DRITTER VORTRAG
Den
Haag, 22. März 1913
Gleichsam überführend von dem physischen
Hüllensystem des Menschen zu dem ätherischen System,
zu dem Ätherleib, sind jene Veränderungen, welche mit
dem Menschen vorgehen bei einer okkulten oder
anthroposophischen Entwicklung in bezug auf das Muskelsystem
und namentlich in bezug auf die Sinne, auf die Sinnesorgane. In
bezug auf das Muskelsystem muß gesagt werden, daß der
Mensch nicht nur das Muskelsystem nach und nach beweglicher
fühlt, wie das ja in bezug auf die anderen physischen
Organe gesagt werden konnte, sondern daß er dieses
Muskelsystem fühlt — man möchte sagen —,
außer dem, daß es lebendiger wird, noch wie mit einem
schwachen inneren Bewußtsein durchdrungen. Es ist, als ob
das Bewußtsein sich tatsächlich ausdehnte über
das Muskelsystem. Und wenn man, gar nicht einmal irgendwie
ungenau, aber etwas paradox sprechen wollte über das
entsprechende Erlebnis, so könnte man sagen: Man gelangt
allmählich dazu im Laufe der esoterischen Entwicklung, die
einzelnen Muskeln und ihr System wie innerlich traumhaft zu
empfinden; man trägt sein Muskelsystem immer so mit sich
herum, daß man von der Tätigkeit dieses Muskelsystems
mitten im Tagwachen zwischendurch schwach träumt. Es ist
immerhin sehr interessant, gerade diese Veränderung der
physischen Hülle ins Auge zu fassen aus dem Grunde, weil
man in dieser Wahrnehmung etwas hat, was einen am besten
zunächst in gewisser Beziehung unterrichten kann
darüber, daß man einen gewissen Fortschritt gemacht
hat.
Wenn man beginnt, die einzelnen Muskeln so zu fühlen,
daß man zum Beispiel beim Beugen und Strecken derselben
ein schwaches Bewußtsein davon hat, was da geschieht, ein
schwaches Mitgefühl hat, dann muß man sagen: da
drinnen geht etwas vor in den Muskeln. Wenn man träumt von
seinen Muskelbewegungen, dann ist dies ein Beweis davon,
daß man beginnt, den in den physischen Leib hinein
imprägnierten Ätherleib nach und nach zufühlen;
denn das, was man da eigentlich fühlt, sind die
Kräfte des Ätherleibes, die in den Muskeln tätig
sind. So daß es ein Anfang der Wahrnehmung des
Ätherleibes ist, wenn man von seinen einzelnen Muskeln
träumt, wenn man gleichsam ein traumhaftes Bewußtsein
von sich so hat, wie man in anatomischen Lehrbüchern den
Menschen dargestellt findet, wo ihm die Haut abgezogen ist und
er nur in seinen Muskeln sich zeigt. Ja, es ist schon
gewissermaßen ein solches Die-Haut-Ausziehen und
Von-seinen-einzelnen-Gliedern-Träumen wie von einer Art
Gliederpuppe, zu dem man da aufsteigt, wenn man beginnt, das
ätherische Wesen wahrzunehmen.
Weniger behaglich, aber auch nicht ausbleibend ist die
Empfindlichkeit, wenn gleichsam ins Bewußtsein
heraufdämmert das Knochensystem. Es ist deshalb weniger
behaglich, weil, wenn dieses Knochensystem wahrgenommen wird,
man an ihm eigentlich am meisten, am hervorstechendsten sein
allmähliches Altwerden empfindet. Deshalb ist es nicht
gerade behaglich, zu achten auf die Empfindlichkeit, die
gegenüber dem Knochensystem auftritt, was ja der Mensch im
Grunde genommen sonst im normalen Leben gar nicht fühlt;
aber er beginnt so etwas wie einen Schatten in sich zu
fühlen in seinem Knochensystem, wenn er sich
ätherisch entwickelt. Und dann bekommt man einen Begriff
davon, daß es doch einer gewissen uralten hellseherischen
Kraft der Menschen entsprach, daß sie das Gerippe als den
symbolischen Ausdruck des Todes darstellten. Sie wußten,
daß man in seinem Gerippe das Herannahen des Todes nach
und nach fühlen lernt.
Aber weitaus bedeutungsvoller als alles dieses ist noch jenes
Erlebnis, das man gegenüber seinen Sinnesorganen
während der esoterischen oder anthroposophischen
Entwicklung hat. Wir wissen ja, daß diese Sinnesorgane
eigentlich ausgeschaltet werden müssen, wenn der Mensch
eine esoterische Entwicklung durchmacht; sie müssen
sozusagen schweigen. Dadurch fühlen sich gleichsam die
physischen Sinnesorgane während der esoterischen
Entwicklung zur Untätigkeit verurteilt; sie sind
ausgeschaltet. Dafür nun, daß sie als physische
Sinnesorgane ausgeschaltet sind, tritt ein anderes ein: erstens
ein allmähliches Bewußtwerden der einzelnen
Sinnesorgane wiebesondere Welten, die in einen hineindringen.
Man lernt empfinden die Augen, die Ohren, sogar den
Wärmesinn, wie hineingebohrt in einen. Aber das, was man
da empfinden lernt, ist nicht das physische Sinnesorgan,
sondern sind die Ätherkräfte, die Kräfte des
Ätherleibes, die organisierend wirken an den
Sinnesorganen. So daß man, wenn man ausschaltet die
Tätigkeit der Sinne, gleichsam aufgehen sieht die Natur
dieser Sinnesorgane wie ebenso viele in einen hineingebohrte
ätherische Organisationen. Das ist außerordentlich
interessant. In dem Maße, wie man ernsthaft während
seiner esoterischen Entwicklung zum Beispiel das Auge
ausschaltet, nicht mehr auf das physische Sehen reflektiert, in
dem Maße lernt man kennen etwas, was sich in die eigene
Organisation so hereinbohrt wie Lichtorganismen; man lernt dann
wirklich erkennen, daß das Auge allmählich dadurch
entstanden ist, daß die inneren Lichtkräfte an
unserem Organismus gearbeitet haben. Denn während man
absieht von aller Tätigkeit des physischen Auges,
fühlt man das Blickfeld durchzogen von den
ätherischen Lichtkräften, die organisierend auf das
Auge wirken. Eine eigentümliche Erscheinung ist diese,
daß man durch das Auge, wenn man es ausschaltet, die
Lichtkräfte kennenlernt. Alle physikalischen Theorien sind
nichts gegen jene Kenntnis der inneren Natur des Lichtes und
seiner Wirkung, die man erfährt, wenn man eine Weile sich
geübt hat, die physische Sehkraft des Auges auszuschalten,
und allmählich sich hineinfindet, an der Stelle des
physischen Augengebrauches wahrzunehmen die innere Natur der
ätherischen Lichtkräfte.
Der
Wärmesinn liegt gleichsam auf einer niedrigeren Stufe. Es
ist ja außerordentlich schwer, wirklich auszuschalten die
Empfindlichkeit für Wärme und Kälte. Es gelingt
einem am besten, wenn man versucht während seiner
esoterischen Entwicklung während der Dauer der Meditation
nicht von irgendeinem Wärmegefühl gestört zu
werden. Da ist es also gut, seine Meditation so zu machen,
daß man gerade von jener Temperatur umgeben ist, welche
weder als Wärme noch als Kälte empfunden wird, so
daß man in keiner Weise irritiert wird, weder durch
Wärme- noch durch Kältegefühle. Wenn einem das
gelingt, dann kann man — allerdings ist es nurschwierig
zu unterscheiden von der gewöhnlichen
Temperaturwahrnehmung —, dann kann man sich nach und nach
daran gewöhnen, auch die innere Natur des
Wärmeäthers kennenzulernen, des den Raum
durchstrahlenden Wärmeäthers; dann erst fühlt
man sich in seiner eigenen Leiblichkeit wie durchdrungen von
der eigentlichen Tätigkeit des Wärmeäthers. Wenn
man nicht mehr die empfindungsmäßige Wahrnehmung der
Wärme hat, dann lernt man die Natur des
Wärmeäthers durch sich selbst kennen.
Durch die Ausschaltung des Geschmackssinnes, natürlich ist
ja der Geschmackssinn während der esoterischen
Übungen ausgeschaltet, gewiß, aber wenn es einem dann
gelingt, an Geschmacksempfindungen sich zu erinnern, dann ist
damit ein Mittel gegeben, die Natur eines noch feineren
Äthers zu erkennen, als der Lichtäther ist, des
sogenannten chemischen Äthers. Es ist das auch nicht ganz
leicht, aber man kann es erleben. Ebenso kann man durch die
entsprechende Ausschaltung des Geruchssinnes den
Lebensäther erkennen.
Eigentümlich ergeht es einem mit der Ausschaltung des
Gehörs, Da muß man allerdings es dahin bringen, eine
solche Abgezogenheit zu erreichen, daß man, wenn auch
Hörbares in der Nähe vorgeht, es nicht mehr
hört. Man muß also willkürlich von Hörbarem
absehen lernen. Dann treten einem entgegen wie hereingebohrt in
den Organismus die im Ätherleib befindlichen Kräfte,
welche unser Gehörorgan organisierten. Man macht dabei
eine merkwürdige Entdeckung. Diese Dinge gehören in
der Tat zu den immer höher und höher liegenden
Geheimnissen. Daher wird es vielleicht unschwer gesagt werden
können, daß nicht gleich alles das durchschaut werden
kann, was mit Bezug auf diese Erlebnisse gegenüber solchen
Sinnen wie dem Gehörsinn gesagt wird. Man macht
nämlich die Entdeckung, daß das Ohr eine solche
Organisation hat, daß man genau erkennt: Dieses Ohr, so
wie wir es als Mensch an uns tragen in seiner wunderbaren
Organisation, könnte gar nicht aus den Kräften heraus
gebildet sein, welche als Ätherkräfte die Erde als
solche umspielen. Die Lichtkräfte, die
Ätherkräfte des Lichtes, die die Erde umspielen,
hängen innig zusammen mit der Bildung unserer Augen, wenn
auch die Augenanlage schon früher vorhanden war; aber so,
wie das Auge gestaltet ist, wie es jetzt am Organismus sitzt,
so hängt es innig zusammen mit den
Lichtätherkräften der Erde. Ebenso hängt unser
Geschmackssinn mit den chemischen Ätherkräften der
Erde zusammen, er ist zum großen Teil aus diesen
herausgebildet. Unser Geruchssinn hängt mit dem
Lebensäther der Erde zusammen; er ist fast
ausschließlich organisiert aus dem Lebensäther, der
die Erde umspielt. Unser Gehörorgan zeigt aber, wenn es
okkultistisch erlebt wird innerhalb einer esoterischen
Entwicklung, daß es zum allergeringsten Teil den die Erde
umspielenden Ätherkräften sein Dasein verdankt. Man
möchte sagen: die letzte Hand haben an unser
Gehörorgan die Ätherkräfte angelegt, welche die
Erde umspielen; aber dieses Gehörorgan ist so von diesen
Ätherkräften, welche die Erde umspielen, behandelt
worden, daß sie es eigentlich nicht vollkommener gemacht
haben, dieses Gehörorgan, sondern unvollkommener; denn
diese die Erde umspielenden Ätherkräfte können
auf das Ohr nur dadurch wirken, daß sie in der Luft
tätig sind und fortwährend an der Luft einen
Widerstand haben.
Daher kann man, obzwar das paradox gesprochen ist, sagen: Eine
viel feinere Organisation, die da war, ist auf der Erde in
unserem Gehörorgan korrumpiert worden. Und dann wird auf
dieser Stufe sogar durch eigenes Erlebnis es erklärlich
für den sich entwickelnden Anthroposophen, daß er das
Ohr, das ganze Gehörorgan schon mitgebracht hat auf die
Erde, als er den Weg von dem alten Mond zur Erde herein machte;
ja, daß dieses Gehörorgan auf dem alten Monde viel
vollkommener war als auf der Erde. Man lernt es allmählich
dem Ohre anfühlen, daß man ihm gegenüber,
möchte man sagen — man muß manchmal paradoxe
Ausdrücke wählen —, daß man ihm
gegenüber melancholisch werden könnte, weil das Ohr
zu den Organen gehört, die in ihrer ganzen Einrichtung, in
ihrer ganzen Struktur zeugen von vergangenen Vollkommenheiten.
Und wer die eben ein wenig angedeuteten Erlebnisse
allmählich sich heranzieht, der wird den Okkultisten
verstehen, der allerdings aus noch viel tieferen Kräften
heraus seine Erkenntnis schöpft, den Okkultisten, der ihm
sagt: Auf dem alten Mond hatte das Ohr eine viel
größereBedeutung für den Menschen als heute.
Damals war das Ohr dazu da, gleichsam ganz zu leben in der auf
dem Mond in einer gewissen Beziehung noch erklingenden
Sphärenmusik. Und gegenüber diesen Klängen der
auf dem Monde, obzwar schon schwach im Vergleich zu
früher, aber doch erklingenden Töne der
Sphärenmusik verhielt sich das Ohr so, daß es sie
aufnahm. Es war sozusagen auf dem alten Monde vermöge
seiner damaligen Vollkommenheit immer in Musik getaucht. Diese
Musik, die teilte sich noch auf dem alten Monde der ganzen
menschlichen Organisation mit; die Musikwellen durchdrangen auf
dem alten Monde noch die menschliche Organisation, und das
innere Leben des Menschen war auf dem alten Monde ein
Miterleben mit der ganzen musikalischen Umgebung, ein Anpassen
an die ganze musikalische Umgebung; das Ohr war ein
Kommunikationsapparat, um jene Bewegungen innerlich
nachzumachen, welche außen als Sphärenmusik
erklangen. Der Mensch fühlte sich auf dem alten Monde noch
wie eine Art Instrument, auf welchem der Kosmos mit seinen
Kräften spielte, und die Ohren waren in ihrer damaligen
Vollkommenheit die Vermittler zwischen den Spielern des Kosmos
und dem Instrument des menschlichen Organismus auf dem alten
Mond. So wird einem die heutige Einrichtung des
Gehörorganes wie zum Wecker einer Erinnerung, und man
verbindet einen Sinn damit, daß durch eine Art Korruption
des Gehörorgans der Mensch unfähig geworden ist, die
Sphärenmusik zu erleben, daß er sich emanzipiert hat
und daß er diese Sphärenmusik nur hereinfangen konnte
in das, was heutige Musik ist, die sich im Grunde genommen doch
nur innerhalb der Luft, die die Erde umspielt, abspielen
kann.
Auch anderen Sinnen gegenüber tauchen Erlebnisse auf; aber
sie werden allerdings immer undeutlicher, und es würde
nicht viel Bedeutung haben, die Erlebnisse in bezug auf andere
Sinnesorgane zu verfolgen aus dem einfachen Grunde, weil es
schwierig ist, mit den gewöhnlichen menschlichen Begriffen
in diese Veränderungen hineinzuleuchten, die sich an ihnen
durch die esoterische Entwicklung vollziehen. Was würde es
zum Beispiel für eine Bedeutung haben gegenüber dem,
was der Mensch heute auf der Erde erfahren kann, wenn von dem
Sprachsinn gesprochen würde — ich meine nicht von
dem Sinn für das Sprechen. Für diejenigen, die die
Vorträge über «Anthroposophie» in Berlin
gehört haben, ist es schon bekannt, daß es einen
eigenen Sprachsinn gibt. Wie es den Tonsinn gibt, so gibt es
einen eigenen Sinn, der nur innerlich ein Organ hat und nicht
äußerlich, für die Wahrnehmung des gesprochenen
Wortes selber. Dieser Sinn ist noch mehr korrumpiert worden; er
ist so korrumpiert worden, daß heute im Grunde genommen
nur noch ein letzter Nachklang vorhanden ist von demjenigen,
was dieser Sprachsinn zum Beispiel noch auf dem alten Monde
war. Auf dem alten Monde diente dasjenige, was heute zum
Sprachsinn, zum Verstehen der Worte bei unseren Mitmenschen
geworden ist, dazu, sich in die ganze Umgebung bewußt mit
imaginativem Bewußtsein hineinzufühlen, um den alten
Mond gleichsam zu umkreisen. Welche Bewegungen man machte, wie
man sich zurechtfand, das diktierte der Sprachsinn auf dem
alten Monde. Man lernt erst allmählich kennen diese Art
der Erlebnisse des Sprachsinnes, wenn man sich nach und nach
eine Empfindung für den inneren Wert der Vokale und
Konsonanten aneignet, wie empfunden wird dieser innere Wert
dieser Vokale und Konsonanten bei den mantrischen Sätzen.
Aber es ist dies doch nur ein schwacher Nachklang, zu dem sich
der Erdenmensch im allgemeinen auf diesem Gebiet erheben kann
gegenüber dem, was der Sprachsinn einstmals war.
So
sehen Sie, meine lieben Freunde, wie der Mensch sich hier
allmählich hineinlebt in die Wahrnehmung seines
ätherischen Leibes, wie das, was er gleichsam von sich
weist in seiner okkulten Entwicklung, die Tätigkeit der
physischen Sinne, sich ihm ersetzt auf der anderen Seite, indem
es ihn hineinführt in die Wahrnehmung des ätherischen
Leibes. Aber es ist eigentümlich: diese Wahrnehmungen vom
Ätherleibe, von denen jetzt eben gesprochen worden ist,
wir fühlen sie so, wenn wir sie erleben, als ob sie nicht
recht zu uns gehörten, als ob sie — wie gesagt
— von außen in uns hineingebohrt würden. Wir
fühlen den Lichtkörper in uns wie hineingebohrt, wir
fühlen etwas wie eine auf der Erde nicht hörbare
musikalische Bewegung durch unser Ohr in uns hineingebohrt;
denWärmeäther fühlen wir allerdings nicht wie in
uns hineingebohrt, sondern uns durchdringend; und wir lernen
fühlen die Tätigkeit des in uns arbeitenden
chemischen Äthers für den ausgeschalteten Geschmack
und so weiter. Da also sind wir bereits daran, daß der
Mensch gegenüber dem Zustand, den man als den normalen
bezeichnet, verändert fühlt seinen Ätherleib, in
den gleichsam von außen Pfropfen hereingetrieben sind.
Nun
aber beginnt der Mensch allmählich auch mehr direkt seinen
Ätherleib wahrzunehmen. Die auffälligste
Veränderung, welche mit dem Ätherleib vor sich geht
und die für manchen recht unsympathisch zu vernehmen ist,
die nicht erkannt wird als eine Veränderung im
Ätherleib, die aber doch eine ist, die besteht darin,
daß die esoterische Entwicklung sehr deutlich an sich
merken läßt, am eigenen Leib sozusagen merken
läßt, wie die Kraft des Gedächtnisses
zunächst etwas nachläßt. Das, was man
gewöhnlich als Gedächtnis hat, erleidet durch eine
esoterische Entwicklung fast immer eine Herabstimmung. Man
bekommt zunächst ein schlechteres Gedächtnis. Wer ein
schlechteres Gedächtnis nicht haben will, kann eben eine
esoterische Entwicklung nicht durchmachen. Namentlich hört
auf stark tätig zu sein dasjenige Gedächtnis, das man
als mechanisches Gedächtnis bezeichnen kann, das gerade in
den Kinder- und Jugendjahren bei Menschen am besten ausgebildet
ist und was ja zumeist gemeint ist, wenn vom Gedächtnis
die Rede ist. Und gar mancher Esoteriker wird zu klagen haben
über die Herabstimmung seines Gedächtnisses. Denn man
kann das recht bald bemerken; jedenfalls viel früher, als
man die feinen Wahrheiten, die jetzt auseinandergesetzt worden
sind, an sich wahrnimmt, bemerkt man diese Herabsetzung des
Gedächtnisses. Aber wie man niemals Schaden nehmen kann an
seinem physischen Leibe, trotzdem er beweglicher wird, wenn man
die richtige anthroposophische Entwicklung einschlägt, so
kann man ernstlich doch nicht auf die Dauer Schaden nehmen,
auch nicht in bezug auf das Gedächtnis. Man muß nur
anstreben, das Richtige zu machen.
In
bezug auf die physische Organisation muß man —
während der äußere Leib beweglicher wird,
während innerlich seine Organeunabhängiger werden, so
daß man sie schwerer in Einklang bringen kann als
früher —, muß man sich innerlich stark machen.
Das wird getan durch jene sechs Übungen, die Sie im
zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft» geschildert
finden. Wer diese in entsprechender Weise macht, wird sehen,
daß ihm so viel an innerer Stärke zuwächst, um
den beweglicheren physischen Leib in Ordnung zu halten, als er
an Kraft verliert durch die esoterische Entwicklung. In bezug
nun auf das Gedächtnis müssen wir auch das Richtige
tun. Das Gedächtnis, das für das äußere
Leben da ist, geht schon einmal verloren; aber wir brauchen gar
keinen Schaden zu nehmen, wenn wir darauf achten, für
alles das, was uns im Leben angeht, mehr Interesse zu
entwickeln, tieferes Interesse, mehr Anteil zu entwickeln, als
wir das vorher gewohnt waren. Wir müssen anfangen, uns
für die Dinge, die für uns Bedeutung haben,
namentlich ein gefühlsmäßiges Interesse
anzueignen. Vorher haben wir ein mehr mechanisches
Gedächtnis entwickelt, und dieses mechanische
Gedächtnis arbeitet auch dann zuweilen recht sicher, wenn
man die Dinge, die man sich merken will, nicht besonders liebt;
aber das hört auf. Man wird nämlich bemerken,
daß man, wenn man eine anthroposophische oder esoterische
Entwicklung durchmacht, die Dinge leicht vergißt. Sie
fliegen nur so fort, die Dinge, für die man kein
gefühlsmäßiges Interesse hat, die man nicht
liebgewinnen kann, mit denen man sozusagen nicht seelisch
zusammenwächst. Dagegen haftet das um so besser, mit dem
man seelisch zusammenwächst. Man muß daher versuchen,
geradezu systematisch dieses seelische Zusammenwachsen zu
bewirken.
Man
kann folgende Erfahrung machen: Nehmen wir an, irgendeine
Persönlichkeit hätte in ihrer Jugend, als sie noch
nicht an die Anthroposophie herangekommen war, etwa wenn sie
einen Roman gelesen hat, diesen Roman gar nicht vergessen
können; sie konnte ihn immer wieder und wiederum
erzählen. Nun liest sie später, nachdem sie in die
anthroposophische Entwicklung eingetreten ist, einen Roman.
Flugs ist er oftmals fort; er kann nicht wiederum erzählt
werden. Wenn man aber mit einem Buch, von dem man sich selber
diktiert oder diktiert bekommt, daß es einem wertvoll
seinsoll, die Sache so macht, daß man es einmal
durchliest, dann unmittelbar danach versucht, es im Geiste zu
repetieren, und man nicht nur repetiert, sondern von hinten
nach vorne, die letzten Dinge zuerst und die ersten zuletzt
sich wiederholt, wenn man sich die Mühe nimmt, besondere
Einzelheiten ein zweites Mal durchzugehen, wenn man so mit der
Sache zusammenwächst, wenn man gar noch ein Stück
Papier nimmt und sich kurze Gedanken daraus aufschreibt, und
wenn man versucht, sich die Frage vorzulegen: Von welcher Seite
kannst du dich denn für diesen Gegenstand besonders
interessieren? — dann wird man sehen, daß man sich
auf diese Weise eine andere Art von Gedächtnis
heranerzieht. Das ist nicht dasselbe Gedächtnis. Man merkt
genau den Unterschied, wenn man sich seiner bedient. Wenn man
sich des mechanischen Gedächtnisses bedient, dann ist es
so, daß die Dinge in unsere Seele hineintreten als
Erinnerungen; wenn man sich auf diese Weise, wie es jetzt
geschildert worden ist, ein Gedächtnis heranerzieht
systematisch als Esoteriker oder Anthropo-soph, dann ist es so,
wie wenn die Dinge, die man durchlebt hat auf diese Weise,
stehengeblieben wären in der Zeit. Man lernt gleichsam in
der Zeit zurückschauen, und es ist wirklich so, wie wenn
man hinausschauen würde auf das Betrachtete; ja man wird
bemerken, daß immer mehr und mehr die Dinge bildhaft
werden, daß das Gedächtnis immer imaginativer und
imaginativer wird. Hat man es so gemacht, wie das eben jetzt
geschildert worden ist mit einem Buch, dann braucht man, wenn
es notwendig ist, die Sache wiederum vor die Seele
hinzustellen, nur irgendwie etwas anzuschlagen, was damit
zusammenhängt, dann wird man gleichsam hinschauen auf den
Zeitpunkt, wo man mit dem Buch beschäftigt war, man wird
sich lesend anschauen. Nicht die Erinnerung kommt: das ganze
Bild steigt herauf; man wird dann bemerken können,
daß, während man vorher nur in dem Buch gelesen hat,
jetzt die Dinge tatsächlich heraufsteigen. Man schaut sie
an wie in einer zeitlichen Entfernung; das Gedächtnis wird
ein Anschauen von Bildern, die in zeitlicher Entfernung
stehen.
Dies ist nämlich schon der allererste Anfang, der
elementarste allerdings, zum allmählichen Lesenlernen in
der Akasha-Chronik: das Gedächtnis ersetzt sich durch ein
Lesenlernen in der abgelaufenen Zeit. Und es kann manchmal
derjenige, der eine gewisse esoterische Entwicklung
durchgemacht hat, sein Gedächtnis fast ganz verloren
haben, es schadet ihm nichts, weil er die Dinge
rückwärts laufend sieht. Insofern er mit ihnen selbst
verbunden war, sieht er sie mit besonderer Deutlichkeit. Ich
sage Ihnen da etwas, was derjenige, der außerhalb der
Anthroposophie steht, wenn es ihm gesagt wird, durchaus nur
auslacht und nur auslachen kann, weil er gar keinen Begriff
damit verbinden kann, wenn irgendein Esoteriker zu ihm sagt, er
habe kein Gedächtnis mehr, und dann doch ganz gut
weiß, was da geschehen ist, weil er es schaut in der
Vergangenheit. Da sagt der andere: Du, höre, du hast ja
ein ganz vorzügliches Gedächtnis! — weil er
keinen Begriff hat, welche Verwandlung da vorgegangen ist. Und
dies ist gerade etwas, dem eine Verwandlung im ätherischen
Leibe zugrunde liegt.
Allerdings ist dann in der Regel diese Umwandlung des
Gedächtnisses verbunden mit etwas anderem; sie ist
verbunden damit, daß auch gewissermaßen eine Art
neuer Beurteilung unseres inneren Menschen auftritt. Wir
können nämlich nicht diesen rückschauenden Blick
uns aneignen, ohne zugleich in einer gewissen Weise einen
Standpunkt einzunehmen gegenüber dem, was wir da erlebt
haben. So wird derjenige, der in einer späteren Zeit
zurückblickt auf etwas, was er so behandelt hat, wie das
vorhin von dem Buch gesagt worden ist — wenn er sich
selbst so darinnen sieht —, wie selbstverständlich
beurteilen müssen, ob das gescheit oder dumm war, daß
er sich gerade damit beschäftigt hat. Und stark verbindet
sich, als ein anderes Erlebnis, ganz notwendig mit dieser
Rückschau eine Art Selbstbeurteilung. Man kann gar nicht
anders, als Stellung zu seiner Vergangenheit zu nehmen:
Vorwürfe wird man sich in bezug auf das eine machen, man
wird froh sein, daß einem das andere gelungen ist; kurz,
man wird nicht anders können, als die Vergangenheit
beurteilen, die man also rückblickend anschaut. So
daß man in der Tat ein schärferer Beurteiler
seinerselbst, nämlich seines abgelaufenen Lebens wird. Man
fühlt sozusagen den sich in einem regenden Ätherleib
— der ja die ganze Vergangenheit in sich hat aus der
Rückschau nach dem Tode —, man fühlt diesen
Ätherleib wie einen Einschluß in einem selber, wie
etwas, das in einem lebt und das den Wert von einem ausmacht.
Ja, es geht eine solche Veränderung mit dem Ätherleib
vor, daß man oftmals den Drang verspürt zu solcher
Selbstrückschau; daß man auf das oder jenes
hinblickt, um auf ganz naturgemässe Weise seinen Wert als
Mensch beurteilen zu lernen. Während man sonst lebt und
ihn nicht wahrnimmt, wird nun der Ätherleib gleichsam
wahrgenommen im rückschauenden Blick auf das eigene Leben.
Das eigene Leben wird einem allmählich zu schaffen machen,
wenn man eine esoterische Entwicklung durchmacht. Dem muß
man entgegengehen, daß einem das esoterische Leben
gewissermaßen zu schaffen macht, daß man
genötigt ist, genauer hinzuschauen auf seine Vorzüge
und Fehler, auf seine Irrtümer und Unvollkommenheiten.
Aber etwas Tieferes, das an den Ätherleib gebunden ist,
wird sozusagen wahrnehmbar, etwas, was früher auch
wahrnehmbar ist, aber nicht bis zu solcher Stärke. Das ist
das Temperament. Und auf der Veränderung des
Ätherleibes beruht bei dem sich ernst entwickelnden
Esoteriker die größere Empfindsamkeit, die
größere Sensitivität gegenüber dem eigenen
Temperament. Nehmen wir, um gleich einen besonderen Fall
herauszuheben, an dem das besonders anschaulich werden kann,
den Melancholiker. Wenn der Melancholiker, der kein Esoteriker
geworden ist, der nicht an die Anthroposophie herangekommen
ist, der so durch die Welt geht, daß ihn manches
mürrisch macht in der Welt, daß manches seine allzu
abfällige Kritik herausfordert, den überhaupt die
Dinge so berühren, daß sie seine Sympathie und
Antipathie stärker hervorrufen als es zum Beispiel beim
Phlegmatiker der Fall ist, wenn ein solcher Melancholiker mit
all seinen Eigenschaften von jenem Grade an, wo er ein
«zuwiderer» Mensch ist, mürrisch, abweisend die
ganze Welt, verachtend und hassend, bis zu dem Grade, wo er nur
etwas sensitiver ist gegenüber den Wahrnehmungen der Welt
— es gibt jaalle Zwischenstufen und Nuancen —, nun,
wenn solch ein Melancholiker eintritt in eine esoterische
Entwicklung, dann wird ihm da das Temperament im wesentlichen
zur Grundlage, den Ätherleib zu empfinden. Es wird ihm das
System seiner die Melancholie bewirkenden Kräfte
empfindlich, deutlich in sich selber wahrnehmbar, und
während er früher bloß seine Unzufriedenheit
gegen die äußeren Eindrücke der Welt gerichtet
hat, beginnt er jetzt diese Unzufriedenheit gegen sich selbst
zu kehren.
Es
ist sehr notwendig, daß bei einer esoterischen Entwicklung
die Selbsterkenntnis sorgfältig geübt wird und
daß dem esoterisch sich Entwickelnden nahegelegt wird,
daß er diese Selbsterkenntnis übt, die es ihm
möglich macht, eine solche Veränderung als
Melancholiker ruhig und gelassen hinzunehmen. Wie ihm
früher vielfach die Welt zuwider war, wird er sich selber
zuwider, fängt er an sich selber zu kritisieren, so
daß man sieht, wie ihm an ihm selber alles nicht recht
ist. Man kann diese Dinge nur richtig beurteilen, meine lieben
Freunde, wenn man das, was man Temperament nennt, in der
richtigen Art am Menschen sieht. Ein Melancholiker ist ja nur
dadurch ein Melancholiker, daß bei ihm das melancholische
Temperament vorschlägt; denn im Grunde genommen hat jeder
Mensch alle vier Temperamente in seiner Seele. Ein
Melancholiker ist in gewissen Dingen auch wiederum
phlegmatisch, in anderen sanguinisch, wieder in anderen
cholerisch; es schlägt nur sozusagen vor dem
phlegmatischen und sanguinischen und cholerischen Temperament
das melancholische besonders vor. Und ein Phlegmatiker ist
nicht derjenige, der etwa alle anderen Temperamente nicht
hätte und nur das Phlegmatische, sondern bei ihm
schlägt das phlegmatische Temperament vor und die anderen
Temperamente halten sich mehr im Hinter- und Untergrunde seiner
Seele. Und so ist es auch bei den anderen Temperamenten.
Wie
nun die Veränderung des Ätherleibes bei dem
ausgesprochenen Melancholiker so auftritt, daß er
sozusagen sich gegen sich selber mit seiner Melancholie kehrt,
so treten auch Veränderungen, neue Empfindungen
gegenüber den anderen Temperamentseigenschaften hervor.
Aber es kann durch eine weise Selbsterkenntnisdahin gebracht
werden bei der esoterischen Entwicklung, daß man die
Schäden ausbessert, die etwa angerichtet werden durch das
hervorstechende Temperament; daß man in einem höheren
Grade zu empfinden beginnt: es können diese Schäden
ausgebessert werden dadurch, daß man auch mit den anderen
Temperamenten Veränderungen bewirkt; solche
Veränderungen, die gleichsam die Waage halten der
hauptsächlichsten Veränderung mit dem
hervorstechendsten Temperament. Da muß man nur erkennen,
wie die Veränderungen gegenüber den anderen
Temperamenten auftreten.
Nehmen wir an, daß ein Phlegmatiker ein Esoteriker wird
— er wird schwer dazu zu bringen sein; aber nehmen wir
an, er sei dazu zu bringen, ein recht guter Esoteriker zu
werden. Es ist durchaus nicht unmöglich, das zu erreichen,
weil der Phlegmatiker zuweilen, wenn er starke Eindrücke
empfängt, machtlos ist gegenüber gewissen
Eindrücken; so daß manchmal gerade das phlegmatische
Temperament, wenn es nicht vom Materialismus zu weit
angefressen ist, gar keine ganz üble Vorbedingung für
eine esoterische Entwicklung ist; es muß nur edler
sozusagen zutage treten als in dem grotesken Sinn, in dem man
oftmals einzig und allein das phlegmatische Temperament sieht.
Wenn ein solcher Phlegmatiker Esoteriker wird, dann
verändert sich das phlegmatische Temperament in einer
eigentümlichen Weise. Der Phlegmatiker hat dann sehr stark
die Neigung, recht gut sich selber zu beobachten, und es macht
ihm sozusagen am wenigsten Leid, sich so recht selber zu
beobachten, und deshalb ist das phlegmatische Temperament eine
nicht schlechte Vorbedingung für eine esoterische
Entwicklung, wenn sie eintreten kann, weil er dann zu einer
gewissen ruhigen Selbstbeobachtung ganz geeignet ist. Es regt
ihn nicht, wie den Melancholiker, alles auf, was er an sich
selber wahrnimmt; und dadurch, wenn er dann Selbstbeobachtungen
macht, gehen diese sogar in der Regel tiefer als die
Selbstbeobachtungen des Melancholikers, der überall durch
das Wüten gegen sich selber zurückgehalten wird. Wenn
daher der Phlegmatiker eine Seelenentwicklung hat, dann ist er
sozusagen der beste Schüler für die ernsthafte
anthroposophische Entwicklung.
Nun
hat jeder Mensch eben alle Temperamente in sich, und —
wie gesagt — beim Melancholiker schlägt nur das
melancholische Temperament vor. Es ist zum Beispiel auch das
phlegmatische Temperament in ihm. Man kann immer an dem
Melancholiker Seiten finden, wo er sich als Phlegmatiker
gegenüber diesen oder jenen Dingen zeigt. Man muß nun
versuchen, wenn der Melancholiker Esoteriker wird und man ihn
irgendwie leiten kann, man muß versuchen —
während er auf der einen Seite ganz gewiß anfangen
wird, scharf mit sich selber zu Werke zu gehen, so daß
immer Selbstvorwürfe kommen — seinen Sinn
hinzulenken auf die Dinge, gegenüber denen er vorher
phlegmatisch gewesen war. Man muß versuchen sein Interesse
zu erregen gegenüber Dingen, für die er sich
früher nicht interessiert hat. Wenn einem das gelingt,
dann paralysiert man gewissermaßen die Schäden, die
durch die Melancholie hervorgerufen werden.
Ein
eigenartiger Esoteriker wird der Sanguiniker, der ja dadurch im
äußeren Leben charakterisiert ist, daß er leicht
von Eindruck zu Eindruck eilt und nicht gerne an einem Eindruck
festhalten will. Der verändert sich nämlich ganz
eigentümlich durch die Umwandlung seines Ätherleibes;
der wird in dem Augenblicke, wo er es versuchen will oder wo
ein anderer versucht, ihm Esoterik beizubringen, der wird ein
Phlegmatiker gegenüber seinem eigenen Innern; so daß
der Sanguiniker unter Umständen das wenigst gute Material
ist zunächst in bezug auf sein Temperament für die
esoterische Entwicklung. Wenn der Sanguiniker zur Esoterik oder
zum anthroposophischen Leben kommt — und er kommt sehr
häufig dazu, denn er interessiert sich ja für alles
mögliche, so auch einmal, wenn auch nicht intensiv,
für Anthroposophie oder Esoterik, es hält nur nicht
lange vor -, dann muß er zu einer Art Selbstbeobachtung
kommen; aber er nimmt das alles mit großer
Gleichgültigkeit auf, er schaut nicht gerne in sich selber
hinein. Dies oder jenes an ihm interessiert ihn schon, aber es
geht nicht besonders tief. Er entdeckt allerlei interessante
Eigenschaften an sich, er aber ist dann gleich damit zufrieden;
und er spricht ganz gern von dieser interessanten Eigenschaft,
hat aber die ganze Sache bald wieder vergessen, auch das, was
er ansich selber beobachtet hat. Und unter denjenigen, die der
Esoterik nahetreten aus einem Augenblicksinteresse heraus und
die ihr bald wieder entlaufen, sind vorzugsweise sanguinische
Naturen.
Wir
werden morgen versuchen, das, was ich heute in Worten
ausführe, auch ein wenig durch die Zeichnung des
Ätherleibes auf die Tafel uns klarzumachen; wir werden
dann die Veränderungen des Ätherleibes durch die
anthroposophische oder esoterische Entwicklung dazu
zeichnen.
Noch anders ist es mit dem cholerischen Temperament. Beim
Choleriker wird es fast gar nicht oder doch nur in den
allerseltensten Fällen gelingen, ihn zum Esoteriker zu
machen; er wird sich gerade dadurch auszeichnen, wenn das
cholerische Temperament besonders bei ihm ausgesprochen ist als
Persönlichkeit, daß er alle Esoterik von sich weist;
nichts wissen will von ihr. Es kann aber doch sein, daß
durch die karmischen Lebensverhältnisse gerade der
Choleriker auch einmal an die Esoterik herangebracht wird; dann
wird er es schwer haben, Veränderungen gerade in seinem
Ätherleibe zu bewirken; denn dieser Ätherleib erweist
sich beim Choleriker als besonders dicht, schwer
beeinflußbar. Beim Melancholiker ist der Ätherleib
so, man möchte sagen — verzeihen Sie den trivialen
Vergleich, aber es wird anschaulich werden durch ihn, was ich
sagen will —, beim Melancholiker ist der Ätherleib
so wie ein Gummiball, aus dem man die Luft herausgeblasen hat:
wenn man eine Vertiefung hineinbohrt, so bleibt sie lange. Beim
Choleriker ist der Ätherleib so wie ein Gummiball, der
ganz mit Luft vollgepreßt ist; wenn man eine Vertiefung
hineinmachen will, so hält er nicht nur nicht die
Vertiefung, sondern er drängt einen noch ganz gehörig
zurück. Also wenig nachgiebig, knorrig ist der
Ätherleib des Cholerikers.
Daher hat es der Choleriker selber sehr schwer mit der
Umwandlung des Ätherleibes. Er kann nicht an sich selber
heran. Daher stößt er auch die esoterische
Entwicklung, die ja gerade ihn umwandeln soll, von vornherein
zurück; er kann sich selber sozusagen nicht beikommen.
Wenn aber der Ernst des Lebens oder irgendwelche Dinge an den
Choleriker herantreten oder wenn man gerade ein solches
Temperament hat, daß man einen leisen melancholischen
Klang hatim Temperament und doch wieder Choleriker in sich ist,
dann kann es gerade durch die melancholische Nuance
herbeigeführt werden, daß der Choleriker seine
cholerische Note in seinem menschlichen Organismus so zur
Entwicklung bringt, daß er jetzt mit aller mächtigen
Kraft arbeitet an seinem Widerstand bietenden Ätherleib.
Und wenn es ihm dann gelingt, an seinem Ätherleib doch
Veränderungen hervorzurufen, dann erzeugt er in sich
dadurch eine ganz besondere Eigenschaft: er wird fähiger
als andere Leute, durch seine esoterische Entwicklung
ordentlich sachgemäß und tief äußere
Tatsachen in ihrem ursächlichen oder geschichtlichen
Zusammenhang darzustellen. Und wer empfinden kann gute
Geschichtsschreibung — sie wird ja in der Regel nicht von
Esoterikern gerade gemacht —, aber wer gute
Geschichtsschreibung, die wirklich die Tatsachen sprechen
läßt, empfinden kann, der wird immerhin schon den
Anfang finden, den unbewußten, instinktiven Anfang von
dem, was der Esoteriker, der Cholerisches in sich hat, gerade
als Geschichtsschreiber oder als Erzähler oder als
Schilderer leisten könnte. Menschen wie zum Beispiel
Tacitus waren im Anfang einer solchen instinktiven
esoterischen Entwicklung. Daher diese wunderbare,
unvergleichliche Darstellung des Tacitus. Und derjenige, der
als Esoteriker den Tacitus liest, weiß, daß diese
eigentümliche Art von Geschichtsschreibung herrührt
von einer ganz besonderen Hineinarbeitung eines cholerischen
Temperamentes in den Ätherleib. Ganz besonders aber tritt
das dann hervor, wenn wir Darsteller haben, die eine
esoterische Entwicklung durchgemacht haben. Wenn es auch die
äußere Welt nicht glaubt, so ist das doch der Fall
bei Homer. Homers plastische grandiose Darstellung verdankt er
dem cholerischen Temperament, das in seinen Ätherleib
hineingearbeitet hat. Und so könnte noch manches auf
diesem Gebiete gezeigt werden, was schon im äußeren
Leben gleichsam beweisend oder wenigstens belegend darstellt,
daß der Choleriker, ganz besonders wenn er eine
esoterische Entwicklung durchmacht, sich geeignet macht, die
Welt in ihrer Wirklichkeit, in ihren ursächlichen
Zusammenhängen innerlich darzustellen. Wenn der Choleriker
eine esoterische Entwicklung durchmacht, dann sind diese seine
Darstellungen so, daß sie — man möchtesagen
— schon in ihrer äußeren Struktur den Charakter
der Wahrheit und Wahrhaftigkeit tragen.
So
sehen wir, daß in den Veränderungen des
Ätherleibes ganz besonders zum Ausdruck kommt sozusagen
das menschliche Leben, das wahrnehmbarer wird in seiner
bisherigen Gestaltung in dieser Inkarnation, mehr als das sonst
der Fall ist. In der esoterischen Entwicklung wahrnehmbar
werden ferner stärker die Temperamente, und die
Berücksichtigung der Temperamente bei der wahren
Selbsterkenntnis ist von einer ganz besonderen Bedeutung. Von
diesen Dingen wollen wir dann morgen weiter sprechen.
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