SCHICKSAL UND SEELE
Berlin, 17. Februar 1917
Die
Frage nach dem Wesen des menschlichen Schicksals, die
zweifellos für jeden Menschen im Mittelpunkt nicht nur des
seelischen, sondern des gesamten Lebens steht, ist zugleich
eine solche, an welche die verschiedenen Philosophien, die doch
in der mannigfaltigsten Weise nach der Lösung der
Weltenrätsel gerungen haben, nur wenig herangetreten sind.
Man findet, wie diese Philosophien die Rätsel der Natur,
die Rätsel der menschlichen Seele, den Zusammenhang der
stofflichen Welt mit der geistigen Welt, die
Eigentümlichkeit der geistigen Welt selber erforschen
wollen, wie sie aber zumeist haltmachen gerade vor dieser so
hervorragenden Lebensfrage nach dem menschlichen Schicksal.
Unter den wenigen philosophischen Denkern, welche ihr Denken
heranzubringen versuchten an die Schicksalsfrage, ist
Schopenhauer. Man mag nun zu Schopenhauer stehen wie man
will, man mag, was er als Ergebnisse seiner Weltanschauung
dargelegt, zugeben oder ablehnen, das eine wird man gerade ihm
nicht absprechen können: daß er versuchte, sein
philosophisches Denken unmittelbar an das Leben heranzubringen,
es so zu gestalten, daß die Fragen, die dem Menschen
entgegentreten im Alltag, wirklich eine Lösung finden
können. Und so war er es auch, der nicht nur versucht hat,
über das Schicksal im allgemeinen sich Gedanken zu machen,
sondern sogar eine interessante Abhandlung geschrieben hat
über den Zusammenhang der auf den ersten Augenblick
zufällig im menschlichen Lebenslauf sich folgenden
Ereignisse, die in diesen Lebenslauf bestimmend eingreifen.
Allein es ist merkwürdig, daß selbst Schopenhauer,
der in bezug auf manche seiner Gedanken so kühn war,
gerade im Beginn seiner Abhandlung über den
Schicksalszusammenhang der menschlichen Lebensverhältnisse
sagt, daß man die Meinungen, die er ausspricht, nicht
allzu ernstlich nehmen, sondern mehr eben als Meinungen ansehen
solle, weil er durchaus nicht, wie in bezug auf seine
übrigen philosophischen Aufstellungen, in bezug auf diese
Schicksalsfragen seiner selbst in seinem Denken ganz sicher
sei. Und man kann sagen, daß gerade an der Art und Weise,
wie ein solcher ins Leben hineinschürfender Denker
Schicksalsfragen sich vorlegt und zu lösen versucht, sich
zeigt, daß diesen Fragen eigentlich nur ein solches
Forschen nahekommen kann, welches aufsteigt — wie ich
vorgestern hier ausgeführt habe — von dem
gewöhnlichen Bewußtsein des Alltags und der
gewöhnlichen Wissenschaft zu dem, was damals genannt wurde
das schauende Bewußtsein. Ich erlaubte mir zu sagen,
daß dieses sich ebenso zu dem gewöhnlichen
Bewußtsein verhält, wie das gewöhnliche
Bewußtsein zu dem vom Traum erfüllten
Bewußtsein, und daß der Mensch aufwachen kann aus dem
gewöhnlichen Bewußtsein zu dem schauenden
Bewußtsein, wie er aufwacht aus dem träumenden
Bewußtsein zu dem gewöhnlichen Bewußtsein, durch
das er sich einordnet den Dingen der sinnlichen, der
stofflichen Welt um ihn herum. Wer sich wirklich zu nähern
versucht den tiefen Fragen nach der Wesenheit des menschlichen
Schicksals, der verspürt, daß diese Wesenheit an das
menschliche Erkennen nur herankommt, wenn dieses Erkennen
selber sich — wie es vorgestern charakterisiert worden
ist — aus der Welt der stofflichen Vorgänge heraus
zu erheben vermag in das unmittelbar geistige Erleben.
Es
ist interessant, wie Schopenhauer den Traum zu Hilfe ruft in
seiner eigentümlichen Art, um der Schicksalsfrage
nahezukommen. Er sagt: In der Traumeswelt, die scheinbar
chaotisch ist, folgen Vorstellungsbilder auf
Vorstellungsbilder, welche gewisse Widersprüche zeigen
können, gerade so, wie das Leben sie zeigt, nur daß
das Leben sie intensiver, stärker an den Menschen
heranbringt. Dann aber zeigt sich gewissermaßen die
Auflösung der Traumeswidersprüche im wachen
Bewußtsein, wenn diese Widersprüche sich
zusammenfügen. Und da macht Schopenhauer besonders
aufmerksam auf den ja sehr bekannten Typus der Traumeswelt, auf
den sogenannten Examenstraum, wo der Mensch alle Schrecknisse
im Traum durchlebt, die ihn überkommen können, wenn
er sich selber im Traume gefragt sieht um dieses oder jenes,
und nun die Prüfung nicht bestehen kann, nicht antworten
kann. Ein anderer kommt im Traume, der dann die Antwort gibt.
Schopenhauer macht gerade auf diesen Traum aufmerksam. Er sagt:
Also hat sich — im Traume — das Ich des Menschen
selber gefragt. Aber es ist doch natürlich, daß auch
derjenige, der dem Träumenden erschienen ist als der
Wissende, er selber ist, dieser Träumende; er war also
imstande, selber diese Antworten zu geben. Und erwacht der
Mensch, meint Schopenhauer, dann sieht er, daß sowohl der
Wissende wie der Nichtwissende er selber ist; es fügt sich
das Ganze in die Einheit der Persönlichkeit zusammen. Das
wache Bewußtsein zeigt, daß dasjenige, was gespalten
war im Traum, eine Wesenheit ist. Allein gerade an der Art und
Weise, wie Schopenhauer dieses Beispiel verfolgt, zeigt sich so
recht deutlich, wie er als bloß denkender Philosoph, nicht
als schauender Philosoph, zwar dazu kommen kann, gewisse
Beobachtungen über das Seelenleben zu machen, aber nicht
dazu, diese Beobachtungen zu wirklichen Ergebnissen zu bringen.
Greifen wir dieses Beispiel auf und versuchen wir im
späteren Verlauf des Vortrages gerade auf dieses Beispiel
aus der Traumeswelt hinzudeuten von dem Gesichtspunkte des
schauenden Bewußtseins.
Das
Schicksalsratsel gehört eben zu denjenigen
Lebensrätseln, welche sich dem alltäglichen Denken,
das sich ausgebildet hat an der äußeren stofflichen
Welt, nicht ergeben, mit denen dieses Denken nichts anzufangen
weiß. Im Grunde genommen zeigt sich diesem Denken der
Verlauf des menschlichen Schicksals mehr oder weniger als eine
Summe von Zufälligkeiten. Und wenn sich auch
Notwendigkeiten, innere Zusammenhänge ergeben, so ist es
doch so, daß der Mensch im gewöhnlichen
Bewußtsein niemals sicher sein kann, ob dasjenige, was er
wie eine planmäßige Einheit in seinem Schicksal,
seinem gesamten Lebensschicksal erblickt, auf einem objektiven
inneren Wirklichkeitszusammenhang beruht, oder ob es bloß
von der Phantasie in den ganzen Lebensverlauf hineinversetzt
ist als Idee eines Planes.
Nun
kann man sich nicht dem Bereich des menschlichen Lebens
nähern, in dem das Schicksal in seiner wahren Gestalt
erscheint, so daß es in seinem Leben und Weben durchschaut
werden kann, wenn man nicht das Leben der Seele etwas
näher verfolgt, wie es sich entwickeln muß, wenn es
aus dem gewöhnlichen Alltagsbewußtsein des Wachens
aufsteigt in das schauende Bewußtsein. Dann aber zeigt
sich, daß man mit diesem Gange des inneren Seelenlebens
des Menschen zugleich der so tief einschneidenden
Schicksalsfrage nahekommt. Ich habe vorgestern bereits darauf
aufmerksam gemacht, daß der Ausgangspunkt der
Geistesforschung sein muß das innere Erleben des Denkens.
Aber ich habe ausdrücklich hervorgehoben, daß dieses
Denken nicht nur durch Sinnen vertieft werden muß, sondern
daß es wirklich durch Zurücktreten des Menschen vor
seinem eigenen Erkenntnisakte angeschaut werden muß, dann
aber, indem es angeschaut wird, innerlich erkraftet, entwickelt
werden muß. Ich habe das Bild gebraucht, daß das
Denken, wie man es gewöhnlich im Leben hat,
gewissermaßen als die Wurzel angesehen werden muß,
aus der durch Seelenübungen herausgetrieben werden der
Stamm und die Blätter der ganzen geistigen
Erkenntnispflanze. Ich habe aufmerksam gemacht, daß diese
Seelenübungen, die rein innere Vorgänge der Seele
sind, die der Mensch vorzunehmen hat, nicht willkürliche
sind, sondern daß sie methodische, systematische innere
Seelenarbeiten darstellen, die keineswegs zurückstehen, in
bezug auf innere Systematik, hinter demjenigen
wissenschaftlichen Arbeiten, das sich auf die äußere
Welt bezieht. Nur arbeitet der Naturforscher im Laboratorium
mit äußerlichen Werkzeugen. Der Geistesforscher
arbeitet mit dem, was seine Seele erlebt, indem er es nicht so
läßt, wie es im gewöhnlichen Leben erlebt wird,
sondern es bearbeitet, umwandelt, vorwärtsbringt bis zu
jenem Punkte, den ich charakterisiert habe dadurch, daß
ich sagte: Wird das Denken also entwickelt, so gelangt der
Mensch dazu, sein seelisches Leben herauszuheben aus dem Leben
der Stofflichkeit, der Leibesvorgänge. Der Mensch gelangt
dazu, durch Entwickelung, innere Bearbeitung seines Denkens,
sich selber — insofern er der Welt der stofflichen
Vorgänge angehört — so gegenüberzutreten,
wie man im gewöhnlichen Leben den sinnlichen Dingen
gegenübertritt. So daß man sich selber als
Sinnesmensch Objekt wird, während man gewissermaßen
einzieht in den eigentlichen Geistesmenschen, der sonst immer
im Menschen steckt, der aber durch solche seelische
Übungen herausgezogen wird aus dem Leibesleben. Diese
inneren seelischen Arbeiten können hier nicht im einzelnen
beschrieben werden. Sie sind ausführlich dargestellt in
«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?» und «Geheimwissenschaft» und in anderen
Büchern, die Sie in diesen angegeben finden. Das Wichtige
nun, was für unsere heutige Frage in Betracht kommt, ist
dieses, daß zum Eindringen in die hinter der
physisch-sinnlichen Welt liegende geistige Welt jenes
gewissermaßen persönliche Denken nicht hinreichend
ist, das man geübt hat in der äußeren
stofflichen Welt, das man dadurch gelernt hat, daß man die
Dinge der äußeren stofflichen Welt vergleicht,
daß man nach ihren Zusammenhängen forscht und so
weiter. Dieses Denken steht — das zeigt sich dem
schauenden Bewußtsein — in einem viel zu
unmittelbaren Zusammenhang mit dem seelisch-leiblichen
Menschen, um eindringen zu können in die wirkliche
geistige Welt. Der Mensch selbst, indem er im gewöhnlichen
Leben ein Denker ist, benützt dieses Denken
ausschließlich in Anwendung auf die sinnliche Welt. Dieses
Denken kommt, so wie es zum Gebrauche in der sinnlichen Welt an
seiner Subjektivität, an seiner Persönlichkeit
haftet, nicht aus der Sinneswelt, in der der Mensch steht,
heraus, kann nicht in die geistige Welt eindringen. Der
Denkübungen sind viele vorzunehmen, um das zu erreichen,
wovon gesprochen werden soll, aber eine charakteristische
möchte ich herausgreifen: Es handelt sich darum, das
Denken gewissermaßen loszulösen von seiner
gewöhnlichen Wesenheit, seinen gewöhnlichen
Bedingungen. Wenn man einen Gedanken faßt, so ist er
zunächst gar nichts anderes als das, was mit der
physisch-sinnlichen Welt in Zusammenhang steht. Und man mag
sich noch so sehr anstrengen: Wenn man nur bei der Denkarbeit
bleibt, die sich im gewöhnlichen Leben entwickelt, ist das
Denken zu schwach, zu kraftlos, zu wenig energisch, um in die
geistige Welt einzutreten. Man muß gewissermaßen erst
von dem gewöhnlichen Leben das Denken loslösen, damit
man dann mit seiner Individualität in das losgelöste
Denken hineinschlüpfen und sich so aus dem Leibe
herausziehen kann.
Wie
kann man es nun machen, daß man sein Denken
gewissermaßen von seinem gewöhnlichen Wesen
loslöst? Das kann man dadurch zustandebringen, daß
man gewisse Gedanken — es kommt gar nicht darauf an,
welche Gedanken das sind, am besten bildhafte Gedanken, die man
leicht überschaut, bei denen man sicher ist, daß man
sie in dem Moment, wo man sie hegt, wirklich bildet, so
daß sie nicht Reminiszenzen sein können von
Erlebnissen — in energischer Meditation, in energischer
Konzentration durchdenkt. Solch eine Übung muß
allerdings oftmals gemacht werden. Dadurch aber, daß man
solche Übungen wiederholt, daß man immer wiederum auf
denselben Gedankenkomplex zurückkommt, löst man aus
dem Bereiche des gewöhnlichen Lebens diesen Denkkomplex
heraus, man übergibt ihn der Welt, man läßt ihn
mit sich selbst leben. Wenn ich heute einen bestimmten
Denkkomplex habe, mich ganz in ihn vertiefe, dann von ihm
abkomme, das gewöhnliche Leben verfolge, dann ist er nicht
etwa völlig vernichtet, dann lebt er weiter, und er kann
nach einiger Zeit heraufgeholt werden und wiederum in mein
Bewußtsein gebracht werden. Das Leben, das er so
weiterlebt, das lebt er gewissermaßen ohne meine
Persönlichkeit, die unmittelbar an das stofflich-leibliche
Leben gebunden ist. Das Denken ist der geistigen Welt
übergeben. Den Gedanken hat man hineinfließen lassen
in das geistige Leben, und er wird wiederum aus demselben
herausgezogen. Wenn man die nötige Geduld und Ausdauer
hat, bringt man es dahin, nach verhältnismäßig
langer Zeit-es können Tage, Wochen, Monate, Jahre sein
— einem Gedanken wieder zu begegnen, den man also
losgelöst hat aus dem Bereich des subjektiven Lebens, den
man dem unbekannten Weltenwirken übergeben hat, so
daß er ohne uns fortfließt. Wenn man dann gewahr
wird, was er geworden ist, ohne daß unsere an die
Leiblichkeit gebundene Seele eingegriffen hat, dann macht man
an dieser Gedankenbegegnung nach und nach jene bedeutsamen
Erlebnisse durch, die es einem zur inneren Gewißheit
bringen, daß man in dem Gedankenleben als in einem
Geistigen lebt. Daß man sich jetzt dem Gedankenleben, das
sich also zuerst losgelöst hat von uns, selber
übergibt, mit dem losgelösten Gedankenleben selber
von den stofflich-leiblichen Vorgängen loskommt —
eine Begegnung eines Gedankenkomplexes mit anderen
Gedankenkomplexen, die oftmals nach Jahren eintreten kann, mit
jenen Tatsachen, die zwischen den Gedanken verlaufen —,
das sind die für die nächste Stufe der
Geist-Erkenntnis wichtigsten inneren Erlebnisse.
Man
kommt dadurch in die Lage, in einen neuen Lebensbereich
einzutreten, welcher uns so vorkommt, als ob, gerade so wie im
physischen Leben die Augen dem Leibe eingeprägt sind zum
physischen Anschauen, sich der Seele «geistige Augen»
— um diesen Goethe-Ausdruck zu brauchen —
eingeprägt haben, die nun eine neue Welt um sich herum
schauen. Der Mensch erwacht wirklich aus seinem
gewöhnlichen Bewußtsein zu einer neuen Welt. Ebenso,
wie sonst die farbenbunte, die tönende Welt, die
wärmende Welt um uns herum ist, ist jetzt eine
ätherisch-geistige Welt um uns herum. Dadurch aber,
daß wir diese geistige Welt kennenlernen in ihren
mannigfaltigsten Erscheinungen, lernen wir auch etwas an uns
selber kennen, das wir eigentlich auf eine andere Art nicht
kennenlernen können, als auf den Wegen, die beschrieben
worden sind. Wir lernen dasjenige kennen, das ich mir erlaubt
habe in einem Aufsatz, der kürzlich in der
Vierteljahrsschrift «Das Reich» erschienen ist, den
Bildekräfteleib des Menschen zu nennen. Dieser
Bildekräfteleib ist im Menschen ebenso wie der physische
Menschenleib. Wie dieser physische Menschenleib mit seinem
Leben verläuft in physischen und chemischen Prozessen, so
trägt der Mensch in sich, diesen physischen Menschenleib
durchdringend, in dem Leben zwischen Geburt und Tod diesen
Bildekräfteleib. Ich nenne ihn so aus dem Grunde, weil
wir, wenn wir ihn schauen, wenn wir wirklich hinausdringen
über die bloß stofflichen Vorgänge, dann gewahr
werden, daß ebenso, wie in dem physischen Leib die
physischen und chemischen Kräfte die Vorgänge dieses
physischen Leibes bewirken, der Mensch getrieben wird zwischen
Geburt und Tod durch die Kräfte dieses
Bildekräfteleibes, welche da sein müssen, damit das
Wachstum verläuft, damit eine Entwickelung verläuft,
damit der Mensch hinübergetragen wird von Tag zu Tag, von
Jahr zu Jahr, wie sie verfließen zwischen Geburt und
Tod.
Allerdings muß man sich Verschiedenes aneignen, will man
auf diesen Gebieten nicht straucheln. Denn was so von der
Geistesforschung gesagt wird, es sind wahrhaftig nicht
Phantasien, es sind Wirklichkeiten, wie die derbsten
Wirklichkeiten der äußeren physischen Welt, ja
intensivere Wirklichkeiten. Aber gar sehr steht entgegen aus
der Welt des gewöhnlichen Bewußtseins erstens die
Tatsache, daß der Mensch für die Auffassungsweise der
gewöhnlichen Welt kaum in der Regel so ehrlich und wahr
gegen sich selber ist, wie er sein muß, wenn er in diesen
Dingen wirklich Fortschritte machen will. Und das zweite ist,
daß die Art des Anschauens, des Wahrnehmens, eine ganz
andere ist, wenn man hinausdringt aus der Welt seines bloß
sinnlichen Wahrnehmens und des
Bloß-über-die-Sinnenwelt-Denkens zu diesem schauenden
denkerischen Erleben; denn es ist kein bloßes Denken mehr,
es ist ein denkerisches Erleben. Man muß zu einer anderen
Art des Sichverhaltens zu sich in der Seele kommen, um
Fortschritte zu machen. Man muß gewissermaßen in die
Lage kommen, den Augenblick zu erfassen — so möchte
ich es nennen. Im gewöhnlichen Bewußtsein haben wir
Zeit, den Gedanken da zu lassen im Bewußtsein, wenn wir
dieses oder jenes auffassen wollen. Wenn wir aber zum
denkerischen Erleben, zum Erleben des anschauenden Denkens
aufrücken, müssen wir in die Lage kommen, dasjenige,
was herauserglänzt, heraus sich offenbart aus der
geistigen Welt — also zunächst aus dieser Welt des
Bildekräfteleibes —, rasch im Augenblick zu
erfassen. Ich möchte sagen, jene Auffassungsweise, die wir
sonst als die Auffassungweise der Reflexakte bezeichnen, die
muß sich vergeistigend unseres Seelenlebens
bemächtigen. Wir brauchen nicht erst lange einen Gedanken
zu fassen im Bewußtsein, wenn zum Beispiel eine Fliege uns
ins Auge fliegen will, sondern wir schließen das Auge
rasch. Wie wir da die Geistesgegenwart haben, im Augenblick das
Richtige zu treffen, so müssen wir innerlich mit der Seele
im Augenblick dasjenige erfassen, was aus der geistigen Welt
herausblitzt und nur dadurch in die persönlichen Gedanken
hereingebracht werden kann, daß es stark erfaßt wird,
aber im Augenblick erfaßt wird. Dieses Üben der
Geistesgegenwart für das Erfassen, das gehört zu dem
Wichtigsten, das sich der Geistesforscher aneignen muß.
Eignet er es sich nicht an, so kann es kommen, daß die
Dinge, die er beobachtet — wie es vielen geht, die
Versuche machen auf diesem Gebiet — in dem Augenblick, wo
er aufmerksam wird, wo er sie gewahr wird, auch schon wiederum
verflogen sind, so daß sie wie nicht da gewesen sind.
So
kommt der Mensch zunächst zu der Erkenntnis seines
Bildekräfteleibes, ohne den der physische Leib in jedem
Augenblick ein Leichnam wäre, so wie er ein Leichnam wird,
wenn dieser Bildekräfteleib ihn verläßt, das
heißt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht. Um
aber in die wirkliche geistige Welt, in eine, ich möchte
sagen, selbständige geistige Welt einzudringen —
denn die geistige Welt des Bildekräfteleibes ist ja an den
physischen Stoffesleib gebunden, bleibt immer bei ihm zwischen
Geburt und Tod —, muß man jene Seelenentwickelung,
jene seelische Selbsterziehung, von der ich gesprochen habe,
noch weitertreiben. Und da kommt es darauf an, nun für das
innere Weben der Gedanken und Vorstellungen, die man ja
schon bis zu einem Grade selbständig gemacht hat auf der
ersten Stufe des Übens, die ich eben beschrieben habe,
noch etwas ganz Besonderes einzuführen.
Soll man charakterisieren, was nunmehr in das anschauend
erlebte Denken eingeführt werden muß, so könnte
man es in der folgenden Weise charakterisieren: Im
gewöhnlichen Denken, das wir im Alltag und in der
gewöhnlichen Wissenschaft brauchen, bewegen wir uns von
einem Gedanken zum anderen hin, so daß wir uns beherrschen
lassen von der Logik, von dem Zusammenhang der Gedanken. Wir
versuchen im wesentlichen durch innere Logik zu einem richtigen
Denken zu kommen. Das genügt nicht für das geistige
Erkennen. Das einfache, logische Fügen eines Gedankens an
den anderen, und Nachsehen, ob ein Gedanke mit dem anderen in
einem logischen Widerspruch oder Einklang steht, das
genügt nicht für das schauende Bewußtsein. Da
muß vielmehr etwas eintreten, was sich vergleichen
läßt mit dem Leben, das wir sonst in der
Außenwelt führen auf den verschiedensten Gebieten.
Leicht läßt es sich charakterisieren auf moralischem
Gebiete. Wie verhalten wir uns als Menschen auf moralischem
Gebiet? Da können wir versucht sein, diese oder jene
Handlung zunächst in Gedanken uns vorzustellen; aber wir
werden nicht jede Handlung ausführen, die wir uns
vorstellen können, die veranlaßt ist durch diese oder
jene Begierde oder Affekte, sondern indem wir eine Handlung,
ich möchte sagen, in der Absicht haben, oder nicht bis zu
der Absicht, sondern nur bis zur Vorstellung gebracht haben,
sagen wir uns: diese Handlung soll vollzogen werden, oder sie
soll nicht vollzogen werden. Die Kräfte des Seelenlebens,
die uns dazu verleiten, diese Handlung zu vollziehen, die
sollen bekämpft werden. Als moralische Menschen stehen wir
in einem Leben des Kampfes drinnen. Das innere und
äußere Leben mag die Intentionen geben zu den
mannigfaltigsten Handlungen: wir vollziehen sie nicht alle. Wir
wissen, sie sind uns erlaubt, aber wir dürfen sie uns
nicht gestatten. Wir stehen nicht bloß in einem logischen
Einklang oder Widerspruch, sondern wir stehen in einem
Zusammenhang der Wirklichkeit, und wir gestatten uns die eine
Handlung nicht, gegenüber der anderen, die vollzogen
werden muß.
Mit
diesem sich von einem bloß logischen Zusammenhang sehr
wohl unterscheidenden realen Zusammenhang der Handlungen
läßt sich das vergleichen, zu dem jetzt das Denken
aufrücken muß. Der Geistesforscher muß dazu
kommen, indem er gewissen Gedanken sich hingibt, die vielleicht
geeignet sind, die Welt in der einen oder anderen Weise zu
erklären, sich vielleicht anderen Gedanken hinzugeben, die
gewisse Dinge von der einen oder anderen Seite beleuchten. Dann
aber muß der Mensch in seinem Leben nicht bloße Logik
in seinen Gedanken suchen, sondern die Gedanken müssen in
der Seele aufleben so, daß der eine Gedanke nicht nur dem
anderen logisch widerspricht, sondern den anderen vernichtet.
Dieses innere Leben, das ein äußeres Bild im
moralischen Sollen oder Nichtsollen hat, das ergibt sich.
Gewisse Gedanken verbieten sich, bekämpfen einander; eine
lebendige Wechselwirkung der Gedanken tritt ein in dem Leben
der Gedanken, in dem man lebendig drinnensteht. Es ist im
ganzen gerade darauf der größte Wert zu legen,
daß man, wenn man, wie geschildert, fortschreitet im
Seelenleben, zu einer Stufe des denkerischen Anschauens kommt,
wo die Gedanken zu innerem Leben übergehen und sich
dadurch in ihrer Vielfältigkeit zeigen, aber so, daß
gewissermaßen der eine den anderen verschluckt, aufzehrt,
aus jedem einzelnen ein lebendiges Leben kommt. Ich will ein
Beispiel anführen, indem ich wieder an Schopenhauer
anknüpfe. Schopenhauer bleibt bloßer Denker, er
steigt nicht auf zum schauenden Bewußtsein, und wir wissen
ja: Schopenhauer ist ein Ankläger des Lebens. Er hat ja
wie zu einem Geleitspruch seines Lebens denjenigen gemacht:
«Das Leben ist eine mißliche Sache. Ich habe mich
entschlossen, es damit hinzubringen, daß ich über das
Leben nachdenke.» Und wohl die meisten der Zuhörer
werden wissen, wie scharfe Anklagen Schopenhauer gegen das
Leben als solches gerichtet hat. Da findet sich denn einmal
eine besonders bezeichnende Stelle. Da sagt er: Das Leben
könnte eigentlich gar nicht in Wirklichkeit eine
theoretische Frage sein, wenn es nicht praktisch wertlos
wäre. Denn würde das Leben, so wie es uns praktisch
entgegentritt, seinen Wert unmittelbar darbieten, so würde
der Verstand nichts mehr zu tun haben, es würde ihm nicht
einfallen, irgendwie nach Rätseln zu forschen, er
würde sich nicht verwundern über das Leben und nicht
dazukommen, nach den Rätseln und nach den tieferen
Gründen des Lebens zu forschen, er könnte auch nicht
in gewisse Zweifel kommen; er könnte nicht nach einem
Zweck fragen, da der Zweck ihm unmittelbar entgegentreten
würde. — Man kann allerdings sagen: Für jemand,
der das Leben in seiner Vielseitigkeit betrachtet, wird dieser
Gedanke, den Schopenhauer anführt, als ein einseitiger
erscheinen. Aber für Schopenhauer ist er sogar ein
solcher, in dem er ganz gefangen ist, in dem er drinnen lebt.
Wer die Vielseitigkeit des Lebens ins Auge faßt, der wird
sagen: Nun, wie Schopenhauers Seele durch ehrliche, aufrichtige
Gedanken dazu getrieben wird, so das Leben anzuschauen,
daß dieser Gedanke vor seine Seele tritt, so könnte
auch ein anderer Gedanke vor eine Menschenseele treten, der,
ich möchte sagen, das Leben gerade entgegengesetzt
ansieht. Zum Beispiel könnte gesagt werden: Wenn das Leben
so wäre, daß es gar nichts zu fragen gäbe, so
würde es dem Verstand keine Möglichkeit geben, sich
zu entwickeln. Der Mensch würde verurteilt sein, in sich
untätig zu sein, wie mit gelähmtem Verstand durch das
Leben zu gehen. Denn das Leben brächte ihm auf dem
Präsentierteller das schon entgegen, was es ist. Gerade
solches Leben wäre ja nichtig, weil es den Menschen
innerlich ertötet. — Sie sehen also klar den der
Schopenhauerschen Weltanschauung entgegengesetzten Gedanken.
Würde es niemandem einfallen können, über das
Leben nachzudenken, so müßte das Leben nichtig sein;
würde der Zweck des Lebens einem unmittelbar
entgegentreten, so würde alles Streben aufhören
müssen, und das Leben des Menschen wäre zwecklos.
Mit
derselben innerlichen Kraft, durch dieselbe innere
Seelenhingabe an die Wirklichkeit kann einem dieser dem
Schopenhauerschen Gedanken entgegengesetzte Gedanke kommen.
Solche Gedanken, welche das Leben in der verschiedensten Weise
beleuchten — und alle solchen Gedanken sind in einer
gewissen Weise berechtigt, so wie die verschiedenen
photographischen Aufnahmen eines Hauses oder eines Baumes
verschieden ausfallen, und alle im Grunde genommen berechtigt
sind, aber das Haus oder der Baum doch nur durch Zusammenfassen
aller einzelnen Aufnahmen gegeben ist —, treten gerade
dem, der seelische Übungen als Geistesforscher macht, von
allen Seiten entgegen. Aber sie treten in das geschilderte
Wechselspiel zueinander; der eine Gedanke vernichtet den
anderen teilweise oder ganz. Und man ist mit seiner Seele
hingegeben diesem inneren Leben, einem Leben, das man sonst
nicht haben kann in dieser inneren Seelenintimität, wenn
man sich nicht vorbereitet hat dadurch, daß man also nicht
dem gegenwärtigen den vergangenen Gedanken entgegenstellt,
wie ich es beschrieben habe, sondern dem gegenwärtigen
Gedanken den gegenwärtigen, daß man die Gedanken ihr
Leben aneinander entfalten läßt, und selber
hingegeben ist an dieses Entfalten. Und indem man also an
diesen Gedankenkampf und die Gedankenharmonie — denn
beides ist es zugleich — hingegeben ist, dadurch kommt
man in einem noch intensiveren Maße los von dem
gewöhnlichen Leben im stofflichen Leibe.
Und
nunmehr gelangt man in eine selbständige Geisteswelt, die
also nicht wie diejenige Welt, in der der Bildekräfteleib
ist, an den menschlichen physischen Leib gebunden ist, sondern
die völlig unabhängig ist vom menschlichen physischen
Leibe. Und jetzt lernt man erst erkennen eine Erscheinung des
gewöhnlichen Lebens, die bedeutungsvoll ist, die aber
eigentlich nur von dem Gesichtspunkte, der jetzt geschildert
worden ist, wirklich beobachtet werden kann, so daß die
Beobachtung zu Ergebnissen führt: das ist die Welt des
Schlafes.
Indem der Mensch einschläft, hört sein
gewöhnliches Leben des Tages auf; indem er aufwacht,
beginnt es wieder. Für das schauende Bewußtsein zeigt
sich, daß der Mensch in selbständiger geistiger
Wesenheit vom Einschlafen bis zum Aufwachen außerhalb
seines physisch-stofflichen Leibes ist. Nur ist sein
Bewußtsein im gewöhnlichen Leben so wenig kraftvoll,
daß er, wenn er so selbständig außerhalb des
physischen Leibes ist, dasjenige, in dem er jetzt ist, und auch
die geistige Umgebung, in der dieses lebt, nicht wahrnehmen
kann. Denn das gewöhnliche Bewußtsein ist nur so
geübt, daß es durch das Werkzeug des physischen
Leibes die äußeren physischen Gegenstände
wahrnehmen kann; es ist nicht so erkraftet, daß es am
Geiste selber jenen inneren Widerstand finden kann, der ihm
dann diese Geist-Erlebnisse spiegelt. Dieses Erkraften aber ist
für die Seele eingetreten durch die Übungen, die ich
in meinen Büchern näher beschrieben habe, und so kann
der Mensch dazu kommen, daß er erkennen lernt, was das
eigentlich ist, in dem er sich außerhalb seines Leibes vom
Einschlafen bis zum Aufwachen befindet. Das wird für ihn
jetzt nicht die leere Welt, die sonst für ihn
verläuft vom Einschlafen bis zum Aufwachen, sondern es
wird eine erfüllte Welt, die mit dem schauenden
Bewußtsein wirklich erfahren, erlebt wird. Der Mensch ist
jetzt nicht nur sich selber gegenüber als seinem
Bildekräfteleib, sondern er ist jetzt wirklich so,
daß er sein Seelisches schaut, dasjenige schaut, was ihn
nicht nur, sein Wachstum bewirkend, durchdringt, sondern ihn so
durchdringt, daß es, wie ich es vorgestern geschildert
habe, an diesem physischen Leib und auch an dem
Bildekräfteleib arbeitet, um alle die seelischen
Erlebnisse hervorzurufen, die mit Hilfe des physischen und
Bildekräfteleibes erlebt werden. Aber der Mensch kennt das
jetzt auch, was so im physischen Leibe arbeitet und im
Bildekräfteleib als selbständige geistige Wesenheit,
die in der geistigen Welt wurzelt und selber darinnen lebt, und
die rhythmisch abwechseln muß zwischen dem Versenktsein in
den physischen Leib und dem selbständigen Leben in der
geistigen Welt zwischen Einschlafen und Aufwachen. Indem der
Mensch dem schauenden Bewußtsein entgegenbringen kann
durch die Stufe der Erkenntnis, die ich geschildert habe, das,
was außerhalb des Leibes erlebt werden kann, erlebt er das
Seelisch-Geistige. Aber er lernt jetzt auch erkennen, was er
unbewußt durchmacht in der Zeit vom Einschlafen bis zum
Aufwachen. In diesem unbewußten Erleben sind rein geistige
Erlebnisse, die der Mensch durchmacht, während der
Körper seine rein organischen, physikalischen Prozesse
durchmacht, durch die er gewissermaßen das ausbessert, was
die Seele verbraucht während des täglichen Arbeits-
und Erkenntnislebens. Es sind geistige Prozesse, die die Seele
durchlebt, und diese geistigen Prozesse kommen nur zum
Bewußtsein, wenn dieses Bewußtsein so weit erwacht
ist. Aber es kann im träumenden Bewußtsein das
geschehen — und geschieht in jedem Traum —,
daß das, was in der rein geistigen Welt durchlebt wird
zwischen Einschlafen und Aufwachen, hinuntergespiegelt wird in
den physischen und Bildekräfteleib. In dem Momente des
nicht genug starken Schlafes, des Aufwachens, da wird es
hineingespiegelt, und da tritt es dann durch den
Bildekräfteleib, wie eben die Traumesbilder, in Spiegelung
vor die Seele. Es ist gewissermaßen das rein geistige
Leben, das sonst für das gewöhnliche Bewußtsein
unbewußt bleibt, wenn der Mensch träumt, in die
intensive Traumesphantasie umgesetzt. Das, was die
Traumesbilder darbieten, ist so nicht eine Wirklichkeit,
sondern es sind Bilder, die wahre geistige Wirklichkeit
verändernde Bilder; aber sie sind veranlaßt durch das
Wirken der geistigen Wirklichkeit auf den physischen Leib und
Bildekräfteleib. Da kann dann der Mensch, indem er also
das schauende Bewußtsein entwickelt, auch kraftvoll
zurückblicken auf das, was sonst vorgeht während
seines Schlafes. Und von diesem Gesichtspunkte aus gelangt man
jetzt zu einer ganz anderen, und jetzt erst wahrhaftigen
Erklärung dessen, was Schopenhauer nur als Beobachtung
hinstellen kann, aber ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Nehmen wir wiederum auf von diesem Gesichtspunkte aus diesen
sogenannten Examenstraum, wo also der Mensch sich spaltet in
bezug auf sein Ich in zwei Teile, von denen der eine Antwort
geben kann, der andere nicht. Schopenhauer kommt nur bis zu der
abstrakten Auskunft: Wenn der Mensch aufgewacht ist, merkt er,
daß diese beiden Traumpersönlichkeiten eine sind. Er
kommt bis zu jener abstrakten Einheit, an der alle
Abstraktlinge ein solches Gefallen haben. Derjenige aber, der
mit dem schauenden Bewußtsein den ganzen Vorgang
durchdringt, der lernt erkennen, daß das seelisch-geistige
Wesen, das den Menschen begleitet von der Geburt bis zum Tode,
es ist, was da angeschaut wird, daß das selbständige
geistige Leben angeschaut wird, das ja, nur unterbewußt
oder unbewußt, dem Traumesleben und auch dem Schlafesleben
zugrunde liegt. Und so stellt sich dar, daß der Mensch,
indem er vor sich hat sich selber als den Nichtwissenden, der
auf die Fragen keine Antwort geben kann, da einmal sich
anschaut in einer Lebenszeit, wo er noch nicht Antwort geben
konnte; und dann schaut er sich an in dem anderen, der die
Antwort geben kann, in einem späteren Lebensaugenblick, wo
er eben schon Antwort geben kann. Er hat diese beiden
Lebensaugenblicke vor sich: Einmal, wo er noch nicht Antwort
geben konnte, und dann, wo er Antwort geben kann. Er schaut
sich also zweimal an.
Sehen Sie, da haben wir konkret herausgearbeitet, wozu
Schopenhauer, da er nicht schauender Philosoph war, nicht
kommen konnte. Er wußte nicht, inwiefern sich des Menschen
Ich gespalten hat in den jüngeren Menschen, der noch nicht
Antwort geben konnte, und in den älteren, der schon
Antwort geben konnte. Und warum geschieht diese Spaltung? Sie
geschieht, weil tief im Untergrunde der Seele das lebt, wovon
wir sagen können: der Mensch ist in einen
fortwährenden Kampf hineingestellt, in ein
fortwährendes Ringen. Ein inneres Ringen war es, wodurch
der Mensch gekommen ist von dem Nichtwissen, das nicht Antwort
geben konnte, zu dem Wissen, das Antwort geben konnte auf die
Fragen. Im äußeren Leben verläuft dieses Ringen
so, daß man ihm nicht viel Aufmerksamkeit zuwendet. Man
läßt es gewissermaßen aus der
Alltagsaufmerksamkeit fallen. Aber in den Tiefen der Seele, da
stellt dieses Ringen eine Summe von Kräften dar. Man hat
innerlich unterbewußt arbeiten müssen, um aus dem
Nichtwissen in das Wissen hineinzukommen. Dieses Ringen, das
sonst unter der Schwelle des Bewußtseins verläuft,
lebt aber in der Seele. Denn in der Seele ist wahrhaftig viel
mehr als dasjenige, dessen sich die Seele gewöhnlich
bewußt ist. Und wenn die Seele ihre Aufmerksamkeit
abwendet von der äußeren Welt, an die sie sonst
gefesselt ist, dann tritt ihr das entgegen; aber sie hat jetzt
für das gewöhnliche Bewußtsein keine
Möglichkeit, das in seiner Wahrheit aufzufassen. Denn sie
ist ja nicht gewöhnt, dieses Ringen wahrzunehmen. Sie
wendet ihm, wie gesagt, im gewöhnlichen Bewußtsein
keine Aufmerksamkeit zu. So tritt dieses innere Bewußtsein
zwar in der Seele auf im Schlafe, im Traume, aber es bildet
sich ab, indem es zwei Bilder zeigt: den nichtwissenden und den
wissenden Menschen, zwischen denen das Ringen liegt und
tätig war. So hätte Schopenhauer, wenn er zum
konkreten schauenden Bewußtsein aufgerückt wäre,
diese interessante Tatsache des Examenstraumes auffassen
müssen. Dann hätte er auch einsehen müssen,
daß da etwas sich hineinwebt in diese Welt des Traumes,
was durch das ganze Leben hindurch auf dem Grunde der Seele
pulst, und was zusammenhängt mit einem tiefinnerlichen
Ringen und Kräften in der Seele. In der Außenwelt
zeigt sich dieses nicht. Der Mensch würde beirrt werden,
wenn er fortwährend dieses Ringens vor seinem seelischen
Auge hätte. Er muß sich hineinstellen in die
äußere Welt, muß sich einordnen in die
äußere Welt. Aber es verläuft vieles,
während er sich also in die Welt einordnet, in seiner
Seele. Während er aus einem Nichtwissenden, der nicht
Antwort geben kann, zu einem Wissenden wird, der die Fragen
beantworten kann, verläuft eben sehr vieles in der Seele.
Und das webt und lebt, während der Mensch der
äußeren Wirklichkeit abgewendet ist. So zeigt sich
gewissermaßen das, was der Mensch nun äußerlich
im wirklichen Leben durchmacht, was er für die Welt der
Arbeit, für die Welt der anderen Menschen wird, für
die Welt, in der er nützlich, wertvoll sein soll dadurch,
daß in seinem inneren Leben geheimnisvolle Vorgänge
des Ringens stattfinden.
Nun, ich sagte schon vorgestern: Vergleichsweise, nicht mit
einem gewissen mißverständlichen asketischen
Nebensinn, zeigt sich für den, der das Leben durchschaut,
auch dasjenige, was in der Sinnenwelt ausgebreitet ist, als
eine Summe von Bildern. Ebenso wie der Traum eine Nachbildung
ist des äußeren physischen Lebens, so ist dieses
äußere physische Leben eine Nachbildung eines
geistigen Lebens, zu dem der Mensch durch das schauende
Bewußtsein aufwacht, in das er sich hineinlebt.
Ich
habe in meinen verschiedenen Schriften den ersten Standpunkt
der geistigen Erkenntnis, durch den der Mensch dazu gelangt, am
Menschen selber den Bildekräfteleib wahrzunehmen, die
imaginative Erkenntnis genannt. Ich bitte, sich nicht an diesem
Ausdruck zu stoßen. Es ist sehr leicht, sich daran zu
stoßen, weil man gewöhnlich dasjenige dabei denkt,
was im gewöhnlichen Leben darunter vorgestellt wird. Man
braucht sich aber nicht daran zu stoßen, es ist nur das
gemeint, was charakterisiert ist. Dieses imaginative Erkennen
stellt sich in Bildern dar, aber in Bildern, die nicht
bloße Phantasiebilder sind, sondern die auf eine
Wirklichkeit hinweisen.
Dasjenige Denken aber, das sich so vor die Seele stellt,
daß man es vergleichen kann mit dem äußeren
Wechselleben im Moralischen, das nannte ich in meinen Schriften
die inspirierte Erkenntnis, weil da ein selbständiges
Geistiges vor die Seele tritt, in dem die Seele nun lebt. Der
Begriff der Inspiration — von dem man nur allen
Aberglauben fernhalten muß — ist durchaus anwendbar
auf jenes innere Wahrnehmen einer geistigen Welt, das jetzt
eintritt, wenn die Seele sich erhoben hat zu einem solchen
Erkennen. Durch die inspirierte Erkenntnis gelangt sie dazu,
nicht nur für das gewöhnliche Leben die Bedeutung des
Träumens, des Schlafes einzusehen, sondern nun wirklich
das selbständige Geistesleben so zu überschauen,
daß sie sich Vorstellungen machen kann über das
geistige Leben, das außerhalb des Lebens zwischen Geburt
und Tod verläuft. Die Seele gelangt dazu, die
selbständige Geisteswelt in die Vorstellungen über
jenes Leben hereinzunehmen, in dem die Seele lebte, bevor sie
durch die Geburt oder Empfängnis heruntergestiegen ist in
die physische Welt. Die Seele gelangt dazu, sich Vorstellungen
zu machen, wie das Leben verfließt, wenn sie durch die
Pforte des Todes gegangen ist. Der Mensch — ich habe
schon vorgestern daraufhingedeutet, und es wird Gegenstand der
weiteren Vorträge sein — erlebt wiederholte
Erdenleben, und so erlebt er auch eine Zeit, die verfließt
zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. In dieser Zeit, die
wesentlich länger dauert als das Leben zwischen Geburt und
Tod, lebt die Seele in einer rein geistigen Welt; aber in
dieser hat sie die Kräfte, mit denen sie sich selbst
durchdringt, die so um sie herum sind, wie hier die Kräfte
der physischen Welt. Aus dieser Welt heraus holt sie die
Kräfte, mit denen sie sich selber durchdringt, und die sie
in das hineinträgt, was ihr durch die Vererbung von Vater
und Mutter, Großvater und Großmutter und so weiter
aus der Welt der physischen Stofflichkeit entgegengebracht
wird. Indem der Mensch aber in diese Welt hineinschaut, schaut
er auf die Grundkräfte, auf die, ich möchte sagen,
richtunggebenden Kräfte seines inneren Schicksals. Denn
dasjenige, was wir, aus der Seele heraus veranlagt, dem Leben
entgegentragen, so daß wir in einer gewissen Weise sind,
und dadurch dieses oder jenes erfahren, das wirkt unser inneres
Schicksal. Das wird aber nicht bloß durch die Erziehung,
die ja die Dinge herausholt aus der menschlichen
Individualität, aber nur das, was in ihr liegt,
herausholen kann, das wird nicht bloß durch das
äußere physische Leben im Menschen ausgebildet, das
trägt der Mensch durch die Empfängnis oder Geburt
herein aus der Zeit vor der Geburt, aus dem Leben in der
geistigen Welt, in der es das schauende Bewußtsein schaut.
Und so sehen wir auf die Gründe für das innere
Schicksal des Menschen, zu dem die Kräfte gebildet werden
zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Da sehen wir auf all
das, was aus dem Inneren der Seele heraus unser Schicksal
bestimmt. Sind wir dazu veranlagt, besonders zu sinnen, so kann
uns das Leben in gewissen Lagen schwerfallen. Diese Veranlagung
zum Sinnen, wir bringen sie aber mit aus dem Leben, das
verflossen ist zwischen dem letzten Erdenleben und dieser
Geburt. Dadurch, daß wir dieses Leben durchleben, dadurch
durchweben wir die physische Stofflichkeit, die uns durch die
Empfängnis oder Geburt gegeben wird, mit all den
Kräften, die von innen heraus unser Leben
schicksalsmäßig gestalten.
Dazu kommt nun dasjenige, was von außen herein das Leben
schicksalsmäßig gestaltet. Denn das Gesamtschicksal
des Menschen fließt ja zusammen aus der Art und Weise, wie
wir selbst unsere Kräfte der Außenwelt
entgegentragen: ob wir stumpf diese Kräfte ihr
entgegentragen, und nur durch die stumpfen Kräfte etwas
erfahren, oder ob wir die Kräfte energisch der
Außenwelt entgegenbringen und dadurch anders unser Leben
hinbringen. In hundertfältiger Weise gestaltet sich so das
von innen heraus sich formende Schicksal; und in dem, was
äußere Schicksalsschläge sind, die in Leid und
Freude, in Lust und in Schmerz bestehen, in ihnen besteht der
andere Teil des Schicksals, der sich zusammenwebt zu dem
gesamten Schicksalsverlauf mit dem, was von innen kommt. Auch
zu dem Begreifen desjenigen, was von außen her am
Schicksal webt, gelangen wir nur, wenn wir Einlaß gewinnen
durch das schauende Bewußtsein in die geistige Welt.
Dazu muß nun noch ein Drittes kommen. Um das zu
erforschen, reichen die beiden Erkenntnisarten nicht aus. Dazu
muß kommen die intuitive Erkenntnis. Ich gebrauche
dieses Wort jetzt aber nicht in dunkel symbolischem
Sinne, sondern in dem Sinne, wie ich es charakterisieren will.
Ich habe zwei Stufen des Aufrückens in geistiger
Erkenntnis dargestellt. Die eine Stufe wurde dadurch
herbeigeführt, daß das Denken sich selbständig
erlebt in den Gedanken, und gewissermaßen das, was
zwischen den Gedanken ist, wenn sie sich selbst überlassen
werden, erlebt wird. Dann treten die Gedanken in ein inneres
Wechselspiel, es werden die Gedanken zu dem inneren Schicksal,
und dadurch fangen wir an, das Schicksal zu begreifen, das in
der geistigen Welt veranlagt ist. Nun kann aber ein Weiteres
dadurch eintreten, daß man all die inneren Prüfungen
der Seele, die man durchmacht, wenn man dasjenige erlebt, was
ich so als diese beiden Stufen des lebendigen Erkennens
geschildert habe, daß man das innerlich wahr, innerlich
ehrlich durchlebt. Denn gar groß sind ja die Versuchungen,
die den Menschen auf diesem Gebiet dazu verführen,
unaufrichtig gegen sich selbst zu sein, sich einzureden, man
erlebe wirklich dieses oder jenes. Allein nicht durch einen
logischen, nicht durch irgendeinen dialektischen Beweis
läßt sich klarlegen, wodurch man zur Wirklichkeit
kommt. Die eben charakterisierte Aufrichtigkeit und
Wahrhaftigkeit gegen sich selbst muß da sein. Sonst aber
kann man nur sagen: Man erlebt eben die Wirklichkeit durch
unmittelbare Erfahrung; da läßt sich nichts beweisen.
Geradeso, wie man niemandem beweisen kann, der es abstreiten
will, daß es einen Walfisch gibt, wie der Walfisch nur
durch die Erfahrung bewiesen werden kann, so läßt
sich auch für geistige Erlebnisse nur durch das schauende
Bewußtsein beweisen, daß sie da sind. Durch das
schauende Bewußtsein kann man sich so klar sein, daß
man es mit einer geistigen Wirklichkeit und nicht mit einer
Phantasieschöpfung zu tun hat, wie man sich in der
Sinnenwelt klar sein kann, ob man ein Tier aus Papiermache oder
ein lebendiges Tier vor sich hat. Wie man da nicht zu beweisen
braucht, sondern durch unmittelbare Erfahrung sich
überzeugt, so überzeugt man sich auch von der
geistigen Wirklichkeit durch innere Erfahrung.
Dann aber, wenn man immer weiter und weiter schreitet, wenn man
wirklich in innerer Geduld und Ausdauer die genannten
Übungen fortführt, gelangt man dazu, daß von
einem bestimmten Punkte ab dieses erlebte Erkennen selbst
Schicksal wird, ein Schicksalsereignis wird. Da muß man
eben wirklich so aufrichtig sein und sich klar sein, wie wenig
das gewöhnliche, oftmals so theoretisierende, bloß
logische Erkennen eigentlich für die meisten Menschen ein
Schicksalserlebnis ist. Wie wenig! Man erkennt, weil man die
Sehnsucht hat dazu; aber dieses Erkennen trägt man doch
mit sich wie etwas, was neben dem Leben einherläuft. Aber
wenn der Mensch als Geistesforscher so weiterschreitet, wie ich
das geschildert habe, dann kommt eben ein Augenblick-er mag
früher oder später kommen, er wird kommen —, wo
das Erkennen selbst ein Schicksal wird, wo man so innerlich
durchkraftet ist durch den Geist, daß man durch den Geist
selber im geistigen Universum steht, wo das ein solches inneres
Ereignis wird, daß es trotz aller inneren Aufrichtigkeit
und Wahrhaftigkeit das wichtigste Ereignis wird. Man darf
sagen: dieses bedeutet etwas in das Leben sehr tief
Einschneidendes. Man erlebt gewiß als Mensch — Sie
wissen es alle — einschneidende Schicksalserlebnisse, die
oftmals das ganze Dasein in andere Bahnen führen,
Erlebnisse, die die Seele tief aufrütteln, Erlebnisse
erhabenster Freude, Erlebnisse tiefster Tragik. Aber es kann
und muß, wenn wirklich geistige Erkenntnis als Forschung
erreicht werden soll, doch möglich sein, daß die
Erkenntnis selbst an den Menschen so herantritt, daß sie
Schicksalserleben wird: ein solches Schicksalserlebnis,
gegenüber dem die anderen Schicksalserlebnisse, mögen
sie noch so bedeutend sein, ein wenig sich in den Schatten
stellen. Die größte Wendung, der größte
Einschlag des Lebens, er kann und er muß für den
wahrhaft geistig Erkennenden so kommen, daß von einem
gewissen Momente ab er sich so erkennend im Geiste weiß,
daß dieses Schicksalserlebnis alle anderen
Schicksalserlebnisse übertönt. Und der Ton, der von
diesem Schicksalserlebnis kommt, er tönt dann so in der
Seele, daß man nunmehr weiß, wo die Kräfte weben
in der geistigen Welt, welche den Lebenslauf — für
viele scheinbar zufällig — so zusammenstellen, so
durchdringen, daß nicht nur in dem, was von innen heraus
sich formt, Plan und Zusammenhang ist, sondern auch diejenigen
Ereignisse, die in der Außenwelt sind, entweder
zusammenhängen oder so an uns herantreten, daß sie
wiederum die Grundlage bilden für Zusammenhänge, die
sich dann im nächsten Erdenleben abspielen. Denn es
hängt ja beim geistigen Erkennen sehr viel davon ab,
daß man das wirklich durchleben kann, was als Wirkung
herauskommt. Dadurch, daß man solch ein Erlebnis, wie ich
es jetzt als Schicksalserlebnis des Erkennens, und früher
als Erlebnis des erkennenden Bewußtseins
geschildert habe, durchlebt, daß man nicht nur es
anschaut, sondern die Wirkungen in der Seele hat, und die Seele
dadurch umgeartet wird — dadurch wird die Seele
eine schauende Seele. Jetzt gelangt sie dazu, nicht
nur hineinzuschauen in das Leben, das zwischen dem Tod und
einer neuen Geburt verfließt, sondern sich Vorstellungen
zu bilden über Kräfte, die aus früheren
Erdenleben herkommen. Diese Kräfte, die herüberwirken
aus früheren Erdenleben, leben wieder auf in diesem
Erdenleben, und sie weben sich wiederum zusammen mit dem, was
als Neues in unser Leben eintritt, sie leben sich zusammen zu
einem Gesamtschicksal, das von außen sich seine
Kräfte bildet und das wiederum die Grundlage bildet
für die folgenden Erdenleben. Und so stellt sich
dasjenige, was aus dem Inneren kommt, als die Wirkung dar des
Lebens, das zwischen Tod und neuer Geburt verläuft. Das
dagegen, was von außen kommt, stellt sich so dar, daß
herüberwirken die Grundlagen, die in früheren
Erdenleben gelegt sind.
Ich
weiß sehr wohl, wie sehr das heutige Bewußtsein, das
mit Recht sich an der naturwissenschaftlichen Weltanschauung
herangebildet hat, solchen Vorstellungen widerstrebt, wie sie
jetzt über das äußere und innere Schicksal
gegeben worden sind. Es wird noch lange brauchen, bis man, ich
möchte sagen, durch immerwährende Wiederholung denen,
die da glauben, aus einer naturwissenschaftlichen
Überzeugung heraus dieser geisteswissenschaftlichen
Anschauung widerstreben zu müssen, klarmachen kann,
daß diese geisteswissenschaftliche Überzeugung in
vollem Einklang steht mit alledem, was durch die
Naturwissenschaft heute in so bewundernswürdiger Weise an
die Oberfläche des menschlichen Denkens gebracht
worden ist. Denjenigen, die vom Standpunkte einer
festgegründeten naturwissenschaftlichen Weltanschauung der
Geisteswissenschaft widerstreiten, kann man immer nachweisen,
daß sie eigentlich nicht wissen, wovon sie reden, weil sie
nicht die Geduld und Ausdauer haben, sich wirklich in die
Geisteswissenschaft einzulassen. Betrachten wir gerade zum
Schluß dasjenige, was sich uns als allgemeine Grundlage
für die Schicksalsfrage der menschlichen Seele darstellt,
im Zusammenhang mit gewissen naturwissenschaftlichen Gedanken
der Gegenwart. Da wird mancher kommen und sagen: Diese
Naturwissenschaft hat es endlich dazu gebracht, durch
sorgfältige Forschung klarzulegen, wie gerade im
physischen Vererbungszusammenhang Kräfte liegen, die uns
formen, die an unserem Schicksal mitarbeiten. Und weit ist die
Naturwissenschaft schon gekommen auf diesem Gebiet. Und da
kommt nun solch ein Geistesforscher und sagt gegenüber
dem, was der Naturforscher nachgewiesen hat als aus der
physischen Vererbung stammend, es sei das innere Schicksal
bedingt durch das, was in der rein geistigen Welt sich abspielt
zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Beide Dinge stehen
aber völlig miteinander im Einklang; nur muß man sich
klar sein darüber, daß man ausbilden muß zu
demjenigen Denken, das ein bloß logisches Denken ist, das
wirklichkeitsgemäße, auch das
geistig-wirklichkeitsgemäße Denken. Auf dieses habe
ich in meinem neuesten Buche «Vom
Menschenrätsel» besonders hingewiesen, ich will es
heute nur entwickeln mit Bezug auf diesen Gedanken. Logisches
Denken ist meist damit zufrieden, daß Gedanken sich
miteinander vertragen. Aber logisch miteinander
verträgliche Gedanken können nur scheinbar
miteinander verträglich sein. Wenn man außerhalb der
Wirklichkeit steht und auf die bloße Logik sieht, kann es
durchaus sein, daß der Schein trügt, daß die
Logik einen Einklang vorzaubert, während die
Wirklichkeit ihr widerstreitet. Schopenhauer spottet selber
einmal darüber, wie Gedanken ganz miteinander
übereinstimmen können, und doch die Wirklichkeit
ihnen widerstreitet, indem er darauf hinweist, wie Franz I. von
Frankreich denselben Gedanken zu haben behauptete wie Karl V.
Er sagte: «Ich habe ja denselben Gedanken, ich will ganz
dasselbe wie mein lieber Bruder Karl V.» Da beide dasselbe
wollten, schienen ihre Gedanken gleich zu sein. Ob sie aber
zusammenstimmten? Sie wollten nämlich beide Mailand
erobern! Die Wirklichkeit rektifiziert den Gedanken. Das ist
sehr auffallend, in die Augen springend. Aber wo man sonst in
einer ähnlichen Weise am Schein des Einklanges hängt
und nicht die Gedanken, sei es in die physische oder in die
geistige Wirklichkeit, hinuntertauchen, da merkt man es oftmals
nicht. Und so merkt man nicht, wie der Gedanke, den ich eben
entwickelt habe über die Kräfte des inneren
Schicksals, sehr wohl vereinbar ist mit dem Gedanken der
physischen Vererbung. Da sehen wir, wie aber gerade dem
richtigen Tatbestand gegenüber eigentlich das
Weltanschauungsdenken recht unlogisch wird. Es ist ja sehr
interessant, wenn man verfolgt, mit welcher wissenschaftlichen
Klarheit der Vererbungsgedanke begründet worden ist, von
dem Pflanzenreich angefangen, durch die Mendelschen Resultate,
bis hinauf in die Familienforschung, wo gezeigt wird, daß
sich in der Familie gewisse Kräfte und Fähigkeiten
— nun, meinetwegen forterben. Ein solches Buch über
Familienforschung und Vererbungslehre, wie das von Robert
Sommer erschienene, ist ja außerordentlich
interessant; noch interessanter ist das, was er 1908 hat folgen
lassen über Goethe im Lichte der Vererbung. Denn man kann
natürlich sehr schön darstellen, wie das, was bei
Goethe hervortrat als diese oder jene Kraft seines Geistes,
nach der einen Seite schon veranlagt war, die eine bei diesem
Vorfahr, die andere bei einem anderen, die dritte bei einem
dritten; und so sind sie alle zusammengeflossen in einem
Nachkommen und sie zeigen sich zuletzt in ganz besonders
genialer Ausbildung. Nun ja, das hat dazu geführt,
daß die Vererbungslehre von Gregor Mendel, die auf
wissenschaftlich richtigen Tatsachen beruht, die mit Bezug auf
die Vererbung bei Pflanzen und Tieren außerordentlich
tiefsinnig ist, daß man diese Idee der Vererbung einfach
in das Geistige überträgt und sagt: Die besonderen
Begabungen stehen immer am Ende einer Abstammungslinie, sind
also von der Abstammungsströmung durch Vater und Mutter,
durch Großvater und Großmutter hindurch vererbt. Ich
habe schon öfter auch hier darauf aufmerksam gemacht,
daß dieser Gedanke nicht sehr wirklichkeitsgemäß
und logisch ist. Denn wollte man wirklich zeigen, daß die
Eigenschaften von einem Menschen auf den Nachkommen
übergehen, dann müßte man zeigen, daß der
Vorfahr die betreffenden Eigenschaften hat, daß sich beim
Nachkommen die Eigenschaften zeigen, die schon beim Vorfahren
waren. Das ist aber nicht wunderbarer, der Gedanke ist nicht
tiefer als der, daß ein Mensch, der ins Wasser gefallen
ist, naß ist. Er ist durchgegangen in der physischen
Vererbung durch die Vorfahrenströmung, also bringt
er durch die Vererbung besondere Eigenschaften mit sich.
Aber es ist nicht zu leugnen, daß sich sehr früh in
der Vorfahrenreihe die Veranlagung zeigt zu dem, was bei dem
Nachkommen zuletzt herauskommt. Dieser Gedanke ist,
äußerlich-physisch angeschaut, durchaus zu halten;
aber für das schauende Bewußtsein zeigt sich das
Folgende: So wie hier diesen physischen Menschenleib die Seele
durchdringt, wie die Seele im physischen Menschenleibe wirkt
und lebt, so ist auch all dasjenige, was in unserer Umgebung
lebt, von Seelisch-Geistigem durchflössen und durchwoben.
Alles, was im Physischen geschieht, ist durchdrungen von
Seelischem, so wie mein Finger und mein Arm von Seelischem
durchdrungen ist und nicht ein bloß Physisches ist.
Überall ist Seelisches. Und so durchdrungen ist auch das
Physische, das herunterströmt vielleicht von einem
Menschen im 14. Jahrhundert durch einen Nachkommen im 15., 16.
Jahrhundert bis hinein ins 20.: da leben sich die physischen
Vorgänge fort; ihnen fließen parallel geistige
Vorgänge. Die geistige Welt ist nicht etwa in einem
Wolkenkuckucksheim abgesondert von der physischen Welt; sie
durchdringt die physische Welt. Und da, wo die physischen
Vererbungsvorgänge sich abwickeln durch die Jahrhunderte
hindurch, da geschieht auch Geistiges. Da ist die geistige
Welt. Und die Seele des Menschen, der in einem bestimmten
Zeitpunkt geboren wird, sie ist lange schon mit den
Vorgängen, die sich in der Vorfahrenreihe abspielen,
verbunden. Grob gesprochen: Wird ein Mensch im 20. Jahrhundert
geboren von einem Vater und einer Mutter, die wiederum
abstammen von Eltern, die im 19. Jahrhundert geboren sind und
so weiter herauf, so kommen wir durch Jahrhunderte hindurch; da
geht die Vererbungsströmung, die schließlich zu dem
Menschen, den wir im Auge haben, herunterströmt. Aber die
Seele ist schon seit Jahrhunderten tätig in dem, was die
Menschenpaare zusammenführt. Was geschieht zwischen den
Menschen und sich dann ausprägt in der Vererbung, das
wirkt, während hier die physische Vererbung vor sich geht,
herein aus der geistigen Welt, so daß immer der richtige
Vater zur richtigen Mutter geführt wird. Da wird
vorbereitet das, wozu die Seele strebt, damit sie dann geboren
werde in dem Nachkommen.
Da
haben Sie den Gedanken so gefaßt, daß alles
zusammengefaßt ist. Alles geschieht in der physischen
Vererbung, aber die Seele ist immer dabei; die Seele gesellt
sich schon Jahrhunderte vorher in die Strömung von einem
Menschenpaar zu Nachkommen und immer wieder Nachkommen. So
bewirkt die Seele selbst dasjenige, was in der Vererbungsfolge
das vorbereitet, was sie dann wird, und was endlich heute zum
Ausdruck kommt. — Für die heutige Weltanschauung,
für die heutige Vererbungstheorie, ist dieser Gedanke
vielleicht noch grotesk. Er kann auch nur dadurch erlangt
werden, daß man sich auf dem heute geschilderten Wege
Vorstellungen über die geistige Welt bildet; aber er wird
sich schon im Laufe der Zeit einleben.
Und
jetzt will ich auch noch — wenn es auch wegen der
Kürze der Zeit nur ganz kurz geschehen kann — in
gewisser Weise schildern, was wir, grob gesprochen, nennen
könnten die Technik des äußeren Schicksals,
nachdem ich die Technik des inneren Schicksals im Zusammenhang
mit der Vererbung besprochen habe. Dies, was unter Menschen
sich abspielt im gewöhnlichen Leben, was ein Mensch dem
anderen zufügt, was ein Mensch dem anderen sagt, was ein
Mensch durch den anderen erlebt dadurch, daß Gefühle
in ihm hervorgerufen werden durch die Worte und Taten
des anderen, daß er selber zu diesen Worten und
Taten veranlaßt wird, das alles ist nur die eine Seite
dessen, was zwischen den Menschen geschieht. Und dasjenige, was
im Bewußtsein lebt in dem Verhältnis der Menschen zu
der übrigen Umgebung, ist auch nur eine Seite. In der
menschlichen Seele lebt eigentlich mehr als das, dessen sie
sich bewußt ist. Und so spielt sich auch unendlich viel
mehr ab zwischen zwei Menschen, die im Leben zusammen sind, als
das, was im Bewußtsein des einen oder des anderen Menschen
sich abspielt. Und so zwischen allen Menschen, die sich
begegnen. In den tiefen Untergründen des
Bewußtseins spielt sich gar vieles ab. Das bleibt in
diesen Untergründen, tritt auch manchmal herauf. Da ist
ein abwechselndes Herauftreten und wiederum Zurückwogen,
aber auch ein vollständiges Bleiben im Unterbewußten.
Aber was in den Tiefen der Seele abläuft, was nicht im
Bewußtsein erlebt wird, nur im Unterbewußten, es ist
deshalb doch in der Seele und wirkt in der Seele. Um das
Beispiel zu vereinfachen: Wir treten einem Menschen entgegen,
wir erleben in bewußter Weise etwas mit ihm, aber gerade
dadurch erleben wir auch noch etwas Tieferes, etwas Tieferes
wird noch in der Seele angeregt. Es lebt bei uns weiter, lebt
in ihm weiter. Das wirkt weiter und wird durchgetragen durch
die Pforte des Todes, das wird innerhalb der geistigen Welt in
dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt weiter
ausgebildet zur Vorbereitung für ein neues Erdenleben.
Alles dasjenige, was also gerade in den Tiefen der Seele
durchlebt wird, es wird so durch die Pforte des Todes getragen,
daß ich diese Art etwa damit vergleichen kann, daß
ich sage: Es gibt, wie Sie alle wissen, im äußeren
physischen Dasein die Möglichkeit, einen Raum luftleer zu
machen, wenn man Luft auspumpt aus einem Raum. Wenn man dann
irgendwo öffnet, dann dringt die äußere Luft in
diesen luftleeren Raum ein. Der Raum, der leer ist, der kann
keine Kräfte entwickeln; aber gerade die Außenwelt
dringt in ihn ein, das Äußere dringt in ihn ein.
Wäre er voll, so würde das Äußere nicht
eindringen können, aber das Äußere dringt gerade
dadurch ein, daß es zuströmen muß durch seine
Leere. Indem wir dasjenige, was in unserer Seele, also in dem
Unterbewußten veranlagt wird im weiteren Umkreis des
bewußten Seelenlebens, durch die Pforte des Todes tragen,
daß es in unserer Seele oftmals als Glücksgefühl
lebt, erzeugt es gewissermaßen einen leeren Raum in der
Seele, vergleichsweise selbstverständlich gesprochen, das
Physische ins Geistige umgesetzt; denn so stellt es sich dem
schauenden Bewußtsein dar. Mit dieser Leerheit lebt der
Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt und tritt
wiederum damit durch die Geburt in ein neues Erdenleben. Und so
trägt er in dieses neue Erdenleben als Folge der
früheren Erdenleben einen leeren Raum-vergleichsweise
gesprochen. Durch diesen seelisch leeren Raum zieht er die
entsprechenden Verhältnisse der Außenwelt an sich
heran. Dadurch kommen die Wesen und die Schläge des
äußeren Schicksals heran; dadurch findet er ein
Menschenwesen, das er in einem Leben kennenlernte, wieder,
tritt wiederum mit ihm zusammen. Er zieht es dadurch heran,
daß dasjenige, was seine Vollheit in der Seele war,
Leerheit wurde, die saugend ist für gewisse Ereignisse.
Und geradeso wie der luftleere Raum die Luft anzieht, so zieht
eine durch gewisse Ereignisse erreichte Leerheit gewisse
Erlebnisse wieder heran. Das ist, ich möchte sagen, grob
ausgedrückt, die Technik, wie das eine Erdenleben in das
andere hereinwirkt.
Ich
habe mich bemüht, Ihnen heute vor die Seele zu führen
eine Anzahl Beobachtungen und Ergebnisse der
Geisteswissenschaft, die im allgemeinen zusammenhängen mit
dem menschlichen Schicksal und seinen Rätseln. Dieses
Allgemeine kann die Grundlage werden, um Beobachtungen
anzustellen auch über einzelne Schicksalsfragen. In einer
so schicksaltragenden Zeit muß auch dieses naheliegen.
Daher werde ich im nächsten Vortrag gerade über
einzelne solcher Schicksalsfragen sprechen, auf der Grundlage
der allgemein-menschlichen Schicksale, die Bedeutung einzelner
Schicksalsschläge, freudvoller, leidvoller
Schicksalsschläge für das unmittelbare Leben, sein
Glück, seinen ganzen Verlauf darzustellen versuchen.
Gerade an der Schicksalsfrage zeigt sich etwas, was ich noch
erwähnen will, weil es sehr wichtig ist und verkannt wird
auch von denjenigen, die wohlwollend der Geisteswissenschaft
gegenüberstehen. Man glaubt sehr leicht, den Einwand
machen zu können: Ja, was bedeutet denn diese
Geisteswissenschaft für diejenigen, die nicht selber
Geistesforscher werden können? — Das beantwortet
sich am besten damit, daß für den Geistesforscher
selber die Geistesforschung ein Schicksal ist. Sie ist für
ihn das, was ich mehr oder weniger geschildert habe; aber was
das Leben fordert, das wird das geistige Erlebnis erst dadurch,
daß man all dasjenige, was der Geistesforscher findet,
herüberbringt in die Gedankenwelt, die jetzt bloß
befruchtet wird, nur nicht von der äußeren sinnlichen
Wirklichkeit, sondern von der inneren geistigen Wirklichkeit.
Und diese Gedankenwelt, die kann jeder Mensch dann aufnehmen,
wenn er sich ihr nur vorurteilsfrei hingibt. Es ist wirklich
nicht richtig, wenn gesagt wird, nur dem Geistesforscher liegen
die Geheimnisse der geistigen Welt klar. Daß sie heute so
wenigen Menschen klarliegen, das kommt daher, daß heute
verhältnismäßig viele Menschen nur
Empfänglichkeit haben für solche Gedanken, die aus
dem äußeren Leben hergenommen sind. So glaubt man dem
Chemiker, wenn man auch nicht seine Versuche kennt, durch die
er gewisse Ergebnisse zustandebringt, so glaubt man den
Astronomen, wenn man auch nicht alle intimen Beobachtungen
kennt, die er machen muß. Man glaubt daran, weil man sich
vorurteilslos den Gedanken hingibt, die in der Forscherstube,
in der Klinik, im Laboratorium, auf der Sternwarte sich
ergeben, und man wendet die forscherischen Ergebnisse im Leben
an; das Leben wird von ihnen befruchtet. Man kann in die
Gedanken hereinbekommen das, was der andere erforschen
muß.
Heute ist die Zeit noch nicht da, aber sie liegt nicht allzu
ferne, wo die Menschen ihre Gedanken hinlenken werden auf das,
was gewissermaßen in dem geistigen Laboratorium des
Geistesforschers vorgeht und zu Ergebnissen führt aus
Beobachtungen heraus. Das hängt nur ab von einer gewissen
Umänderung der Denkgewohnheiten. Die Menschen haben sich
auch an die Kopernikanische Weltanschauung gewöhnen
müssen, da werden sie sich auch gewöhnen an die
Ergebnisse der Geistesforschung. Dann, wenn man die Gedanken
hat, in die der Geistesforscher seine Ergebnisse prägt,
dann genügen diese Gedanken, obwohl heute bis zu einem
gewissen Grade jeder so weit Geistesforscher werden kann,
daß er sich von der Wahrheit der geistigen Welt
überzeugen kann, auch von einzelnen Tatsachen der
geistigen Welt. Um aber eine voll gegründete
Überzeugung haben zu können, braucht man nicht selber
Geistesforscher zu sein, sondern nur unbefangen, vorurteilslos,
nicht getrübt durch die
materialistisch-naturwissenschaftlichen Begriffe der Gegenwart,
dem gegenüberzutreten, was sich als Ideenwelt ausbreitet,
die das Ergebnis dieser geisteswissenschaftlichen Beobachtungen
des Geistesforschers ist. Und hat man das nur einmal wirklich
gedacht, dann hat man in diesem Denken dasjenige, was aus der
geistigen Welt zunächst für das Leben gebraucht wird.
Was für das Leben im allgemeinen gebraucht wird, kann
durch ein gedankliches Durchdringen der Geistesforschung
erkannt werden. Damit die Geistesforschung fortschreiten kann,
müssen gewisse Menschen selber Forscher werden, sich
einlassen auf die geistige Welt und sich ihre Seele ausbilden
durch jene Methoden, die so innere geistige sind, wie die
Methoden des Chemikers, des Physiologen, des Biologen
äußere sind. Und in der Zukunft werden Menschen
— das ist nicht schwer zu erlangen für die gesunde
Seele — sich das aneignen, was als ein gewisser
Grundstock der Geisteswissenschaft gelten kann, und was dahin
führt, daß man sich bestimmt davon überzeugen
kann, daß die Ergebnisse der Geistesforschung der
Wirklichkeit entsprechen. Das kann heute auf der
gegenwärtigen Stufe der Menschheit durch
Berücksichtigung dessen, was Sie in meinen Büchern
dargelegt finden, erreicht werden. Aber immer wiederum muß
betont werden, daß der Einwand nicht gelten kann: Ich sehe
nicht hinein in die geistige Welt, daher hat das keinen Wert,
was der Geistesforscher darstellt! — Bei vorurteilslosem
Denken kann man finden: Wenn das in Gedanken gegossen wird, was
der Geistesforscher gibt, kann in diesen Gedanken ein Lebensgut
gewonnen werden, das, in die Seele gelegt, diese Seele wirklich
so weiterführt, daß selbst solche Dinge
allmählich verständlich werden, welche sonst selbst
dem philosophischen Verständnis, wie wir gesehen haben,
trotzen, wie die philosophisch so wenig bearbeitete
Rätselfrage nach dem menschlichen Schicksal.
Es
zeigt sich nun auf einer viel höheren Stufe vor dem
geistigen Anschauen, daß wirklich auch mit Bezug auf das
Schicksal der Vergleich fortgesetzt werden kann, den ich
vorgestern gebraucht habe: Wir haben das träumende
Bewußtsein und können es mit dem gewöhnlichen
Bewußtsein vergleichen. Im Traume erlebt der Mensch etwas,
was einem Schicksal ähnlich sieht, in solchen
Träumen, wie ich sie im Sinne Schopenhauers dargestellt
habe. Der Mensch klärt sich auf über diesen Traum,
wie er zusammenfließt in das Leben, das erlebt wird in der
äußeren physisch-sinnlichen Welt, wenn er aufwacht
aus dem Traumbewußtsein in das gewöhnliche
Bewußtsein. — Wacht der Mensch aber auf aus dem
gewöhnlichen physischen Bewußtsein in das schauende
Bewußtsein, dann hellt sich auf, was unser Leben
durchfließt, tragisch oder freudig, erhebend oder
niederschlagend, leidvoll oder freudvoll. Das, was so unser
Leben durchfließt, das klärt sich auf, das gewinnt
solchen Zusammenhang, wie der Traum gewinnt, wenn wir aufwachen
und uns eingliedern in die physische Wirklichkeit. So wie das
scheinbare Zusammenhängen des Traumes der physischen
Wirklichkeit weicht beim gewöhnlichen Aufwachen, so weicht
dasjenige, was wie der Schicksalstraum, der freudvoll oder
leidvoll, schicksaltragend das menschliche Leben durchsetzt,
das klärt sich auf in einer höheren, im Geistigen
waltenden Wirklichkeit, wo der Mensch nun als geistiger Mensch
wacht und lebt; das klärt sich auf in der geistigen Welt.
Wir erleben unser Schicksal, weil es der Spiegel ist, den wir
erleben müssen, während wir in der geistigen Welt als
Geistesmensch unser Leben durchmachen durch viele Stufen
hindurch, und weil wir durch dasjenige, was wir im Schicksal
erleben, von Lebensstufe zu Lebensstufe eilen. Denn
schließlich ist doch für eine tiefere Auffassung
alles Leben, im Leibe, im Geiste, durch viele geistige und
physische Leben, alles Leben ist in Vervollkommnung. Es strebt
nicht nur der Mensch, solange er lebt, es strebt ein jedes
Wesen; die ganze Welt strebt, das ganze Universum strebt von
Vollkommenheitsstufe zu Vollkommenheitsstufe. Und ein tiefes
Gefühl von dem Ziel des Lebens und Werdens enthüllt
sich einem erst, wenn der Mensch aufwacht aus seinem Leben in
der physischen Welt, der stofflichen Vorgänge, zu einem
Leben im Geiste, einem geistigen Leben auf der Erde, wo sich
gegenüber dem Abbild der Vollkommenheit hier im Physischen
das Urbild aller Vervollkommnung im Geistigen zeigt.
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