für das Tier da war. Und wir
müssen in der Vorzeit etwas wesenhaft
Geistig-Seelisches suchen, welches der geistig-seelische, nicht
physische Keim dieses individuell sich entwickelnden
geistig-seelischen Menschen ist. Nur der, welcher keine Augen
dafür hat, daß Geistig-Seelisches als Kern sich nicht
innerhalb der menschlichen allgemeinen Erscheinung
herausentwickelt, wird leugnen, daß die eben
gegebene Schlußfolgerung richtig ist.
So
führt jedes individuelle Menschenleben in sich den Beweis
dafür, daß es früher schon da war. Wir werden
daher von einem individuellen Menschenleben ebenso
zurückgeführt auf einen individuellen
geistig-seelischen Keim und von diesem wieder auf einen
geistig-seelischen Keim, das heißt wir werden von unserem
individuellen Leben auf ein früheres individuelles Leben
zurückgeführt und dann selbstverständlich zu
unserem nächsten Leben. Die unbefangene Betrachtung des
menschlichen Lebens liefert das mit derselben Notwendigkeit,
wie die ausgesprochene Wahrheit auf naturwissenschaftlichem
Gebiete dort als Wahrheit erscheint.
Man
nehme einmal an, man wollte als ein Mensch mit unbefangenem
Verstände sagen: Darüber kann man nichts wissen. Wenn
man die Schlußfolgerung immer wieder und wieder zieht,
dann könnte man folgendes Schicksal erleben, sich zu
sagen: Du mußt gegen jede Beobachtung und gegen jede Logik
sündigen. Trotzdem ist diese Wahrheit von den wiederholten
Erdenleben noch eine wenig anerkannte. Aber diese Wahrheit,
daß Geistig-Seelisches nur aus Geistig-Seelischem
entstehen kann, wird sich gewiß in nächster Zeit
ebenso schnell in das menschliche Kulturleben einbürgern
wie die andere charakterisierte Wahrheit. Und es wird eine Zeit
kommen, wo man ebenso wird begreifen müssen, daß man
früher etwas anderes geglaubt hat, wie man früher
geglaubt hat, daß niedere Tiere, Fische und so weiter aus
Flußschlamm entstehen können.
Wenn man aber diesen individuellen Wesenskern des Menschen, den
man sozusagen mit der Geburt ins Dasein treten sehen kann, im
Laufe des Lebens weiter verfolgt, zeigt er sich
gewissermaßen in einer zweifachen Beziehung, vor allen
Dingen im aufgehenden Menschen, in der Jugend. Er zeigt
sich da als das, was eine aufsteigende Entwickelung des
ganzen Menschen bedingt. Und wer wirklich intim
Jugendleben beobachten kann, wer das Kind nicht nur
äußerlich, sondern ganz intim beobachten gelernt hat,
wer selber sich erinnert, was er in dieser Beziehung erlebt
hat, der wird zugeben, daß das, was in ihm steckt, noch
nicht da ist in einem bestimmten Zeitpunkt, daß es sich
erst später zeigt als Kraftgefühl, als
Lebensgefühl, als Lebensinhalt, der mächtig
hebend wirkt. Nicht nur auf die äußere
Lebensgestaltung, sondern bis in die elementarsten
Lebensgestaltungen und Lebensfunktionen hinein wirkt das nach,
was man als individuellen Wesenskern in sich trägt. Und
wenn eine bestimmte Reife des Menschen eintritt, und er
nach außen hin Gelegenheit hat, vieles aufzunehmen,
dann wirkt dieser individuelle Lebenskern so, daß er sich
bereichert, sich an die äußere Welt anpaßt,
Inhalt ansammelt. Wenn man aber diese Wechselbeziehung
beobachtet des individuellen Wesenskernes des Menschen mit
demjenigen, was an den Menschen im Laufe des Lebens nicht
nur durch das zu Lernende und zu Erfahrende, sondern auch durch
Erlebnisse wie Lust und Leid, Schmerzen und Freuden
herantritt, dann wird man in diesem geistig-seelischen Leben
selber auf einem höheren Gebiete eine ähnliche
Wechselwirkung sehen wie — sagen wir zwischen dem neuen
Pflanzenkeim, der sich in der Blüte des alten entwickelt,
und der alten Pflanze, der der neue Keim das Leben
wegnimmt.
Wenn man diese Betrachtung auf den Baum ausdehnt, wird man
sagen können: da wird auch immer Leben weggenommen,
indem im Pflanzenreich der Baum verholzt. Aber dafür
verwandeln sich gewisse Dinge am Baum selbst in tote,
unlebendige Produkte; unorganisch werdende Rinde umgibt den
Baum.
In
derselben Weise sehen wir, wenn wir das Wesen des
Menschenlebens genauer betrachten, nicht nur eine
aufsteigende Entwickelung, sondern wir sehen eine
aufsteigende Entwickelung, die den geistig-seelischen
Wesenskern des Menschen aufsteigen und wachsen läßt,
ihn sich angliedern läßt an die
äußere Welt; und indem er immer weiter und weiter
wachst, sehen wir ihn in Konflikt kommen mit der alten
Anlage, das heißt mit sich selber in Konflikt kommen. Das
geschieht dadurch, daß er sich in der Jugend Organe
aufbauen, Organe gliedern konnte nach seiner Anlage, wahrend
jetzt im weiteren Verlauf des Lebens dieser Prozeß
nicht mehr möglich ist und er nun in dem verholzenden
Leben weiter existieren muß. So sehen wir, daß wir
gerade, wenn unser Leben sich reich entwikkelt im Laufe der
Zeit, wenn wir Neues aufnehmen und dadurch unsern individuellen
Wesenskern bereichern, in Konflikt kommen mit dem, was die
Hülle dieses Wesenskernes ist, was wir herangebaut
haben und was im Wachsen war. Solange wir wachsen, und
insofern wir so wachsen, nehmen wir in uns keinen
geistig-seelischen Todesprozeß auf. Erst indem wir
Äußeres aufnehmen, nehmen wir einen
geistig-seelischen Todesprozeß auf. Das ist aber im Grunde
genommen, wenn es auch in der Kindheit noch weniger als in
späterer Zeit hervortritt, das ganze Leben hindurch der
Fall.
So
können wir sagen, daß auf geistig-seelischem Gebiet
ein Wachsen und Absterben im Innersten des Menschen, auch
geistig-seelisch, sitzt. Aber worin besteht jetzt der
Prozeß, der sich da abspielt? Wir können ihn gut
verstehen, wenn wir ihn einmal in einer niedrigeren Form
betrachten und irgend etwas aus dem Bereich des
gewöhnlichen Lebens zur Betrachtung heranziehen, um
dadurch sozusagen zu Begriffen und Ideen über das
höhere Gebiet des Daseins zu kommen.
Nehmen wir zum Beispiel die Ermüdung. Von
Ermüdung sprechen wir bei tierischen und
menschlichen Wesen. Nun handelt es sich darum, daß man
einen Begriff gewinnt über das Wesen der
Ermüdung. Ich kann mich jetzt nicht einlassen auf alle die
Begriffe, die darüber aufgesammelt worden sind,
sondern wir wollen den ganzen Prozeß der Ermüdung im
Verhältnis zum Lebensprozeß in Betracht ziehen.
Man kann sagen: Der Mensch ermüdet, weil er seine Muskeln
abnutzt und weil den Muskeln neue Kräfte zugeführt
werden müssen. In diesem Falle könnte man definieren:
Der Mensch ermüdet, weil er seine Muskeln durch irgendeine
Arbeit abnutzt.
Recht plausibel schaut für den ersten Augenblick eine
solche Definition aus. Nur wahr ist sie nicht. Aber heute ist
es schon so, daß man mit Begriffen arbeitet, welche sich
gerade so ausnehmen, daß sie von oben an die Dinge tippen,
aber nicht in die Untergründe dringen wollen. Denn denken
Sie, wenn wirklich die Muskeln ermüden könnten, wie
stünde es denn dann mit dem Herzmuskel? Der wird aber
überhaupt nicht müde, der arbeitet Tag und Nacht,
fortwährend, und so auch andere Muskelgebiete des
menschlichen und tierischen Leibes. Das gibt Ihnen einen
Begriff, daß es nicht richtig ist zu sagen, in der
Beziehung zwischen Arbeit und Muskel könne irgend etwas
zur Erklärung der Ermüdung liegen.
Wann ermüdet das Tier oder der Mensch? Wenn eine Arbeit
nicht durch den Organismus, nicht durch den
Lebensprozeß veranlaßt wird, sondern wenn eine
Arbeit von der Außenwelt selbst veranlaßt wird, das
heißt aus der Welt, mit der ein Lebewesen durch seine
Organe in Beziehung treten kann. Also wenn ein Lebewesen Arbeit
auf Grundlage seines Bewußtseins ausführt,
ermüdet das betreffende Organ. An sich liegt im
Lebensprozeß nichts, was zu einer Ermüdung
Veranlassung geben könnte. So muß also der
Lebensprozeß, müssen die sämtlichen
Lebensorgane mit etwas zusammengeführt werden, was
gar nicht zu ihnen gehört, wenn sie ermüden
sollen.
Ich
kann nur aufmerksam machen auf diese wichtige Tatsache. In
ihrer Ausgestaltung kann man ungeheuer fruchtbare
Gesichtspunkte finden. Also nur das, was auf dem Umwege durch
einen Bewußtseinsprozeß, was durch eine
Bewußtseinsveranlassung einem Lebewesen zugeführt
wird, kann Veranlassung zur Ermüdung sein. Es wäre
daher ganz unsinnig, bei den Pflanzen von Ermüdung zu
sprechen. Daher kann man sagen: In alledem, was ein
Lebewesen ermüden soll, muß ihm tatsächlich
etwas Fremdes gegenüberstehen, muß ihm etwas
eingefügt werden, was nicht in seiner eigenen Natur
liegt.
So
können wir sagen, daß jene Störung des
Lebensprozesses, die durch die Ermüdung eintritt,
schon auf einem ganz untergeordneten Gebiete darauf hinweist,
daß das, was wir im Seelenleben haben, nicht ohne weiteres
herausgeboren ist aus dem physischen Leben, sondern daß es
durchaus mit den Gesetzen dieses Lebens in einem Widerspruch
steht. Der Widerspruch zwischen den Gesetzen des
Bewußtseinslebens und den Gesetzen des Lebens und der
Lebensprozesse allein erklärt, was in der Ermüdung
gegeben ist, wovon Sie sich selbst überzeugen können,
wenn Sie es sich genauer überlegen. Deshalb können
wir sagen, daß die Ermüdung ein Ausdruck dafür
ist, daß das, was zu einem Lebensprozeß hinzukommt,
ihm fremd sein muß, und daher kann es ihn nur stören.
Nun kann der Lebensprozeß im wesentlichen ausgleichen, was
durch die Ermüdung abgenutzt ist, durch Schlafen und durch
die Ruhe. Aber Abnutzung wird dadurch herbeigeführt,
daß ein Neues gegenüber dem alten Lebensprozeß
auftritt.
Nun
tritt im menschlichen individuellen Leben dadurch, daß der
Mensch mit der Außenwelt in Beziehung tritt, ein innerer
Abnutzungsprozeß auf. Das Alte, das in der
Anläge vorhanden war, tritt mit Neuem in
Wechselbeziehung. Das Ergebnis ist darin ausgedrückt,
daß während des individuellen Lebens zwar der
individuelle Lebenskern umgestaltet wird, aber dafür
auch sozusagen Verholzendes abstoßen muß, was er sich
selbst von seiner Geburt an gebildet hat. Die Ursache des Todes
liegt mit der Bestimmung zu einem neuen Leben in dem
menschlichen Seelischen geradeso, wie in dem tierischen
Organischen die Anläge zur Ermüdung nur dadurch
liegen kann, daß es mit Neuem, ihm Fremden in
Wechselbeziehung tritt. Man könnte daher sagen: der
Prozeß des Todes, des allmählichen Absterbens
läßt sich besser begreifen, wenn man den Gegensatz in
Erwägung zieht, in welchem Seelisches steht zu
Organischem, und der sich in der Ermüdung ausdrückt.
Daher haben wir eigentlich in unserem inneren Wesenskern
das ganze individuelle Leben hindurch den Todeskeim. Wir
könnten uns aber nicht weiterentwickeln,
könnten unmöglich das, was wir schon sind bei
der Geburt, um einen Schritt weiterbringen, wenn wir nicht von
innen heraus diesen Tod dem Leben beigesellen würden. Wie
zur Verrichtung äußerer Arbeit Ermüden
gehört, so gehört zu einer Bereicherung und
Höhergestaltung des individuellen Lebenskernes das
Abstoßen, das Töten der äußeren
Umhüllung.
Gerade an dem geistig-seelischen Lebens- und
Todesprozeß drückt sich uns mit einer
großen Klarheit aus, was wir nennen können: wir
erkaufen uns die Höhergestaltung, die
Weiterentwickelung des Lebens dadurch, daß wir die Wohltat
genießen, das, was wir schon waren, von uns
abzustoßen. Eine Entwicklung wäre nicht möglich,
wenn wir nicht das Alte abstoßen könnten. Mit dem
aber, was wir in dem Neuen unserem Geistig-Seelischen
einorganisiert haben, schreiten wir durch den Tod. Was
liegen darin für Kräfte? Solche Kräfte, die die
Früchte sind des verflossenen Lebens. Wir
können die Samen zu diesen Früchten zwar
erleben, können die Lebensbeobachtungen zwar erleben,
können auch vieles im Leben machen, aber wir können
sie uns nicht einorganisieren, können sie nicht wirklich
in unsere äußere Hülle übertragen. Denn
unsere Hülle bauen wir uns nicht aus dem, was wir in einem
Leben lernen, oder höchstens zu einem gewissen Teil,
sondern wir bauen sie nach Maßgabe dessen, was wir
im vorhergehenden Leben geworden sind. Wir können
uns also unser Leben nur dadurch aufbauen, daß wir
dasjenige verwenden, was wir uns im vorigen Leben
angeeignet haben, und können uns dadurch fortentwickeln,
daß wir das Alte — wie der Baum die Rinde —
von uns abstoßen und in den Tod eingehen. Und mit dem, was
wir mitnehmen durch den Tod hindurch, sind wir imstande, unser
nächstes Leben aufzubauen, weil es in sich dieselben
Kräfte enthält, die unser geistig-seelisches Wachstum
aufgebaut haben, als wir frisch und froh uns in der Jugend
entwickelten. Diesen Kräften ist es gleichartig. Wir
haben es aus der Lebenserfahrung aufgenommen und bauen
uns ein künftiges Lebewesen, eine künftige leibliche
Hülle, die das als Blüte in der Anlage in sich tragen
wird, was wir in dem einen Leben gewonnen haben.
Solchen Dingen gegenüber wird immer wieder die Frage
geltend gemacht: Was hilft es im Grunde genommen dem Menschen,
wenn von wiederholten Erdenleben gesprochen wird, wenn er doch
nicht imstande ist, sich an frühere Leben zu
erinnern, wenn ein Gedächtnis an frühere Leben nicht
vorhanden ist?
Es
liegt ja im Wesen der heutigen geistigen Kultur, daß man
über solche Fragen des geistig-seelischen Lebens noch
nicht geläufig nachzudenken und nachzusinnen in der Lage
ist wie über die Dinge des Naturlebens, aber wir
müssen uns doch klar sein, daß es möglich ist,
über diese Fragen des geistig-seelischen Lebens in genau
derselben Weise uns Begriffe, Anschauungen zu entwickeln. Dies
können wir nur, wenn wir dieses geistig-seelische Leben
wirklich genauer betrachten, wenn wir uns fragen: Wie
muß es denn überhaupt mit dem menschlichen
Gedächtnis stehen, wie ist denn das Wesen des menschlichen
Gedächtnisses?
Es
gibt einen Punkt im persönlichen Menschenleben, der sehr
leicht dahin führen kann, über diese Frage Ansichten
zu gewinnen, das ist der folgende. Sie wissen alle, daß es
im heutigen normalen Menschenleben eine Zeit gibt, an die das
spätere Leben hindurch keine Erinnerung vorhanden
ist. Das ist die Zeit der allerersten Kindheit. Der Mensch
erinnert sich im heutigen normalen Leben bis zu einem gewissen
Punkt seiner Kindheit, dann schwindet ihm die Erinnerung.
Obwohl er sich ganz klar ist, daß er früher schon
dabei war, erinnert er sich daran doch nicht. Er weiß,
daß es sein gleiches geistig-seelisches Ich ist, das ihm
das Leben aufgebaut hat, aber es fehlt ihm die
Möglichkeit, sein Gedächtnis über diese Stufe
auszudehnen. Wer viele Kindesleben betrachtet, wird daraus eine
Beobachtung machen können. Die wird natürlich
nur im wesentlichen sich im äußeren Leben
verwirklicht finden, aber sie ist doch richtig. Aus der
Beobachtung der kindlichen Seele wird man das Resultat gewinnen
können, daß die Erinnerung genau so weit
zurückgeht, bis sie den Zeitpunkt trifft, wo der
Ich-Begriff, die Vorstellung von dem eigenen Ich in dem
betreffenden Menschenwesen entstanden ist. Das ist eine
außerordentlich wichtige Tatsache. In dem Moment, wo das
Kind nicht mehr aus sich selbst heraus sagt: Karlchen will
dies, oder: Mariechen will dies, sondern wo es sagt: Ich will
das, — von dem Zeitpunkt, wo die bewußte
Ich-Vorstellung anhebt, fängt auch die Rückerinnerung
an. Woher kommt diese merkwürdige Tatsache? Sie kommt
daher, weil zur Erinnerung noch etwas anderes notwendig ist,
als daß man sozusagen einmal oder überhaupt mit einem
Gegenstande in Berührung gekommen ist. Man kann noch
so oft mit einem Gegenstande in Berührung kommen, eine
Erinnerung muß deshalb nicht hervorgerufen werden. Die
Erinnerung beruht nämlich auf einem ganz bestimmten
seelischen Prozeß, auf einem ganz bestimmten
geistig-seelischen, inneren Lebensprozeß, den Sie sich
vergegenwärtigen können, wenn Sie sich folgendes vor
Augen stellen.
Man
muß unterscheiden zwischen der Wahrnehmung eines
Gegenstandes oder Erlebnisses und zwischen dem, was die
Vorstellung dieses Gegenstandes ist. Im Wahrnehmungsprozeß
hat man etwas, was man immer wieder haben kann, wenn man vor
das Ding hintritt. Aber man hat an dem Erlebnis noch etwas
anderes. Wenn man mit einem Ding in Berührung gekommen
ist, einen Gesichts-oder Gehörseindruck in sich
aufgenommen hat, so hat man außerdem noch etwas wie einen
inneren Siegelabdruck in sich aufgenommen, und der ist es, den
wir mitnehmen, der in der Vorstellung bleibt, der sich der
Erinnerung einverleiben kann. Der muß aber erst
entstehen. Ich weiß, daß das, was ich jetzt gesagt
habe, vielfach beanstandet werden wird von wackeren
Schopenhauerianern, von denen, die da behaupten, daß
unsere Weltanschauung nur unsere Vorstellung sei. Aber
das beruht auf Verwechselung von Wahrnehmung und
Vorstellung. Beide müssen dringend unterschieden
werden. Die Vorstellung ist ewas Reproduziertes. Das
äußere Erlebnis kann noch so oft auftreten: wenn es
nicht den inneren Siegelabdruck der Vorstellung erfährt,
kann es nicht dem Gedächtnis einverleibt werden. Wenn
dagegen gesagt wird, die Vorstellung ist nichts anderes, als
was sich in der Wahrnehmung darbietet, so braucht man nur
darauf aufmerksam zu machen, daß die Vorstellung
eines noch so heißen Stückes Stahl ganz gewiß
niemanden brennen wird, aber das Sinneserlebnis wird brennen.
Da haben Sie den Unterschied zwischen Vorstellung und
Sinneswahrnehmung. Deshalb können wir sagen: Die
Vorstellung ist ein nach innen gewendetes
Sinneserlebnis.
Aber bei dieser Wendung nach innen, bei diesem
äußeren Anprall des Gegenstandes im
Wechselverkehr mit dem menschlichen Innern, wobei der innere
Siegelabdruck hervorgerufen wird, kommt noch etwas
anderes in Betracht. Was da nach innen in unserm Sinnesleben
erlebt wird, das wird bei jedem äußeren
Sinneseindruck, bei allem, was wir an der äußeren
Welt aufnehmen können, einverleibt unserm Ich. Eine
Sinneswahrnehmung kann auch da sein, ohne daß sie dem Ich
einverleibt wird. Für die äußere Welt ist es
unmöglich, daß eine Vorstellung im Gedächtnis
behalten wird, wenn sie nicht nach innen, in den Bereich des
Ich aufgenommen wird. So steht bei jeder Vorstellung, die wir
uns aus einem Sinneserlebnis bilden und die im Gedächtnis
behalten werden kann, das Ich am Ausgangspunkt. Eine
Vorstellung, die von außen herein in unser Seelenleben
kommt, ist gar nicht zu trennen von dem Ich. Ich weiß
wohl, daß ich bildlich spreche. Aber diese Dinge bedeuten
trotzdem eine Wirklichkeit, wie wir im Laufe der nächsten
Vorträge sehen werden.
Wir
können uns vorstellen, daß das Ich-Erlebnis etwas
darstellt wie eine innere Kugelfläche, von außen
gesehen, daß dann die Sinneserlebnisse herankommen und
daß das Sich-Spiegeln der Erlebnisse im Innern die
Vorstellung ergibt. Dazu muß aber das Ich dabei sein
bei jeder einzelnen Sinneswahrnehmung. So ist tatsächlich
das Ich-Erlebnis bei allem, was der Erinnerung einverleibt
werden kann, wie ein Spiegel, der nach innen uns die Erlebnisse
zurückstrahlt. Es muß da sein. Daraus
erklärt sich uns folgendes: Solange das Kind nicht die
Begriffswahrnehmungen so aufnimmt, daß sie Vorstellungen
werden, sondern solange sie nur als Sinneswahrnehmungen
äußerlich an das Kind herantreten, nur
äußerlich zwischen Ich und Außenwelt erlebt
werden, nicht aber zum inneren Ich-Erlebnis umgewandelt
werden, solange das Kind nicht die Ich-Vorstellung hat, deckt
ihm kein Ich-Spiegel sozusagen zu, was ringsherum ist. Solange
wird man aber auch bemerken, daß das Kind Mannigfaltiges,
was die Erwachsenen nicht verstehen, in die Umgebung
hineinphantasiert. Bei der Rückerinnerung aber kann nur
das auftauchen, was das Ich schon aufgenommen hat, so daß
es dadurch in die Erinnerung gedrängt ist. Wo die
Ich-Wahrnehmung aufgetreten ist, stellt sich das Ich vor
die Vorstellungen wie ein Spiegel, und was dann vor dieser Zeit
des Ich-Erlebnisses liegt, kann nicht mehr in die
Erinnerung heraufgerufen werden. Daher tritt der Mensch
immer so mit der Außenwelt in Berührung, daß
sein Ich alle Erlebnisse miterlebt, daß sein Ich
immer dabei ist. Damit ist nicht gesagt, daß auch alles
zum Bewußtsein kommen muß, sondern nur, daß
Erlebnisse nicht bloß als Sinneswahrnehmungen verbleiben,
sondern in Vorstellungen umgewandelt werden.
So
können wir jetzt sagen: Der innerste Wesenskern des
Menschen, aus dessen Mittelpunkt sich das
herausentwickelt, was jetzt beschrieben worden ist als
von Verkörperung zu Verkörperung gehend, wird gerade
zugedeckt durch die Ich-Vorstellung, wie sie
gewöhnlich vorhanden ist. Der Mensch stellt sich selbst
vor sein Gedächtnis hin mit seiner heutigen
Ich-Entwickelung. Und daher ist es ganz erklärlich,
daß sein Gedächtnis nur über die Sinneswelt
reichen wird.
Kann nun durch die Erfahrung selber der Beweis geliefert
werden, daß das auch anders werden kann? Kann von
Erweiterung des Gedächtnisses bis in frühere
Verkörperungen hinein gesprochen werden? Das ist aus
der bloßen Definition selbstverständlich, wenn
das erfaßt wird, was hinter dem eigenen Ich-Punkt liegt,
den man sich sozusagen selber zudeckt. Fängt man an
ihn zu erfassen, so muß man auch seine innerste Natur und
Wesenheit erkennen, und man muß auch erkennen, was
ein Mensch im menschlichen Leben und nicht bloß im
allgemeinen, sondern im eigenen individuellen Leben tut.
Gibt es eine Möglichkeit, sozusagen hinter dieses Ich
dahinter zu schauen? Die gibt es allerdings. Und sie liegt in
jenem inneren Seelenleben, von dem ich schon in dem
einleitenden Vortrage gesprochen habe. Wenn es der Mensch
wirklich unternimmt, in streng methodischer Schulung
seine Seele so zu entwickeln, daß die in ihr schlummernden
Kräfte hervorkeimen, daß die Seele über
sich selber hinaussteigt, dann kann er das nur dadurch,
daß er mit einer gewissen inneren Entsagung sich
Vorstellungen aneignet, welche nicht solche sind, bei denen das
Ich-Erlebnis unmittelbar dabei ist. Bei allem, wo das
Ich-Erlebnis dabei ist, stellt sich das Ich-Erlebnis vor dem
menschlichen Wesenskern auf. Für die Seelenschulung
muß er sich also Vorstellungen aneignen, bei denen
das Ich-Erlebnis nicht dabei ist. Deshalb müssen jene
inneren Seelenübungen, die der Mensch vornimmt, in
einer ganz bestimmten Art getroffen werden. Da kommt es auf den
Inhalt des Nachsinnens an, was er da seinem Seelenleben
einverleibt. Und er muß seinem Seelenleben etwas
einverleiben, was der inneren Seelennatur zwar
gleichkommt, aber sich nicht auf Äußeres
bezieht. Was bezieht sich nicht auf das Äußere?
Nur das Nachdenken. Aber das Nachdenken erstreckt sich
gewöhnlich über die äußere Welt.
Daher ist es nicht brauchbar für den, der in die
höheren Welten hinaufsteigen will. Es muß daher ein
solches Vorstellungsleben entwickelt werden, das in Bildern, in
Symbolen, die immerfort und fort vor die Seele hingestellt
werden, im Ich eine solche Tätigkeit hervorruft,
daß das Ich, wenn es die Wahrheiten der
gewöhnlichen Sinnes weit gewinnen wollte, sich nie
eine solche Vorstellung bilden würde. Also es muß
sich die Seele Bilder und Symbole einverleiben, die nicht
eintreten, wenn man mit seinem Ich-Erlebnis alles
Äußere begleitet.
Beachtet man das, dann macht man die folgende Erfahrung,
über die man nur etwas aussagen kann, indem man hinweist
auf jenen Zustand, in welchem der Mensch immer wieder in seinem
Leben eintritt, nämlich in den Schlafzustand. Mit
dem Einschlafen versinken alle Vorstellungen, alle
Leiden, Schmerzen und so weiter, die der Mensch während
des Tages erlebt hat, in ein unbestimmtes Dunkel. Das
ganze bewußte Leben des Menschen geht in ein unbestimmtes
Dunkel hinunter, und es kommt wieder, wenn der Mensch des
Morgens aufwacht. Vergleichen Sie das Bewußtseinsleben
beim Aufwachen und beim Einschlafen. Solange der Mensch
nur bewußte Eindrücke aus dem äußeren
Sinnesleben gewinnt, bringt er nur wieder mit am Morgen, was er
am Abend im Bewußtsein hatte. Er wacht mit demselben
Bewußtseinsinhalt wieder auf, er erinnert sich an
denselben, kann dasselbe denken und so weiter. Wenn der Mensch
aber in der angedeuteten Weise eine solche innere Trainierung
vornimmt, bei der das Ich nicht dabei ist, dann stellt sich die
Sache anders. Da findet der Mensch allerdings, daß er
seine ersten Fortschritte daran merkt, daß er sich
beim Aufwachen bereichert fühlt durch den Schlaf, daß
dasjenige, was er vor dem Einschlafen aufgenommen hat,
ihm mit einem reicheren Inhalt zurückkommt. Da kann
er nun sagen: Jetzt habe ich hinter die geistige Welt geschaut,
die das Ich nicht zudeckt, und habe als Frucht davon, daß
sich mir in mein Bewußtseinsleben etwas eingliedert,
was ich nicht aus der Sinneswelt gewonnen habe, denn ich habe
es mir mitgebracht aus der Welt des Schlafes. So sind die
ersten Fortschritte dessen, der ein geistig-seelisches Leben
durchmacht.
Dann aber tritt weiter die Möglichkeit ein, daß er
auch während des wachen Tageslebens einen solchen Inhalt
sich eingliedern kann, der nicht vom Ich-Erlebnis
durchdrungen ist, obwohl das Ich dabei ist. Das
Ich-Erlebnis muß sich neben diesen Inhalt ebenso stellen,
wie es sich in allen sinnlichen Inhalt hineinstellt. Wenn wir
dies in Betracht ziehen, müssen wir sagen: In einen
seelisch-geistigen Inhalt des Menschseins hineinschauen
kann der, welcher in der Lage ist, hinter das Ich zu schauen.
Wer einen solchen Weg durchmacht, dem wird auch oft nahegelegt,
gewisse Gefühle zu entwickeln. An der Art wie diese
Gefühle sind, zeigt sich schon, wie auch der Weg ist. So
muß man lernen, wunschlos zu sein gegen kommende
Erlebnisse, lernen, wunschlos zu werden, und namentlich sich
Furcht und Angst vor kommenden Ereignissen abzugewöhnen.
Man muß lernen, kaltblütig zu sagen: Du
läßt alles an dich herankommen, was auch kommen mag,
und sich das nicht bloß in einer trockenen, abstrakten
Vorstellung zu sagen, sondern es sich zum innersten Gefühl
zu machen. Fatalist braucht man deshalb nicht zu werden, denn
man muß selbst dabei eingreifen ins Leben. Fatalist ist
man, wenn man denkt, daß alles von selbst geschieht. Aber
dieses absolute Gleichgewicht als Gefühl und Empfindung
dem Ich einzuimpfen, das ist etwas, was nach dem
geistigseelischen Wesen des Menschen eine solche Kraft
hinstößt, die das Ich ausschaltet von den
Wahrnehmungen, die sich in unser Bewußtsein bereits
hineinstellen. So bleibt man innerhalb der Ich-Welt darinnen
stehen, nimmt aber eine neue Welt von inneren Seelenerfahrungen
auf. Diese machen es einzig und allein möglich, daß
man den innersten Wesenskern des Menschen, der sich zwar
von der Geburt an entwickelt als das, was aus einem
vorhergehenden Leben stammt, aber nicht in Wahrheit erkannt
werden kann, nun in seiner wahren, individuellen Gestalt sehen
kann. Man muß ihn erst sehen wie er ist, wie er
unmittelbar in der Gegenwart ist und arbeitet. Wie soll man
sich an etwas erinnern, auf das man noch nie die Augen gewendet
hat? Wie das Kind dasjenige auch im Bewußtsein nicht hat,
was sich vor der Entwickelung der Ich-Wahrnehmung
abgespielt hat, so kann der Mensch diejenigen Erlebnisse
vorheriger Geburten nicht in sein Gedächtnis
hereinnehmen, die nicht aufgebaut sind auf einer Erkenntnis des
inneren Wesenskernes des Menschen, auf Gefühlen und
Empfindungen des geistigen und seelischen Kernes, der in jedem
Menschen ist.
Wer
das wirklich durchmacht, wer vor allen Dingen lernt, sich die
Rückschau in frühere Leben dadurch zu erkaufen,
daß er mit Gleichmut und Gelassenheit wunschlos der
Zukunft entgegenschaut, der wird sehen, daß die
früheren Erdenleben nicht bloß eine logische
Schlußfolgerung sind, sondern durch ein neu entstandenes,
wirklich hervorgerufenes Gedächtnis als
Realität sich erweisen. Aber dazu ist eines notwendig. Die
Möglichkeit, in die Vergangenheit zu schauen, kann
nur erkauft werden durch Wunschlosigkeit, durch Gleichmut und
Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft. Soweit wie
wir in unseren Gefühlen und Empfindungen darauf
gefaßt sind, die Zukunft zu erleben, soweit wie wir unser
Ich ausschalten können gegenüber dem Erleben der
Zukunft, so weit sind wir imstande, in die Vergangenheit zu
schauen. Und je mehr der Mensch diesen Gleichmut entwickelt,
desto mehr nähert er sich dem Zeitpunkt, wo die
vergangenen Erdenleben eine Realität für ihn
sind.
So
können wir den Grund angeben, warum für das
gewöhnliche Menschenleben oft gesagt werden kann, eine
Erinnerung sei nicht da. Dieser Einwand ist ebenso, wie wenn
jemand ein Kind von vier Jahren bringen würde und sagte:
Dieses Kind kann nicht rechnen, und nun daraus schließen
wollte: Also kann der Mensch nicht rechnen! Dagegen könnte
man nur erwidern: Laß das Kind zehn Jahre alt werden, und
es kann rechnen. Also kann der Mensch rechnen! — Die
Erinnerung an die vergangenen Erdenleben ist eine Sache
der Entwicklung! Daher ist es notwendig, daß man
durch das Zwingende des logischen Schlusses, der an die Spitze
des heutigen Vorträges gestellt worden ist,
darüber nachdenken lernt. Dann wird man finden, daß
ein geistig-seelischer Wesenskern des Menschen da sein muß
und daß wir ihn durch den Tod hindurch in ein neues Leben
hinübertragen, wie wir ihn durch die Geburt in dieses
Leben hineingetragen haben.
So
kann Geisteswissenschaft nicht in einfacher Weise, sondern so
wie es sachlich richtig ist, auf das hinweisen, was im Menschen
gegenüber Leben und Tod ewig ist. Und wir dürfen
sagen: Die logische Schlußfolgerung über Tod und
Leben in bezug auf die menschliche Wesenheit sagt uns von
vornherein, daß in dieser menschlichen
Individualität die Möglichkeit auch zur
Erringung des Gedächtnisses für die vergangenen Leben
vorhanden ist. Dann braucht man auch nicht mehr zu sagen: Wenn
man sich nicht daran erinnern kann, nutzen einem die
vergangenen Erdenleben nichts! Nutzt einem denn nur das, an was
man sich erinnert? Sind nicht auch für das Kind die
Zeiten wichtig, an die es sich nicht erinnert? Wir tragen in
uns die Früchte vergangener Leben. Wir entwickeln in uns
— ohne unser Bewußtsein — im
gegenwärtigen Leben das, was wir aus früheren Leben
haben. Und wenn wir anfangen, in frühere Erdenleben
zurückzusehen, dann ist ja die Rückerinnerung da.
Dann können wir uns auch sagen, wie gut es war, daß
wir uns in früheren Zeiten nicht zurückerinnert
haben. Es ist zum Beispiel die Rückerinnerung nicht nur
erst durch das zu erringen, was ich an Gefühlen und
Empfindungen für das zukünftige Leben charakterisiert
habe, sondern sie ist sogar nur verträglich mit einer
solchen geschilderten Seelenverfassung. Wenn sie auf eine
künstliche Weise einträte und ihr dennoch der Mensch
ein von Egoität durchdrungenes Wunsch- und Begierdenleben
zur Seite stellen würde, müßte sein
geistig-seelisches Leben aus dem Gleichgewicht kommen,
müßte aus den Fugen gehen. Denn gewisse Dinge
gehören zusammen — und gewisse andere Dinge
stoßen sich ab.
So
konnten wir verfolgen das, was im Menschen ewig ist, was durch
die Geburt ins Leben tritt, was aus dem Leben durch den Tod in
geistige Welten übertritt und in neuen Verkörperungen
wiedererscheint. Und verbunden damit ist, wie wir nur dadurch
in neuen Verkörperungen uns höher entwickeln
können, daß wir die Früchte aus den
früheren Leben verwerten. Heute sollten die Beziehungen
des menschlichen Wesenskernes zu diesen beiden Begriffen
gezeigt werden. Wenn wir das vor Augen haben, werden wir nicht
mehr bei der Frage nach dem Wesen von Leben und Tod zur Antwort
geben: Das Wesen des Todes erkenne man an der Leiche,
— sondern wir werden sagen: Wir suchten im innersten
Wesenskern des Menschen dasjenige, was neues Leben
herbeiführen muß. Damit aber neues Leben entstehen
kann, muß das alte nach und nach absterben und dann ganz
erlöschen, ebenso wie die alte Pflanze, wenn sie
einjährig ist, absterben muß, damit die neue Pflanze
das Leben aus ihr nehmen kann. Wer so die Welt des Todes
betrachtet, wird nicht auf das hinschauen, was als Leiche
übrigbleibt, sondern er wird in jedem Wesen auf das
Charakteristische des Lebens hinschauen, das in ein neues
Leben hinübergeführt wird. Mag also auch Shakespeare
den düsteren Dänenprinzen dasjenige aussprechen
lassen, was für viele scheinbar aus den sicheren Tatsachen
der heutigen Wissenschaft folgen kann:
Der große Cäsar, tot und Lehm geworden,
Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.
O daß die Erde, der die Welt gebebt,
Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt.
Liegt einer solchen Betrachtung nur das zugrunde, was die Wege
des Absterbenden sind, so wenden wir uns, indem wir aus der
Geisteswissenschaft heraus den Menschen betrachten, an
den geistig-seelischen Wesenskern, der durch Geburt und Tod und
durch immer neue Leben hindurchgeht. Und wir gewinnen die
Zuversicht, indem wir nicht die Wege verfolgen, die Sauerstoff,
Kohlenstoff, Stickstoff gehen, sondern die Wege des Lebens
suchen, indem wir auf das sehen, was der eigentliche Wesenskern
des Menschen durchmacht, daß wir dem Worte
Shakespeares das andere Wort gegenüberstellen
können:
Der kleinste Erdenmensch,
Ein Sohn der Ewigkeit,
Besiegt in immer neuen Leben
Den alten Tod
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