SIEBENTER VORTRAG
Bern, 7. September 1910
Wenn wir die ganze Bedeutung des Christus-Ereignisses für
die Evolution der Menschheit verstehen wollen,
müssen wir zunächst einer Tatsache noch einmal
Erwähnung tun, welche diejenigen von Ihnen bereits kennen,
die im vorigen Jahr in Basel die Vorträge über das
Lukas-Evangelium angehört haben. Wir müssen diese
Tatsache um so mehr erwähnen, weil wir in dieser Stunde
die Hauptpunkte der Christus-Tatsache einmal vor unsere
Seele hinstellen wollen, um dann in den nächsten Stunden
sozusagen mehr die Details in das Bild hinein- zumalen, das wir
mit einigen großen Strichen heute zeichnen wollen. Um aber
diese großen Striche zu bekommen, ist es notwendig,
daß wir uns eines Grundgesetzes der Menschheitsevolution
erinnern, nämlich des Gesetzes, daß im Laufe der
Entwickelung die Menschen immer neue und neue Fähigkeiten
aufnehmen, zu immer größeren und
größeren Vervollkommnungs stufen - wenn wir sie
so nennen wollen - aufsteigen. Äußerlich trivial ist
Ihnen ja diese Tatsache gegeben, wenn Sie auch nur
geschichtlich zurückblicken in den kurzen Zeitraum, der
eben durch eine äußere Geschichte umfaßt werden
kann, wo gewisse Fähigkeiten im Menschen noch nicht
entwickelt waren, und dann verfolgen durch die
Zeitenwende hindurch, wie sich im Laufe der Zeit neue
Fähigkeiten in den Menschen hineinergossen haben und
endlich unsere heutige Kultur herbeigeführt haben. Damit
aber eine ganz bestimmte Fähigkeit in der menschlichen
Natur erwachen und dann nach und nach eine allgemeine
Fähigkeit der Menschen werden kann, eine
Fähigkeit, die sich sozusagen ein jeder in
gehöriger Zeit erwerben kann, dazu ist notwendig, daß
diese Fähigkeit in einem ganz besonders bedeutsamen
Sinne zuerst irgendwo auftritt.
Bei
der Besprechung des Lukas-Evangeliums im vorigen Jahre habe ich
auf den «achtgliedrigen Pfad» aufmerksam gemacht, den
die Menschheit verfolgen kann, wenn sie sich an das hält,
was durch Gautama Buddha in die Menschheitsentwickelung
eingeflossen ist. Sie können diesen achtteiligen Pfad in
der Art, wie es gewöhnlich geschieht, bezeichnen
als: richtige Meinung, richtiges Urteilen, richtiges Wort,
richtige Handlungsweise, richtiger Standort, richtige
Gewohnheiten, richtiges Gedächtnis und richtige
Beschaulichkeit. Das sind gewisse Eigenschaften der
menschlichen Seele. Wir können sagen: Seit den Zeiten, da
Gautama Buddha gelebt hat, ist die Menschennatur bis zu
einer solchen Stufe eben emporgestiegen, daß es
möglich geworden ist, daß der Mensch in sich selber,
wie eine innere Fähigkeit der Menschennatur, nach und nach
die Eigenschaften dieses achtglied- rigen Pfades entwickeln
kann. Vorher aber, bevor Gautama Buddha in der
Buddha-Inkarnation auf der Erde gelebt hat, war es noch nicht
zur Menschennatur gehörig, daß man sich diese
Eigenschaften erwerbe. Also halten wir fest: Damit sich diese
Eigenschaften nach und nach in der Menschennatur entwickeln
können, war die Tatsache notwendig, daß einmal durch
das Anwesendsein einer so hohen Wesenheit wie die des Gautama
Buddha, in der physischen Menschennatur der Anstoß dazu
gegeben wurde, daß nun durch Jahrhunderte, durch
Jahrtausende hindurch diese Fähigkeiten sich als
selbständige im Menschen entwickeln können. Ich
habe damals erwähnt, daß sich nun diese
Fähigkeiten bei einer größeren Anzahl von
Menschen als selbständige entwickeln werden; und
wenn eine genügend große Anzahl von Menschen
diese Fähigkeiten erlangt haben wird, dann wird die Erde
reif sein, den nächsten Buddha, den Maitreya Buddha, der
jetzt ein Bodhisattva ist, zu empfangen.
So
haben wir zwischen diesen zwei Ereignissen jene Entwicklung
eingeschlossen, in der sich die Menschen in einer genügend
großen Anzahl die höheren intellektuellen,
moralischen und Gemütseigenschaften aneignen sollen,
die mit dem achtteiligen Pfad bezeichnet werden. Aber damit ein
solcher Fortschritt zustande kommen kann, dazu gehört,
daß einmal durch eine besonders hohe Individualität
in einem besonderen Ereignis der Anstoß zur
Fortentwickelung gegeben wird. Einmal also ist es geschehen,
daß in einem einzigen Menschen, nämlich in der
Persönlichkeit des Gautama Buddha, alle diese
Eigenschaften des achtteiligen Pfades umfassend vorhanden
waren. Und damit gab diese Persönlichkeit den
Impuls, daß nun alle Menschen diese Eigenschaften sich
aneignen können.
So
ist das Gesetz der Menschheitsevolution: Einmal muß so
etwas in ganz umfassendem Sinne in einer Persönlichkeit
dastehen, dann fließt es nach und nach, wenn auch erst
durch Jahrtausende, in die Menschheit ein, so daß alle
Menschen diesen Impuls aufnehmen und jene Fähigkeiten
entwickeln können.
Was
durch das Christus-Ereignis in die Menschheit einfließen
soll, das ist nun etwas, was dazu nicht etwa fünf
Jahrtausende brauchen wird wie dasjenige, was durch Gautama
Buddha in die Menschheit kommen sollte. Was durch die
Christus-Wesenheit in die Menschheit eingeflossen ist, das wird
für den ganzen übrigen Rest der Erdenevolution
in der Menschheit als besondere Fähigkeit sich ausleben
und auswirken. Aber was ist es denn eigentlich, was in
einer ähnlichen Weise - nur als ein unendlich viel
großartigerer Impuls als der des Buddha - durch das
Christus-Ereignis gekommen ist?
Wenn wir uns vor die Seele stellen wollen, was durch das
ChristusEreignis in die Menschheit gekommen ist, so
können wir es folgendermaßen charakterisieren:
Was in allen alten, vorchristlichen Zeiten lediglich
innerhalb der Mysterien hat an den Menschen herankommen
können, das ist, seit dem Christus-Ereignis, in
einer gewissen Weise möglich geworden - und wird
immer mehr und mehr möglich werden - als eine allgemeine
Eigenschaft der Menschennatur. Wie das? Da müssen wir uns
vor allen Dingen einmal das Wesen der alten Mysterien und
das Wesen der Einweihung in den vorchristlichen Zeiten
klarmachen.
Diese Einweihung war ja bei den verschiedenen Völkern des
Erdkreises verschieden und war auch in der
nachatlantischen Zeit verschieden. Es war der ganze
Umfang der Einweihung so verteilt, daß einen besonderen
Teil der Einweihung diese oder jene Völker
durchmachten, während ein anderer Teil der
Einweihung oder Initiation bei anderen Völkern
durchgemacht wurde. Wer auf dem Boden der
Wiederverkörperung steht, wird sich die Antwort
selbst geben können, die etwa durch die Frage
herausgefordert sein könnte: Warum konnte nicht jedes Volk
in den alten Zeiten den ganzen Umfang der Initiation haben? Das
war aus dem Grunde nicht notwendig, weil eine Seele, die in
einem Volke geboren wurde und dort einen Teil der Initiation
durchmachte, nicht auf diese eine Inkarnation in diesem
Volke beschränkt war, sondern abwechselnd in anderen
Völkern wiederinkarniert wurde und dort den entsprechend
anderen Teil der Initiation durchmachen konnte.
Wenn wir uns das Wesen der Initiation klarmachen wollen,
müssen wir sagen: Initiation, Einweihung, ist das
Hineinschauen des Menschen in die geistige Welt, die
seinem sinnlichen Anschauen und äußeren
Verstände, der an die Werkzeuge des physischen Leibes
gebunden ist, nicht gegeben werden kann. Der Mensch hat
sozusagen im normalen Leben zweimal innerhalb vierundzwanzig
Stunden Gelegenheit, dort zu sein, wo der Initiierte auch
ist. Nur ist der Initiierte in einer anderen Weise dort als der
Mensch im normalen Erdenleben. Also eigentlich ist der Mensch
immer dort, nur weiß er nichts davon. Der Initiierte aber
weiß es. Der Mensch weilt bekanntlich innerhalb
vierundzwanzig Stunden seines Lebens in einem Wach- und einem
Schlafzustande. Wir haben es hinlänglich charakterisiert,
so daß es jedem geläufig ist, wie der Mensch
beim Einschlafen heraustritt mit seinem Ich und
astralischen Leib aus seinem physischen Leib und
Ätherleib. Da ergießt er sich mit seinem Ich
und astralischen Leib in unseren ganzen, uns zunächst
angehenden Kosmos und zieht aus dem Kosmos die Strömungen
heran, die er braucht während des wachen
Tageslebens. Der Mensch ist also in der Tat vom
Einschlafen bis zum Aufwachen über die ganze ihn
angehende Welt ausgegossen. Aber er weiß nichts davon.
Sein Bewußtsein erlischt im Augenblick des
Einschlafens, wo astralischer Leib und Ich heraustreten
aus dem physischen und Ätherleib, so daß der Mensch
zwar in der großen Welt, im Makrokosmos lebt
während des Schlafzustandes, aber er weiß nichts
davon im normalen Erdendasein. - Darin besteht nun gerade die
Initiation, daß der Mensch lernt, nicht nur unbewußt
dort zu leben, wo er ausgegossen ist über den ganzen
Kosmos, sondern daß er lernt, bewußt alles
mitzumachen, bewußt hineinzukriechen in das Dasein der mit
unserer Erde verbundenen anderen Weltenkörper. Das ist das
Wesen der Initiation in die große Welt hinein.
Wenn der Mensch unvorbereitet einschlafen würde und
wahrnehmen könnte, was in derjenigen Welt ist, in
der er im Schlafzustande lebt, dann würde er durch den
mächtigen, den grandiosen Eindruck, der sich ihm bietet,
etwas erleben, was man nur vergleichen kann mit dem
Geblendetwerden des nicht dazu vorbereiteten Auges durch die
Sonnenstrahlen und Lichtstrahlen. Eine kosmische Blendung
würde der Mensch erleben und getötet werden in seiner
Seele durch diese Blendung. Und alle Initiation beruht darauf,
daß der Mensch nicht unvorbereitet, sondern
vorbereitet und mit gestärkten Organen, so daß er den
Anprall aushalten kann, in die große Welt, in den
Makrokosmos eintritt. Das ist das eine, was wir als das Wesen
der Initiation zu schildern haben: das Einleben in die Welt,
das Durchleuchtetwerden, das Wahrnehmbarwerden der Welt, in
welcher der Mensch in der Nacht ist und wovon er im
Schlafzustande nichts weiß.
Dieses Verweilen in der großen Welt ist besonders deshalb
blendend und verwirrend, weil der Mensch in der
Sinnenwelt an ganz andere Verhältnisse gewöhnt ist,
als diejenigen sind, die er dann in der großen Welt
antrifft. In der Sinnenwelt ist der Mensch daran gewöhnt,
sozusagen alle Dinge von einem einzigen Gesichtspunkte aus zu
betrachten; und wenn er irgend etwas an sich herankommen
lassen soll, was nicht genau übereinstimmt mit den
Meinungen, die er sich von dem einen Gesichtspunkt aus gebildet
hat, dann ist das für ihn falsch, dann stimmt das nicht
für ihn. Wenn man mit dieser Ansicht, daß alle Dinge
in dieser Weise konform sein sollen - eine Ansicht, die ja
für das Leben auf dem physischen Plan ganz nützlich
und bequem ist durch die Initiation hinausgehen wollte in den
Makrokosmos, so würde man nie zurechtkommen. Denn so, wie
der Mensch in der Sinnenwelt lebt, konzentriert er sich auf
eine Art Punkt, und von diesem Punkt, von seinem Schneckenhaus
aus, beurteilt er alle Verhältnisse. Was dann stimmt mit
dem, was er sich als Meinung gebildet hat, das ist wahr; was
nicht dazu stimmt, ist falsch. Wenn er nun aber die Initiation
durchmacht, muß er hinausgehen in die große
Welt. Nehmen wir einmal an, es ginge der Mensch in einer
bestimmten Richtung hinaus, so würde er nur erleben, was
gerade in dieser Richtung liegt, und alles andere unbeachtet
lassen, das bliebe ihm dann unbekannt. Aber der Mensch kann gar
nicht nur nach einer Richtung in den Makrokosmos
hinausgehen, sondern er muß nach allen
möglichen Richtungen gehen. Das Hinausgehen ist ein
Ausdehnen, ein Sich-Ausweiten in den Makrokosmos. Da
hört ganz und gar die Möglichkeit auf, einen einzigen
Standpunkt zu haben. Da muß man die Welt betrachten
können von dem einen Punkt gleichsam auf sich hin - weil
man auch zurückschaut -, aber man muß auch in die
Lage kommen können, die Welt von einem zweiten und einem
dritten Gesichtspunkt aus anzusehen. Das heißt, man
muß vor allen Dingen entwickeln eine gewisse
Labilität des Anschauens ; man muß eine
Möglichkeit der Allseitigkeit gewinnen.
Natürlich ist es ja auch dabei so, daß wir nicht mit
unendlichen Verhältnissen rechnen können,
sondern nur mit Durchschnittsverhältnissen. Und in
der Tat brauchen Sie nicht gleich zu fürchten, daß
unendlich viele Gesichtspunkte erreicht werden
müssen, wie es in der Theorie möglich ist, sondern es
genügen für alle Verhältnisse, die
überhaupt an den Menschen herantreten können,
zwölf Gesichtspunkte, die wieder symbolisiert werden
in der Sternensprache der Mysterienschulen durch die zwölf
Bilder des Tierkreises. Der Mensch muß zum Beispiel nicht
nur in der Richtung des Krebses hinausrücken in den
Kosmos, sondern so, daß er sich wirklich von zwölf
verschiedenen Gesichtspunkten aus die Welt anschaut. Da
hilft es nichts, wenn man in einer abstrakten,
verstandesmäßigen Sprache Einklänge sucht. Den
Einklang kann man hinterher suchen in den verschiedenen sich
ergebenden Anschauungsweisen. Zuerst ist es notwendig, daß
man von verschiedenen Seiten aus die Welt betrachtet.
Ich
möchte dabei wie in Parenthese darauf aufmerksam machen,
daß es in allen denjenigen Weltbewegungen, die auf
okkulten Wahrheiten beruhen, sozusagen eine Crux, ein Kreuz
ist, daß man die Gewohnheiten des Lebens, die sonst
gelten, so leicht hineinträgt in diese Bewegungen.
Wenn man nun genötigt ist, die auf dem Wege der
übersinnlichen Forschung erreichten Wahrheiten
mitzuteilen, so ist es notwendig, auch wenn man nur
exoterisch schildert, daß das befolgt wird, daß man
von verschiedenen Gesichtspunkten aus schildert. Und
diejenigen, die schon seit Jahren unsere Bewegung recht
aufmerksam verfolgen, werden wohl bemerkt haben, daß es im
Grunde immer unser Bestreben gewesen ist, nicht einseitig zu
schildern, sondern von den verschiedensten
Gesichtspunkten aus. Das ist natürlich auch der Grund,
warum solche Menschen, die alles nur beurteilen wollen nach den
gewöhnlichen Usancen des physischen Planes, da und
dort Widersprüche finden; denn eine Sache schaut
allerdings anders aus, wenn man sie von der einen oder von der
anderen Seite aus ansieht. Da kann man leicht Widersprüche
finden. Es sollte allerdings in einer
geisteswissenschaftlichen Bewegung ihr erster Grundsatz
auch dahin ein wenig ausgedeutet werden, daß man
berücksichtigt, wenn irgend etwas gesagt wird, was
scheinbar anders klingt als etwas, was einmal anderwärts
gesagt wurde, daß dann unter Umständen da oder dort
nur von einem gewissen Gesichtspunkt aus geschildert
worden ist. Damit aber nicht unter uns selber ein solcher
ungerechter Widerspruchsgeist herrsche, wird gerade das
befolgt, daß von den verschiedenen Seiten aus geschildert
wird. So konnten zum Beispiel die Teilnehmer des
vorjährigen Münchener Zyklus «Die Kinder des
Luzifer und die Brüder Christi» weite
Weltengeheimnisse vom Standpunkte der orientalischen
Philosophie aus geschildert finden. Aber notwendig ist es
für den, der auf dem charakterisierten Wege
hinauskommen will in den Kosmos, daß er sich
Beweglichkeit, Labilität des Anschauens aneignet.
Wenn er das nicht will, gerät er eben in ein Labyrinth
hinein. Denn man muß bedenken, daß es wahr ist,
daß der Mensch sich zwar nach der Welt richten kann,
daß aber auch dieses wahr ist, daß sich die Welt
nicht nach dem Menschen richtet. Wenn der Mensch mit
Vorurteilen hinausgeht nur nach einer Richtung und auf diesem
Standpunkte stehenbleiben will, so wird es geschehen, daß
die Welt sich mittlerweile vorwärtsbewegt, er aber bleibt
zurück in der Evolution. Wenn der Mensch zum Beispiel, um
mit den Bildern der Sternenschrift zu sprechen, sozusagen nur
hinausgehen will in die Richtung des Widders und zu stehen
glaubt im Sternbild des Widders, und die Welt ihm nun infolge
ihrer Weiterbewegung vor die Augen führt, was im
Sternbild der Fische ist, dann schaut er das, was aus den
Fischen kommt - symbolisch in der Sternensprache
gesprochen - als ein Erlebnis des Widders an. So kommt dann die
Verwirrung, und der Mensch befindet sich dann tatsächlich
im Labyrinth darinnen. Darum handelt es sich, daß
berücksichtigt werde, daß der Mensch in der Tat
zwölf Standpunkte, zwölf Gesichtspunkte braucht, um
sich im Labyrinth des Makrokosmos zurechtzufinden.
Das
ist das eine, was wir zunächst als eine Charakteristik des
SichHinauslebens in den Makrokosmos hinnehmen wollen.
Aber noch in einer anderen Weise ist der Mensch in der
göttlich-geistigen Welt, ohne etwas davon zu wissen,
nämlich während der anderen Zeit der
vierundzwanzig Stunden des Tages. Beim Aufwachen taucht
der Mensch zwar in den physischen Leib und Ätherleib
hinein, aber er nimmt nichts davon wahr. Denn im Augenblick des
Aufwachens, wo er hineintaucht, wird der Mensch sogleich mit
seiner Wahrnehmung auf die Außenwelt abgelenkt. Er
würde ganz etwas anderes wahrnehmen, wenn er
bewußt hinuntertauchen würde in seinen
physischen Leib und Ätherleib.
So
wird der Mensch bewahrt vor dem bewußten Hineinleben in
den Makrokosmos, für den er nicht vorbereitet ist, durch
den Schlafzustand. Und er wird bewahrt vor dem
bewußten Hinunterleben in den physischen Leib und
Ätherleib dadurch, daß seine
Wahrnehmungsfähigkeit auf die Außenwelt
abgelenkt wird. Die Gefahr nun, die für den Menschen
eintreten würde, wenn er unvorbereitet hinuntersteigen
würde in seinen physischen Leib und Ätherleib, ist
eine etwas andere als die kosmische Blendung und Verwirrung,
die wir geschildert haben als die Gefahr beim unvorbereiteten
Hinausdringen in den Makrokosmos.
Wenn der Mensch unvorbereitet die Natur seines physischen
Leibes und Ätherleibes betritt und sich mit ihr
identifiziert, dann geschieht es, daß sich dasjenige zu
einer besonderen Stärke entwickelt, wozu er eigentlich den
irdischen physischen Leib und Ätherleib erhalten hat. Wozu
hat er diese beiden erhalten? Damit er in einer Ich-Natur leben
kann, ein Ich-Bewußtsein entwickeln kann. Aber das Ich
kommt unvorbereitet, ungereinigt und ungeläutert in
die Welt des physischen Leibes und Ätherleibes. Wenn der
Mensch unvorbereitet hinuntersteigt in den physischen
Leib und Ätherleib, wird er so ergriffen, daß das
mystische Wahrnehmen, das nun eintritt, ausschließt die
innere Wahrheit, indem sich Trugbilder vor den Menschen
hinstellen. Dafür, daß sich der Mensch den Blick
eröffnet in die eigene innere Natur, wird er verbunden mit
all dem, was an egoistischen Wünschen und
Schlechtigkeiten, an egoistischen Trieben und so weiter in ihm
ist. Damit verbindet er sich sonst nicht; denn
während des Tages wird sein Blick auf die Erlebnisse der
Außenwelt abgelenkt, und die sind gar nichts gegen das,
was sich aus der eigenen Natur des Menschen heraus entwickeln
kann.
Ich
habe schon zu anderen Zeiten erwähnt, was die christlichen
Märtyrer und Heiligen uns als ihre Erlebnisse beschreiben,
wenn sie sich zunächst mit ihrer eigenen Natur verbanden
und sich hineinversenkten in das, was in ihrem Inneren
lebte. Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß es dasselbe
ist wie das, worauf wir hier hinweisen wollen, und daß
diese christlichen Heiligen durch das Ausschließen der
Wahrnehmung nach außen und das Hinabsteigen nach
innen uns beschreiben, von welchen Versuchungen und
Verführungen sie ergriffen worden sind. Die darin
gegebenen Schilderungen entsprechen durchaus der Wahrheit.
Daher ist es eigentlich im Grunde ungeheuer belehrend, die
Biographien der Heiligen von diesem Gesichtspunkte aus zu
studieren, zu sehen, wie die Leidenschaften, Emotionen, Triebe
und alles, was in dem Menschen sitzt, arbeiten, und wovon der
Mensch abgelenkt wird, wenn er im normalen Leben den Blick auf
die Außenwelt richtet. - So können wir sagen: Es wird
beim Hinuntersteigen in das eigene Innere der Mensch gleichsam
auf seine Ichheit zusammenkomprimiert, ganz in seine Ichheit
verstrickt, in jenen Punkt intensiv
zusammengedrängt, wo er nichts anderes sein will als
ein Ich, wo er gar nichts anderes mag, als seine eigenen
Wünsche und Begierden zu befriedigen, wo gerade das
Schlechte, das im Menschen ist, sein Ich ergreifen will. Das
ist die Stimmung, die sich dabei geltend macht.
So
sehen wir, wie einerseits die Gefahr der Blendung für den
Menschen eintritt, wenn er sich unvorbereitet ausweiten
will in den Kosmos, und anderseits, wie er
zusammengezogen, zusammenkomprimiert wird, ganz in sein
Ich hineingedrängt wird, wenn er sich unvorbereitet
in den eigenen physischen Leib und Ätherleib
hineinversenkt.
Es
besteht aber auch noch eine andere Seite der Initiation, die
wiederum bei gewissen anderen Völkern ausgebildet
worden ist. Während die eine Seite, das Hinausgehen in den
Makrokosmos, besonders bei den arischen und nördlichen
Völkern ausgebildet worden ist, ist die andere Seite in
hohem Grade bei den Ägyptern ausgebildet gewesen.
Es
gibt auch diese Initiation, wo sich der Mensch dem
Göttlichen dadurch nähert, daß er den
Blick nach innen richtet und durch Verinner- lichung, durch
Hinuntersteigen in die eigene Natur, die Wirksamkeit des
Göttlichen in seiner eigenen Natur kennenlernt.
In
den alten Mysterien war die gesamte Menschheitsentwickelung
noch nicht so weit, daß sozusagen die Initiation - sei sie
nun hinaus in den Makrokosmos, sei sie hinein in den Menschen
selbst, in den Mikrokosmos gerichtet - so ausgeführt
werden konnte, daß man den Menschen ganz sich selbst
überließ. Wenn zum Beispiel eine ägyptische
Initiation ausgeführt wurde und der Mensch hineingeleitet
wurde in die Kräfte seines physischen Leibes und
Ätherleibes, so daß er vollbewußt die
Ereignisse seines physischen Leibes und Ätherleibes
erlebte, dann sprühten gleichsam von allen Seiten
heraus aus seiner astralischen Natur die furchtbarsten
Leidenschaften und Emotionen; dämonische, diabolische
Welten kamen aus ihm heraus. Deshalb brauchte in den
ägyptischen Mysterien derjenige, der als Hierophant
arbeitete, Gehilfen, die in Empfang nahmen, was da herauskam,
und es durch ihre eigene Natur hindurch ableiteten. Daher die
zwölf Gehilfen des Initiators, welche die
herauskommenden Dämonen in Empfang nehmen
mußten. Auf diese Weise war der Mensch in der alten
Einweihung im Grunde niemals völlig frei. Denn, was
sich beim Hinuntertauchen in den physischen Leib und
Ätherleib notwendigerweise entwickeln mußte, das
konnte und durfte sich nur entwickeln, wenn und weil der Mensch
um sich die zwölf Gehilfen hatte, welche die Dämonen
in Empfang nahmen und zähmten.
In
ähnlicher Weise war es in den nordischen Mysterien, wo die
Wirkung beim Hinausrücken in den Makrokosmos dadurch
geschehen konnte, daß wiederum zwölf Diener des
Initiators da waren, die ihre Kräfte an den zu
Initiierenden abgaben, damit er die Fähigkeit hatte,
wirklich jene Denk- und Empfindungsweise zu entwickeln, die
notwendig war, um durch das Labyrinth des Makrokosmos
hindurchzukommen.
Eine solche Initiation, wo der Mensch ganz unfrei ist, ganz
angewiesen ist auf die Ableitung der Dämonen durch
die Gehilfen des Initiators, sollte allmählich weichen
einer anderen Initiation, wo der Mensch mit sich selbst fertig
werden kann, und wo derjenige, der die Initiation bewirkt und
ihm die Mittel gibt, nur sagt: Dies und das ist zu tun -, und
wo der Mensch dann nach und nach sich selbst weiter
zurechtfinden kann. Auf dieser Bahn ist der Mensch heute noch
nicht sehr weit. Aber es wird sich nach und nach als eine
selbständige Fähigkeit in der Menschheit
ausbilden, daß der Mensch ohne Hilfe sowohl hinaufsteigen
kann in den Makrokosmos, wie auch hinuntersteigen in den
Mikrokosmos und durchmachen kann als freies Wesen die beiden
Seiten der Initiation. Damit dies geschehen kann, dazu war das
Christus-Ereignis da. Das Christus-Ereignis bedeutet
für den Menschen den Ausgangspunkt, in freier Weise
hinunterzusteigen in den physischen Leib und
Ätherleib, ebenso wie hinauszudringen in den
Makrokosmos, in die große Welt. Einmal mußte in
umfassender Weise durch ein Wesen höchster Art, wie es der
Christus Jesus ist, das Hinuntersteigen in den physischen
Leib und Ätherleib ebenso wie das Hinausgehen in den
Makrokosmos geschehen. Und das ist eigentlich im Grunde das
Christus-Ereignis, daß dieses umfassende Wesen des
Christus es gleichsam der Menschheit
«vormachte», was nun im Verlaufe der Reife der
Erdenentwickelung wenigstens eine genügend große
Anzahl von Menschen erreichen kann. Dazu war notwendig,
daß einmal dieses Ereignis eintrat. - Was ist also
geschehen durch das Christus-Ereignis?
Auf
der einen Seite mußte geschehen, daß einmal die
ChristusWesenheit selbst hinunterstieg in den physischen
Leib und Ätherleib. Und dadurch, daß der physische
Leib und Ätherleib einer menschlichen Wesenheit so
geheiligt werden konnte, daß die Christus-Wesenheit
hinunterdrang — was nur einmal geschehen ist ist in
der Menschheitsentwickelung der Impuls gegeben, daß
jeder Mensch, der es sucht, in freier Art das Heruntersteigen
in den physischen Leib und Ätherleib erleben kann.
Dazu mußte die Christus-Wesenheit auf die Erde
heruntersteigen und dasjenige vollziehen, was noch nie
vollzogen war, was noch nie geschehen war. Denn in den alten
Mysterien war durch die Tätigkeit der Gehilfen etwas ganz
anderes bewirkt worden. Der Mensch konnte in den alten
Mysterien hinuntersteigen in die Geheimnisse des
physischen Leibes und Ätherleibes und hinaufsteigen in die
Geheimnisse des Makrokosmos, aber nur so, daß er nicht
dabei wirklich in seinem physischen Leib lebte. Er konnte
zwar in die Geheimnisse des physischen Leibes eindringen,
aber nicht innerhalb des physischen Leibes; er mußte
sozusagen ganz leibfrei sein. Und wenn er
zurückkehrte, konnte er sich zwar erinnern an die
Erlebnisse in den geistigen Sphären, aber er konnte
diese Erlebnisse nicht in den physischen Leib übertragen.
Es war ein Erinnern, aber nicht ein Mitbringen in den
physischen Leib hinein.
Das
sollte radikal durch das Christus-Ereignis geändert
werden, und das wurde es auch. Es gab also einfach einen
solchen physischen Leib und Ätherleib vor dem
Christus-Ereignis nicht, der es je erlebt hätte, daß
das Ich die ganze volle menschliche Innerlichkeit durchdrungen
hätte bis in den physischen Leib und Ätherleib.
Vorher war es so, daß wirklich niemand mit seinem Ich bis
in den physischen Leib und Ätherleib eindringen
konnte. Das geschah zum ersten Male bei dem
Christus-Ereignis. Und von dort ging auch der andere
Einfluß aus, daß eine Wesenheit, die, wenn auch
unendlich erhaben über den Menschen stehend, so doch
mit der Menschennatur vereinigt war, sich hinausergossen
hat in den Makrokosmos ohne fremde Hilfe durch die eigene
Ichheit. Das war aber nur durch den Christus möglich
gewesen. Nur dadurch ist es für den Menschen möglich,
sich die Fähigkeit zu erwerben, in Freiheit nach und
nach hinauszudringen in den Makrokosmos. Das sind die beiden
Grundsäulen, die uns in dieser Art gleicherweise in den
beiden Evangelien - im Lukas-Evangelium und auch im
Matthäus-Evangelium - entgegentreten. Wie das?
Wir
haben gesehen, daß Zarathustra mit derjenigen
Individualität, die in uralten nachatlantischen Zeiten der
große Lehrer Asiens war, sich später inkarniert hat
als Zarathas oder Nazarathos, daß er mit derselben
Individualität sich inkarniert hat in dem Jesusknaben, den
wir als den Jesusknaben des Matthäus-Evangeliums
geschildert haben, der abstammt aus der salomonischen Linie des
Hauses David. Wir haben gesehen, daß die
Zarathustra-Individualität durch zwölf Jahre hindurch
in diesem Jesusknaben, das heißt in sich selber, alle die
Eigenschaften entwickelte, die man in dem Werkzeug des
physischen Leibes und des Ätherleibes aus einem Sprossen
des Hauses Salomo entwickeln konnte. Die hatte er nur
dadurch, daß er zwölf Jahre in diesem
physischen Leib und Ätherleib gelebt hat. Man eignet sich
menschliche Fähigkeiten dadurch an, daß man sie
ausarbeitet in Werkzeugen. Dann verließ die
Zarathustra-Individualität diesen Jesusknaben und
ging hinüber in jenen Jesusknaben, den das
Lukas-Evangelium schildert, der aus der nathanischen
Linie des HausesDavid stammt, der als zweiter Jesusknabe
geboren wurde und in Nazareth auferzogen wurde in der
Nachbarschaft des anderen. In diesen ging hinüber die
Zarathustra-Individualität in jenem Moment, den das
Lukas-Evangelium schildert als das Wiederfinden im Tempel
zu Jerusalem, nachdem er verlorengegangen war während des
Festes. Während nun der salomonische Jesusknabe bald
starb, lebte Zarathustra heran in dem Jesus des
Lukas-Evangeliums bis zu seinem dreißigsten Jahre und
eignete sich alle Fähigkeiten an, die man sich aneignen
kann mit den Werkzeugen, die man hat, wenn man auf der
einen Seite das schon mitgebracht hat, was man sich
aneignen konnte in einem so zubereiteten physischen Leib und
Ätherleib, wie wir es beschrieben haben, und wenn man
ferner dem hinzufügen kann, was man in einem solchen
astralischen Leib und Ich-Träger erringen kann, wie sie
der Jesus des Lukas-Evangeliums hatte.
So
ist Zarathustra in diesem Leibe des Lukas-Jesus herangewachsen
bis zum dreißigsten Jahre, war mit all diesen
Eigenschaften, die er entwickeln konnte, so weit in dem
Leib, den wir geschildert haben, daß er jetzt sein drittes
großes Opfer bringen konnte: die Hinopferung des
physischen Leibes, der jetzt während dreier Jahre der
physische Leib der Christus-Wesenheit wird. So opfert die
Zarathustra-Individualität, nachdem sie in früheren
Zeiten astralischen Leib und Ätherleib hingeopfert
hatte für Hermes und Moses, jetzt den physischen Leib, das
heißt, sie verläßt diese Hülle, die da ist
mit allem, was sonst noch darinnen ist als Ätherleib
und astralischer Leib. Und was bis dahin erfüllt war von
der Zarathustra-Individualität, das wird jetzt eingenommen
von einem Wesen, das ganz einzigartiger Natur ist, das der
Quell ist aller bedeutenden Weisheit für alle großen
Weisheitslehrer: von dem Christus. Das ist das Ereignis, das
uns angedeutet wird - wir werden es noch genauer schildern - in
der Johannes-Taufe im Jordan, jenes Ereignis, dessen
Umfassendes und dessen ganze Größe uns in dem einen
Evangelium angedeutet wird mit den Worten: «Du bist mein
vielgeliebter Sohn, in dem ich mich selber sehe, in dem mir
mein eigenes Selbst entgegentritt!» und was nicht
mit den trivialen Worten zu übersetzen ist: «... an
dem ich Wohlgefallen habe» (Matth. 3,17). In anderen
Evangelien ist sogar gesagt: «Du bist mein vielgeliebter
Sohn; heute habe ich dich gezeuget». Da wird uns klar
angedeutet, daß es sich um eine Geburt handelt,
nämlich um die Geburt des Christus in der Hülle,
welche Zarathustra zuerst zubereitet und dann hingeopfert hat.
Im Moment der Johannes-Taufe fahrt die Christus-Wesenheit in
die von Zarathustra zubereitete menschliche Hülle. Da
haben wir es zu tun mit einer Wiedergeburt dieser drei
Hüllen, indem sie durchdrungen werden von der
Substantialität des Christus. Die Johannes-Taufe ist eine
Wiedergeburt der von Zarathustra heranerzogenen Hüllen und
die Geburt des Christus auf der Erde. Jetzt ist der Christus in
einem menschlichen Leibe, zwar in menschlichen Leibern, wie sie
besonders zubereitet sind, aber doch in menschlichen Leibern,
wie sie die anderen Menschen auch haben, wenn auch
unvollkommener.
Der
Christus, die höchste Individualität, die mit der
Erde verbunden sein kann, ist jetzt in Menschenleibern.
Soll er das größte Ereignis, soll er die volle
Initiation vorleben, so muß er die zwei Seiten
vorleben: das Hinuntersteigen in den physischen Leib und
Ätherleib und das Hinaufsteigen in den Makrokosmos. Beide
Ereignisse lebt der Christus den Menschen vor. Nur müssen
uns, wie das in der ganzen Natur der Christus-Tatsachen
liegen muß, diese Ereignisse so
entgegentreten, daß beim Heruntersteigen in den
physischen Leib und Ätherleib der Christus gefeit ist
gegen alle die Anfechtungen, die ihm zwar entgegentreten, die
aber abprallen an ihm. Ebenso muß es klar sein, daß
ihm diejenigen Gefahren nichts anhaben können, die beim
Hinausdringen in den Makrokosmos an den Menschen
herankommen.
Nun
wird im Matthäus-Evangelium geschildert, wie die
ChristusWesenheit wirklich nach der Johannes-Taufe
hinuntersteigt in den physischen Leib und Ätherleib. Und
die Darstellung dieses Ereignisses ist die Geschichte von der
Versuchung (Matth. 4,1-11). Wir werden sehen, wie diese
Versuchungsszene in allen Einzelheiten die Erlebnisse
wiedergibt, die der Mensch überhaupt hat, wenn er in den
physischen Leib und Ätherleib hinuntersteigt. Da also ist
das Hineinfahren des Christus in einen menschlichen physischen
Leib und Ätherleib, das Zusammengedrängtsein auf die
menschliche Ichheit, vorgelebt im Menschen, so daß es
möglich ist zu sagen: So kann es sein, das alles kann euch
begegnen! Wenn ihr euch an den Christus erinnert, wenn ihr
Christus-ähnlich werdet, so habt ihr die Kraft, all diesem
zu begegnen, selbst zu überwinden alles, was da aus
dem physischen Leib und Ätherleib heraufströmt!
Das
ist das erste Markante im Matthäus-Evangelium: die
Versuchungsszene. Sie gibt wieder die eine Seite der
Initiation, das Hinuntersteigen in den physischen Leib
und Ätherleib. Die andere Seite der Initiation, das
Sich-Ausbreiten in den Makrokosmos, wird auch
geschildert, und zwar so, daß zunächst gezeigt
wird, wie der Christus mit der menschlichen Natur, ganz im
Sinne der sinnlichen, menschlichen Natur, dieses
Sich-Ausbreiten in den Makrokosmos unternimmt.
Ich
möchte gerade hier einen naheliegenden Einwand wenigstens
erwähnen. Vollständig begegnen werden wir ihm in den
nächsten Tagen, heute aber wollen wir wenigstens die
Hauptpunkte abstecken, den Einwand nämlich: Wenn der
Christus wirklich eine solche hohe Wesenheit war, warum
mußte er das alles durchmachen, warum hineinsteigen
in den physischen Leib und Ätherleib, warum gleich dem
Menschen hinaustreten und sich ausweiten in den Makrokosmos?
Nicht für sich brauchte er es, für die Menschen
mußte er es tun! In den höheren Sphären, mit den
Substantialitäten der höheren Sphären, konnten
es diejenigen Wesenheiten, die dem Christus gleichartig waren.
In einem menschlichen physischen Leibe und Ätherleibe war
es noch nicht geschehen. Ein menschlicher Leib war noch nicht
durchdrungen von der Christus-Wesenheit. Göttliche
Substantialität ist hinausgetreten in den Raum. Aber
das, was im Menschen lebt, ist noch nicht hinausgetragen worden
in den Raum. Das konnte nur ein Christus mitnehmen und
hinaus in den Raum ergießen. Das mußte zum ersten
Male ein Gott in der Menschennatur machen!
Und
dieses zweite Ereignis wird geschildert, indem sozusagen der
zweite Pfeiler hingesetzt wurde im Matthäus-Evangelium,
da, wo gezeigt wird, daß die zweite Seite der
Initiation, das Hinausleben in die große Welt, das
Aufgehen in Sonne und Sterne, sich wirklich durch den Christus
mit der Menschennatur vollzogen hat. Da wurde er zuerst
gesalbt, gesalbt wie ein anderer Mensch, damit er rein wurde,
damit er gefeit wurde gegen das, was zunächst aus
der physischen Welt an ihn herantreten könnte. Da sehen
wir, wie die Salbung, die in den alten Mysterien eine Rolle
spielt, uns wiederum entgegentritt auf höherer Stufe, auf
historischem Boden, während sie sonst eine Tempelsalbung
war (Matth. 26, 6-13). Und wir sehen, wie der Christus jetzt
ausdrückt das Aufgehen in die ganze Welt - nicht nur das
In-sich-selber-Sein, sondern das Ergossensein in die
ganze übrige Welt - beim Passahmahle, wo er denen, die um
ihn stehen, erklärt, daß er sich fühlt in
alledem, was innerhalb der Erde als Festes ausgeprägt ist
- was in dem Wort «Ich bin das Brot» angedeutet ist -
und ebenso in allem Flüssigen (Matth. 26, 17-30). Es wird
im Passahmahl angedeutet dieses bewußte Heraustreten
in die große Welt, so wie der Mensch im Schlafe
unbewußt heraustritt. Und das Fühlen alles
dessen, was der Mensch fühlen muß als herannahende
Blendung, sehen wir ausgedrückt in dem monumentalen Wort:
«Meine Seele ist betrübt bis in den Tod!»
(Matth. 26, 38). Der Christus Jesus erlebt tatsächlich,
was die Menschen sonst erleben wie ein Getötetwerden, ein
Gelähmtwerden, wie eine Blendung. Er erlebt in der Szene
von Gethsemane das, was man nennen kann: der von der Seele
verlassene physische Leib zeigt seine eigenen
Angstzustände. Was in dieser Szene erlebt wird, das soll
schildern, wie die Seele sich weitet in der Welt und wie der
Leib verlassen wird (Matth. 26, 36-46).
Und
alles, was dann folgt, soll in der Tat schildern das
Hinausdringen in den Makrokosmos: die Kreuzigung, und was
mit der Grablegung dargestellt ist, und alles, was sich
sonst in den Mysterien vollzogen hat. Das ist der andere
Pfeiler des Matthäus-Evangeliums: das Hinausleben in den
Makrokosmos. Und deutlich drückt es das
Matthäus-Evangelium aus, indem wir darauf
hingewiesen werden, daß der Christus Jesus bisher gelebt
hat in dem physischen Leib, der dann am Kreuze hing. In diesem
Punkt des Raumes war er konzentriert, aber jetzt weitet er sich
aus in den ganzen Kosmos. Und wer ihn jetzt hätte suchen
sollen, würde ihn nicht gesehen haben in diesem physischen
Leib, sondern hätte ihn jetzt hellseherisch suchen
müssen in dem Geiste, der die Räume durchdringt.
Nachdem der Christus tatsächlich das vollzogen hat, was
früher, aber mit fremder Hilfe, in den dreieinhalb Tagen
in den Mysterien vollzogen wurde, nachdem er vollzogen hatte,
was ihm gerade zum Vorwurf gemacht wurde, weil er gesagt hatte,
man möge diesen Tempel niederreißen, und in
drei Tagen würde er ihn wieder aufbauen (Matth. 26, 61) -
womit deutlich hingewiesen wird auf die sonst in den
dreieinhalb Tagen vollzogene Initiation in den Makrokosmos -,
da deutet er aber auch darauf hin, daß er nach dieser
Szene nicht mehr dort zu suchen ist, wo innerhalb des
Physischen die Wesenheit des Christus Jesus eingeschlossen war,
sondern draußen in dem Geist, der die Weltenräume
durchzieht. Das wird gewöhnlich so übersetzt, und
selbst noch in diesen schwachen Übersetzungen der neueren
Zeit tritt es uns mit aller Majestät entgegen:
«Demnächst werdet ihr zu suchen haben das Wesen, das
da aus der Menschheitsevolution geboren wird, zur Rechten der
Macht, und es wird euch erscheinen aus den Wolken
heraus» (Matth. 26, 64). Dort habt ihr den Christus
zu suchen, ausgegossen in die Welt, als Vorbild der
großen Initiation, die der Mensch erlebt, wenn er den Leib
verläßt und sich hinauslebt, sich hinausweitet in den
Makrokosmos.
Damit haben wir Anfang und Ende des eigentlichen
Christus-Lebens, das beginnt bei der Geburt des Christus in
jenem Leibe, von dem wir gesprochen haben bei der
Johannes-Taufe. Da beginnt es mit der einen Seite der
Initiation: mit dem Hinuntersteigen in den physischen Leib und
Ätherleib in der Versuchungsgeschichte. Und es
schließt bei der anderen Seite der Initiation: der
Ausbreitung in den Makrokosmos, die mit der Szene des
Abendmahles beginnt und weiter dargestellt wird in dem Vorgang
der Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung und
Auferstehung. Das sind die zwei Punkte, innerhalb derer die
Ereignisse des Matthäus-Evangeliums liegen. Und die
wollen wir jetzt hineinsetzen in das, was wir zunächst wie
mit Kohle skizzenhaft gezeichnet haben.
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