ACHTER VORTRAG
Dornach, 16. März 1919
Ich
habe gestern gesagt, daß unter den mancherlei Zeichen, wie
gegenwärtiges Denken weit von der Wirklichkeit
abliegt, zum Beispiel auch folgendes sei, daß man jetzt in
den Kreisen, die sich mit der einschlägigen
Frage beschäftigen, gar nicht daran denkt, daß
die Begründung eines Völkerbundes, als
sie der Idee nach aus dem Kopfe Wilsons entstand, damals
verkündet wurde als etwas, was nur in einer
geeigneten Weise möglich würde,
wenn ein Friede sich ergeben würde ohne den Sieg der
einen oder der anderen Seite. Ich möchte Ihnen heute
doch, damit Sie sehen, in welcher scharfen Weise dazumal am 22.
Januar 1917 Wilson diese Bedingungen für den
Völkerbund gestellt hat, die betreffende Stelle aus
seiner Rede in der deutschen Übersetzung vorlesen.
Sie können sie, wenn Sie wollen, vergleichen; es ist
ja hier jetzt auch die englische Ausgabe erschienen mit
gegenüberstehender deutscher
Übersetzung, und Sie werden finden, daß durch
die deutsche Übersetzung der Sinn der Stelle
keineswegs geändert wird. Wilson sagt:
«Vor allem anderen ist damit gesagt, daß ein
Friede ohne Sieg sein muß. Es ist nicht angenehm, das
sagen zu müssen. Man wolle mir gestatten, meine
eigene Auffassung dafür darzulegen und zu betonen,
daß mir keine andere Auffassung in den Sinn gekommen ist.
Ich suche bloß den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, und
zwar ohne alle schonenden Vertuschungen. Ein Sieg
würde zu bedeuten haben, daß der Friede dem
Besiegten aufgezwungen würde, daß der
Unterlegene sich den Bedingungen des Siegers zu beugen
hätte. Solche Bedingungen könnten
nur in tiefer Demut, im Zustande der Nötigung und
unter unerträglichen Opfern angenommen werden, und
es würde eine schmerzende Wunde, ein
Gefühl des Grolls und eine bittere Erinnerung
zurückbleiben. Ein Friede, der auf solcher Grundlage
ruhte, könnte keinen Bestand haben, sondern
wäre wie auf Treibsand gebaut. Nur ein Friede
zwischen Gleichgesinnten kann von Dauer sein — ein
Friede, der seinem ganzen Wesen nach auf Gleichheit und auf dem
gemeinsamen Genuß einer allen gemeinsam zugute kommenden
Wohltat beruht. Die rechte Gesinnung, die rechte
Gefühlsstimmung zwischen den verschiedenen Nationen
ist für einen dauerhaften Frieden ebenso
notwendig, wie die gerechte Beilegung hartnäckiger
Streitfragen über Gebiets- oder Rassen- oder
Volkszugehörigkeit.»
Das
wurde als Bedingung dazumal geltend gemacht für die
Begründung eines Völkerbundes. Und
wenn klares Denken vorliegt, dann, meine lieben Freunde, kann
nichts anderes gesagt werden als: Es müßte eben
in dem Augenblicke, in dem es einen solchen Frieden ohne Sieg
nicht gibt, alles Gerede über einen
gegenwärtig zu begründenden
Völkerbund, der doch keine Aussichten auf
irgendwelches Gedeihen bieten könnte, aufgegeben
werden. Aber das ist nicht geschehen. Die Leute denken nicht
der Wirklichkeit entsprechend, die Leute denken abstrakt und
lassen die Gedanken so fortrollen, wie sie einmal zu rollen
begonnen haben, ganz gleichgültig, ob diese
Gedanken unter Voraussetzungen gefaßt sind, die
jetzt noch zutreffen, oder nicht.
Es
ist dieses nur ein eklatantes Beispiel für das
Denken, das die Welt in so großes Unglück
gebracht hat. Und ehe man nicht einsehen wird, daß an die
Stelle solchen wirklichkeitsfremden Denkens ein anderes Denken
treten müsse, welches in die Wirklichkeit
unterzutauchen in der Lage ist, werden sich die
Verhältnisse ganz gewiß nicht in einer der
Menschheit heilsamen Art ändern können.
Das muß für die großen Angelegenheiten der
Welt eingesehen werden, das muß auch eingesehen
werden für alles, was ein jeglicher in seinem
alltäglichen Leben zu ordnen hat. Denn es greifen
ineinander die Maßnahmen, die der einzelne im
alltäglichen Leben trifft, mit den
höchsten Angelegenheiten der Menschheit. Daher
muß es uns immer wieder und wieder als eine Notwendigkeit
vor die Seele treten, zu fragen, was denn in der Gegenwart eine
wirkliche Änderung hervorrufen
könnte.
Nun
wissen wir ja, bei dem, was wir Annahme der
Geisteswissenschaft durch die Menschen nennen, handelt es
sich nicht allein darum, daß eine bestimmte
Überzeugung von den übersinnlichen Welten
aufgenommen werde. Das wäre das Was. Es
handelt sich darum, daß derjenige, der im wahren Sinne des
Wortes in sein Denken aufnimmt, was heute gerechterweise
über die übersinnlichen Welten gesagt
werden kann aus den geistigen Offenbarungen der Zeit
heraus, daß der zu einem gewissen Wie in seinem
Denken gelangt, daß sich sein Denken
allmählich umgestaltet in einer solchen Art,
daß er wirklich einen Sinn und ein Interesse
erhält für das, was in der Welt
wahrhaftig und wirklich vorgeht. Also nicht darauf, was wir
anerkennen durch die Geisteswissenschaft, kommt es allein an,
sondern wie wir durch die Geisteswissenschaft unser Denken
umgestalten, wie unser Denken anders wird. Wenn das so ist,
muß uns um so mehr die Frage ganz besonders naheliegen:
Wie kommt es, daß in der Gegenwart ein so starker
Widerstand herrscht gegen die Geisteswissenschaft?
Nun, ich habe gestern schon darauf aufmerksam gemacht, daß
natürlich alles, was man über diesen
Widerstand sagen kann, zugleich bezogen werden
müsse auf alles das, was entstehen kann unter
dem Einfluß des dreigliedrigen sozialen Organismus. Ich
sagte gestern: trete man nur einmal wirksam ein für
die Stellung des Geisteslebens auf seinen eigenen
Füßen, für die
Unabhängigkeit des Geisteslebens vom
Wirtschaftskreislauf und vom politischen Staatsleben, dann
würde man in
verhältnismäßig kurzer Zeit
Geisteswissenschaft heute zur Verbreitung bringen. Aber man
kann doch noch tiefer fragen: Warum sind denn die Leute so
wenig geneigt, gerade das einzusehen, was sich als eine
Notwendigkeit ergeben muß durch eine wahrhaftige
Emanzipation des Geisteslebens, durch ein Auf-sich-Gestelltsein
des Geisteslebens? — Das rührt allerdings
davon her, daß dieses Geistesleben in der neueren
Zeit eine gewisse Gestalt angenommen hat, welche als solche die
Menschen abhält, ihre Blicke nach der geistigen Welt
hin zu richten. Man könnte in einer gewissen Weise
sogar davon reden, daß die gegenwärtigen
traurigen Ereignisse eine gewisse Strafe der Menschheit seien
für die Verkennung, für die notwendige
Verkennung des geistigen Lebens, die in der neueren Zeit
eingetreten ist. Und das, meine lieben Freunde, muß
eingesehen werden, daß man ohne die Überleitung
der menschlichen Gedanken in eine soziale Richtung in der
Zukunft nicht auskommen wird. Das lehren die Tatsachen;
solche Tatsachen, gegen die anzukämpfen eine Torheit
ist. Aber auf der anderen Seite muß das, was Ihnen ja aus
mancher Darstellung, die ich gegeben habe, schon hervorgeht,
ganz tief in seinen Untergründen eingesehen werden:
daß jegliche Art Sozialistik ohne gleichzeitig vor sich
gehende Vergeistigung nicht das Heil, sondern das Unheil der
Menschheit bewirken muß. Eine Grundlage, das
einzusehen, verschafft man sich am besten, wenn man das
sozialistische Denken in seinem Hervorgehen aus dem
übrigen neuzeitlichen Denken einmal
gründlich ins Auge faßt.
Andeutungen darüber, was auf diesem Gebiete
vorliegt, habe ich Ihnen ja schon gegeben. Wir wollen heute
mancherlei zusammenfassen, was wir bisher an Andeutungen
nach dieser Richtung gehört haben. Ich habe Sie
darauf aufmerksam gemacht, daß in solchen Geistern,
wie zum Beispiel Fichte, etwas steckt, wenn sie ihr
Denken auf das soziale Gebiet überleiten, was zu
einer ganz ähnlichen Anschauung
führt, wie sie uns heute zum Beispiel im
Bolschewismus entgegentritt. Ich habe das dadurch zum
Ausdruck zu bringen versucht, daß ich sagte: Johann
Gottlieb Fichte wäre ein wirklicher, echter
Bolschewist! Gewiß, Johann Gottlieb Fichte hatte noch so
viel Geistigkeit, daß er, ich möchte sagen,
ohne den Menschen gefährlich zu werden, dazumal
bolschewistische Ideen in seinem «Geschlossenen
Handelsstaat» drucken lassen konnte. Heute
haben die Menschen ja so wenig Neigung, auf den wirklichen
Inhalt von Dingen einzugehen, daß sie gar nicht merken,
daß Johann Gottlieb Fichte in seinem
«Geschlossenen Handelsstaat» ein
echter Bolschewik ist.
Dasjenige Denken aber, das ganz besonders charakteristisch ist
für die neuere Zeit, ist eigentlich zum Vorschein
gekommen in Hegel. Und von Hegel habe ich Ihnen ja
gesagt, ist wiederum abhängig Karl Marx,
allerdings in einer höchst merkwürdigen
Weise. Nun möchte ich zu Ihnen doch einmal, wenn das
auch scheinbar, aber eben nur scheinbar, in abstrakte
Höhen führt, über die
besondere Artung des Hegelschen Denkens sprechen. Es ist ja
viel Unzutreffendes in den Wirren der letzten viereinhalb Jahre
gerade über Hegel gesagt worden. Warum sollte man
nicht auch einmal objektiv auf die Art eingehen, wie er seine
Sachen eigentlich gemeint hat.
Fassen wir einmal ins Auge, wie Hegel über die Welt
gedacht, gesonnen hat, wie er versucht hat, den Blick
hinzurichten auf die Offenbarung der Weltgeheimnisse
für den Menschen. Hegel stellt ja, was er
über die eigentliche Grundwesenheit der Welt zu
sagen hatte, öfter sogar ganz
übersichtlich dar; am übersichtlichsten
in seiner «Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften». Schauen wir uns
einmal ganz in populärer Form an, welche
Weltanschauung da zum Ausdruck kommt. Sehen Sie, die
Weltanschauung Hegels zerfällt in drei Teile.
Der erste Teil ist das, was Hegel Logik nennt. Aber Logik ist
für Hegel nicht die Kunst des menschlichen, des
subjektiven menschlichen Denkens, sondern Logik ist
für Hegel die Summe aller derjenigen Ideen, welche
in der Welt selbst wirksam sind. Hegel sieht nämlich
in den Ideen nicht nur das, was im menschlichen Kopfe spukt.
Was im menschlichen Kopfe spukt, ist nur die Anschauung der
Idee. Ideen sind für Hegel gewissermaßen
Kräfte, welche in den Dingen selber drinnen spielen.
Und Hegel geht nicht weiter zum Wesen der Dinge
zurück, als bis zu den Ideen, so daß er
gleichsam in seiner Logik die Summe aller Ideen geben will, die
in den Dingen drinnen sind. Die Ideen, die sich noch nicht
schöpferisch in der Natur erweisen, die Ideen,
die noch nicht im Menschen zur Spiegelung, zum Erkennen
kommen, sind die Ideen an sich, die in der Welt als Ideen
wirken. — Ich weiß sehr wohl, daß Sie aus dem,
was ich sage, vielleicht nicht besonders klug werden
können; aber das behaupten ja die Leute schon lange,
daß sie aus Hegel nicht klug werden, weil sie sich nicht
vorstellen können, daß irgendwo ein reines
Ideengewebe existiere. Aber Hegel sieht in diesem reinen
Ideengewebe Gott vor der Erschaffung der Welt. Also Gott
ist für Hegel eigentlich eine Summe, besser gesagt,
ein Organismus von Ideen geworden, und zwar in der Form, wie
diese Ideen existiert haben, bevor eine Natur entstanden ist,
und bevor wiederum auf der Grundlage der Natur sich der Mensch
entwickelt hat. So sucht Hegel die Ideen in der reinen
Logik darzustellen. Das ist Gott vor der Erschaffung der
Welt. Also Gott vor der Erschaffung der Welt ist die reine
Logik.
Nun
könnte man sagen, es wäre schon sehr
fruchtbar für das menschliche Geistesleben, wenn
jemand alle Ideen hinstellen würde, welche da waren,
gleichgültig ob sie Ideen eines lebendigen Gottes
waren, oder ob sie nur als Ideen wie ein Spinngewebe in der
Luft — die es aber damals auch noch nicht gegeben hat
— geschwebt hätten; es wäre das
schon ein Gewinn für die menschliche Seele. Aber
wenn Sie sich diese reine Logik bei Hegel vornehmen — und
das ist der Grund, warum sie so wenige Leute vornehmen so
finden Sie nichts als wiederum ein Gewebe von Ideen. Begonnen
wird mit dem ärmsten Begriffe, mit dem reinen
Sein. Dann wird weiter aufgestiegen zu dem Nichtsein, dann zu
dem Dasein und so fort. Also Sie werden angehalten, die Summe
aller Ideen, die sich der Mensch über die Welt
macht, auf die er gewöhnlich nicht reflektiert, weil
ihm das zu langweilig ist, von dem reinen Sein bis zu dem
zweckmäßigen Aufbau des Organismus hin,
abgesehen von jeder äußeren Welt, sich einmal
vor die Seele zu stellen. Da bekommen Sie eine Summe von Ideen,
aber nur von abstrakten Ideen. Und das lebendige
Fühlen des Menschen wird natürlich eine
gewisse Stellung einnehmen gegenüber dieser Summe
oder diesem Organismus von abstrakten Ideen. Nehmen wir an
einmal, es würde jemand sagen: Das ist ein
pantheistisches Vorurteil, daß Hegel glaubt, die
Ideen als solche seien da; ich nehme für mich an,
ein Gott wäre vor der Erschaffung der Welt
dagewesen, und der hätte eben diese Ideen gehabt und
hätte nach diesen Ideen die Welt geschaffen. —
Aber denken Sie einmal, wenn Sie sich die Vernunft und
das Seelenleben eines Gottes vorstellen sollten, der nichts
anderes in sich gehabt hätte als die Hegelschen
Ideen, der also immer nur darüber nachgedacht
hätte, was zwischen dem Sein und dem
zweckmäßigen Organisieren lebt, der in sich nur
gehabt hätte die Ideen der
alleräußersten Abstraktion — was
würden Sie zu einer solchen Zumutung, sich
dieses Seelenleben Gottes zu denken, sagen? Sie
würden gar nicht begreifen können, wie
ein Gott so ärmlich sein könnte, in
seiner göttlichen Vernunft nur diese abstrakten
Ideen zu denken. Und dennoch, für Hegel ist die
Summe dieser abstrakten Ideen Gott selbst, nicht nur der
Verstand Gottes, sondern sogar Gott selbst vor der Erschaffung
der Welt. Also das ist das Wesentliche, daß Hegel nicht in
Wirklichkeit über abstrakte Ideen herauskommt,
sondern gerade die abstrakten Ideen als das
Göttliche ansieht.
Dann schreitet er vor zu dem Zweiten: das ist die Natur. Ich
könnte Ihnen auch da gewisse definitionsartige
Urteile geben über die Art, wie Hegel nun
vorschreitet von der Idee, das heißt von Gott vor der
Erschaffung der Welt bis zu der Natur. Aber auch davon
würden Sie wahrscheinlich, wenn Sie sich an die
Ihnen bis jetzt gebräuchlichen Denkgewohnheiten
halten, nicht gerade sehr viel haben. Die Logik
enthält nach Hegel die Idee in ihrem Ansichsein. Die
Natur enthält die Idee in ihrem Außersichsein.
Was Sie also als Natur überschauen, ist auch Idee,
ist eigentlich nichts anderes, als was die Logik
enthält, nur eben in der anderen Form des
Außersichseins. Und dann nimmt Hegel die Natur durch von
der bloßen Mechanik bis zur Darstellung der biologischen,
pflanzlichen, tierischen Verhältnisse. Das
heißt, er versucht überall in dem Umfange, in
dem die Natur dem Menschen vorliegt, Ideen in der Natur
nachzuweisen, die Idee im Lichte, in der Wärme, in
anderen Kräften, in der Schwerkraft und so
weiter.
Hegel entschädigt den, der seine Abstraktheit
sinnvoll hinnehmen kann, durch eine gerade ihm eigene
Anschaulichkeit und Bildlichkeit. Allein diese Anschaulichkeit
und Bildlichkeit bei Hegel wird manchmal gefährlich
für das Verständnis dessen, was Hegel
eigentlich gewollt hat. Ich habe einmal einem befreundeten
Universitätsprofessor gegenüber, einem
Philosophen, Hegel zu verteidigen versucht. Sie wissen, ich
verteidige Hegel, weil ich es für fruchtbarer halte,
alles mit Bezug auf das wirklich Positive zu verteidigen, als
bloß auf die eigene Meinung immer zu schwören
und alles andere in Grund und Boden zu kritisieren. Wenn irgend
etwas gut ist, so verteidige ich es immer; das ist der
Positivismus der Geisteswissenschaft. Aber dazumal kam ich mit
der Verteidigung Hegels etwas schief an. Der Betreffende sagte:
Ach, gehen Sie mir mit Hegel fort; ein Mensch, der nichts
anderes zu sagen weiß über die Kometen, als
daß sie ein Aussatz am Himmel sind, den kann man doch
nicht ernst nehmen! —
Natürlich muß man solch eine Stelle, daß
die Kometen ein Aussatz, ein Ausschlag, so etwas wie Masern
oder dergleichen am Himmel seien, in dem ganzen Zusammenhange
nehmen. Es ist selbstverständlich leicht, sich
über solche Dinge lustig zu machen. Es kann sogar
ganz charmant sein, wenn sich die Leute über solche
Dinge lustig machen. Man braucht, um
wirklichkeitsgemäß in die Welt hineinzuschauen,
nicht immer ein Gesicht ganz hinunter zu machen,
möglichst in die Länge gezogen, sondern
man braucht einen gewissen Humor, gerade um auch die Tragik der
Welt in vollem Sinne verstehen zu können.
Nachdem Hegel auf diese Weise gewissermaßen ein Register
aller Begriffe gegeben hat, aller Ideen, die in der Natur
verkörpert sind, steigt er auf als Drittes zum
Geist. Im Geist sieht er die Idee in ihrem
Anundfürsichsein, das heißt, da ist sie nicht
nur so, wie sie war vor der Erschaffung der Welt, nicht nur in
ihrem Ansichsein, sondern da ist sie für sich. Sie
lebt in der menschlichen Seele und da für sich
— die Idee draußen objektiv und außerdem noch
für sich, im Menschen. Da der Mensch aber Idee ist,
weil alles Idee ist, so ist das die Idee in ihrem
Anundfürsichsein. Da versucht Hegel wiederum die
Idee nun zu verfolgen, wie sie anwesend ist erst in der Seele
des einzelmenschlichen Individuums, dann wie sie anwesend ist
— wenn ich einiges überspringe — im
Staate. In der Seele des Menschen arbeitet die Idee im Innern;
im Staate hat sie sich wiederum verobjektiviert, da lebt sie in
den Gesetzen, in den Einrichtungen. Da lebt überall
die Idee drinnen, da ist sie objektiv geworden. Sie entwickelt
sich dann objektiv weiter in der Weltgeschichte. Staat,
Weltgeschichte. Da wird also alles an Ideen registriert in der
Weltgeschichte, was die Fortentwickelung der Menschheit
auf dem physischen Plane bewirkt. Alles dasjenige, was an
Ideen in Seele, Staat, Weltgeschichte lebt, das
führt aber nirgends hinaus aus dem physischen Plan,
macht nirgends den Menschen aufmerksam darauf, daß
es etwa eine übersinnliche Welt gäbe,
denn die übersinnliche Welt ist für Hegel
eben nur die Summe der Ideen, die in dem allen drinnen lebt,
einmal im Ansichsein vor der Erschaffung der Welt, in dem
Außersichsein in der Natur, und in dem
Anundfürsichsein der menschlichen Seele im Staat und
der Weltgeschichte.
Und
dann entwickelt sie sich aufs Höchste herauf, die
Idee, kommt gewissermaßen in einem letzten Augenblicke des
Werdens zu sich, in Kunst, Religion und Philosophie.
Die
drei: Kunst, Religion und Philosophie, wenn sie im
Menschenleben auftreten, stehen nun über Staat
und über Weltgeschichte, aber sie sind doch nur die
Verkörperung der reinen Logik, sie sind die
Verkörperungen der abstrakten Ideen. In der Kunst
stellen sich diese Ideen, die vor der Erschaffung der Welt als
Logik existiert haben,
durch das sinnliche Bild dar; in der Religion durch die
gefühlsmäßige Vorstellung; und in
der Philosophie tritt endlich die Idee in ihrer reinen Gestalt
selber im menschlichen Geiste auf. Der Mensch
erfüllt sich mit Philosophie, blickt auf alles
andere, was die Menschheit und die Natur an Ideen
hervorgebracht hat, zurück und fühlt sich
nun — wie soll man sagen — als erfüllt
von dem Gotte, der aber die Idee ist, die
zurückblickt auf ihr ganzes vorhergehendes Werden.
Der Gott schaut sich im Menschen selber an. Aber eigentlich
schaut sich die Idee im Menschen selber an. Abstraktion schaut
die Abstraktion an.
Man
kann sich nichts Genialeres denken, als diesen Gedanken
über die menschliche Abstraktion, wenn man die
Genialität auf dem Gebiete des Abstrakten ins Auge
faßt. Und man kann sich eigentlich nichts innerlich
Kühneres denken, als wenn der Mensch geltend macht:
das Höchste sind die Ideen; außer den Ideen
gibt es keinen Gott, die Ideen sind der Gott, und du
Menschenseele bist auch Idee, nur daß es die Idee in dir
zu ihrem Anundfürsichsein gebracht hat, sie schaut
sich an. — Sie sehen, wir schwimmen in Ideen, wir sind
selber Ideen, alles ist Idee. Die Welt in ihrer
alleräußersten Abstraktion. Es ist von
ungeheurer Bedeutung, daß gerade um die Wende des 18. zum
19. Jahrhundert und in das 19. Jahrhundert hinein ein Geist
aufgetreten ist, der die Kühnheit hatte, einmal zu
sagen: Nur derjenige erfaßt die Wirklichkeit, der sie in
der abstrakten Idee erfaßt; es gibt keine andere
höhere Wirklichkeit als die abstrakte Idee.
Nun
fehlt es allerdings, wenn Sie die Philosophie Hegels vom
Anfange bis zum Ende durchgehen, überall an
irgendeinem Weg in die übersinnliche Welt hinein! Es
kann gar keinen solchen Weg in die übersinnliche
Welt hinein geben, denn stirbt der Mensch, so geht er im Sinne
der Hegelschen Philosophie, weil der Mensch eigentlich Idee
ist, in die allgemeine Strömung der Weltenideen ein.
Und nur über diese Strömung der
Weltenideen kann man etwas sagen. Es gibt keinen einzigen
Begriff — das ist eben gerade das Großartige der
Hegelschen Philosophie —, der von irgend etwas
Übersinnlichem handelte; nur daß alles,
was nun — allerdings in eisigster Abstraktheit —
uns als Philosophie Hegels entgegentritt, selber
übersinnlich ist, aber eben das
Abstrakt-Übersinnliche. Das erweist sich
gänzlich ungeeignet, nun selber etwas
Übersinnliches aufzunehmen; es erweist sich nur
geeignet, das Sinnliche in sich aufzunehmen. Durch ein
Übersinnliches wird das Sinnliche vergeistigt,
allerdings nur in abstrakten Formen; aber zu gleicher Zeit wird
alles Übersinnliche abgewiesen, weil die Summe der
Ideen, die vom Anfang bis zum Ende gegeben werden, sich eben
nur bezieht auf die sinnliche Welt. So kommt, möchte
ich sagen, der übersinnliche Charakter dieser Ideen
bei Hegel gar nicht so sehr in Betracht, denn dieses
Übersinnliche bezieht sich nicht auf ein
Übersinnliches, sondern nur auf das Sinnliche.
Ich
möchte Sie hauptsächlich darauf
aufmerksam machen, daß die Tendenz des neuzeitlichen
Denkens sich darin äußerte, einmal mit aller
Gründlichkeit das Übersinnliche
abzuweisen, aber nicht mit oberflächlichem
Materialismus, sondern mit der höchsten Kraft des
geistigen Denkens. Hegel ist daher kein Materialist, er ist
objektiver Idealist. Aber dieser objektive Idealismus
behauptet, daß die objektive Idee selbst der Gott
und die Grundlage der Welt und alles sei.
Wer
einen solchen Geistesimpuls ausdenkt, dem liefert dieses
Ausdenken eine gewisse innere Befriedigung, die
hinwegschauen läßt über das, was da
fehlt. Derjenige aber, der dann nachkommt, der also nicht
ursprünglich so etwas denkt, sondern es nachdenkt,
der kann dann um so härter das
Ungenügende empfinden. Auf alle diese Dinge habe ich
in meinem Buch «Vom
Menschenrätsel» ja hingewiesen.
Jetzt denken Sie sich, daß nicht ein Mensch wie Hegel mit
einem inneren übersinnlichen Impuls so denkt,
sondern daß dieses Denken aufgenommen wird von einem
anderen Kopf, der ganz und gar nur einen Sinn hat
für das Materielle, wie das bei Karl Marx der Fall
war. Dann wird diese idealistische Philosophie Hegels gerade
der Anlaß, alles Übersinnliche und damit alles
Idealistische zurückzuweisen, abzulehnen. Und
so wurde es für Karl Marx. Karl Marx eignete sich
die Form des Denkens an, die er bei Hegel gefunden hatte.
Allein er betrachtete nun nicht die Idee in der Wirklichkeit,
sondern er betrachtete die Wirklichkeit so, wie sie sich
selbst fortwährend als bloße
äußere materielle Wirklichkeit fortspinnt. Er
setzte den Impuls des Hegeltums fort und materialisierte ihn.
Und so wurzelt gerade der Grundnerv des modernen
sozialistischen Denkens in der Gipfelung des modernen
idealistischen Denkens. Daß sich auch
persönlich und weltgeschichtlich der
allerabstrakteste Denker mit dem allermateriellsten Denker
berührt, das war eine innere Notwendigkeit des 19.
Jahrhunderts, das ist aber auch die Tragik des 19.
Jahrhunderts; das ist gewissermaßen das Umschlagen des
Geisteslebens in sein Gegenteil.
Hegel schreitet in den abstrakten Begriffen fort. Das Sein
schlägt um, wird zum Nichtsein, kann sich mit dem
Nichtsein nicht vertragen, wird dadurch zum Werden. Und so
schreitet Begriff für Begriff durch Thesis,
Antithesis, Synthesis weiter nach einem gewissen inneren
Dreiklang, den Hegel großartig handhabt im Felde der
reinen Idee. Karl Marx überträgt diesen
innerlichen Dreiklang, den Hegel für Logik, Natur,
Geist in der inneren Ideenbewegung gesucht hat, auf die
äußere materielle Wirklichkeit, indem er zum
Beispiel sagt: aus der neueren
privatwirtschaftlich-kapitalistischen Gemeinsamkeitsform der
Menschen entwickelte sich, wie bei Hegel aus dem Sein das
Nichtsein, die Trustbildung, die kapitalistische Sozialisierung
der privatkapitalistischen Wirtschaft. Wenn die Trusts
immer mehr und mehr an Betriebsmitteln zusammenfassen, so
schlägt gerade das Eigentum an Privatkapital in sein
Gegenteil um. Es entstehen Sozietäten, das
Gegenteil der Wirtschaft durch den Einzelnen. Das hat in
sein Gegenteil umgeschlagen, in die Antithesis. Jetzt kommt die
Synthesis. Das Ganze schlägt noch einmal um, wie das
Nichtsein in das Werden. Und die Zusammenschweißung der
Privatwirtschaften in die Trustwirtschaften,
schlägt um in das noch Größere, das
wiederum die Trustwirtschaft aufhebt, in die Gemeinwirtschaft
an Produktionsmitteln. So schreitet die Wirklichkeit im
Dreiklang fort, die rein äußere
ökonomische Wirklichkeit. Was da Karl Marx
gedacht hat, ist ganz nach dem Muster von Hegel gedacht, nur
daß Hegel sich mit seinem Denken im Elemente der Ideen
bewegt, Marx im Weben und Leben der äußeren
ökonomischen Wirklichkeit. So liegen die Extreme
beieinander, man möchte selbst sagen, wie Sein
und Nichtsein.
Aber, meine lieben Freunde, Sie können nunmehr
streiten, so lange Sie wollen, über Idealismus und
Realismus, Spiritualismus und Materialismus, da gibt es
kein Resultat, kein Ergebnis. Einzig und allein kann das, was
den Menschen trägt, gefunden werden, wenn im Sinne
der modernen Trinität gedacht wird: der Mensch in
der Mitte, das eine Extrem, das Luziferische auf der einen
Seite; das ahrimanische Extrem auf der anderen Seite. Der
ahrimanische Materialismus, der luziferische Spiritualismus als
die beiden Extreme, der Mensch als die Gleichgewichtslage. Sie
können nicht, wenn Sie zur Wahrheit kommen
wollen, Idealist oder Realist, Materialist oder Spiritualist
sein, Sie müssen sowohl das eine wie das andere
sein. Sie müssen den Geist suchen bis zu einer
solchen Intensität, daß Sie ihn als Geist auch
in der Materie finden, und Sie müssen die Materie so
durchschauen, daß Sie durch die Materie hindurch den Geist
finden können. Das ist die Aufgabe der neueren Zeit:
nicht weiter zu streiten über Spiritualismus und
Materialismus, sondern die Gleichgewichtslage zu finden. Denn
die beiden Extreme, die des Hegelschen Luziferismus und die des
Marxschen Ahrimanismus haben sich ausgelebt. Sie waren da, sie
haben sich geoffenbart. Es muß nun wirklich dasjenige
gefunden werden, was der Ausgleich ist. Und das ist eben
mit der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft
gemeint. Da muß allerdings heraufgestiegen werden
bis zu einem solchen reinen Denken, wie das, zu dem Hegel
heraufgestiegen ist; aber dieses reine Denken muß
benützt werden können, um
durchzubrechen zu dem Übersinnlichen. Man muß
nicht nur Logik finden, das heißt einen Organismus von
Ideen, der sich dann doch nur auf die Sinnenwelt beziehen kann,
man muß durchbrechen an der Stelle, wo man die Logik
entdeckt hat, aus dem Sinnlichen in das
Übersinnliche. Dieses Durchbrechen ist eben bei
Hegel noch nicht gelungen. Daher wurde die Menschheit wieder
zurückgeworfen.
Also es hängt in einer gewissen Weise mit dem
Reinsten und mit dem Edelsten zusammen, wozu sich das
neuzeitliche Denken erhoben hat, daß der Sozialismus
erschienen ist ohne den Hinweis auf irgend etwas Geistiges. Und
daß es so schwer wurde, in der Gegenwart zum
sozialistischen Denken das geistige Denken hinzuzufinden, das
ist schon im inneren Entwickelungsgange der Menschheit in einer
gewissen Weise mitbegründet. Nur muß man
den ganzen Zusammenhang einsehen, damit man die Kraft gewinne,
aus diesem Zusammenhang heraus das Erlösende zu
finden. Dazu hat es der wissenschaftliche Betrieb, der heute
durch die Universitäten propagiert wird,
wahrhaftig nicht gebracht.
Was
hat Hegel im Grunde genommen getan? Er hat den Menschen —
nicht physisch, aber gedanklich — ausgepreßt, wie
man eine Zitrone auspreßt, bis sie ganz trocken wird; und
diese trockene MenschheitsZitrone ist dann nur noch eine
Idee. Sie sitzen hier auf Ihren Stühlen; im Sinne
der Hegelschen Philosophie sind Sie lauter Ideen, die hier
sitzen, nicht Körper, nicht Seele: Ideen. Denn jeder
von Ihnen trägt eine Idee in sich; die war da vor
der Erschaffung der Welt als abstrakte Idee. Dann ist jeder
für sich Körper, Natur: die Idee im
Außersichsein sitzt da auf den Stühlen. Dann
ist in Ihnen wiederum die Idee in ihrem
Anundfürsichsein. Sie fassen selbst diese Idee, die
Sie sind. Denken Sie, was Sie da für ein Schemen
sind! Denken Sie nur, wie Sie ausgepreßt sind, wenn Sie so
als «Idee» dasitzen: an sich, außer
sich, an und für sich — aber doch eben als
Idee nur!
Und
jetzt wiederum im Sinne von Karl Marx: Da ist gar nichts von
Ideen — gerade weil er durch die Methode des Hegelschen
Idealismus durchgegangen ist. Jetzt sind Sie nur das zweibeinig
gewordene Tier, nur das, als was Sie in der Naturordnung
äußerlich erscheinen. — Das andere
Extrem!
Mußte da nicht gegenüber dem, was da in der
Entwicklung der Menschheit vorhanden war, der Versuch
unternommen werden, den Menschen wiederum auch in der
Anschauung zum Menschen zu machen, das heißt, als das
Wesen des Menschen nicht bloß die ganz allgemeine Idee,
und auch nicht den bloßen tierischen Menschen
hinzustellen, sondern den wirklichen, individuellen Menschen,
der eine Hülle hat, die Gipfelpunkt der Natur ist,
der in sich eine seelische Wesenheit hat, die Zielpunkt einer
geistigen Welt geworden ist? Zum wirklichen Menschen mußte
wiederum die menschliche Anschauung hingeleitet werden. Und
diesen Versuch habe ich gemacht in meiner
«Philosophie der Freiheit». Das ist die
eigentliche historische Stellung des Problems, das vorlag, als
es mich hindrängte, die «Philosophie der
Freiheit» zu schreiben! Frei kann dieses
höchst entwickelte Tier nicht sein, das den Menschen
umhüllt; frei kann auch nicht jener
Schemenhafte Mensch sein, der Idee — Ansichsein,
Außersichsein, Anundfürsichsein — ist,
denn der ist durch logische Notwendigkeit gebildet.
Beides ist nicht frei. Frei ist nur der wirkliche Mensch,
der als das Gleichgewicht angesehen wird zwischen der
Idee, die aber durchbricht zum wirklichen Geiste, und der
äußeren materiellen Wirklichkeit.
Daher ist auch in dieser «Philosophie der
Freiheit» versucht worden, das sittliche Leben
nicht auf irgendeinen abstrakten Grundsatz zu
begründen, sondern auf das innere, moralische
Erlebnis, was ich damals die «moralische
Phantasie» nannte; auf dasjenige, was im
individuellen Menschen als solchem aus der Intuition heraus
schöpft, bildlich ausgedrückt.
Kant stellte den kategorischen Imperativ auf: Handle so,
daß die Maxime deines Handelns Richtschnur sein kann
für alle Menschen. — Zieh dir einen Rock an,
der allen Menschen passen kann! Die freiheitsphilosophische
Maxime lautet: Handle so, wie es dir, deinen
höchsten menschlichen Kräften gerade im
konkreten Augenblicke, im individuellen konkreten
Augenblicke aus dem Geiste heraus eingeht.
So
gelangt man auf dem Umwege durch die Moralphilosophie in die
Geistigkeit hinein. Und gerade das wäre vielleicht
für die heutige Menschheit ein Weg, um zu einer
Auffassung von der geistigen Welt zu gelangen: wenn diese
Menschheit zunächst das, was ja im Grunde genommen
nicht so schwer zu verstehen ist, einsehen würde,
daß das Sittliche ja ohne jeden Halt ist, wenn es nicht
als ein Teil eines Übersinnlich-Geistigen
aufgefaßt wird.
Sehen Sie, Hegels Logik ist vom Anfang bis zum Ende eine Summe
von abstrakten Ideen. Was schadet denn das aber
schließlich, wenn ich die ganze Natur, alles das, was
oberflächlich da ist, nur als eine Schematik von
Ideen ansehe? — Aber es schadet, wenn dasjenige, was uns
zum Sittlichen anspornt und impulsiert, nicht aus der geistigen
Welt kommt; denn wenn es nicht aus der geistigen Welt kommt,
hat es gar keine wahrhaftige Wirklichkeit, ist es nur Schall
und Rauch, die herauskommen aus dem tierischen Menschen. Wenn
der tierische Mensch abstirbt, so ist nichts mehr da. Bei der
Hegelschen Philosophie gibt es keinen einzigen Begriff,
der sich beziehen könnte auf irgend etwas, was noch
für den Menschen da wäre, wenn er durch
die Pforte des Todes gegangen ist, oder bevor er durch die
Pforte der Geburt gegangen ist. Die Hegelsche Philosophie ist
groß, aber sie ist groß als Durchgangspunkt des 19.
Jahrhunderts. Hegel anzuerkennen in seiner
Größe führt gerade dazu, ihn
fortzusetzen, das zu durchbrechen, was sich
entgegenstellt da, wo man in das reine Denken, in die reine
Logik, in die Idee, in ihr Ansichsein kommt — in die
übersinnliche Welt hinein. Hegelianer sein,
das kann nur das Privatvergnügen von einigen
vertrackten Köpfen sein, die am Beginne des 20.
Jahrhunderts ihre große Geistreichigkeit darin suchen, da
zu stehen, wo es einem erlaubt war zu stehen in den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Denn das, meine lieben
Freunde, müssen wir lernen, nicht nur abstrakt als
Mensch leben zu wollen, sondern in der Zeit zu leben, in der
Entwickelung der Zeit zu leben. Wir kommen gerade dadurch ins
Lebendige hinein, daß wir die Verabsolutisierung
verneinen, sonst wird man nicht mitarbeiten
können mit der menschlichen Entwickelung. Und darauf
kommt es an, daß man mit der menschlichen
Entwickelung mitarbeitet.
Sehen Sie, Raffael war groß. Die Sixtinische
Madonna ist eine sehr bedeutende malerische
Schöpfung. Sie richtig zu würdigen ist
eigentlich nur derjenige berechtigt, der, wenn heute ein Maler
die Sixtinische Madonna malen würde, sie
für ein schlechtes Bild hielte. Denn nicht darauf
kommt es an, daß man irgend etwas absolut nimmt, sondern
darauf kommt es an, daß man sich in den großen
Menschheitszusammenhang hineinzustellen versteht. Und das
ist die große Sünde, das ist das eigentliche
Unheil in unserer Zeit, wenn das mißachtet wird. Heute
liegt die Notwendigkeit vor, endlich einmal nicht bloß,
wie es in der Vorzeit erlaubt war, sich absolut hineinzustellen
in die Welt, sondern im Zeitalter der
Bewußtseinsentwickelung wird es eine Notwendigkeit,
sich bewußt in dem Zeitpunkt zu fühlen, auf den
man in einer bestimmten Inkarnation gesetzt ist. So paradox das
klingt, zur richtigen Schätzung der Raffaelischen
Sixtinischen Madonna wird nur der kommen, der, wenn heute ein
Maler diese Sixtinische Madonna malen würde, sie
für ein schlechtes Bild zu halten
vermöchte aus den heutigen Gesinnungen des Malens
heraus. Denn nichts hat einen absoluten Wert, sondern die Dinge
haben ihren Wert an der Stelle der Welt, an der sie stehen.
Bisher konnte man ohne eine solche Einsieht auskommen.
Von heute ab ist eine solche Einsicht notwendig.
Schließlich ist sie ja nicht einmal so ganz besonders
tief. Der den pythagoräischen Lehrsatz erfunden hat,
war zu seiner Zeit ein großer Mann. Wenn ihn heute einer
erfindet oder entdeckt, wäre es interessant,
nicht wahr; es wäre ja auch interessant, wenn heute
jemand die Sixtinische Madonna macht — aber es ist halt
nicht die Zeit dazu, es ist nicht das, was geschehen muß
an dem Punkte der Entwickelung, an dem wir stehen.
Sie
sehen, meine lieben Freunde, welche Reformation des Denkens
notwendig ist, welche Sozialisierung des Gedankens! Miterleben
mit der Menschheit, das ist es, worauf es heute ankommt. Das
wird heute den meisten Menschen eben durchaus als paradox
erscheinen. Wir sind aber heute schon einmal in die
Notwendigkeit versetzt, gründlichst
umzudenken, zu wirklich neuen Gedanken zu kommen. Mit den alten
Gedanken läßt sich nicht mehr weiterleben. Mit
den alten Gedanken kann es nur so sein, daß wenn die
Menschen sie fortspinnen, die Welt ihnen über dem
Kopf zusammenfallen muß. Daran hängt das Heil
der Menschheit, daß die Menschen sich lossagen
können von dem alten Denken und wirklich neues
Denken wollen. Geisteswissenschaft ist neues Denken. Sie
wird ja deshalb gerade so verpönt, weil sie im
Grunde allen alten Denkgewohnheiten widerspricht. Nur die
Menschen, die ein Empfinden haben von der Notwendigkeit, zu
neuem Denken zu kommen, die werden für die
Geisteswissenschaft im allgemeinen und auch für ihre
Offenbarung in bezug auf einzelne Gebiete des Seelenlebens, wie
zum Beispiel in bezug auf die soziale Frage eine volle
Empfindung haben können.
Und
ein anderes noch macht das Ungesunde der
gegenwärtigen Zeit aus: daß eigentlich im
Unterbewußtsein die Menschen schon daran sind, anders zu
denken, aber aus einem historischen Eigensinn heraus dieses im
Unterbewußtsein sitzende andere Denken
unterdrücken und dadurch die Strafe des
unterdrückten Denkens erleiden. Die
gegenwärtige geschichtliche Entwickelung ist ja
vielfach eine Strafe für die eigensinnige
menschliche Natur, die dasjenige, was in ihren
Untergründen liegt, unterdrückt und sich
künstlich an das hält, an was sie sich
seit Jahrhunderten gehalten hat. Man sollte geradezu nicht die
inkonsequenten, bequemen Denker, sondern die konsequenten
Denker aus der abgelaufenen, abgestorbenen Zeitperiode nehmen,
um an ihnen zu sehen, worin man sich geirrt hat.
Charakteristisch für die abgestorbene Periode
sind nicht die Denker, die jedes Konzessiönchen
gemacht haben, sondern diejenigen, welche auf dem Standpunkt
des Alten festgestanden haben. Als im
österreichischen Herrenhause vor vielen Jahren
einmal alle die Abstraktlinge und liberalen
Fortschrittsmänner von Fortschritt und Liberalismus
sprachen und all dem, wie man Religion umwandeln muß,
damit sie den Anforderungen der neueren Zeit entspricht,
nun kurz: was alle die braven, biederen Spießer, von
Gladstone angefangen bis herüber zu den
biederen parlamentarischen Spießern des Kontinents,
immerzu, immerzu gesagt haben — da erwiderte der
Kardinal Rauscher als ein ganz unmoderner, aber
gerade im Alten feststehender Geistlicher: Die
katholische Kirche kennt keinen Fortschritt, das was
einmal wahr war, wird durch alle Zeiten wahr sein. Alles, was
sich als Neuheit dagegen geltend machen will, hat keine
Berechtigung. — Das war ein unmoderner, aber in sich
vollendeter Geist der alten Zeit. Ebenso Pobedonoszew,
der einzige, der in genialer, geistvoller Weise die ganze
westliche Kultur der neueren Zeit verurteilt hat, weil
sie im Grunde genommen nach seiner Ansicht zu nichts
führen wird — sie konnte auch zu nichts
führen. Die alte Ordnung, an die sich die moderne
Bourgeoisie gewöhnt hatte, war nur
aufrechtzuerhalten, wenn man die Welt so gestaltet glauben
wollte, wie der Kardinal Rauscher und wie Pobedonoszew selbst
sie gestaltet haben wollten. Hatte man die Welt wirklich
nicht mit dem Wischiwaschi von Nikolaus II.
ausstaffiert, sondern mit den starren Grundsätzen
des Pobedonoszew, unser Krieg wäre
selbstverständlich nicht gekommen. Nur ist das eine
dagegen zu sagen: man hätte es mit den Ideen des
Pobedonoszew nicht gekonnt, weil die Wirklichkeit andere Wege
nahm als diese Ideen. Und worauf es nun ankommt, ist, der
Wirklichkeit zu folgen, nicht indem man Konzessionen
macht, nicht indem man sich so verhält, wie sich die
meisten Geister im Laufe der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts oder gar in den zwei Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts verhalten haben, sondern indem man sich wirklich
auch entschließt, etwas zu denken, was so verschieden ist
von dem früheren Denken, wie die Verheerungen des
Weltkrieges nach der anderen, der negativen Seite verschieden
sind von dem, was bisher sich zugetragen hat. Von dem
furchtbaren Unglück der Menschheit, von dem
man immer wieder und wieder sagt, so etwas habe es noch nicht
gegeben im Verlauf der Geschichte, sollte man jetzt wenigstens
das lernen, daß man auch Gedanken fassen müsse,
von denen man sagen kann: so etwas hat es ja noch gar nicht
gegeben im Lauf der bisherigen Geschichte.
Sie
sehen, einen großen Entschluß zu fassen, obliegt
einmal der Menschheit. Und was unbewußt aus Instinkten
heraus diesen Entschluß zur Reife bringen will, ist
im Grunde genommen das, was sich als Sozialismus geltend macht.
Nicht früher wird die Welt aus dem Chaos
herauskommen, bis eine genügend große Anzahl
der Menschen zu dem materiellen Sozialismus den ideellen
Spiritualismus hinzufügen wird. So
hängen die Dinge heute einmal zusammen. Solange aber
die Menschen noch nicht einmal so weit sind, daß sie das
allernächste Wirkliche sehen, wenn es ihnen
unmittelbar vor der Nase steht, so lange kann kein Heil
ersprießen im geschichtlich-sozialen Werden der
Menschheit. Dies sollte gewissermaßen die innere
Seelenpraxis werden, die uns aus den Impulsen der
Geisteswissenschaft heraus entsteht, meine lieben
Freunde. Immer wieder und wiederum möchte ich
versuchen, Sie auf diese innere Seelenpraxis hinzuweisen. Je
stärker Sie empfinden, daß so etwas notwendig
ist für unsere Zeit, wie ich es wiederum versuchte,
in diesen heutigen Betrachtungen hinzustellen, desto richtiger
werden Sie sich in derjenigen Geistesströmung
bewegen, die belebt sein will von anthroposophisch
orientierter Geisteswissenschaft.
Davon wollen wir dann am nächsten Freitag weiter reden.
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