GALILEI, GIORDANO BRUNO UND GOETHE
Berlin, 26. Januar 1911
Es
ist eine weite Spanne Zeit, die übersprungen werden
muß, wenn der geistige Blick sich von jener großen
Persönlichkeit, von dem Zarathustra oder Zoroaster,
welcher den Gegenstand des letzten Vortrages dieses Zyklus
bildete, wenden soll bis zu jenen drei großen
Persönlichkeiten, welche heute unseren Betrachtungen
zugrunde liegen sollen. Von dem, was Jahrtausende vor unserer
christlichen Zeitrechnung liegt und was uns nur
erklärlich sein konnte dadurch, daß wir
für jene Zeit ganz andere Seelenverfassungen bei den
Menschen voraussetzten, gehen wir herauf bis in diejenige Zeit
des sechzehnten, siebzehnten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung,
in welcher derjenige Geist, welcher bis in die Gegenwart herein
in allen nach vorwärts sich bewegenden
Kulturströmungen der Menschheit tätig und regsam ist,
zuerst aufgeleuchtet ist. Zeigen soll sich uns dann, wie dieser
Geist, der im sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert so gewaltig
aufleuchtet in Persönlichkeiten wie Giordano Bruno
und Galilei, dann in einer gewissen Weise eine
umfassende Ausgestaltung in einer Persönlichkeit
gefunden hat, die uns so nahesteht wie diejenige
Goethes. Galilei und Giordano Bruno sind die beiden
Namen, die wir nennen müssen, wenn wir des Anfangs
derjenigen Zeitepoche in unserer Menschheitsentwickelung
gedenken müssen, in welcher die Naturwissenschaften
an demselben Wendepunkte standen, an dem heute die
Geisteswissenschaft steht. Was damals zuerst geradezu in einer
gewaltigen Weise für das naturwissenschaftliche Denken
getan worden ist, das muß in einer gewissen Weise im Laufe
der nächsten Zeiten für das geisteswissenschaftliche
Denken geschehen. Das wird uns insbesondere naheliegen, wenn
wir — um im vollen Sinne des Wortes Galilei und Giordano
Bruno zu verstehen — den Blick werfen auf die ganze Art
und Weise des Denkens und Fühlens der Menschheit in
der Zeit, in welche Galilei und Giordano Bruno um die Wende des
sechzehnten, siebzehnten Jahrhunderts hineingestellt
waren.
Da
müssen wir allerdings auf eine zunächst ganz
eigenartige Vertretung dessen zurückblicken, was man
für die vorangehenden Jahrhunderte — etwa für
die Zeit vom elften bis zum fünfzehnten Jahrhundert
— im weitesten Umfange als Wissenschaft bezeichnete. Man
muß sich klarmachen, daß für diese
Jahrhunderte die Popularisierung, die allgemeine Bekanntmachung
des Wissenschaftlichen eine ganz andere Gestalt als später
in unserer Zeit haben mußte. Denn wir sprechen da von
denjenigen Jahrhunderten, in denen es noch keinen Buchdruck
gab, in denen die weitaus größte Anzahl der Menschen
darauf angewiesen war, nur das als geistiges Leben
entgegenzunehmen, was in Kirchen, Schulen oder dergleichen
durch das mündliche Wort gebracht wurde. Daher ist
es gerade für jene Zeit so bedeutsam, daß man
sich ein Bild davon macht, wie der gelehrte, wissenschaftliche
Betrieb war. In den Zeiten, die dem Zeitalter des Galilei
und Giordano Bruno vorangegangen sind, kann ein
wissenschaftlicher Betrieb dem Menschen von Heute nur schwer
verständlich sein; man kann ihn nur verstehen, wenn
man sich in etwas ganz anderes hineinfinden kann, als was heute
gang und gäbe ist. Damals hätte man in jeden
Hörsaal, überall wo Wissenschaft betrieben
worden ist — sagen wir Naturwissenschaft dieses
oder jenes Gebietes, auch Medizin und so weiter —, gehen
können und man würde gehört haben, daß der,
welcher etwas aus der Wissenschaft der damaligen Zeit vortragen
wollte, nicht etwa auf das, was man in der damaligen Zeit in
diesem oder jenem Institute beobachtet hatte, wie dieses heute
geschieht, wo die wissenschaftlichen Methoden beachtet werden,
ganz und gar sich stellte, sondern auf etwas, was allem
Vorgetragenen, allem Betriebe des Wissenschaftlichen
zugrunde lag in den alten Schriften des allerdings für
seine Zeit unendlich bedeutsamen Aristoteles. Wie ein
geistiger Riese ragt dieser Aristoteles empor, wenn man den
Fortschritt der Menschheit geschichtlich betrachtet. Was
er für seine Zeit geleistet hat, ist ein unendlich
Bedeutsames. Was uns aber jetzt interessiert, ist, daß die
Bücher des Aristoteles oft gar nicht in der Form, wie sie
in der Ursprache vorhanden waren, gelesen wurden, sondern es
wurde überall zugrunde gelegt, wie die Uberlieferung
war: das gab den Ton an. Was man auch vortrug: über das,
was Prinzip, Grundsatz war, was überhaupt irgendwie
für eine Wahrheit in Betracht kam, darüber sagte man:
Aristoteles hat über diesen Gegenstand so und so
gedacht. So steht es im Aristoteles! — Während
der heutige Forscher oder derjenige, der irgendwie die
Wissenschaft selbst nur vorträgt oder sogar nur in
populärem Stile vorträgt, sich darauf beruft,
daß dieses oder jenes da oder dort beobachtet worden ist,
berief man sich in den Jahrhunderten von Giordano Bruno und
Galilei darauf, daß vor so und so viel Jahrhunderten der
tonangebende Aristoteles diese oder jene Behauptung
über diesen oder jenen Gegenstand gemacht hat. Geradeso
wie man sich heute in bezug auf das Geistige auf die
religiösen Urkunden und ihre Uberlieferung beruft und
nicht auf die unmittelbare Beobachtung geht, so berief man sich
damals in den Wissenschaften nicht auf die Natur und ihre
Beobachtung, sondern auf das Uberlieferte, auf
Aristoteles.
Es
ist außerordentlich interessant, sich selbst noch in eine
solche Universitäts-Vorlesung zu vertiefen, um zu sehen,
wie die Mediziner überall bei ihren Kollegs die Theorien
des Aristoteles zugrunde legten. Aristoteles aber war ein
geistiger Riese. Und wenn man auch sagen müßte,
daß selbst eine solche geistige Persönlichkeit nach
Jahrhunderten nicht mehr unverändert vorgetragen
werden sollte, so kann man auf der andern Seite doch wieder mit
Recht denken: da Aristoteles so Bedeutsames und
Großartiges geleistet hat, so müßten die
Menschen doch, wenn sie auch nichts Neues gelernt hätten,
wenn man ihnen immer wieder den jahrtausendealten Aristoteles
vorgebracht hat, etwas Bedeutsames in ihre Köpfe
hineinbekommen haben, denn es müßte bedeutend und
nützlich gewesen sein, die tief einleuchtenden Lehren und
Theorien des Aristoteles zu empfangen. Das war aber dennoch
nicht der Fall, und zwar deshalb nicht, weil die, welche diese
Lehren damals vortrugen und sie nach dem Aristoteles
überall verkündigten, in der Regel nichts von
Aristoteles verstanden, weil es im Grunde genommen eine
unglaublich mißverstandene Lehre war, die da vorgetragen
und überall vor Galilei und Giordano Bruno als
«aristotelisch» gelehrt wurde. Ich will heute vom
Standpunkt der Geisteswissenschaft nur das eine hervorheben,
das zeigen soll, wie damals Galilei und Giordano Bruno sich in
das geistige Leben ihrer Zeit hineinstellen mußten.
Ich habe die Sache, die keine Anekdote ist sondern eine
Wahrheit, oft erwähnt, will daher jetzt nur noch einmal
darauf aufmerksam machen.
Da
war einer der vielen Gelehrten, die auf Aristoteles schworen,
der selbst mit Galilei befreundet war. Galilei war — wie
auch Giordano Bruno — ein Gegner der Aristoteliker, nicht
des Aristoteles, und zwar aus gutem Grunde. Galilei wies darauf
hin, daß man sich an das große Buch der Natur, das
zum Menschen spreche, selber wenden und nicht nur aus den
Büchern des Aristoteles entnehmen sollte, was der Geist in
der Natur bedeutet. Nun hatten die Aristoteliker eine
merkwürdige Lehre damals vertreten: daß die Nerven,
das ganze Nervensystem des Menschen vom Herzen ausginge, und
daß vom Herzen aus sich die Nerven bis zum Gehirn hinauf
und durch den ganzen Leib verbreiteten. Das — sagte man
— habe Aristoteles gelehrt, und das sei wahr! Galilei,
der nicht auf alte Bücher und alte Überlieferungen,
sondern auf das hinweisen wollte, was man sieht, wenn man den
menschlichen Leib untersucht, wies darauf hin, daß
die Nerven vom Gehirn ausgingen, und daß die
hauptsächlichsten Nerven vom Gehirn aus ihren Ursprung
nehmen. Nun sagte dies Galilei seinem Freunde, er solle sich
überzeugen, wie die Nerven vom Gehirn ausgingen. Ja, ich
will es schon sehen, sagte der Betreffende und ließ es
sich zeigen am menschlichen Leibe. Da war dieser Gelehrte, der
glaubte, ein guter Aristoteliker zu sein, höchst erstaunt
und meinte zu Galilei: Es schaut fast so aus, als wenn die
Nerven vom Gehirn ausgingen, aber Aristoteles sagt doch,
daß die Nerven vom Herzen ausgehen, und wenn hier nun ein
Widerspruch zustande kommt, so glaube ich dem Aristoteles und
nicht der Natur!
Das
waren die Ausdrücke, die Galilei damals zu hören
bekam. Aristoteles wurde zu allem herbeigezogen, was nur
irgendwie Wissenschaft sein sollte. So wollte auch einmal ein
kirchlich gesinnter Gelehrter über die
Unsterblichkeitsfrage schreiben. Wie schrieb man damals?
Man nahm, was man vertreten wollte, aus der Kirchenlehre, und
nahm das dazu, was man glaubte, aus dem Aristoteles
anführen zu können, um die betreffende Frage so oder
so beweisen zu können, wie man sie beweisen wollte. Da
hatte der betreffende Mann, der innerhalb des Verbandes
der Geistlichkeit stand, allerlei Stellen in der Absicht
herangezogen, über die Unsterblichkeitsfrage das
zusammenzubringen, was die rechte Meinung des Aristoteles sei.
Das ist nun wieder eine Wahrheit: da hat — weil die
Geistlichen ihre Bücher den Oberen vorlegen mußten
dieser Obere dem Betreifenden gesagt: Es ist gefährlich,
man wird es nicht approbieren können, denn die
Auszüge aus dem Aristoteles könnten auch das
Gegenteil beweisen. — Da schrieb der Verfasser
zurück: Wenn es nur darauf ankäme, noch deutlicher zu
beweisen, daß Aristoteles etwas gemeint habe, was
annehmbar sei, dann würde er es durch ein anderes Zitat
belegen. Denn das könnte man auch machen! — Kurz, es
wurde Aristoteles in jeder Weise gebraucht und
mißbraucht.
Von
diesem ausgehend wollen wir sehen, wie Aristoteles in der Zeit
vor Giordano Bruno und Galilei mißverstanden worden ist,
und wollen dazu gerade dieses Beispiel nehmen von dem Ausgang
der Nerven vom Herzen. Was dahintersteckt, versteht man
nur, wenn man weiß, daß Aristoteles, der am Ausgang
der alten griechischen Kultur stand, damit auch zugleich am
Ausgange derjenigen Zeit stand, in welcher das alte
hellseherische Bewußtsein geherrscht hat. Und indem
Aristoteles in seine Vorzeit hinaufsah, hatte er eine
Wissenschaft überliefert, die herausgeboren war aus einem
hellseherischen Bewußtsein, welches hinter die sinnlidie
Welt in die geistige Welt hineinschaute. Dieses Bewußtsein
hatte die alten Wissenschaften zustande gebracht. Und das, was
uralte Wissenschaft war, was auch durch das Griechentum
als uralte Wissenschaft heraufgelangt war, hatte
Aristoteles, der selbst nicht mehr in der Lage war, ein
solches hellseherisches Bewußtsein zu entwickeln, der nur
ein intellektuelles Bewußtsein hatte, als ein
Letzter registriert. Darüber sollte man nachdenken. Denn
nicht umsonst ist Aristoteles der Begründer der Logik in
der Geschichte! Das ist er, weil das intellektuelle, das
beweisende Denken das maßgebende wurde. Aristoteles war
also der, welcher uralte Lehren aufnahm und sie in ein
logisches System in seinen Schriften brachte, so daß wir
manches bei ihm nur verstehen, wenn wir wissen, was damit
eigentlich gemeint ist. Und wenn Aristoteles von Nerven
spricht, müssen wir dieses Wort bei ihm nicht so nehmen,
wie es unser Zeitalter nimmt, auch nicht so, wie es das
Zeitalter des Galilei und Giordano Bruno nahm, das ja dem
unsrigen schon ganz verwandt ist, sondern wir müssen
folgendes wissen. Indem Aristoteles von dem Nervenverlauf
spricht, hat er dasjenige im Auge, was wir heute wiederum
kennen als das nächste an den physischen Leib des Menschen
sich anschließende übersinnliche Glied der
Menschennatur: als den übersinnlichen Ätherleib des
Menschen. Das ist etwas, was mit dem vorrückenden
Menschenbewußtsein sich allmählich verloren hat aus
dem, was der Mensch sehen kann. Aristoteles sah es auch nicht
mehr, aber er übernahm diese Anschauung von den Zeiten, da
das hellseherische Bewußtsein nicht nur den
physischen Leib, sondern auch die ätherische Aura,
den Ätherleib gesehen hat, der der eigentliche Aufbauer
und Kraftträger des physischen Leibes ist. Aus den Zeiten,
da man den Ätherleib so sah wie jetzt das Auge die Farben,
nahm Aristoteles seine Lehre. Und wenn man nicht auf den
physischen Leib, sondern auf den Äther leib blickt, dann
ist in der Tat der Ausgangspunkt für gewisse
Strömungen, die jetzt Aristoteles dem zugrunde legte, was
man etwa gewöhnlich hinter dem Ausdruck «Nerv»
sucht, nicht das Gehirn, sondern die Herzgegend. So meinte
Aristoteles nicht unsere heutigen Nerven, sondern durchaus
übersinnliche Strömungen, übersinnliche
Kräfte, die vom Herzen ausgehen, zum Gehirn hingehen und
nach den verschiedenen Richtungen des menschlichen Leibes
verfließen. Das sind Dinge, die erst wieder die
Geisteswissenschaft durch die Erkenntnis der
übersinnlichen Teile und Glieder der Menschennatur
begreiflich machen kann.
Nun
hatte man, weil die Menschen ja nicht in der Lage waren,
übersinnlich zu sehen, auch schon in den Zeiten, die dem
Zeitalter des Giordano Bruno und Galilei vorangegangen
waren, keine Ahnung mehr davon, daß Aristoteles die
Ätherströmungen gemeint hat; man glaubte, er meinte
die physischen Nerven, und behauptete deshalb: Aristoteles hat
gesagt, die physischen Nerven gehen vom Herzen aus. Das meinten
die Aristoteliker. Das konnten aber die, welche wußten,
was in dem Buche der Natur steht, den Aristotelikern nicht
zugeben. Daher der große Streit zwischen Galilei, Giordano
Bruno und den Aristotelikern, da den richtigen Aristoteles
niemand verstand — natürlich auch nicht
Galilei und Giordano Bruno, die sich keine Mühe gaben, in
den ursprünglichen Aristoteles einzudringen. Sie
waren aber daher die großen Kulturträger
für ihr Zeitalter und wiesen von der
Buchgelehrsamkeit auf das große Buch der Natur hin,
der Natur, die vor allen ausgebreitet ist.
Ein
Mann — ich habe auch das schon einmal erwähnt den
ich als Philosophen sehr schätze, der im Jahre 1894 Rektor
der Wiener Universität war und eine Rektoratsrede
über Galilei hielt, Laurenz Müllner, machte in
dieser Rede darauf aufmerksam, daß Galilei in seiner
umfassenden Größe mit seinem Verstände die
großen Gesetze der Mechanik, der Raumeswirkungen
durchschaut hat, die uns am meisten auffallen und zu unserem
Herzen sprechen, wenn wir zum Beispiel der Peterskirche in Rom
ansichtig werden. Wenn dieser mächtige Bau auf uns wirkt,
dann erfährt tatsächlich jeder etwas, was wir
verstehen können. Ich will es durch eine kleine
Tatsache, die immerhin bezeichnend dafür ist,
charakterisieren.
Es
fuhren einmal der Wiener Feuilletonist Speidel und der
Bildhauer Natter in die Gegend von Rom. Als sie in die
Nähe von Rom kamen, da hörte Speidel eine ganz
merkwürdige Bemerkung von Natter, der in einer
gewissen Weise ein genialer Geist war. Plötzlich sprang
Natter nämlich auf, und der Freund wußte gar nicht,
was eigentlich mit ihm los war, er hörte nur die Worte:
«Mir wird angst!» Er kam erst später darauf,
weil Natter schwieg, daß dieser ganz von ferne den Turm
der Peterskirche mit der Kuppel gesehen hatte.
So
etwas wie ein Staunen über die
Raumeskräfteverteilung, die da aus der
Genialität des Michelangelo entsprungen ist,
kann jeden überfallen, der diesen eigentümlichen Bau
sieht. Da machte denn Laurenz Müllner auf die
Tatsache aufmerksam, daß die Menschheit durch
Galilei, diesen großen Denker, die Möglichkeit
erhalten hat, mathematisch-mechanisch solche
Raumesverteilungen zu denken, wie sie uns in dem schönen
Gebilde der Kuppel der Peterskirche zu Rom entgegentreten.
Gleichzeitig aber muß man betonen, daß fast in
der Todesstunde des Michelangelo, des Erbauers der
Peterskirche, Galilei geboren worden ist, der die mechanischen
Gesetze gefunden hat. Das heißt: Es entsprang aus den
Geisteskräften des Michelangelo diejenige Verteilung
der Raumeskräfte, die der Menschheit für den
Intellekt erst später zugänglich wurde.
An
diesem Beispiel kann man begreifen, daß das, was man
verstandesmäßiges, intellektuelles Wissen nennen
kann, viel später kommen kann als das Zusammenstellen
dieser Dinge in dem Raum. Wird so etwas einmal wirklich
denkerisch betrachtet, dann werden es die Menschen eher
für möglich halten, daß das Bewußtsein der
Menschen eine Änderung erfahren hat: daß die Menschen
früher ein gewisses Hellschen hatten und daß die Art
des Denkens durch den Intellekt gar nicht so weit
zurückgeht, sondern daß durch ganz gewisse
geschichtliche Notwendigkeiten diese Art des Denkens erst in
der Zeit des fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten
Jahrhunderts entstehen konnte. Und Geister wie Galilei und
Giordano Bruno bedeuten die ersten Tonangeber dessen, was dann
kommen sollte. Daher ihre starke Opposition gegen die
Aristoteliker und namentlich gegen die, welche den Aristoteles,
der als ein Ausdruck alter Wissenschaft genommen werden
könnte, erst falsch auslegten und ihn dann so auf die
Natur anwandten. Damit haben wir zugleich die Weltstellung
Galileis bezeichnet.
Oh,
Galilei war im höchsten Sinne des Wortes der, welcher
zuerst in die Menschheit jene Art strengen
naturwissenschaftlichen Denkens hineinstellte, man
möchte sagen, jene Art von Verhältnis der
Naturwissenschaft zur Mathematik, wie sie für die
ganze folgende Zeit bis in unsere Zeit herein tonangebend
geworden ist. Was ist das Eigentümliche an Galilei?
Galilei — ganz in dieser Beziehung ein Kind seiner Zeit
— sagte sich mit einem kühnen Mut zuerst folgendes.
Ich versichere Sie, mit solchen Worten kann man die Empfindung,
die Galilei hatte, umschreiben, denn um die ganze Seele, die
ganze Verfassung des Geistes Galileis zu begreifen, muß
man das, was er empfand, etwa so beschreiben: Da stehen
wir als Menschen auf der Erde. Es breitet sich vor uns die
Natur aus mit allem, was sie unseren Sinnen, unserem
Verstände zu geben vermag, der an das Instrument des
Gehirns gebunden ist. Durch die Natur — so sagt etwa
Galilei an unzähligen Stellen seiner Schriften —
durch die Natur spricht ein Göttlich-Geistiges. Wir
Menseilen schauen mit unseren Augen die Natur an und
betrachten sie mit den anderen Sinnen. Was da unsere Augen
wahrnehmen, was durch unsere Sinne empfunden wird, das ist aber
hineingedacht in die Natur durch göttlich-geistige
Wesenheiten. Zuerst leben die Gedanken der
geistig-göttlichen Wesenheiten, dann kommen —
herausspringend aus den Gedanken der göttlich-geistigen
Wesenheiten — die sinnlichen Dinge der Natur wie die
Offenbarungen der Gottesgedanken, und dann kommt unser
Wahrnehmungsvermögen, vor allen Dingen unser
Verstand, der an unser Gehirn gebunden ist. Dann stehen wir da,
um zu entziffern, wie aus den Buchstaben ein Buch wird und
dasjenige zustände kommt, was der Autor gemeint hat,
das heißt, was die göttlichen Gedanken in der Natur
zum Ausdruck brachten.
Galilei stand durchaus auch auf dem Standpunkt, auf dem alle
großen Geister der Weltentwickelung gestanden haben,
daß in den Naturerscheinungen, in den Naturtatsachen
etwas wie Buchstaben gegeben ist, die den Geist der
göttlich-geistigen Wesenheiten zum Ausdruck bringen. Der
menschliche Geist ist dann dazu da, um zu lesen, was die
göttlich-geistigen Wesenheiten in die Formen der
Mineralien, in den Verlauf der Naturerscheinungen, selbst
in den Verlauf der Sternbewegungen hineingeschrieben haben. Die
menschliche Natur ist dazu da, zu lesen, was der göttliche
Geist gedacht hat. Nur unterscheidet sich der göttliche
Geist von dem menschlichen im Sinne Galileis dadurch, daß
für den göttlichen Geist alles, was es gibt zum
Denken, auf einmal unbegrenzt von Raum und Zeit in einem
Augenblicke ausgedacht ist.
Nehmen wir das nur für ein Gebiet — für das
Gebiet der Mathematik —, so werden wir schon sehen, wie
eigenartig dieser Gedanke war. Denken Sie sich, wenn jetzt
einer die ganze Mathematik, so weit sie schon von Menschen
studiert ist, gebraudit, so muß er sich lange quälen,
bis er sie beherrscht. Diejenigen, die hier sitzen,
werden wissen, wie sehr die Auffassung mathematischer Gedanken
durch den Menschen von der Zeit abhängig ist. Nun dachte
Galilei sich: Was der Mensch im Laufe langer Zeiten
erfaßt, das ist für den göttlichen Gedanken in
einem Augenblicke da, ist nicht begrenzt von Raum und Zeit. Der
menschliche Geist — dachte er sich — muß vor
allen Dingen nicht glauben, daß er mit seinem
Verstände, der an Raum und Zeit gebunden ist, den
göttlichen Geist schnell erfassen kann, er muß
versuchen, Schritt für Schritt zu beobachten,
lichtvoll die einzelnen Erscheinungen zu beobachten. Er
muß nicht glauben, daß man die einzelnen
Erscheinungen überfliegen kann, daß man
überspringen kann, was Gott als Grund der
Erscheinungen vorgedacht hat. Galilei sagte sich: Es ist
übel bestellt mit den Denkern, die nicht durch
strenge Beobachtung dessen, was vor unserem Verstände in
der Natur ausgebreitet ist, zur Wahrheit kommen wollen,
sondern die durch ihre Spekulation, indem sie die einzelnen
Dinge überfliegen, schnell zur Wahrheit kommen wollen.
— Aber Galilei sagte das aus anderen Gründen, als es
die sind, aus denen man dies heute oft sagt. Denn nicht deshalb
wollte Galilei den menschlichen Geist auf die Beobachtungen
beschränken, weil er geleugnet hätte, daß der
große Geist mit den «Vorgedanken»
dahintersteht, sondern weil ihm dieser göttliche Geist so
groß und gewaltig und erhaben dadurch erschien, daß
alles, was überhaupt an «Vorgedanken» da ist, in
einem Augenblicke vorhanden ist, weil der menschliche
Geist eine unendliche Zeit zur liebevollen Entzifferung der
Buchstaben braucht, um nach und nach hinter die einzelnen
Gedanken zu kommen. Aus Demut, wie tief der menschliche
Verstand unter dem göttlichen Verstände steht,
ermahnte Galilei seine Zeitgenossen: Ihr könnt nicht mehr
hinter die Dinge schauen, — nicht, weil die Menschen es
überhaupt nicht könnten, sondern weil die Zeit
dafür abgelaufen ist.
Beobachtung, Erfahrung und Selbstdenken war es, was Galilei als
das Maßgebende für seine Zeitgenossen
hinstellte. Er konnte das, weil in gewissem Sinne sein
Geist ganz mathematisch geordnet war, weil er ein so richtig
mathematisches Denken hatte. Es ist ganz wunderbar, wenn wir
zum Beispiel vernehmen, wie Galilei hört, daß in
Holland etwas entdeckt ist wie die Fernrohre, durch die man in
die fernsten Himmelsräume hinausschen kann. Man muß
bedenken, damals gab es keine Zeitungen. Galilei hörte von
Reisenden erzählen, daß in Holland etwas wie
Fernrohre entdeckt worden ist. Da kam er von selbst darauf, als
er so etwas hörte — es ließ ihm keine Ruhe und
er erfand selbständig ein Fernrohr. Da war es das
Fernrohr, mit dem Galilei seine großen Entdeckungen
machte, die sich in das hineinstellten, was seit kurzem durch
das kopernikanische Weltsystem zustande gekommen war. Um diese
Zeit richtig zu verstehen, muß man zwei Dinge
zusammendenken: das eine war, daß die Menschen nichts mehr
von der alten übersinnlichen Wissenschaft verstanden und
daß Galilei ein Pfadfinder für die neue Wissenschaft
war. Und das zweite war, daß es in bezug auf die Sterne
ein Bedeutsames war, daß Kopernikus unmittelbar
vorher dem Weltbilde ein neues Antlitz gegeben hatte durch das
äußere Denken über die Bewegungen der Planeten
um die Sonne. Man muß sich nur einmal in die Lage der
damaligen Menschen und in die Gemüter derjenigen
versetzen, die da seit Jahrtausenden als Menschen geglaubt
haben: Hier-mit dieser Erde — stehen wir fest im Raum!
Und jetzt war dieses Denken geradezu auf den Kopf gestellt: die
Erde mit riesiger Geschwindigkeit sich um die Sonne herum
bewegend! Das war ein Gedanke, der buchstäblich den
Leuten den Boden unter den Füßen wegzog. Man darf
sich gar nicht über den gewaltigen Eindruck wundern, den
ein solcher Gedanke machte, der in der Tat bei allen — ob
sie Gegner waren oder ihm zustimmten — von tiefster
Wirkung war. Für Geister wie Galilei war der Grund, warum
Kopernikus zu dieser Anschauung gekommen war, ganz besonders
ausschlaggebend. Vergegenwärtigen wir uns, warum
Kopernikus besonders zu dieser Anschauung von der Bewegung der
Planeten um die Sonne gekommen war.
Es
herrschte bis dahin ein Weltsystem, das man auch nicht
verstanden hatte, weil es eigentlich geistig gemeint war. So,
wie man es verstand, war es ein vollständig
unmöglicher Gedanke: dieses Ptolemäische
Weltsystem. Denn man mußte sich vorstellen, daß die
Planeten ganz komplizierte Bewegungen beschrieben, Kreise
und noch einmal Kreise in den Kreisen. Es war besonders das
ungeheuer Komplizierte der Vorstellungen, denen man sich
hingeben mußte. Das war es, was solchen Geistern auch
nicht recht zu Gemüte wollte. Kopernikus hat im Grunde
genommen auch keine neue astronomische Entdeckung gemacht. Er
hat sich nur gesagt: Nehmen wir den einfachsten Gedanken, wie
wir die Bewegungen erklären können! — Er hat
das ganze Weltbild in die Einfachheit dieses Gedankens
gestellt. Es war etwas Großartiges, wenn in die Mitte
gelegt wurde die Sonne, und in Kreisen sich herum bewegten die
Planeten, oder, wie später Kepler
nachgewiesen hat, in Ellipsen. Die ganze Anschauung grandios
vereinfacht! Das war es, was besonders auch auf Galilei
überzeugend wirkte. Denn er betonte immer: Es ist dem
menschlichen Verstände angemessen, die Wahrheit in
der Einfachheit anzuerkennen. Nicht das Komplizierte, sondern
die Einfachheit ist das Schöne, — und das Wahre ist
schön!
Wegen der Schönheit und der Schönheit in der
Einfachheit nahm vielfach die damalige Zeit den Gedanken
des kopernikanischen Weltsystems an. Und Galilei fand
besonders das, was er an Einfachheit und an
Schönheit in dem Kopernikus suchte. Jetzt stand er da,
sah, was kaum einmal die Leute glauben wollten: sah die
Jupiter-Monde! Ja, das Auge des Galilei sah zuerst die
Jupiter-Monde, die den Jupiter umkreisen wie die Planeten die
Sonne — ein kleines Sonnensystem: der Jupiter mit seinen
Monden wie die Sonne mit den Planeten. Das war geeignet, ein
Weltsystem zu bestätigen, das ganz auf den Gedanken der
Sinneswelt gebaut war. So war es Galilei, der besonders den
Gedanken des Kopernikus im kleinen für die Sinneswelt
schaute. Dadurch wurde er besonders ein Pfadfinder der
neueren Wissenschaft. So war er es, der zuerst eine Ahnung
davon hatte, daß es Gebirge auf dem Monde, daß es
Sonnenflecken gibt, und daß das, was als ein
Nebelstreifen über die Sterne hingeht, eine ausgesäte
Sternenwelt ist. Kurz, alles das kam, was man nennen kann: eine
in der Sinnesweit ausgedrückte,
«informierte» Schrift der Gottes Weisheit. Das war
es, was so besonders auf Galilei wirkte. Die Zeit, die ganz
aufgehen wollte in dem Anschauen der Sinneswelt, hatte für
Galilei und seinen auf die Mathematik gebauten Geist etwas ganz
Besonderes. Und so wurde Galilei der, der gewissermaßen
den ersten Impuls für die Menschheit gab, zu sagen: Hinter
diesen Sinnenteppich können wir zunächst doch nicht
mit dem normalen Bewußtsein blicken. Das Ubersinnliche ist
für keinen Menschensinn und auch nicht für den
menschlichen Verstand da. Der göttliche Verstand
umfaßt es außerhalb von Raum und Zeit. Der
menschliche Verstand ist an Raum und Zeit gebunden. Also
halten wir uns an das, was in Raum und Zeit für den
menschlichen Verstand gegeben ist!
Da
Galilei so vieles Große tun konnte, ist er
tatsächlich auch philosophisch — wenn wir so sagen
dürfen — einer der wichtigsten Pfadfinder der
neueren geistigen Entwicklung der Menschheit. Was Wunder also,
wenn wir in Galilei zu gleicher Zeit den Geist sehen, der nun
auch für sich klar werden wollte, wie sich eigentlich die
Sinneserscheinungen zum Menschen und zu seinem Seelenleben
verhalten. Man spricht ja auch vielfach in populären
Darstellungen davon, daß sozusagen Kant zuerst
darauf hingewiesen hätte, daß die Welt um uns herum
nur eine Erscheinung sei, daß man nicht vordringen
könnte zum «Ding an sich». In einer etwas
anderen Wendung als Kant hat schon Galilei auf diesen Gedanken
hingewiesen, nur daß er überall hinter den
Sinnesdingen den allumfassenden Gedanken des
Göttlich-Geistigen sah und nur aus Demut annahm,
daß der Mensch sich nur in langen Zeiten dem nähern
könnte,-nicht aus Prinzip. Aber Galilei sagte: Wenn wir
eine Farbe sehen, so macht sie einen Eindruck, zum Beispiel das
Rot. Ist das Rot in den Dingen? — Galilei brauchte einen
sehr bezeichnenden Vergleich, aus dem zugleich
hervorgeht, wie falsch der Gedanke ist; aber darauf kommt es
nicht an, sondern darauf, den Gedanken als Zeitgedanken zu
fassen. Er sagte: Man nehme eine Feder und kitzle einen
Menschen an der Fußsohle oder an der Handfläche: da
empfindet der Mensch einen Kitzel. Ist nun der Kitzel in der
Feder?, fragte er. Nein, er ist etwas ganz Subjektives. In der
Feder ist etwas ganz anderes. Und wie der Kitzel etwas
Subjektives ist, so ist auch das Rot, das draußen in der
Welt ist, etwas Subjektives. — Galilei verglich die
Farben, sogar die Töne mit dem Kitzel, der mit der Feder
auf die Fußsohle ausgeübt wird.
Wenn wir das ins Auge fassen, sehen wir sogar in Galilei schon
dasjenige leben, was als Philosophie gerade der neueren
Zeit gekommen ist, weil die Philosophie der neueren Zeit an der
Möglichkeit zweifelt, daß der Mensch
überhaupt irgendwie hinter den Teppich der
Sinneswelt dringen könnte.
Sehen wir in Galilei den ruhigen, fest auf seinem Boden
stehenden Pfadfinder, so tritt uns in dem etwas älteren
Giordano Bruno — Galilei ist 1564 geboren, Giordano Bruno
1548 — der Mensch entgegen, der unmittelbar in seiner
Persönlidikeit, in der Ganzheit alles das reflektiert, was
in den anderen Geistern — in Kopernikus, in Galilei
selber — wie überhaupt in der damaligen Zeit durch
die Menschenseelen an großen Wahrheiten zog. Aus dem
Geiste Giordano Brunos heraus reflektiert sich uns das alles
wie in einer gewaltigen, umfassenden
Stimmungs-Philosophie. Wie stand Giordano Bruno zur Welt
— sie ganz aus dem Geiste seiner Zeit heraus als seine
eigene tiefste Wesenheit empfindend?
Da
sagte sich etwa Giordano Bruno: Aristoteles —
nämlich wie er den mißverstandenen Aristoteles kannte
— hat noch gesagt, es gäbe eine Sphäre, die bis
zum Mond hinaufreicht, dann die verschiedenen
Sternen-Sphären, dann käme die Sphäre des
Göttlich-Geistigen, und außerhalb der
Sternen-Sphären wäre der bewegende Gott zu suchen.
— Giordano Bruno hatte also vor sich — im
Sinne des Aristoteles — zunächst die Erde, dann die
Sphäre des Mondes und der Sterne, und dann erst
außerhalb dieser Welt und außerhalb dessen, worin der
Mensch lebt, diese Welt im größten Umkreise
drehend und wendend — buchstäbliäi wendend in
den Drehungen und Bewegungen der Sterne — den
göttlichen Geist. Das war ein Gedanke, den Giordano Bruno
nicht mit dem vereinigen konnte, was jetzt die Menschheit
erlebte. Was jetzt die menschlichen Sinne sahen, was der Sinn
sah, wenn er auf Pflanzen, Tiere und Menschen blickte, wenn er
die Berge, Meere, Wolken und Sterne sah, das erschien ihm als
eine bewunderungswürdige Ausgestaltung dessen, was im
Göttlich-Geistigen selber lebt. Und er wollte in dem, was
sich da als Sterne bewegte, was als Wolken durch die Luft zog,
nicht bloß eine Schrift des göttlichen Wesens sehen,
sondern etwas, was zum göttlichen Wesen so gehört wie
die Finger oder die anderen Glieder zu uns selber. Nicht einen
Gott, der von außen, vom Umkreise aus auf das Sinnliche
hereinwirkt, sondern einen Gott, der in jedem einzelnen
Sinnlichen drinnen ist, dessen Körper, dessen gestalteter
Leib die Sinnes weit ist: das war der Grundgedanke Giordano
Brunos. Wollen wir verstehen, wie er zu einem solchen
Grundgedanken gekommen ist, so müssen wir sagen: Es war
das Entzücken, die Seligkeit über diese ganze neue
Zeit dazumal! Da war vorangegangen eine Zeit, in der man nur in
den alten Gedanken des Aristoteles gewühlt hatte. Die
tonangebenden Gelehrten hatten, wenn sie durch Wald und Fluren
gingen, kein Auge für die Reiche der Natur und ihre
Schönheiten, sondern nur Sinn für das, was auf den
Pergamenten stand, was von dem alten Aristoteles stammte. Jetzt
war eine Zeit gekommen, wo die Natur zu dem Menschen
sprach, die Zeit der großen Entdeckungen, wo solche
gewaltigen Geister wie Galilei dazu drängten, von
Angesicht zu Angesicht selbst ein Göttliches in der Natur
zu erkennen. Das ganze Entzücken über dieses
Göttliche gegenüber der entgöttlichten Natur des
Mittelalters — das war gekommen! Das war es, was bei
Giordano Bruno in jeder Fiber lebte.
Geist überall — sagte er — zeigen uns die
Sinnesforschungen, und überall daher, wo uns ein
Sinnliches entgegentritt, zeigt sich uns ein Göttliches!
Es ist nur ein Unterschied zwischen Sinnlichem und
Göttlichem: daß das Sinnliche uns — weil wir ja
eng begrenzte Menschen sind — erscheint im Räume und
in der Zeit. — Aber hinter dem Sinnlichen steht für
Giordano Bruno der göttliche Geist, nicht so, wie er
glaubte, daß er für Aristoteles gestanden habe oder
für die Menschen des Mittelalters, sondern
selbständig, nur daß die Natur sein Leib war, die
alle seine Herrlichkeiten verkündete. Aber der
Mensch kann den ganzen Geist in der Natur nicht
überschauen, sondern er sieht überall nur ein
Stück. In allen Dingen aber, in aller Zeit und allem Raum
ist der göttliche Geist. Darum sagt Giordano Bruno: Wo ist
das Göttliche? In jedem Stein, in jedem Blatt,
überall ist das Göttliche, in jeder Ausgestaltung,
insbesondere aber in den Wesen, die eine gewisse
Selbständigkeit im Dasein haben. — Solche Wesen, die
ihre Selbständigkeit empfinden, nannte er Monaden. Eine
Monade ist für ihn das, was gleichsam im Meere des
Göttlichen schwimmt und schwelgt. Alles, was eine Monade
ist, ist zugleich ein Spiegel des Universums. So dachte sich
Giordano Bruno den Allgeist zersplittert in viele Monaden
— in jeder Monade, die ein selbständiger Geist war,
etwas, was wie ein Spiegel das Universum empfand. Eine solche
Monade ist die Menschenseele, und solcher Monaden gibt es
viele. Selbst im menschlichen Leibe sind viele Monaden,
nicht eine. Wenn wir daher nach Giordano Bruno die Wahrheit
sagen würden über den menschlichen Leib, so
würden wir darin nicht den fleischlich angeordneten
menschlichen Leib zu sehen haben, sondern ein System von
Monaden. Diese Monaden sehen wir nur nicht genau, wie wir auch
nicht bei einem Mückenschwarm die einzelnen Mücken
sehen. Würden wir genau sehen, so würden wir den
menschlichen Leib als ein System von Monaden sehen, und die
Hauptmonade ist die Menschenseele. — Von dem Leben,
wenn es durch die Geburt für die Menschenseele ins Dasein
tritt, sagt Giordano Bruno, es ist so, daß dann die
anderen Monaden, die zur Seele gehören, sich
zusammendrängen und dadurch die Erlebnisse der
Hauptmonade, der Seelenmonade, möglich machen. Wenn der
Tod eintritt, werden von der Hauptmonade die Nebenmonaden
wieder entlassen, breiten sich aus. Geburt ist die
Versammlung von vielen Monaden um eine Hauptmonade. Tod
ist für Giordano Bruno die Trennung der Nebenmonaden
von einer Hauptmonade, damit die Hauptmonade eine andere
Gestalt annehmen kann. Denn jede Monade ist berufen, nicht nur
die eine Gestalt, die wir hier erkennen, anzunehmen, sondern
alle Gestalten, die möglich sind im Universum. An einen
Durchgang durch alle Gestalten denkt Giordano Bruno.
Damit steht er so nahe wie möglich — nur aus einem
Enthusiasmus herausgeboren — der Idee von der
Wiederverkörperung der menschlichen Seele.
Und
in bezug auf die Auffassung der gesamten Wirklichkeit
sagt Giordano Bruno sich: Der Mensch steht zunächst
mit dem normalen Bewußtsein dieser Wirklichkeit
gegenüber. Was ihm zunächst entgegentritt, sind die
Sinneseindrücke. Das ist das erste
Erkenntnisvermögen. Aber es gibt deren vier, sagte
Giordano Bruno. Das erste, wodurch sich der Mensch Erkenntnisse
verschaffen kann, sind die Sinneseindrücke; das
zweite sind die Bilder, die wir in unseren Vorstellungen
bilden, wenn wir die Sinneseindrücke nicht mehr vor
uns haben, sondern uns nur daran erinnern. Da gehen wir schon
tiefer in die Seele herein, ändern auch die
Sinneseindrücke. Dieses zweite
Erkenntnisvermögen nennt er die
Einbildungskraft, wobei nicht an die Bedeutung dieses
Wortes im heutigen Sinne gedacht werden darf, sondern womit im
Sinne des Giordano Bruno gemeint ist: Nachdem der Mensch
aufgenommen hat, was die Sinneseindrücke ihm geben
können, bildet er sich-es ist das ein Im-Innern-Stehen
— in die Eindrücke hinein. Es ist ein von außen
nach innen Gewendet-Werden, also nicht ein Erträumtes,
sondern ein von außen nach innen
«Eingedrücktes». Dann hat Giordano Bruno
den Gedanken, daß der Mensch, indem er die Dinge in dem
Verstände verinnerlicht und dann weitergeht, gerade
dadurch der Wahrheit näherkommt und sich nicht von ihr
entfernt. Daher erkennt Giordano Bruno als das dritte
Erkenntnisvermögen den Verstand an, den Intellekt.
Dabeihat er genau den Moment im Sinne, wo wir von den
Sinnesdingen aufsteigen und uns Gedanken machen, indem von der
übersinnlichen Welt in uns ein Höheres
einströmt, ein Wahreres, als es die
Sinneseindrücke sind. Die vierte Stufe ist für
Giordano Bruno die Vernunft. Die Vernunft ist jetzt
wieder für ihn ein Leben und Weben in einem rein
Geistigen.
So
ist für Giordano Bruno eine Stufenfolge von vier
Erkenntnisstufen vorhanden. Nur unterscheidet er
dieselben nicht in der Weise, wie Sie dies zum Beispiel
angegeben finden können in dem Buche «Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?» als
gegenständliche Erkenntnis, imaginative Erkenntnis,
inspirierte Erkenntnis und intuitive Erkenntnis, sondern er
unterscheidet mehr abstrakt. Daher müssen wir dieses so
auffassen, daß wir sagen: Giordano Bruno steht gerade am
Ausgangspunkt der Zeit, welche das Erkennen für die
sinnliche Anschauung herausfordert und sich daher
Ausdrücke bedient, die uns mehr an die Ausdrücke der
gewöhnlichen Erkenntnis für die Sinneswelt erinnern
als für die höhere Welt. Aber wie Giordano Bruno
hinaufschaut in die geistige Welt aus seiner gewaltigen
Emphase, das können wir daran sehen, daß er sagt: Der
göttliche Geist, der in allem lebt, der in allem seinen
Leib hat, er hat das, was wir als Vorstellungen haben, als die
vor den Dingen zu bedenkenden Ideen. Wie ist die Welt in
Gott? Wie ist der Geist in Gott?, fragt er und sagt: Der Geist
ist in Gott als Idee, als Vorgedanke der Welt. — Und wie
ist für ihn der Geist in der Natur? Als Form, sagt
er, und Giordano Bruno meint damit, was im göttlichen
Geiste vorhanden ist als Ideen, das ist im Kristall, der eine
Form hat, in dem Tier, das Form hat, in dem menschlichen Leib,
der eine Form hat. Und was in den Dingen draußen als Form
ist, das ist in der menschlichen Seele als Vorstellungen.
Ja, noch genauer sagt Giordano Bruno: Die Dinge der Natur sind
die Schatten der göttlichen Ideen; und unsere
Vorstellungen sind die Schatten der göttlichen Gedanken!-
Wohlgemerkt: Unsere Vorstellungen, sagt er, sind nicht die
Schatten der Dinge, sondern die Schatten der göttlichen
Gedanken. — Wenn wir also die Dinge der Natur um uns
herum haben und darin die Schatten der göttlichen Ideen
haben, so werden unsere Vorstellungen dadurch wieder
befruchtet. Indem wir vorstellen, spielt herein der
göttliche Geist mit seinen Ideen, so daß wir einen
Strom haben, kann man sagen, der uns verbindet mit den
göttlichen Ideen.
Wenn man die naturwissenschaftlichen Theorien sich ansieht, was
sich heute als Monismus so un-Giordano-Bruno-mäßig
geltend macht, was so ins Gesicht schlagend ist, das ist,
daß diese Theorien sagen müßten, wenn sie
konsequent sein wollten: Über die göttlichen Gedanken
sprechen wir überhaupt nicht! Das sagt Giordano Bruno aber
nicht. Er ist Spiritualist im eminentesten Sinne des Wortes.
Was er aus der richtigen Begeisterung des Renaissance-Menschen
heraus zu sagen hat, geht auf die Monade, auf ihre
Zusammenziehung durch die Geburt und ihre Ausdehnung durch den
Tod, auf das, was in die Vorstellungswelt von den
göttlichen Gedanken hereinströmt, auf das eine
einzige Wort: Die menschlichen Gedanken sind die Schatten der
göttlichen Gedanken! Wenn man das versteht, hat man
etwas von der Spiritualität des Giordano Bruno verstanden.
Aber eines ist dazu nötig: der Appell zum Begreifen von
dem mißverstandenen Giordano Bruno zu dem, was Giordano
Bruno wirklich war. Er war der Geist, der das, was Galilei mehr
intellektuell für das naturwissenschaftliche Denken
gegeben hat, aus einem überschwenglichen
Enthusiasmus heraus seinen Zeitgenossen übertragen hat.
Daher klingt das, was aus Giordano Bruno stammt, so gewaltig,
wie wenn die ganze Freude, das ganze Entzücken des
damaligen Zeitgeistes, der sehen wollte, wie die Natur im
Sinnlichen webt und lebt, im Geiste des Giordano Bruno
aufjauchzte. Dieses Jauchzen wird selber Philosophie,
weil der göttliche Geist, der überall draußen
lebt, bewußt in der Seele des Giordano Bruno aufgeleuchtet
ist. Daher verstehen wir solche Worte, die mit Recht gerade bei
Giordano Bruno hervorgehoben werden sollen, die wie etwas
klingen, was die Natur selbst den Menschen damals zu sagen
hatte. Nur ein paar Worte seien davon angeführt.
Wie
groß und wunderbar ist es, wenn Giordano Bruno diesen
Gedanken im Gegensatz zu Aristoteles ausspricht: Nicht
draußen, außerhalb der sinnlichen Welt, sondern
überall, wo wir hinblicken, ist der Geist, der Geist der
göttlichen Intelligenz. Es ist nicht die göttliche
Intelligenz in etwas äußerlichem, nicht in etwas,
wovon man dann sagen kann: Ein Etwas stößt im weiten
Umkreise-nicht ein Herumstoßendes, im Kreise
Herumführendes kann sie sein, sondern es ist des
Göttlichen würdiger, ein inneres Prinzip der Bewegung
zu sein, das in allem zu sehen ist, was in der Natur selber
ist. — Das war die Sprache, die in dem damaligen
Zeitalter erklang, das aus Giordano Brunos Seele selber
sprach.
Wie
kann man das eben Gesagte am besten wiedergeben, damit es
so recht zu unserm Herzen spräche? Es hat schon auf diese
Tatsache ein Geist aufmerksam gemacht, der es sich allerdings
hat gefallen lassen müssen, ein zu enthusiastischer
Verehrer des Giordano Bruno genannt zu werden —
Hermann Brunnhof er welcher nachwies, was sich ergibt,
wenn man wörtlich, nur in schöne Verse
gebracht, das ausdrückt, was Giordano Bruno
sagt:
Non
est Deus vel in teiligen tia exterior circumrotans et
circumducens;
dignius enim illi debet esse internum princípium motus,
quod est natura propria, species propria, anima propria, quam
habeant tot quot in illius gremio et corpore vivunt hoc
generali spiritu, corpore, anima, natura anímantia,
plantae, lapides quae universa ut diximus proportionaliter cum
astro eisdem composita ordine, et eadem contemperata
complexionum, symmetria, secundum genus, quantumlibet secundum
specierum numeros singula distinguuntur.
Was
war* ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das
All am Finger laufen ließe! Ihm ziemts, die Welt im Innern
zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So daß,
was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen
Geist vermißt!
So
Zeile für Zeile übersetzt, gibt dieses Goethesche
Gedicht eine poetische Übersetzung Giordano Brunos
aus dem Geiste Goethes heraus! Man kann nicht Goethe sein
— und etwa Giordano Bruno neben sich liegen haben, wenn
man diese Verse hinschreiben will; es mußte dabei etwas
spielen, was niemals spielen kann, wenn Goethe bloß
einfach in poetische Form umgegossen hätte, was
Giordano Bruno gesagt hat. Da sehen wir, wie in Goethe Giordano
Brunos Geist ganz lebendig geworden ist.
Aber wir müssen nicht nur ein paar Jahrhunderte hinauf
gehen, wenn wir von Galilei und Giordano Bruno kommen und
Goethe sprechen lassen wollen, sondern wir müssen
sozusagen auch bekennen, daß dasjenige, was bei Giordano
Bruno wie aus der ersten großen enthusiastischen
Stirnmung, aus der philosophischen Naturstimmung heraus
entsprungen ist, bei Goethe diejenige Stimmung weckt, die
nun mit voller Hingabe wieder von Ding zu Ding geht und den
Gott, den der Mensch nun fühlen gelernt hat in der Natur,
wieder hineinträgt in die Naturdinge. Bei Goethe ist die
Giordano Bruno-Stimmung eben Stimmung geworden,
ist gleichsam mit ihm geboren. Sie war da, als der
siebenjährige Knabe das Notenpult seines Vaters nimmt, es
hinstellt, Mineralien aus seines Vaters Sammlung darauf
legt, um Naturprodukte zu haben, ebenso Pflanzen aus seines
Vaters Herbarium, oben darauf ein Räucherkerzchen
steckt und nun ein Brennglas nimmt, an den Strahlen der
aufgehenden Morgensonne das Räucherkerzchen
entzündet, um so dem Gotte, der in den Mineralien
und Pflanzen lebt und dem er einen Altar errichtet hat, ein
Rauchopfer darzubringen, das von den Kräften der Natur
selbst entzündet ist. So lebt Giordano Bruno um die Wende
des achtzehnten, neunzehnten Jahrhunderts in Goethe —
aber so, daß das, was da als innerste
SeelenVerfassung lebt, Goethe in alle Einzelheiten der
Natur hineintrug. Gerade aus diesem Geiste heraus konnte es
Goethe nicht begreifen, wie dem Menschen — nach
Naturforschem der damaligen Zeit — in so
äußerlicher Weise ein materielles Kennzeichen
zugeschrieben werden sollte, das ihn von den Tieren
unterschiede. Es war so ganz materialistisch gedacht, als
die Naturforscher des achtzehnten Jahrhunderts sagten, der
Mensch habe nicht jenen kleinen Knochen, den die Tiere in der
oberen Kinnlade haben, den Zwischenkieferknochen, und der die
oberen Schneidezähne enthält. Die Tiere hätten
ihn — und das unterscheide den Menschen vom Tier. Es
müßte in der Tat kein Gott sein, der inneres,
bewegendes Prinzip der Natur wäre, sondern ein Gott, der
von außen stieße, von dem Giordano Bruno sagt
«circumrotans et circumducens», müßte es
sein, der zuerst die Tiere gemacht hat und dann den Menschen
daneben gestellt hätte und — wie um eine Marke
anzukleben, daß die Menschen noch etwas anderes sind
— bestimmt hätte: die Tiere haben den
Zwischenkieferknochen, die Menschen haben ihn nicht! Daher wird
Goethe der große Naturforscher, der darauf ausgeht zu
zeigen, wie das, was in der Natur der Form nach lebt, eine
Steigerung erfahren kann, so daß man in der Tat nicht in
so etwas äußerem, wie es der Zwischenkieferknochen
ist, den Unterschied zwischen Mensch und Tier finden
könne, sondern daß im Menschen etwas lebt, was
mit denselben Knochen und Muskein, wie sie die Tiere haben, den
höheren Geist des Menschen ausmacht. Daher kommt es bei
Goethe so wunderbar heraus, daß er nicht nur den
Zwischenkieferknochen findet und zeigt, wie derselbe beim
Menschen verwachsen ist, weil er nur ein untergeordneter
Knochen ist, sondern es kommt bei Goethe auch heraus, wie die
Rückenwirbelknochen aufgeblasen werden können,
wenn der Geist, der in einem Gehirn tätig sein will, dies
braucht.
Wahrhaftig: es war mir immer ganz wunderbar, als ich lange Zeit
mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften gearbeitet hatte
und in ein solches Prinzip einzudringen versuchte, wie das ist,
wo Goethe sich die Schädelknochen einfach als umgestaltete
Wirbelknochen vorstellt, indem diese ausgedehnt und zur
Schädelhöhle werden. Da war es mir ein Gedanke, der
gar nicht anders zu denken war als: Goethe müsse auch die
Idee gefaßt haben, daß das Gehirn selber ein durch
den Geist umgebildetes Rückenmark sei, so daß nicht
nur die Umhüllung, sondern auch das Gehirn selber auf eine
höhere Stufe hinaufgefördert das ist, was in den
Wirbelknochen und im Rückenmark auf einer unteren Stufe
vorhanden ist. Und es war mir ein wunderbarer Augenblick, als
ich auf einem kleinen Zettel von Goethe mit Bleistift
geschrieben fand in den neunziger Jahren, was dann von
Professor Bardeleben mitgeteilt worden ist im Weimarischen
Jahrbuch in einem Aufsatz «Goethe als Anatom»: Das
Gehirn ist im Grunde genommen nur ein umgebildetes Stück
des Rückenmarks.
So
sehen wir in Goethe die Stimmung, die wir bei Giordano Bruno
zum erstenmal finden, auf die einzelnen Glieder der Naturwesen
angewendet, sehen, wie Goethe praktisch den Geist des Giordano
Bruno — dem er ja selbst den Worten nach so nahe steht
— in alles Naturdenken einzuführen versucht.
Daher war es für Goethe so bedeutsam, in der ganzen
Pflanzenwelt eine Umwandlung der Urpflanze zu sehen. Und
neben dem, was Goethe, der Künstler, geleistet hat, steht
groß und gewaltig da, was Goethe als Naturforscher
geleistet hat, weil in gewisser Weise derselbe Geist, der von
hellseherischen Stufen heruntergestiegen war zu einem
sinnlichen Anschauen, sich in Goethe in einer
Persönlichkeit verkörperte, die in der Beobachtung
überall hingebungsvoll das Geistige auch wieder in die
Einzelheiten hineintrug. Was sah Goethe in der einzelnen
Pflanze? Den Ausdruck der Urpflanze. Und was war ihm die
Urpflanze? Das Spirituelle, das Geistige in den einzelnen
Pflanzengebilden. Da ist nun bedeutsam jenes
Gespräch zwischen Schiller und Goethe, als beide in Jena
eine Versammlung der naturforschenden Gesellschaft besucht
hatten. Da ging Schiller heraus und sagte zu Goethe: Es
bleibt doch alles so unbefriedigend, was da über die
Pflanzen gesagt wird, worauf Goethe meinte: Man kann es ja
vielleicht auch anders machen, so daß uns in der Tat nicht
nur erscheint, was die Teile sind, die einem in der Hand
bleiben, sondern was einem das geistige Band ist. —
Goethe nahm nun ein Blatt Papier und zeichnete mit wenigen
Strichen ein Pflanzengebilde vor Schiller hin. Er war
sich klar darüber: das ist nicht bloß in der Lilie
oder im Löwenzahn oder Ranunkulus vorhanden, sondern in
allen Pflanzen, aber in den verschiedenen Pflanzen
vermannigfaltigt. Da sagte Schiller, der dieses Gebilde der
Urpflanze nicht verstehen konnte: Das ist keine Wirklichkeit,
das ist eine Idee! Da war Goethe perplex und meinte nur:
«Das kann mir sehr Heb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es
zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe!» Denn Goethe sah
das Geistige, das sich durch alle Pflanzen hindurch ausbreitet,
sah es so, daß er es sogar zeichnen konnte. Und ebenso war
es mit dem Urtier in allen Tieren.
So
verfolgte Goethe den Gott, der nicht von außen
stößt, sondern der im Innern alles bewegt, verfolgte
den göttlichen Geist, der in allem webt und lebt, ganz
konkret von Pflanze zu Pflanze, aber auch durch Blätter
und Blüte und Frucht, ebenso von Tier zu Tier, aber auch
von Knochen zu Knochen, von Tiergebilde zu Tiergebilde. Und
interessant ist es, daß Goethe wenig verstanden
wurde von seiner Zeit, daß man nicht wußte
— wie ja Schiller auch nicht was Goethe eigentlich
wollte. Aber nach und nach wird sich der Goethesche Geist
einleben, auch in das Naturdenken. Dann wird man
erkennen, daß auch der Goethesche Geist wieder um eine
Stufe über Giordano Bruno hinaus war, daß Giordano
Bruno gesprochen hat von dem Gott, der pantheistisch
überall, in Steinen und Pflanzen und Tieren zu
finden ist, daß aber Goethe zwar auch suchte den Gott, der
nicht von außen stößt, sich aber weiter sagte:
Wir dürfen nicht nur auf das Allgemeine sehen, sondern wir
müssen auch zu den einzelnen Erscheinungen gehen und den
Geist im Einzelnen suchen. — Denn anders lebt der Geist
in der Pflanze, anders im Stein, anders in diesem, anders in
jenem Knochen. Der Geist ist das ewig Bewegliche, der die
einzelnen Teile der Materie formt. Die Materie folgt dem
bewegenden Geist. Das kann man aus einem Geiste heraus
aussprechen, wie es Giordano Bruno tut; das kann man aber auch
in allen Einzelheiten mit der Hingebung suchen, wie es Goethe
tut. Da kommt dann der Mensch immer mehr und mehr dazu,
wirklich an das heranzutreten, was der ausgebreitete Teppich
der Natur an Geist enthält, so daß sich ihm der Geist
darin allmählich enthüllt.
Wenn wir so über die Stufenfolge solcher Geister
denken, wie es Galilei, Giordano Bruno und Goethe waren,
so werden wir uns endlich daran gewöhnen, an das zu
appellieren, was der Grundnerv solcher Geister ist, und nicht
beim Landläufigen stehenbleiben, denn auch über die
großen Geister hören die Menschen so gern Phrasen.
Mit Bezug auf Galilei, der mit seiner großen
göttlichen Idee raumlos und zeitlos in dem Augenblick das
ganze Leben umspannte, kann man wohl fragen: Was wissen denn
unsere Menschen der Gegenwart über die eigentliche
Bedeutung Galileis oftmals viel mehr als das eine
Einzige, was ganz sicher nicht richtig ist, daß er gesagt
haben soll: «Und sie bewegt sich doch!»? Dies ist
zwar eine schöne Phrase, aber etwas — wie Sie aus
den Forschungen des italienischen Gelehrten Angelo de
Gubernatis erschen können —, was ganz
gewiß nicht richtig ist. Und wie oft wird von Goethe immer
wieder und wieder zitiert, daß sein letztes Wort gewesen
sei: «Mehr Licht!» — das Einzige, was er nicht
gesagt hat. Daher ist es notwendig, daß durch das, was
Geisteswissenschaft ist, auch in den Geist solcher
Persönlichkeiten hineingeleuchtet werde, und
daß nicht nur unser eigener Geist, wie wir ihn so gerne
haben möchten, in die verschiedenen Zeiten hineingetragen
werde.
Diese drei Geister, die ein wunderbar gestimmtes Trifolium am
Ausgangspunkte unserer neueren Zeit bilden, die in Galilei und
Giordano Bruno wie eine Morgenröte dastehen, die
dann in Goethe zur Sonne geworden ist, können wir am
besten charakterisieren, wenn wir vielleicht denken an ein Wort
Goethes selber, das uns so recht zeigt, wie er aus dem Geiste
der neueren Zeit heraus empfand, daß selbst das kleinste
Atom von Materie gar nicht sein kann ohne den dahinterstehenden
Geist, der es an das andere heranbringt. Da können wir uns
an die Situation erinnern, die Goethe selber schildert, als er
dasteht, viele Jahre nach Schillers Tode, als man dessen
Knochen in die Fürstengruft bringen wollte, und nun an
einem besonders geformten Schädel den Genius Schillers
wiederzuerkennen glaubte. Er glaubte Schillers Schädel
wiederzuerkennen in einer ganz bestimmt ausgeprägten
Schädelform, die dann auch in die Fürstengruft
übergeführt worden ist. Und es zeigte sich ihm so
recht, was wir an Galilei sahen: daß man in Demut und
mathematisch den Geist finden muß. Sie besteht heute noch,
die alte Kirchenlampe im Dome zu Pisa, die für
unzählige Seelen hin- und hergependelt hat. Aber als
Galilei einst davor saß, maß er an dem eigenen
Pulsschlag die Regelmäßigkeit der Schwingungen der
Lampe und entdeckte daran das heute so wichtige Gesetz der
Pendelschwingungen, das ihm ein Gedanke der Gottheit war.
Und so vieles. In Goethe ging am Grabe Schillers der Gedanke
auf, der in Giordano Bruno lebte aus seiner philosophischen
Begeisterung heraus: Geist ist in aller Materie,
überall, aber nicht herumstoßend und
herumführend, sondern als ein Geist, der im kleinsten Atom
lebt! Dieses Spirituelle Giordano Brunos stand auch in Goethes
Seele wieder auf, als er Schillers Schädel in der Hand
hielt und — wie Wasser zu Eis geronnen — der
Schillersche Geist ihm erscheint in der Schillerschen
Schädelform. Die ganze spirituelle Grundanlage
Goethes steht vor uns, wenn wir das schöne Gedicht Goethes
betrachten, das er nach der Betrachtung von Schillers
Schädelform schrieb, und besonders jene Zeilen, die so oft
falsch zitiert werden, die nur aus der Situation heraus zu
ergreifen sind, indem wir uns denken müssen, daß
Goethe plastisch Schillers Individualität wie geronnen vor
sich erblickte und dann sagte, wie er es sagen mußte
gemäß der Eigenart des in Giordano Bruno und Goethe
verwandten Geistes:
«Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als daß
sich Gott-Natur
ihm offenbare, Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das
Geisterzeugte fest bewahre!»
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