FÜNFTER VORTRAG
Dornach, 16. August 1919
In
die Betrachtungen, die wir jetzt pflegen, gehört ein immer
weiteres Eingehen auf die Zeitgeschichte in dem Sinne, wie sich
die Weltenkräfte einfügen in die
Entwickelungsströmung der Gegenwart und wie sie gestalten
die Grundlagen unseres menschlichen Lebens. Sie haben ja aus
den gestrigen Auseinandersetzungen gesehen, wie es immer
notwendiger und notwendiger wird, die starren, abstrakten
Begriffe, die der gegenwärtige Mensch gewohnt ist, zu
verwandeln in flüssige, bewegliche, lebendige Begriffe,
wenn wir im Leben weiterkommen wollen als Menschheit. Ein
besonderes Licht wirft auf alle die in dieser Beziehung in
Betracht kommenden Tatsachen die Betrachtung desjenigen, was
wir unter den menschlichen Seelenkräften die Intelligenz
nennen. Sie wissen ja, der Mensch der Gegenwart ist auf seine
Intelligenz ganz besonders stolz. Er betrachtet die Intelligenz
gewissermaßen als dasjenige, das er sich im Laufe der Zeit
als ein besonders Auszeichnendes errungen hat.
Wenn der Mensch der Gegenwart zurücksieht auf frühere
Zeitepochen, sieht, wie die Menschen in früheren
Zeitepochen manches sich bildlich vorgestellt haben, wie sie
dasjenige, was der Mensch der Gegenwart glaubt jetzt richtig zu
erkennen durch seine Intelligenz, durch seine Wissenschaft, wie
die Menschen früherer Entwickelungsepochen das durch
Mythen, Legenden und dergleichen zu durchdringen versuchten,
dann nennt der Mensch der Gegenwart diese frühere Geistes-
und Seelenverfassung wohl kindlich. Er blickt dann zurück
auf kindliche Stufen der Entwickelung und tut sich so recht
etwas darauf zugute, wie er es weit gebracht hat, besonders in
der Ausbildung der Intelligenz. Die heutige Auseinandersetzung
möge einmal gerade der Eigentümlichkeit der
menschlichen Intelligenz gewidmet sein, möge ins Auge
fassen diese Seelenkraft, auf die der Mensch der Gegenwart ganz
besonders stolz ist, Wenn man gegenwärtig von Intelligenz
spricht, dann hat man eben eine Seelenkraft im Auge, die man
sich in einer bestimmten Weise vorstellt, und von der man nur
denkt, daß sie so sein könne und sein müsse, wie
man gewohnt worden ist, sie sich vorzustellen,
Nun, es haben Intelligenz, wenn auch Intelligenz von anderer
Form, auch gehabt die Menschen früherer
Entwickelungsepochen, und will man die Bedeutung der
sogenannten Intelligenz für den Menschen der Gegenwart
voll kennenlernen, dann muß man schon die Frage aufwerfen:
Wie sah die Intelligenz der Menschen früherer
Entwickelungsepochen aus und wie hat sich diese Intelligenz der
Menschheit von früheren Zeiten bis in unsere Zeiten herein
allmählich verändert?
Wir
wollen heute nicht weiter zurückgehen als bis zu
derjenigen Zeit, die wir gewohnt worden sind, die dritte
nachatlantische Zeitperiode zu nennen, die
ägyptisch-chaldäische Zeit, auf die dann gefolgt ist
die griechisch-lateinische Zeit, und auf die wiederum gefolgt
ist unsere Zeit. Wir wollen betrachten die besondere
Eigentümlichkeit der Intelligenz bei den alten
Ägyptern, Chaldäern, bei den Griechen und Römern
und dann übergehen zu der Betrachtung der besonderen Art
von Intelligenz, welche uns Menschen des fünften
nachatlantischen Zeitraumes eigen ist, Sie sehen daraus,
daß ich voraussetze, daß das nicht richtig ist
— und es ist auch nicht richtig —, wenn man denkt,
Intelligenz ist einmal Intelligenz, ist nur auf eine Art
möglich; wer unsere Intelligenz hat, ist eben intelligent,
wer unsere Intelligenz nicht hat, ist eben unintelligent, Das
ist nicht richtig. Die Intelligenz geht Metamorphosen durch,
die Intelligenz verwandelt sich. Sie war anders in der
ägyptisch-chaldäischen Zeit, als sie bei uns ist. Die
andersartige Intelligenz der ägyptisch-chaldäischen
Zeit macht man sich am besten anschaulich, wenn man sich sagt,
daß instinktiv durch seine Intelligenz der alte
Ägypter, auch der alte Chaldäer die Verwandtschaft
fühlte, die Verwandtschaft auffaßte, begriff, seiner
eigenen menschlichen Wesenheit mit dem ganzen Kosmos.
Über dasjenige, worüber der heutige Mensch nachdenkt
durch seine Intelligenz, dachten ja die
ägyptisch-chaldäischen Menschen wenig oder gar nicht
nach. Denn diese Art von Intelligenz hatten sie nicht. Wenn sie
dachten, wenn sie ihre Intelligenz in Fluß brachten, dann
lebte in dieser Intelligenz ihr Zusammenhang mit dem Kosmos,
Der alte Ägypter, der alte Chaldäer wußte, wie
er mit dem oder jenem Tierkreisbilde in Beziehung stand, er
wußte, welchen Einfluß auf seine seelische, leibliche
Beschaffenheit Mond, Sonne, die anderen Planeten haben. Er
wußte, wie auf die menschliche Wesenheit wirkt die
Aufeinanderfolge der Jahreszeiten. Das alles faßte er auf
durch seine Intelligenz. Ein völlig inneres Bild bekam er
von seiner Verwandtschaft mit dem Kosmos durch seine
Intelligenz.
Diese Intelligenz verwandelte sich, als die
ägyptisch-chaldäische Periode der Menschheit
abgelaufen war im 8. Jahrhundert vor der Begründung des
Christentums. Nach und nach wurde da die Intelligenz etwas
völlig anderes, als sie in der
ägyptisch-chaldäischen Zeit war. In die Intelligenz
kam nicht mehr herein vollständig, so wie es vor dem 8.
vorchristlichen Jahrhundert der Fall war, das Begreifen des
Zusammenhanges mit dem Kosmos, Man wußte noch von diesem
Zusammenhang mit dem Kosmos, aber man wußte mehr wie in
einer Art von Nachklang, wie in einer Art von Erinnerung an
dasjenige, was man früher in dieser Beziehung gewußt
hat; dafür aber kam herein in die griechische Intelligenz
mehr ein Nachdenken des Menschen über sich selbst, wie er
ist weniger in Beziehung auf den Kosmos, wie er ist mehr
abgesehen vom Kosmos, als Erdenbewohner. Der Grieche hatte aber
ein deutliches Gefühl davon, ein deutliches Empfinden
davon, indem er gerade seine Intelligenz anwandte; er begriff
alles dasjenige von der irdischen Welt durch diese Intelligenz,
was dem Tode unterliegt.
Dieses Gefühl ist wiederum verlorengegangen mit der
Entwickelung der Intelligenz seit der Mitte des 15.
Jahrhunderts, seit dem fünften nachatlantischen Zeitraum.
Der Grieche wußte, wenn er Übersinnliches verstehen
wollte, da mußte er sich wenden an das Schauen, das mehr
oder weniger atavistisch insbesondere in der vorchristlichen
Zeit noch vorhanden war. Durch das Nachdenken, durch die
Intelligenz wußte er, lernte er nur kennen diejenigen
Gesetzmäßigkeiten, diejenigen Regeln, welche zugrunde
liegen all dem, was auf der Erde dem Tode unterliegt, was
stirbt. Will ich das Lebendige verstehen, muß ich schauen
— so sagten sich die Plato-Schüler; indem ich nur
nachdenke, begreife ich bloß das Tote.
Und
in den griechischen Geheimschulen wurde über diesen
Zusammenhang etwas ganz Bestimmtes auseinandergesetzt. Es wurde
ungefähr das Folgende in den griechischen Geheimschulen
über diesen Tatbestand auseinandergesetzt. Es wurde den
Geheimschülern gesagt: Alles ist geistig, auch das
scheinbar Materielle hat geistige Vorgänge, geistige
Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegend. Dasjenige, was
euch erscheint als Irdisch-Materielles, ist im Grunde genommen
auch von geistigen Gesetzen beherrscht. Aber es gibt geistige
Gesetze, denen gehört ihr insoweit an, als ihr leiblich
seid. Insoferne als ihr leiblich seid und durch die Pforte des
Todes tretet, wird euer Leib den materiellen Mächten und
materiellen Kräften und Stoffen der Erde überliefert.
Aber diese materiellen Kräfte und Stoffe der Erde sind nur
scheinbar materiell, Auch sie sind geistig, aber sie sind von
demjenigen Geistigen durchdrungen, das euch als der Tod
erscheint. Begreift ihr durch eure Intelligenz irgendwelche
Gesetze, so sind es die Gesetze des Toten, Es sind die Gesetze
desjenigen, welches die Gräber enthalten, welche die
Leichname aufnehmen. — Das wurde Überzeugung vieler
griechischer Geheimschüler, daß die Intelligenz der
Menschen nur begreifen kann dasjenige, was die Gräber
aufnehmen, welche die Leichname in sich einschließen.
Wollt ihr wissen — so sagte der Geheimlehrer zu den
Geheimschülern —, in welchem Geistigen ihr lebt,
wenn ihr hier auf der Erde lebt, oder wenn ihr mit eurer Seele
leibfrei seid zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, dann
müßt ihr das Geschaute als eure Überzeugung
aufnehmen, Nehmt ihr nicht das Geschaute als eure
Überzeugung auf, entwickelt ihr durch eure Intelligenz
Begriffe und Ideen, so begreift ihr nur dasjenige, was Geist
ist der Materie, die eure Leiber aufnimmt.
Während der ägyptisch-chaldäische Mensch in
seiner Intelligenz empfand und wahrnahm seine Verwandtschaft
mit dem ganzen Kosmos, nahm der griechische Mensch wahr durch
seine Intelligenz dasjenige, was Grabstätten beherrscht.
Auch wir nehmen durch unsere Intelligenz nur dasjenige wahr,
was Grabstätten beherrscht, nur sind wir uns dessen nicht
bewußt. Wir gehen deshalb — diejenigen, die das
lernen sollen — in die Seziersäle, untersuchen den
Leichnam und halten die Gesetzmäßigkeit des
Leichnams, die wir durch unsere Intelligenz begreifen, für
die Gesetzmäßigkeit des Menschen, Es ist aber nur die
Gesetzmäßigkeit des Grabes; und dasjenige, was die
Intelligenz begreift; ist die Gesetzmäßigkeit des
Grabes.
Aber wiederum mit dem Übergange durch die Mitte des 15.
Jahrhunderts verändert sich neuerdings die Intelligenz,
und wir stehen im Anfange dieser Veränderung, dieser
Umwandlung der Intelligenz. Unsere Intelligenz geht einen
gewissen Weg; heute sind wir noch sehr stark in einer solchen
Entwickelung der Intelligenz darinnen, wie sie die Griechen
hatten. Wir begreifen durch unsere Intelligenz dasjenige, was
dem Tode unterliegt. Aber auch diese Art von Intelligenz, die
das Tote begreift, verwandelt sich. Und in den nächsten
Jahrhunderten und Jahrtausenden wird diese Intelligenz etwas
anderes, etwas weit anderes werden. Sie hat heute schon eine
gewisse Anlage, unsere Intelligenz. Wir werden als Menschheit
einlaufen in eine Entwickelung der Intelligenz so, daß die
Intelligenz wird die Neigung haben, nur das Falsche, den
Irrtum, die Täuschung zu begreifen und auszudenken nur das
Böse.
Das
wußten ja die Geheimschüler und wußten
namentlich die Eingeweihten seit einer gewissen Zeit, daß
die menschliche Intelligenz entgegengeht ihrer Entwickelung
nach dem Bösen hin, daß es immer mehr und mehr
unmöglich wird, durch die bloße Intelligenz das Gute
zu erkennen. Die Menschheit ist heute in diesem Übergange.
Wir können sagen: Gerade noch gelingt es den Menschen,
wenn sie ihre Intelligenz anstrengen und nicht in sich ganz
besonders wilde Instinkte tragen, nach dem Lichte des Guten
etwas hinzuschauen. Aber diese menschliche Intelligenz wird
immer mehr und mehr die Neigung bekommen, das Böse
auszudenken und das Böse dem Menschen einzufügen im
Moralischen, das Böse in der Erkenntnis, den Irrtum.
Das
war mit einer der Gründe, warum die Eingeweihten sich die
Männer der Sorge nannten, weil in der Tat, wenn man in
dieser Einseitigkeit, wie ich es jetzt auseinandergesetzt habe,
die Entwickelung der Menschheit betrachtet, so macht sie Sorge;
Sorge gerade wegen der Entwickelung der Intelligenz. Es ist
schließlich gar nicht umsonst, daß die Intelligenz
dem gegenwärtigen Menschen so viel Stolz und Hochmut
einflößen kann. Das ist, möchte ich sagen, der
Vorgeschmack für das Böse -Werden der Intelligenz im
fünften nachatlantischen Zeitraum, an dessen Anfang wir
stehen. Und würde der Mensch nichts anderes ausbilden als
seine Intelligenz, dann würde er auf der Erde ein
böses Wesen werden. Wir dürfen nicht rechnen, wenn
wir mit der Zukunft der Menschheit rechnen und diese Zukunft
uns als heilsam denken wollen, wir dürfen nicht rechnen
auf die einseitige Ausbildung der Intelligenz. Diese
Intelligenz war noch in der ägyptisch-chaldäischen
Zeit etwas Gutes, diese Intelligenz ist dann dasjenige
geworden, was seine Verwandtschaft eingegangen hat mit den
Kräften des Todes. Diese Intelligenz wird eine
Verwandtschaft eingehen mit den Kräften des Irrtums, der
Täuschung und des Bösen.
Das
ist etwas, worüber sich die Menschheit eigentlich keiner
Illusion hingeben sollte. Die Menschheit sollte unbefangen
damit rechnen, daß sie sich zu schützen hat gegen die
einseitige Entwickelung der Intelligenz. Und nicht umsonst wird
gerade durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft
ein anderes hinzukommen, hinzukommen die Aufnahme desjenigen,
was durch ein erneuertes Schauen aus der geistigen Welt heraus
gewonnen werden kann, was nicht durch Intelligenz begriffen
werden kann, sondern nur begriffen werden kann, wenn man
eingeht auf dasjenige, was die Wissenschaft der Einweihung holt
aus den geistigen Welten heraus durch Schauung.
Aber ein Objektives ist dazu notwendig, Und hier tritt man vor
ein tiefes Geheimnis gerade der christlich-esoterischen
Entwickelung, Wäre das Mysterium von Golgatha nicht im
Laufe der Erdenentwickelung geschehen, dann wäre es
unvermeidlich, daß die Menschen nach und nach durch ihre
Intelligenz böse und in den Irrtum verfallende Wesen
werden müßten. Sie wissen ja, mit dem Mysterium von
Golgatha ist nicht nur eine Lehre, eine Theorie, eine
Weltanschauung, eine Religion in die Entwickelung der
Menschheit eingeflossen, sondern mit dem Mysterium von Golgatha
ist etwas Tatsächliches geschehen. In dem Menschen Jesus
von Nazareth hat gewohnt das außerirdische Wesen, der
Christus. Dadurch, daß der Christus in dem Jesus von
Nazareth gewohnt hat, der Jesus von Nazareth gestorben ist, ist
das Christus -Wesen übergegangen in die irdische
Entwickelung, da ist das Christus-Wesen darinnen. Wir
müssen uns nur bewußt sein, daß das eine
objektive Tatsache ist, daß das eine Tatsache ist, die mit
dem, was wir subjektiv erkennen, was wir subjektiv empfinden,
als solches nichts zu tun hat. Wir müssen es erkennen um
unseres Erkennens willen. Wir müssen es aufnehmen in unser
Ethos, um dieses unseres Ethos willen. Aber der Christus ist
ausgeflossen in die Menschheitsentwickelung, da ist er seitdem
darinnen was man die Auferstehung nennt — und er ist vor
allen Dingen in unseren eigenen Seelenkräften. Fassen Sie
nur einmal diese Tatsache in ihrer ganzen Tiefe auf!
Blicken Sie hin auf den Unterschied des Menschen, der gelebt
hat vor dem Mysterium von Golgatha, und des Menschen, der lebt
nach dem Mysterium von Golgatha. Gewiß, es sind immer
dieselben Menschen, denn die Seelen gehen ja durch die
wiederholten Erdenleben. Aber indem wir den Menschen als
Erdenmenschen betrachten, müssen wir diesen Unterschied
machen zwischen dem Menschen, der vor dem Mysterium von
Golgatha gelebt hat, und dem Menschen, der nach dem Mysterium
von Golgatha lebt,
Sehen Sie, wenn man zu einem allgemeinen Gottes-Begriffe kommt,
so ist dieser allgemeine Gottes-Begriff nicht der
Christus-Begriff, Den allgemeinen Gottes-Begriff kann man
bekommen, wenn man die Natur in ihren Erscheinungen verfolgt,
wenn man das menschliche physische Wesen, so weit es
äußerlich zu betrachten ist, verfolgt. Die
Christus-Wesenheit ist so, daß man ihr nur nahekommt, wenn
man im Lauf des irdischen Lebens etwas in sich selber entdeckt.
Den allgemeinen Gottes-Begriff kann man finden, indem man
einfach sich sagt, man ist aus den Kräften der Welt zum
Dasein gekommen, Den Christus-Begriff muß man finden in
sich, indem man weiter kommt, als die Natur einen kommen
läßt. Findet man, wenn man in der Welt lebt, nicht
den Gottes-Begriff, dann ist dieses Nichtfinden des
Gottes-Begriffes eine Art von Krankheit. Ein gesunder Mensch
ist niemals wirklich atheistisch. Man muß in irgendeiner
Weise leiblich oder seelisch krank sein, Diese Krankheit
äußert sich oftmals eben durch nichts anderes, als
daß man Atheist ist.
Christus nicht zu erkennen, ist nicht eine Krankheit, sondern
ein Unglück, ist ein Versäumnis des Lebens. Dadurch,
daß man sich besinnt auf das Geborenwerden aus der Natur
und ihren Kräften heraus, kann man, wenn man mit gesunder
Seele dieses Geborenwerden verfolgt, zum Gottes-Begriff kommen.
Dadurch, daß man im Laufe des Lebens etwas erlebt wie eine
Wiedergeburt, kann man zum Christus-Begriff kommen. Die Geburt
führt zu Gott, die Wiedergeburt zu Christus. Zu dieser
Wiedergeburt, durch welche der Christus als Wesenheit im
Menschen gefunden werden kann, konnte der Mensch vor dem
Mysterium von Golgatha nicht kommen. Und das ist der
Unterschied, auf den ich Sie bitte Ihr Augenmerk zu richten:
daß der Mensch vor dem Mysterium von Golgatha, weil der
Christus noch nicht ausgeflossen war mit seiner Wesenheit in
die Menschheit, nicht zu dieser Wiedergeburt kommen konnte,
nicht erkennen konnte, daß in ihm der Christus lebt. Nach
dem Mysterium von Golgatha kann das der Mensch. Er kann den
Funken des Christus in sich selber finden, wenn er sich
anstrengt durch sein Leben.
Und
in dieser Wiedergeburt, in diesem Finden des Christus-Funkens
in sich, in diesem aufrichtigen und ehrlichen
Sich-sagen-Können: «Nicht ich, sondern der Christus
in mir», liegt die Möglichkeit, den Intellekt nicht
in Täuschung und in das Böse verfallen zu lassen. Und
das ist im esoterisch-christlichen Sinne der höhere
Begriff der Erlösung. Wir müssen unsere Intelligenz
ausbilden, denn wir können ja nicht unintelligent werden;
aber wir stehen, indem wir anstreben unsere Intelligenz
auszubilden, vor der Versuchung, dem Irrtum und dem Bösen
zu verfallen. Wir können der Versuchung, dem Irrtum und
dem Bösen zu verfallen, nur entgehen, wenn wir uns
aneignen die Empfindung von dem, was das Mysterium von Golgatha
in die Menschheitsentwickelung hineingebracht hat.
Es
ist schon so, daß der Mensch in dem
Christus-Bewußtsein, in dem Vereinigtsein mit dem Christus
findet die Möglichkeit, dem Bösen, dem Irrtum zu
entrinnen. Der ägyptisch-chaldäische Mensch brauchte
die Wiedergeburt in Christo nicht, weil er noch die
Verwandtschaft mit dem Kosmos durch seine naturgemäße
Intelligenz fühlte. Der Grieche hatte im Grunde genommen
den Ernst des Todes vor sich, wenn er seiner Intelligenz sich
hingab. Jetzt lebt die Menschheit im Beginne eines Zeitalters,
wo die Intelligenz böse werden würde, wenn die
menschliche Seelenwesenheit sich nicht mit der Christus-Kraft
durchdringen würde. Denken Sie einmal, das ist eine sehr
ernste Sache. Das bezeugt, wie man nehmen muß gewisse
Dinge, die sich in unserer Zeit ankündigen, wie man daran
denken muß, daß in unserer Zeit die Menschen die
Anlage bekommen zum Bösen, gerade weil sie einer
höheren Ausbildung ihrer Intelligenz entgegengehen. Es
wäre natürlich eine völlig falsche Spekulation,
zu glauben, daß man etwa die Intelligenz unterdrücken
soll. Die Intelligenz darf nicht unterdrückt werden, aber
es gehört für den Einsichtigen in der Zukunft ein
gewisser Mut dazu, der Intelligenz sich hinzugeben, weil die
Intelligenz die Versuchung bringt zum Bösen und zum Irrtum
und weil wir in der Durchdringung der Intelligenz mit dem
Christus-Prinzip finden müssen die Möglichkeit, diese
Intelligenz umzuwandeln. Ganz und gar ahrimanisch würde
die Intelligenz der Menschen, wenn das Christus-Prinzip die
Seelen der Menschen nicht durchdränge.
Sie
wissen ja, wie vieles da ist, in der Entwickelung der
Menschheit ersichtlich ist, besonders in der Gegenwart, von
dem, was für den Einsichtsvollen schon zeigt, daß die
Dinge sich so ankündigen, wie ich sie eben charakterisiert
habe. Man denke nur, was das dritte von den
Entwickelungsgliedern, die durch den Materialismus der
Menschheit drohen, über die Menschen heute schon bringt.
Sehen Sie, wenn Sie bedenken, mit wie viel Grausamkeiten die
heutige Kulturentwickelung durchsetzt ist, die sich kaum
vergleichen lassen mit den Grausamkeiten barbarischer
Zeitalter, dann werden Sie kaum zweifeln können, daß
sich die Morgenröte für den Abstieg der Intelligenz
deutlich ankündigt. Man sollte nicht in
oberflächlicher Weise die sogenannten Kulturerscheinungen
unseres Zeitalters betrachten, man sollte wahrhaftig nicht
daran zweifeln, daß die Menschen der Gegenwart sich
aufraffen müssen zu einem wirklichen Erfassen des
Christus-Impulses, wenn sie einer heilsamen Entwickelung
entgegengehen wollen. Es ist zweierlei heute schon stark zu
bemerken: Menschen, die sehr intelligent sind und die einen
deutlichen Hang zum Bösen haben; und es ist auf der
anderen Seite zu bemerken, wie viele Menschen unbewußt
diesen Hang zum Bösen dadurch unterdrücken, nicht
bekämpfen, daß sie ihre Intelligenz schlafen lassen.
Schläfrigkeit der Seele oder aber bei wachen Seelen ein
starker Hang zum Bösen und zum Irrtum, das ist in der
Gegenwart durchaus zu bemerken.
Und
nun erinnern Sie sich einmal, wie ich vor meiner letzten
Abreise an einem Abend hier auseinandersetzte, wie anders die
Kinder seit fünf bis sechs bis sieben, acht Jahren geboren
werden heute, mit einem, man möchte sagen, melancholischen
Anflug über den Gesichtern, der deutlich zu bemerken ist
für denjenigen, der so etwas bemerken kann. Und ich habe
gesagt: Das rührt davon her, daß die Seelen heute
nicht gern heruntergehen in die von Materialismus erfüllte
Welt. Man könnte sagen: Die Seelen haben vor ihrer Geburt
eine gewisse Furcht und Angst in die Welt einzutreten, in der
die Intelligenz den Hang, die Neigung zum Bösen hat und in
absteigender Entwickelung begriffen ist.
Das
ist auch etwas, wovon ein Bewußtsein entwickelt werden
muß bei denjenigen Menschen, die für die
Menschenzukunft Erzieher und Unterrichter werden. Die Kinder
sind heute anders, als sie waren vor Jahrzehnten. Das ergibt
sich schon einer oberflächlichen Betrachtung sehr
deutlich. Man muß sie anders erziehen und anders
unterrichten, als man sie vor Jahrzehnten unterrichtet hat. Man
muß mit dem Bewußtsein unterrichten, daß man
eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat,
daß man jedes Kind dahin bringen muß, im Lauf des
Lebens den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wiedergeburt
in sich zu finden.
Solche Dinge, sie lebt man da, wo man sie zum Beispiel
nötig hat als Lehrer, als Erzieher, nicht aus, wenn man
sie einfach nur theoretisch kennt; sie lebt man nur aus, man
führt sie nur ein in die Erziehung, in das Unterrichten,
wenn man in der Seele stark erfaßt ist von diesen Dingen.
Von der Lehrerschaft insbesondere muß es gefordert werden,
daß sie in ihrer Seele stark erfaßt wird von diesem
Sorgenvollen für die Menschheit, welche Versuchung der
Intellekt mit sich bringt! Der Stolz, den die gegenwärtige
Menschheit auf den Intellekt entwickelt, dieser Stolz, er
könnte sich schwer rächen an der Menschheit, wenn er
nicht durch dasjenige abgelähmt würde, was ich eben
auseinandergesetzt habe, wenn er nicht abgelähmt
würde durch ein starkes, energisches Bewußtsein: das
Beste in mir als Mensch dieser und der folgenden Inkarnationen
ist, was ich in mir als den Christus-Impuls finde,
Nun
muß man sich klar sein darüber, daß dieser
Christus-Impuls nicht sein darf die Dogmatik irgendeiner
Religionsgemeinschaft, Die Religionsgemeinschaften haben seit
der Mitte des 15. Jahrhunderts in ihrer Entwickelung mehr
beigetragen, den Christus-Impuls von der Menschheit zu
entfernen, als ihn der Menschheit nahe zu bringen. Die
Religionsgemeinschaften machen den Menschen allerlei vor; aber
indem sie ihnen dies oder jenes vormachen, bringen sie sie dem
Christus-Impuls nicht nahe. Notwendig ist, daß der Mensch
fühlt, daß alles dasjenige, was sich ihm
eröffnen und offenbaren kann in seinem Innern nach dem
Mysterium von Golgatha hin, zusammenhängt mit dem, was
für die Erde durch das Mysterium von Golgatha geworden
ist. Empfindet man den Sinn der Erde in dem Mysterium von
Golgatha, kann man sich aufraffen dazu, sich zu sagen: Die
Entwickelung der Erde wäre sinnlos, wenn die Menschen
durch ihre Intelligenz dem Bösen, dem Irrtum verfallen
würden. Empfindet man so den Sinn des Mysteriums von
Golgatha, dann empfindet man als sinnlos die Erdenentwickelung
ohne das Mysterium von Golgatha.
Damit muß man sich stark, sehr stark durchdringen, wenn
man heute und in der Zukunft etwas tun will, um den Menschen zu
erziehen, den Menschen zu unterrichten, Diese großen
Gesichtspunkte müssen eingenommen werden. Aber Sie wissen
auch, wie weit die Menschen der Gegenwart entfernt sind davon,
diese großen Gesichtspunkte einzunehmen; daher ist nichts
notwendiger, als immer wieder und wiederum nicht nur zu
verweisen auf die Wichtigkeit geisteswissenschaftlicher Lehre,
sondern zu verweisen auf den Ernst, der sich unserer Seele
bemächtigen soll dadurch, daß wir die entsprechenden
Tatsachen in der Entwickelung der Menschheit durch die
Geisteswissenschaft kennenlernen, Denn nicht allein unser
Wissen, unser ganzes Leben soll einen Impuls bekommen durch
dasjenige, was Geisteswissenschaft ist; ohne daß man
diesen Ernst fühlt, ist man nicht wirklicher
Geisteswissenschafter.
Und
ich bitte Sie, auf diese besondere Offenbarung aus
geisteswissenschaftlichen Unterlagen heraus gründlich zu
achten: daß die menschliche Intelligenz, sich selbst
überlassen, der Bahn des Ahrimanischen entgegenwandelt,
daß sie stark für das Gute nur werden kann durch die
Aufnahme des wahren Christus-Impulses. Ich glaube, daß wer
den vollen Ernst dieser Wahrheit in sich aufnimmt, auch diesen
Ernst hineintragen wird in das Verhältnis, das er in sich
ausbildet zu den verschiedenen Weltanschauungen und
Weltanschauungsströmungen der Gegenwart. Denn da ist viel,
sehr viel zu tun.
Nicht wahr: Leute, die jetzt von verschiedenen Gegenden des
Ostens von Europa kommen, erzählen zu ihrem besonderen
Entsetzen von einer Tatsache, die nicht gerade für das
Fortgeschrittensein auf dem Wege nach einer besonderen
Zivilisation zeugt. Das, was ich meine, ist das Vorhandensein,
das Erstehen der sogenannten «Flintenweiber». Es ist
das eine besondere Klasse von Menschen, die sich im Osten von
Europa ausbilden, Frauen der europäischen Bevölkerung
des Ostens, die verwendet werden in den gegenwärtigen
revolutionären Bewegungen, wo ja immer derjenige, der
nicht gerade der regierenden Partei angehört, in den
Kerker oder ins Gefängnis überliefert. wird oder
getötet wird nach einiger Zeit — wo der eben immer
in Lebensgefahr ist. Ausersehen in gewissen Gegenden des Ostens
sind dazu besonders jüngere Frauen, die ausgerüstet
werden mit den vom Kriege übriggebliebenen Flinten und die
das Amt haben, die Leute zu erschießen, die gerade die
Gegner der nach oben gekommenen Regierung sind. Diese
Flintenweiber sind angetan mit den gestohlenen Gewändern,
in Putz und Tand, und haben ihre Freude daran, die Flinte zu
tragen und die Leute zu erschießen und finden es mit der
gegenwärtigen Menschlichkeit vereinbar, damit zu
renommieren, wie sie sich aneignen, allmählich aneignen
eine feine Empfindung dafür, wie das Blut von jungen
Menschen spritzt, wie das Blut von älteren Menschen
aussieht. Nicht wahr, wir sind schon angekommen bei ganz
besonderen Gestaltungen unserer gegenwärtigen
Zivilisation! Und das Institut der Flintenweiber ist ja
immerhin eine Errungenschaft der Gegenwart.
Man
muß auf solche Erscheinungen hinweisen. Sie sind da, um
gewissermaßen die Reverse, die andere Seite des Ernstes
unserer Zeit ins Auge zu fassen. Gewiß, man braucht nicht
diese abscheulichen Auswüchse unserer sogenannten
fortgeschrittenen Kultur zu kennen, um diesen Ernst, dem man
sich hingeben soll in der Gegenwart, wirklich zu empfinden. Aus
der Erkenntnis der Entwickelung der Menschheit selber soll uns
dieser Ernst aufgehen. Man möchte wünschen, daß
der Schlaf, der allmählich ergriffen hat die Menschheit
der Gegenwart, in eine Erweckung hineingeht, Diese
würdigste Erweckung, die kann nur sein das Ergriffenwerden
von dem Ernst der Aufgabe, die obliegt den Menschen der
Gegenwart, und der Hinweis auf die Gefahren des einseitig sich
selbst überlassenen, ins Ahrimanische hineinsteuernden
Intellektes. Das soll der Impuls sein, der uns durchtränkt
mit diesem Ernste.
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