SIEBENTER VORTRAG
Dornach, 15. März 1919
Wenn Sie jetzt aufmerksam die Zeitentwickelung verfolgen, dann
werden Sie finden, daß durch die ganze Menschheit im
Grunde genommen ein gewisser Zug geht, der wenig geeignet
ist, die Gedanken auf das hinzulenken, was die laut
vernehmlichen Tatsachen, die sich in der Welt abspielen, selbst
verlangen. Es besteht im allgemeinen eine gewisse Abneigung der
Menschen gegen Gedanken, die nicht in altgewohnter Weise
laufen. Aber vielleicht niemals lag es so nahe als gerade
heute, zu fragen: Wie kommt es, daß die Menschen
eigentlich so wenig eingehen wollen auf Gedanken, die sie nicht
schon gedacht haben? — Sehen Sie, man erlebt ja heute,
ich möchte sagen, durch die ganze Zeitentwickelung
gehend, ein Grundphänomen. Ich habe schon
öfter aufmerksam darauf gemacht, wie sich dieses
Grundphänomen vor Jahren ausgesprochen hat. Man
könnte eine nette Sammlung anlegen von Reden
europäischer Staatsmänner aus dem
Frühling und Frühsommer des Jahres 1914,
und man würde in den Ausführungen dieser
Reden so ziemlich das gleiche finden, was zum Beispiel in einer
Rede des deutschen Reichstages von seiten des
Staatssekretärs Jagow dazumal gesagt worden
ist. Es lautete ungefähr so: Durch die
Bemühungen der europäischen
Kabinette ist es gelungen, solche befriedigenden
Verhältnisse zwischen den
Großmächten Europas herzustellen,
daß der Friede für lange Zeiten hinaus in
Europa gesichert ist. In verschiedenen Variationen konnte man
bei diesen Lebenspraktikern — so nennen sich diese Leute
— diese Rede immer wieder und wiederum finden. Das
war dazumal. Und wenige Wochen nachher begann jener
Weltbrand, der jetzt nur in eine Krisis eingetreten ist. Was
erleben wir jetzt anderes innerhalb der Absichten, der
Maßnahmen, der so recht der heutigen Zeit
angehörigen Menschen? Ich habe in den
1etzten Tagen einiges mitgemacht von der sogenannten
Berner
«Völkerbunds-Konferenz». Die
Leute haben dort auch Verschiedenes geredet. Unter diesem
Verschiedenen war im Grunde genommen alles von demselben
Kaliber gegenüber dem, was die vorstehenden
Ereignisse sind, wie die Reden der europäischen
Staatsmänner vom Frühling und
Frühsommer des Jahres 1914. Diese Menschen reden in
den altgewohnten Gedankengeleisen. Sie reden dasjenige, was sie
seit Jahren zu reden gewohnt sind. Sie haben im Grunde genommen
wirklich nichts, aber auch gar nichts aufgenommen von den
aus den Tiefen des Weltendaseins heraus sprechenden
Lehren der letzten viereinhalb Jahre.
Es
ist dies eine Tatsache, auf die gerade der
Geisteswissenschafter in intensivstem Maße seine
Aufmerksamkeit hinlenken sollte; denn über einen
großen Teil des europäischen Kontinents geht
diese Trostlosigkeit. Trotz der verschiedenen Variationen
erscheint es einem doch immer wieder ganz typisch und nur im
Extrem ausgedrückt, wenn aus starken, aber
für die heutige Zeit verderblichen
Untergründen heraus gerade von einer
Weltanschauungsströmung geredet wird, die wegen der
Gleichgültigkeit, der Interesselosigkeit der
europäischen Bevölkerung in der
nächsten Zeit große Aussichten haben wird,
Eindruck über Eindruck zu machen, Eroberungen
über Eroberungen zu machen. Als ich ein ganz kleiner
Knabe noch war — es ist jetzt lange her —, da stand
in meinen Religionsbüchern sehr dezidiert
ausgedrückt das Folgende, um die Knaben zur
Erkenntnis hinzuführen, was der Christus Jesus sei.
Da stand: Der Christus Jesus war entweder ein Heuchler oder ein
Narr — oder er war das, was er selber sagte, der Sohn des
lebendigen Gottes. Da man nicht annehmen darf, daß der
Christus ein Heuchler gewesen sei, da man auch nicht annehmen
darf, daß er ein Narr gewesen sei, so kann nur das eine
möglich sein, daß das wahr ist, was er sagte,
daß er der Sohn des lebendigen Gottes sei. — Was so
Jahrzehnte vor unserer Zeit in meinem damaligen
Religionsbuche stand, ich hörte es neulich in
einer Rede, die im Anschlüsse an die Berner
«Völkerbunds-Konferenz» von
dem Grazer Universitätsprofessor Ude in
Bern gehalten worden ist! Da konnte man wiederum die
Worte hören: Der Jesus war entweder ein Heuchler
oder ein Narr, oder er war, was er selber sagte, der Sohn des
lebendigen Gottes. «Und da Sie nicht wagen
werden» — so rief der Mann in die Menge hinein
— «den Christus einen Narren oder einen
Heuchler zu nennen, so kann er nur das gewesen sein, was er
selber von sich sagte, der Sohn des lebendigen
Gottes!» Das wurde alles mit jesuitischem
Temperament in die Menge hineingeworfen, und es waren wohl
wenige Leute dazumal im Saal, welche die heute einzig und
allein bedeutungsvolle Frage gegenüber einer solchen
Sache aufwarfen: Ist nicht dieses Sprüchlein
durch Jahrhunderte wiederholt worden vor den
Gläubigen, und ist nicht trotz dieses
Sprüchleins das große Verderben über
die Menschheit hereingebrochen? Sollte es heute noch ein Herz
und einen Sinn geben, die sich nicht Gedanken
darüber machten, wie sinnlos es ist, nach der
großen Weltkatastrophe und mitten drinnen die Dinge, die
so stark ihre Fruchtlosigkeit bewiesen haben, immer wieder und
wiederum in die Menge hineinzuschreien. — Und ich
hörte eine andere Rede desselben Grazer
Universitätsprofessors über die
soziale Frage, und diese Rede war vom Anfange bis zum Ende ohne
jeden Hinweis darauf, was eigentlich geschehen soll, was
geschehen muß, war lediglich eine Art Verurteilung mancher
ja gewiß vorhandener Unsitten, die in der Gegenwart
herrschen; allein auch da war nichts gelernt durch die
traurigen Ereignisse der letzten viereinhalb Jahre!
Es
ist dies eigentlich aus dem Grunde ein besseres Beispiel als
manche andere, weil unter den Reden, die in Bern gehalten
wurden von allen Seiten, die des Grazer Professors Ude weitaus
die besten waren; denn sie kamen wenigstens aus einer
Weltanschauung heraus, wenn auch aus einer Weltanschauung, die,
heute propagiert, gerade gefährlich werden muß.
Die anderen entstammten der Ohnmacht, überhaupt sich
noch zu irgendeiner Weltanschauung oder Lebensauffassung zu
erheben. Immer wieder muß man betonen: die Gedanken der
Menschen sind heute stumpf und kurz geworden. Sie sind
nicht in der Lage, einzudringen in die Wirklichkeiten. Sie
bewegen sich in Illusionen, sie bewegen sich lediglich an
der Oberfläche der Dinge. Man kann heute nicht
einsehen, was gerade diese Zeit von denjenigen fordert,
die ein Wort mitreden wollen bei der so notwendigen
Neugestaltung der Dinge.
Meine lieben Freunde, sagen wir uns das immer wieder und
wieder: Wir haben durch die letzten vier Jahrhunderte als
europäische Menschheit, mit ihrem amerikanischen
Nachwuchs, ein Denken heraufgebracht, welches nur geeignet ist,
das Leblose, das Tote zu begreifen. Wir haben ein Denken
heraufgebracht, welches ganz und gar hingeordnet ist auf das
Mathematisch-Technische. Wir sind unfähig geworden,
Gedanken zu richten auf dasjenige, was in der Natur lebt. Wir
begreifen nur das Tote. Dasjenige, was wir zu sagen wissen in
unserer offiziellen Wissenschaft über den
Organismus, das gilt bloß für den toten
Organismus, das ist bloß an den Leichen gewonnen. Das aber
wird heute, wo man sich in dieses Denken eingewöhnt
hat, auch auf den sozialen Organismus angewendet. Das
heißt aber nichts anderes, als: daß die
Menschheit heute in weiten Kreisen unfähig ist, sich
überhaupt Gedanken über den lebendigen
sozialen Organismus zu machen. Höchstens finden die
Menschen heute, daß diese Gedanken schwierig seien. Welche
Gedanken finden die Menschen heute leicht? — Diejenigen,
die ihnen durch den Katechismus meinetwillen seit
Jahrhunderten eingepaukt worden sind, die in ihren
ausgefahrenen Geleisen laufen, oder solche, welche die Kinder
derjenigen Gedanken sind, die sich nur auf das Tote des
lebendigen Organismus beziehen. Aber auf der anderen Seite ist
es aber der Gegenwart nötig, den lebendigen
sozialen Organismus zu begreifen.
Gehen wir von einer konkreten Sache aus. Das sozialistische
Denken der Gegenwart richtet sich in weitem Umfange
— ich habe Ihnen das nach allen Seiten hin
charakterisiert — gegen den Kapitalismus. Es fordert der
Sozialismus die Vergesellschaftung des gesamten
Privatkapitals an Produktionsmitteln. Über
diese Sozialisierung wurde ja schon in reichlichem Maße in
der, man nennt sie, glaube ich,
«Nationalversammlung», in Weimar
geredet. Die Art und Weise, wie heute über den
Kapitalismus geredet wird, stammt so recht aus dem toten Denken
der letzten Jahrhunderte, welches groß geworden ist
innerhalb der rein
naturwissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung. Was
liegt denn da eigentlich vor? — Es liegt vor, meine
lieben Freunde, daß im Grunde genommen der Kapitalismus zu
einem furchtbaren Bedrücker der großen
Menschenmasse geworden ist; es liegt vor, daß man wenig
wird einwenden können gegen all das, was von seiten
der proletarischen Menschenbevölkerung gegen das
Bedrückende des Kapitalismus in geistiger, in
rechtlicher, in wirtschaftlicher Beziehung gesagt worden ist
und weiterhin gesagt wird. Aber welche Konsequenz ziehen
sozialistisch gestimmte Denker aus dieser ja unleugbaren
Tatsache? — Sie ziehen die Konsequenz: Also
muß der Kapitalismus abgeschafft werden, er ist ja
ein Bedrücker, er ist etwas Furchtbares, er hat sich
als eine Geißel der neueren Menschheit erwiesen, er
muß abgeschafft werden. Was erscheint begreiflicher, was
erscheint fruchtbarer für
gewöhnliche Agitationen — die sich jetzt aber
in furchtbaren Tatsachen durch Europa ausleben — als
diese Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus.
Für denjenigen, der sich nicht an das tote Denken
der letzten vier Jahrhunderte allein wendet, sondern der in der
Lage ist, sich zu wenden an das lebendige Denken, das wir vor
allen Dingen für unsere Geisteswissenschaft
brauchen, für den ist diese Rede, man
müsse den Kapitalismus abschaffen, weil er ein
Bedrücker, eine Geißel ist, geradeso logisch,
geradeso durch die Tatsachenlogik begründet,
wie wenn jemand sagen würde: Wir atmen
fortwährend Sauerstoff ein und die
tötende Kohlensäure aus, der Sauerstoff
verwandelt sich in uns ja doch in Kohlensäure, warum
atmen wir ihn denn erst ein? Er wird ja in uns doch zum
todbringenden Gift. Zweifellos wird der Sauerstoff in uns
zum todbringenden Gift, aber um des Lebens willen
müssen wir ihn einatmen, denn der Lebensprozeß
des menschlichen und tierischen Leibes ist nicht denkbar
ohne die Sauerstoffatmung. Ebensowenig ist ein soziales Leben
denkbar ohne die fortwährende Bildung von Kapital,
namentlich ohne die fortwährende Bildung heute von
produzierten Produktionsmitteln, und das ist ja im Grunde
genommen, in Wirklichkeit das Kapital. Es gibt keinen sozialen
Organismus, der nicht angewiesen wäre auf die
Mitarbeiterschaft der individuellen menschlichen
Fähigkeiten. Würde im weitesten Umkreise
begriffen, was der soziale Organismus für
Forderungen hat, so würde der Arbeiter sagen:
Es handelt sich darum, daß ich Vertrauen habe zu dem
Leiter der Unternehmungen; denn ohne daß er die
Unternehmungen leitet, kann ich ja meine Arbeit nicht leisten,
das ist ja ganz selbstverständlich. Aber wenn es
Leiter von Unternehmen gibt, so ist die notwendige Folge,
daß sich Kapital ansammelt. Es gibt keine
Möglichkeit, der Ansammlung von Kapital zu entgehen.
Frägt also ein in einer gewissen Weise es gut
meinendes, aber falsch orientiertes sozialistisches Denken
danach: Wie vernichtet man den Kapitalismus? — so ist
diese Frage gleichbedeutend mit der: Wie vernichtet man den
sozialen Organismus überhaupt, wie treiben wir in
den Tod des sozialen Lebens hinein?
Es
ist ganz zweifellos für jeden, der die Dinge
durchschauen kann, daß bei der
allervernünftigsten sozialen Ordnung sich Kapitalien
ansammeln, und es ist ebenso zweifellos, daß man nicht
darüber nachdenken kann: wie verhindert man die
Ansammlung von Kapitalien, wie verhindert man sie im
Keime? Wie macht man es, daß keine Kapitalien sich
ansammeln? — Aber sehen Sie, diese
Gegenüberstellung, die ist den Menschen heute zu
schwer. An solche Gedanken möchten die Menschen
heute nicht heran. Sie möchten alles leicht haben
gerade mit Bezug auf das Denken. Aber die Zeit gestattet nicht,
daß wir es uns gerade mit Bezug auf das Denken heute
leicht machen. Was nämlich immer vergessen wird, das
ist, daß alles Lebendige im Werden ist, daß zum
Begreifen alles Lebendigen die Zeit mitgehört,
daß das Lebendige einmal so, einmal so ist. Es ist nicht
schwierig bei einiger Bedachtsamkeit sich klarzumachen,
daß zum Begreifen des Lebendigen in seiner Konkretheit die
Zeit gehört. Denn der menschliche Organismus
ist ein Lebendiges. Nehmen Sie den menschlichen Organismus
— ich will sagen, Ihren Organismus — in der
Zeit um halb zwei Uhr herum; Sie sind ja alle fleißige
Leute, die nicht lange in der Kantine bleiben, und wenn Sie aus
der Kantine kommen und eben gegessen haben, so sind Sie,
wenigstens wäre es wünschenswert
normal, dann voll gesättigt, Sie haben keinen
Hunger. Ihr Organismus ist ganz gewiß ein konkreter,
menschlicher Organismus. Sie definieren ihn, indem Sie
ihn in seiner Konkretheit um dreiviertel zwei Uhr am Nachmittag
nehmen, wenn Sie eben aus der Kantine kommen: ein menschlicher
Organismus ist ein Lebewesen, das keinen Hunger hat. Aber um
halb ein Uhr, wenn Sie zur Kantine gehen, ist es anders, da
haben Sie alle Hunger. Da könnten Sie wiederum
definieren: ein menschlicher Organismus ist das, was Hunger
hat. — Was da vorliegt, ist, daß Sie das Konkrete,
Lebendige in zwei verschiedenen Zeitpunkten anschauen,
und daß das, was in zwei verschiedenen Zeitpunkten
notwendig ist für das Gedeihen dieses Organismus,
gerade entgegengesetzte Zustände sind,
daß im Organismus etwas herbeigeführt
werden muß, was so verarbeitet wird, daß
sein Gegenteil eintritt. So ist es im natürlichen
Lebendigen, so ist es aber auch im sozialen Lebendigen,
meine lieben Freunde. Man kann im sozialen Lebendigen
niemals verhindern, daß als Begleitereignis, als
selbstverständliches Begleitereignis des
Arbeitens der individuellen menschlichen
Fähigkeiten Kapital entstehe, daß das
Eigentum, das private Eigentum an Produktionsmitteln sich
herausbilde. Wenn jemand sich einem Produktionszweige
leitend widmet, und er auch ganz gerecht die erzeugten
Produkte teilt mit dem handwerklich Mitarbeitenden, es
würde der soziale Organismus gar nicht bestehen
können, wenn nicht als Begleiterscheinung Kapital
auftreten würde, Kapital, was der einzelne besitzt,
ebenso wie er das besitzt, was er für seinen eigenen
Gebrauch benötigt, was er so produziert, daß er
es eintauschen will für seinen eigenen Gebrauch.
Aber ebensowenig wie man das Essen verbieten kann — weil
man, wenn man gegessen hat, doch wieder hungrig wird —,
wie man nachdenken kann, ob man eigentlich nicht essen
soll, ebensowenig kann man darüber nachdenken, wie
sich überhaupt kein Kapital bilde in irgendeinem
Zeitpunkt, sondern man kann nur darüber nachdenken,
wie dieses Kapital sich wiederum verwandeln muß in einem
anderen Zeitpunkte, was aus ihm werden muß. Sie
können nicht, ohne den sozialen Organismus in seiner
Lebensfähigkeit zu untergraben, die Kapitalbildung
verhindern wollen, Sie können nur wollen, daß
das, was sich als Kapital bildet, nichts Schädliches
werde innerhalb des gesunden sozialen Organismus.
Dieses, was in solcher Art gefordert werden muß
für die Gesundung des sozialen Organismus, ist nur
im dreigliedrigen sozialen Organismus möglich.
Denn nur im dreigliedrigen sozialen Organismus kann ebenso wie
im menschlichen natürlichen Organismus das eine
Glied im entgegengesetzten Sinne arbeiten, als das andere
Glied. Es liegt im individuellen Interesse, daß ein Glied
ist im sozialen Organismus, in dem die individuellen
menschlichen Fähigkeiten zum Ausdrucke kommen; aber
es liegt in jedermanns Interesse, daß diese
individuellen menschlichen Fähigkeiten nicht
im Laufe der Zeit zum Schaden des Organismus sich umgestalten.
Innerhalb des wirtschaftlichen Kreislaufes wird sich immer
Kapital bilden. Lassen Sie es im wirtschaftlichen
Kreislauf drinnen, so führt es zu unbegrenzter
Besitzanhäufung. Sie können nicht
als ein Wirtschaftliches belassen, was durch die individuellen
menschlichen Fähigkeiten als Kapital sich
ansammelt — Sie müssen es
überleiten in die Rechtssphäre. Denn in
dem Augenblicke, wo der Mensch für das von ihm
allein oder in Gemeinschaft Erzeugte mehr erwirbt, als er
verbraucht, in dem Augenblicke also, wo er Kapital ansammelt,
in dem Augenblicke ist sein Besitz wahrhaftig ebensowenig eine
Ware, wie die menschliche Arbeitskraft eine Ware ist. Besitz
ist ein Recht. Denn Besitz ist nichts anderes, als das
ausschließliche Recht, eine Sache — sagen wir, Grund
und Boden oder ein Haus oder dergleichen — mit
Hinwegweisung aller anderen zu benützen,
über irgendeine Sache zu verfügen mit
Hinwegweisung aller anderen. Alle anderen Definitionen des
Besitzes sind unfruchtbar für das Verstehen
des sozialen Organismus. Das heißt, in dem Augenblicke, wo
der Mensch Besitz erwirbt, ist der Besitz etwas, was innerhalb
des rein politischen Staates, innerhalb des Rechtsstaates zu
verwalten ist. Aber der Staat darf das nicht erwerben, sonst
würde er selbst Wirtschafter. Er hat es nur
überzuleiten in den geistigen Organismus, wo
die individuellen Fähigkeiten der Menschen verwaltet
werden. Heute wird ein solcher Prozeß nur vollzogen mit
den Gütern, die die
«schofelsten» für die heutige
Zeit sind. Für diese schofelsten Güter
gilt das allerdings, was ich jetzt ausgeführt habe.
Für die wertvollen Güter gilt es
nicht. — Wenn heute einer etwas geistig produziert
— sagen wir, ein sehr bedeutendes Gedicht, ein
bedeutendes Werk als Schriftsteller, als Künstler
—, so kann er ja für dreißig Jahre nach
seinem Tode das Erträgnis seinen Nachkommen
vererben. Dann geht die Sache als freies Gut nicht auf seine
Nachkommen über, sondern auf die allgemeine
Menschheit. Man kann dreißig Jahre nach dem Tode einen
Schriftsteller in beliebiger Weise nachdrucken. Das entspringt
einem ganz gesunden Gedanken; dem Gedanken, daß der Mensch
auch das, was er in seinen individuellen Fähigkeiten
hat, der Sozietät verdankt. Geradeso wenig wie man
auf einer einsamen Insel sprechen lernen kann, wie man sprechen
nur im Zusammenhang mit den Menschen lernen kann, so hat man
seine individuellen Fähigkeiten auch nur
innerhalb der Sozietät — gewiß auf
Grundlage desjenigen, was im Karma liegt, aber das
muß entwickelt werden durch die Sozietät. Man
schuldet es in einer gewissen Weise der Sozietät. Es
muß wiederum an die Sozietät
zurückfallen und man hat es nur eine Zeitlang zu
verwalten, weil es für den sozialen Organismus
besser ist, wenn man es verwaltet: Man kennt das, was man
hervorgebracht hat, selber am besten, man kann es daher
zunächst auch am besten verwalten. Diese
schofelsten Güter für die heutige
Menschheit, nämlich die geistigen, die werden also
in einer gewissen Weise unter Berücksichtigung
des Zeitbegriffes sozial taxiert.
Wütend sollen einige kapitalistisch aussehende
Zuhörer neulich in Bern geworden sein bei meinem
Vortrage — so wurde mir berichtet —, als ich sagte:
Warum sollte denn zum Beispiel ein Gesetz unmöglich
sein, das den Kapitalbesitzer verpflichtete, so und so viele
Jahre nach seinem Tode sein Kapital zur freien Verwaltung einer
Korporation, der geistigen Organisation, des geistigen Teiles
des sozialen Organismus zuzuweisen? Gewiß, man kann
sich verschiedene Arten, ein konkretes Recht
festzusetzen, ausdenken. Aber wenn heute die Menschen
zurückkommen wollten auf das, was in der alten
hebräischen Zeit rechtens war: nach einer bestimmten
Zeit die Güterverteilung neu vorzunehmen
— so würden die Menschen das heute als etwas
Unerhörtes ansehen. Aber was ist die Folge davon,
daß die Menschen das für etwas
Unerhörtes ansehen? Die Folge davon ist, daß
diese Menschheit in den letzten viereinhalb Jahren zehn
Millionen Menschen getötet hat, achtzehn Millionen
Menschen zu Krüppeln gemacht hat und sich anschickt,
weiteres nach dieser Richtung zu tun. — Besonnenheit in
solchen Dingen, das ist es denn doch, um was es sich heute vor
allen Dingen handelt, meine lieben Freunde. Es ist
tatsächlich nichts Unbedeutendes, wenn
verlangt wird, daß zum Begreifen des sozialen
Organismus der Zeitbegriff herangezogen wird. Man denkt
ja den sozialen Organismus ganz zeitlos, wenn man sagt: das
oder jenes soll schon im Entstehungszustand, im Status nascens,
mit dem Kapital geschehen. Man muß das Kapital entstehen
lassen, man muß es auch eine Weile verwaltet sein lassen
von denen, welche es haben entstehen lassen; man muß aber
wieder die Möglichkeit haben, durch einen gesund,
das heißt dreigliedrig funktionierenden sozialen
Organismus, es in die wirkliche Allgemeinheit der Menschen
übergehen zu lassen.
Sie
können nicht sagen: warum sollte denn nicht ein
eingliedriger sozialer Organismus das alles auch
können. Das glauben nämlich heute noch
die Menschen, daß der das auch kann. Es ist aber doch
recht schlecht mit der Menschenpsyche gerechnet, wenn man
dieses glaubt. Bedenken Sie nur, was es bedeutet — denn
man muß mit der menschlichen Seele rechnen —,
wenn vor einen Richter ein nah oder ein entfernter
Verwandter gestellt wird. Er hat seine besonderen
Gefühle als naher oder entfernter Verwandter, aber
wenn er zu richten hat, wird er nicht nach diesem
Gefühl richten, sondern nach dem Gesetze
selbstverständlich. Er wird aus einer anderen Quelle
heraus urteilen. Das in umfassender Weise psychologisch
durchdacht gibt Ihnen Ausblicke auf die Notwendigkeit,
daß die Menschen das, was im sozialen Organismus
zusammenfließt, aus drei verschiedenen Richtungen her
beurteilen, von drei Quellen her verwalten. Unsere Zeit fordert
es nun einmal, daß man sich auf solche Dinge
einläßt. Denn unsere Zeit ist die Zeit des
Bewußtseinszeitalters. Und dieses
Bewußtseinszeitalter will konkrete Ideen
für den Menschen als Richtimpulse seines Handelns
haben.
Viele Menschen fordern heute, man solle sich nicht an den
Verstand und das abstrakte Denken halten, denn sie kennen
nur das abstrakte Denken, sondern man solle aus dem
Gemüte heraus urteilen, man solle sich vor
allen Dingen in den Grundsätzen, welche das Leben
von Mensch zu Mensch betreffen, an einen gewissen Glauben
halten, denn das Denken sei doch nur für die
eigentlichen Dinge der Wissenschaft. — Das ist aus dem
Grunde eine bedenkliche Rede, weil gerade in unserer Zeit die
Menschen gerade für das allerabstrakteste Denken
intensiv veranlagt sind. Die Menschen wollen ja nur die
geradlinigsten Begriffe festhalten. Und wenn sie sie
einmal festgehalten haben, so kleben sie mit ungeheuerer
Zähigkeit׳ an diesen geradlinigen
Begriffen. Dieses abstrakte Denken ist vorzugsweise das Denken,
das zu seinem Organe nur den menschlichen Kopf hat, das am
meisten an das physische Organ, an den menschlichen Kopf
gebundene Denken. Früher, zur Zeit des atavistischen
Hellsehens kam in dieses Denken von der übrigen
menschlichen Organisation ein nach dem Geiste gerichtetes
Denken hinein. Diese Zeit des atavistischen Hellsehens
ist vorüber. Bewußt müssen sich die
Menschen nunmehr zu Imaginationen aufschwingen, bewußt das
spirituelle Leben erfassen. Denn ohne auf das spirituelle Leben
einzugehen, bleiben heute die Gedanken der Menschen leer. Woher
rührt das?
Sie
wissen ja aus den Auseinandersetzungen, die wir in der letzten
Zeit gepflogen haben, daß das, was heute Kopf ist bei
jedem Menschen, eigentlich der übrige
Organismus, außer dem Kopfe, aus der früheren
Inkarnation ist. Ich habe Ihnen das öfter
auseinandergesetzt. Die Formationskräfte des Kopfes,
natürlich nicht die physische Substanz, aber
die Formationskräfte des menschlichen Hauptes, die
ja auch in ihrer Rundung dem Kosmos gleichgebildet sind, gehen
hinüber in den Kosmos. Was an
Kräften unser Leben durchdauert zwischen Tod und
neuer Geburt und in der nächsten Inkarnation zum
Kopfe wird — dem sich dann aus dem Leibe der Mutter,
befruchtet vom Vater, der übrige Organismus
angliedert —, das ist der übrige Leib der
vorhergehenden Inkarnation. Den Kopf verlieren wir in bezug auf
seine Kräfte, indem wir durch den Tod gehen; den
übrigen Leib in bezug auf seine Kräfte
wandeln wir um zu unserem Haupte, zu unserem Kopf in der
nächsten Inkarnation. Die große Masse der
heutigen Menschen war in der vorigen Inkarnation so auf die
Erde hingestellt, daß sie Verächter waren
— wie man es damals meinte, im rechten christlichen Sinne
—, Verächter des irdischen Jammertales. Diese
Verachtung ist ein Gefühl. Das ist an den
übrigen Organismus, nicht an den Kopf gebunden. Aber
indem diese Menschen sich heute reinkarnieren, wird dasjenige,
was in der vorigen Inkarnation ein scheinbar sehr erhabenes
christliches Gefühl war, indem es nunmehr das Organ
des Kopfes ausbildet und reinkarniert, in sein Gegenteil
umgewandelt, es wird zur Sehnsucht nach der Materie, zur
Sehnsucht nach dem materiellen Leben. Die heutigen Menschen
sind angelangt an einem Wendepunkt der Entwickelung, von dem
man sagen muß: in ihr Haupt ist möglichst wenig
hineingekommen aus der früheren Inkarnation. Und
gerade deshalb muß etwas Neues in die Menschen hinein,
etwas, was jetzige Offenbarung ist, was jetzt aus der geistigen
Welt den Menschen neu geoffenbart wird. Heute ist es nicht
möglich, sich bloß auf die Evangelien zu
berufen. Heute ist es notwendig, auf dasjenige
hinzuhören, was heute der Menschheit an Geistigem
gesagt wird. Teilnehmen an dem toten Denken, das nicht den
lebendigen Organismus begreifen kann, tut zum Beispiel auch die
katholische Kirche. Nicht müde wurden gerade die
Redner dieser katholischen Kirche jetzt auch wiederum in Bern
in dem Bekenntnis zu Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes.
Aber, meine lieben Freunde, was nützt es, sich zu
Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes zu bekennen,
wenn man diesen Christus nur erfaßt mit einem toten
Denken, das heißt, wenn er in den eigenen Gedanken zum
toten Ideal wird? Wir haben heute nicht nötig, uns
zu berufen auf Christus, den Sohn des lebendigen Gottes,
sondern wir haben nötig, uns zu berufen auf
Christus, den lebendigen Sohn des Gottes. Das heißt auf
den Christus, der jetzt lebendig wirkt, indem er neue
Offenbarungen der Menschheit zukommen
läßt.
In
diesem Sinne will gerade Geisteswissenschaft dasjenige, was
jetzt herein will als neue Offenbarung unmittelbar aus den
spirituellen Welten, zum Impuls allen Denkens machen. Das aber
würde den Menschen Gedanken geben, die in die
Wirklichkeit untertauchen können. Diese Gedanken
würden allerdings in vieler Beziehung
entgegengesetzt sein denjenigen, die heute die Menschen
beherrschen. Sehen Sie, meine lieben Freunde, an die
kühnsten Gedanken, die der Wirklichkeit
möglichst fremd sind, möchten sich die
Menschen heute halten. Und haben sie einen solchen Gedanken,
dann klammern sie sich wunderbar daran, merken nicht, welche
Wirklichkeiten walten und den Gedanken unter
Umständen modifizieren. Ich will Ihnen ein
eklatantes Beispiel vorführen.
In
Bern drüben redeten, wie die Staatsmänner
vom Frühling und Frühsommer 1914 von dem
Weltfrieden geredet haben, so jetzt die verschiedenen, wie man
sagt «international» denkenden Menschen
von dem kommenden Völkerbund. Sie wissen, der
Gedanke des Völkerbundes ist entstanden aus
dem Kopfe Woodrow Wilsons heraus. In jener Rede vom
Januar 1917 hat Wilson diesen Gedanken vom
Völkerbund geäußert. Er hat ihn
hingestellt als das, was erstrebt werden müsse,
damit die Menschen in der Zukunft nicht wiederum zu so
furchtbaren, grauenvollen Katastrophen kommen wie diejenigen,
in die die Menschen der Gegenwart hineingetrieben worden sind.
Er hat das Streben nach diesem Völkerbund als etwas
absolut Notwendiges bezeichnet. Er hat zu gleicher Zeit
gesagt, und das ist das Wichtige: Die Verwirklichung
dieses Völkerbundes ist an eine bestimmte
Voraussetzung geknüpft; ohne daß diese
Voraussetzung erfüllt werde, könne von
der Begründung eines solchen Völkerbundes
überhaupt nicht gesprochen werden. Die notwendige
Voraussetzung zur Begründung eines solchen
Völkerbundes ist aber, daß dieser Krieg ausgehe
ohne den Sieg der einen Partei über die andere. Denn
niemals könne in einer Welt ein
Völkerbund verwirklicht werden, wenn auf der einen
Seite ein entscheidender Sieg, auf der anderen Seite eine
entscheidende Niederlage sei.
Nun, das ist die Voraussetzung, ohne die Wilson nicht vom
Völkerbund sprechen wollte. Dasjenige, was
sich erfüllt hat, ist das genaue Gegenteil von dem,
was Wilson als die Voraussetzung zum
Völkerbund bezeichnet hat. Dennoch werden die
Menschen den Völkerbund heute so, wie Wilson im
Januar 1917 über ihn als eine Hypothese gesprochen
hat, begründen. Das heißt eben gerade in seinem
Denken der Wirklichkeit ganz fernstehen, sich anklammern an
einen Gedanken und gar nicht die Möglichkeit
haben, mit diesem Gedanken in die Wirklichkeit unterzutauchen,
die Wirklichkeit zu erfassen, einzubeschließen in seine
Gedanken diese Wirklichkeit. Das aber ist das Allernotwendigste
für die Gegenwart. Den Leuten fällt gar
nicht ein, daß sie nicht bei ihren Gedanken stehenbleiben
dürfen, sondern daß sie vor allen Dingen heute
nötig haben, von diesen Gedanken aus in die
Wirklichkeit hineinzuschauen.
Ein
Beispiel von einem gutmeinenden Menschen konnte man jetzt
wiederum in Bern erleben an dem Pazifisten
Schücking. Sehen Sie, die Leute
redeten von dem Völkerbund mit all seinen
Einrichtungen. Kurioserweise fielen sogar die Worte, daß
man, wie die einzelnen Staaten Parlamente haben, so einen
Überstaat und Uberparlamente anstreben
müsse. Schücking sagte zum Beispiel: Ja,
da werde eingewendet, daß die verschiedenen Staaten
doch Individualitäten seien und sich nicht so einer
einheitlichen, zentralistischen, überstaatlichen
Leitung fügen werden. Dem widerspreche doch zum
Beispiel, was die Nationalversammlung in Weimar tue. Da seien
gerade die kleinen
Territorialfürstentümer auch
Individualitäten, aber es sei doch ein Sinn
dafür vorhanden, das Ganze zusammenzufassen. —
Es ist ein naheliegender Gedanke, man könnte sagen,
ein selbstverständlicher Gedanke für die
Abstraktlinge, denn was könnte richtiger sein als
das, was man im Kleinen kann mit den vielen kleinen
Fürstentümern — sie
nämlich zusammenzufassen durch die
Nationalversammlung —, nun auch im Großen mit dem
Überstaat machen zu können! Wer aber
real, konkret denkt, wer gleich mit seinen Gedanken in die
Wirklichkeit geht, der sagt: Wodurch ist das
möglich geworden in Weimar? — Durch die
deutsche Revolution! Sonst wäre gar keine Rede
gewesen, daß das möglich geworden
wäre. Also: laßt erst eine Weltrevolution
kommen, dann wird ein Uberparlament nach dem Muster der
Weimarer Nationalversammlung möglich sein! Das
ist der reale Gedanke, der überall an die
Wirklichkeiten anknüpft, der sich nicht trennt von
der Wirklichkeit, der sich krank fühlen
würde, wenn er nicht an die Wirklichkeit
anknüpfen würde.
Es
ist so schwer, meine lieben Freunde, den Leuten heute
klarzumachen, daß eben ein neues Denken notwendig
ist, ein ganz neues, wirklichkeitsfreundliches Denken, und
daß die Gesundung unserer Zustände von der
menschlichen Neigung für dieses
wirklichkeitsbefreundete Denken abhängt. Aber
in die Wirklichkeit untertauchen kann kein Denken, das nichts
wissen will von der geistigen Welt, denn in aller Wirklichkeit
lebt eben die geistige Welt. Und wenn man nichts wissen will
von der geistigen Welt, dann kann man heute schon am
allerwenigsten in die Wirklichkeit untertauchen, und in der
Zukunft wird man es erst recht nicht können.
Daher ist schon mit eine Hauptfrage für die
Gesundung der heutigen Welt die Hinwendung der Menschheit zur
geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Das muß
natürlich doch die Grundlage bilden — und das
könnte die Grundlage bilden, kann leicht die
Grundlage bilden. Sagen Sie nicht immer die
oberflächlichen, geschwätzigen Worte, es
sei schwer, diese Geisteswissenschaft in die Wirklichkeit
überzuführen, weil die Menschen
Geisteswissenschaft nicht annehmen wollen. Schaffen Sie die
Staatliche Oberaufsicht über
Universitäten, Gymnasien, Volksschulen ab —
und in zehn Jahren ist an die Stelle der heutigen,
Menschenseelen ertötenden und verderbenden
Wissenschaft die Geisteswissenschaft getreten, wenigstens in
ihren notwendigen, elementaren Grundlagen! Denn was heute aus
dem emanzipierten Drittel des gesunden sozialen Organismus, aus
der geistigen Organisation heraus erwachsen kann, das wird
anders ausschauen als dasjenige, was überwacht
worden ist von jenem Staate, der nur seine Geistlichen
ausbilden wollte, das heißt nur eine Staatstheologie
duldete, oder der nur seine Juristen ausbilden wollte,
daher eben nur seine Staatsjuristen gelten ließ; von der
Medizin gar nicht zu reden, wo es blödsinnig und
lächerlich ist, daß eine andere Medizin gelten
soll drüben und herüben über
die Grenzen von Staat zu Staat, daß nicht dasselbe
Wissen heilsam sein soll für die Menschen hier und
dort und so weiter.
Ich
habe Ihnen öfter betont, für das
sozialistische Denken ist alles geistige Leben eine Ideologie.
Welches ist denn der tiefere Grund, daß alles geistige
Leben für das sozialistische Denken der
proletarischen Masse heute eine Ideologie ist? — Weil ja
alles Wissen getragen werden soll von einem
Äußeren, von dem politischen Staate, weil es
nur der Schatten des politischen Staates ist! Es ist ja
eine Ideologie. Denn soll das geistige Leben nicht Ideologie
sein, so muß es aus seinen eigenen
Kräften fortwährend seine Wirklichkeit
beweisen, das heißt, es muß eben emanzipiert, auf
sich selbst gestellt sein. Das geistige Leben hat seine
Wirklichkeit fortwährend zu beweisen, darf nicht
eine äußere Stütze haben. Nur ein
solches geistiges Leben, das keine äußere
Stütze hat, das sich lediglich auf die menschlichen
Fähigkeiten gestellt sieht, das sich lediglich
aus sich selbst verwaltet, wird in gesunder Weise auch seine
Zweigströmungen in den Kapitalismus hineinsenden.
Denn die Verwaltung durch Kapitalismus ist auch keine andere
als die durch menschliche Fähigkeiten. Machen Sie
das geistige Leben an seinem Ursprünge gesund, so
wird das geistige Leben auch da gesund, wo es in den
Kapitalismus einmündet und das
Wirtschaftsleben zu leiten hat.
So
hängen die Dinge zusammen, und mit diesem
Zusammenhang muß man sich bekanntmachen. Meiden muß
man, meine lieben Freunde, all das Denken der heutigen
Abstraktlinge, das wirklichkeitsfremde Denken, das einem
auf Schritt und Tritt überall entgegenkommt
und das unsere heutigen Zustände hervorgerufen hat,
von dem unsere heutigen Zustände die Folge sind. Man
sieht es heute nur noch nicht ein.
Heute
fragen die Menschen: Wie muß der Überstaat
sein? — und sie denken nach, wie der bisherige Staat war;
was er getan hat, das soll auch der Überstaat tun.
Aber liegt es nicht viel näher, zu fragen, was
dieser Staat unterlassen soll? Nachdem die Staaten zur
europäischen Katastrophe geführt haben,
liegt es viel näher, zu fragen, was sie unterlassen
sollen. Unterlassen sollen sie, sich einzumischen in das
geistige Leben, unterlassen sollen sie, Wirtschafter zu sein.
Beschränken sollen sie sich auf das bloße
politische Gebiet. Heute kann man nicht fragen: Wie wird ein
Völkerbund begründet? — und sich
zum Muster für dieses Begründen nehmen,
was die Staaten getan haben oder tun sollen, sondern es ist
besser und heute zeitgemäßer zu fragen, was die
Staaten unterlassen sollen.
Wenig
noch sind die Menschen geneigt, auf diese Dinge wirklich
einzugehen. Aber das Schicksal der Menschheit unserer Zeit wird
davon abhängen, ob man auf diese Dinge eingeht. Ich
habe Ihnen heute, ich möchte sagen, einleitungsweise
über diese Dinge gesprochen. Ich werde morgen
darüber weitersprechen.
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