ZWEITER VORTRAG
Ilkley, 6. August 1923
Daß Erziehung und Unterricht in der gegenwärtigen
Zeit alle Seelen und alle Geister auf das intensivste
beschäftigen, kann ja nicht bezweifelt werden. Wir
sehen es überall. Wenn nun von mir hier eine aus dem
unmittelbaren geistigen Leben und Anschauen herausgeholte
Erziehungs- und Unterrichtskunst geltend gemacht wird, so
unterscheidet sich diese von der allgemeinen Forderung
nicht so sehr äußerlich durch das Intensive des
Geltendmachens, sondern mehr innerlich.
Man
fühlt heute allgemein, wie die
Zivilisationsverhältnisse in einem raschen
Übergange begriffen sind, wie wir nötig haben,
für die Einrichtungen des sozialen Lebens an manches Neue,
an manches Aufsteigende zu denken. Man fühlt ja
sogar heute schon, was man vor kurzem noch wenig gefühlt
hat, daß das Kind eigentlich ein anderes Wesen geworden
ist, als es vor kurzem war. Man fühlt, daß das Alter
mit der Jugend heute viel schwerer zu Rande kommt, als das in
früheren Zeiten der Fall war.
Diejenige Erziehungs- und Unterrichtskunst, von der ich hier
vor Ihnen zu sprechen haben werde, rechnet aber mehr mit dem
inneren Gang der menschlichen Zivilisation, mit demjenigen, was
im Laufe der Zeiten die Seelen der Menschen verändert hat,
mit dem, was die Seelen der Menschen im Laufe von
Jahrhunderten, ja ich kann sagen von Jahrtausenden, für
eine Entwicklung durchgemacht haben. Und es wird gesucht zu
ergründen, wie man gerade in der gegenwärtigen Zeit
an den Menschen im Kinde herankommen kann. Man gibt ja im
Allgemeinen zu, daß in der Natur die aufeinanderfolgenden
Zeiten Differenzierungen aufweisen. Man braucht sich nur zu
erinnern, wie der Mensch im alltäglichen Leben mit diesen
Differenzierungen rechnet. Nehmen Sie das
allernächstliegende Beispiel, den Tag. Wir rechnen
in anderer Weise mit den Vorgängen der Natur am Morgen, am
Mittag, am Abend. Und wir würden uns absurd vorkommen,
wenn wir dieser Entwickelung des Tages nicht Rechnung
trügen. Wir würden uns auch absurd vorkommen,
wenn wir einer anderen Entwickelung im Menschenleben nicht
Gerechtigkeit widerfahren ließen, wenn wir zum Beispiel
nicht berücksichtigen würden, daß wir ein
anderes an den alten Menschen heranbringen müssen als an
das Kind. Wir respektieren in dieser Naturentwickelung
die Tatsachen. Aber noch nicht hat sich die Menschheit
gewöhnt, die Tatsachen auch in der allgemeinen
Menschheitsentwickelung zu respektieren.
Wir
rechnen nicht damit, daß vor Jahrtausenden eine andere
Menschheit da war als im Mittelalter und als es in der
Gegenwart der Fall ist. Man muß lernen, sich die inneren
Kräfte der Menschen zur Erkenntnis zu bringen, wenn
man praktisch und nicht theoretisch heute die Kinder behandeln
will. Man muß aus dem Inneren ergründen, welche
Kräfte gerade heute im Menschen walten.
Und
so sind die Prinzipien der Waldorfschul-Pädagogik nichts
irgendwie Revolutionäres. Man erkennt bei der
Waldorfschul-Pädagogik durchaus an das Große, das
Anerkennenswerte und Sympathische, das von den
Pädagogen aller Länder im 19. Jahrhundert ja in so
glänzender Weise geleistet worden ist. Man will nicht
alles umstoßen und sich dem Glauben hingeben,
daß man nur ein radikal Neues begründen könne.
Man will nur die innerlichen Kräfte, die
gegenwärtig in der Menschennatur walten,
ergründen, um sie in der Erziehung zu
berücksichtigen, und um durch diese Berücksichtigung
den Menschen heute in das soziale Leben nach Körper, Seele
und Geist richtig hineinzustellen. Denn die Erziehung —
wir werden das noch im Laufe der Vorträge sehen —
war eigentlich immer eine soziale Angelegenheit. Sie ist
es auch in der Gegenwart; sie muß es auch in der
Zukunft sein. Und daher muß sie ein Verständnis
haben für die sozialen Anforderungen irgendeines
Zeitalters.
Nun
möchte ich zunächst in drei Etappen die Entwickelung
des Erziehungswesens der Menschheit in der
abendländischen Zivilisation vor Sie hinstellen. Wir
können das am besten, wenn wir in Betracht ziehen, wozu es
in den einzelnen Zeitaltern derjenige Mensch hat bringen
wollen, der zur höchsten Stufe des Menschentums hat
hinaufsteigen wollen, zu jener höchsten Stufe, wo er
am nützlichsten seinen Mitmenschen hat werden können.
Wir werden gut tun, bei einer solchen Betrachtung so weit
in der Zeit zurückzugehen, als wir glauben, daß diese
Zeit mit ihren Menschheitskräften in der Gegenwart noch
fortlebt.
Kein Mensch kann heute leugnen, daß ganz lebendig noch ist
in allem, was Menschenseelen wollen, was Menschenseelen
anstreben, das Griechentum. Und für den Erzieher muß
es eigentlich doch eine Grundfrage sein: Wie wollte der
Grieche den Menschen zu einer gewissen Vollkommenheit bringen?
Dann sollte man sehen, wie die Zeiten, in bezug auf die
Vervollkommnung, die Erziehung und den Unterricht des Menschen
fortschreiten.
Stellen wir uns zunächst einmal — wir werden ja
diese Frage ganz genau zu betrachten haben — das
Griechenideal vor Augen, das man für den Erzieher gehabt
hat; für denjenigen also, der nicht nur in sich selbst die
höchste Stufe der Menschheit zur Ausbildung hat bringen
wollen, sondern der auch diese höchste Stufe der
Menschheit deswegen in sich zur Ausbildung bringen wollte,
damit er andere leiten konnte auf ihrem Menschheitsweg. Welches
war das Griechenideal der Erziehung?
Nun, das Griechenideal der Erziehung war der Gymnast, derjenige
also, der bei sich alle körperlichen, und soweit man in
der damaligen Zeit notwendig glaubte, die seelischen und
geistigen Eigenschaften zur Harmonie aller ihrer Teile gebracht
hat. Derjenige, der imstande war, die göttliche
Schönheit der Welt in der Schönheit des eigenen
Körpers zur Offenbarung zu bringen, und der verstand,
diese göttliche Schönheit der Welt auch bei dem
jungen Menschen, bei dem Knaben, zur äußerlichen
körperlichen Darstellung zu bringen, der war der
Gymnast, der war der Träger der
Griechenzivilisation.
Leicht ist es, von einem gewissen modernen Standpunkte aus, man
möchte sagen, von oben herunter auf diese nach dem
Körperlichen hin gerichtete Erziehungsweise des Gymnasten
zu sehen. Allein man mißversteht ganz und gar, was mit dem
Worte Gymnast eigentlich innerhalb des Griechentums gemeint
war.
Bewundern wir doch heute noch die griechische Kultur und
Zivilisation, sehen wir es doch heute noch als unser
Ideal an, uns zu durchdringen für eine höhere
Bildung mit der griechischen Kultur und Zivilisation.
Wenn wir das tun, müssen wir uns gar wohl auch daran
erinnern, daß der Grieche nicht daran gedacht hat,
zunächst das sogenannte, das von uns so genannte Geistige
im Menschen zu entwickeln, sondern daß er nur daran
gedacht hat, den menschlichen Körper in einer solchen
Weise zu entwickeln, daß dieser durch die Harmonie seiner
Teile und durch die Harmonie seiner Betätigungsweise
hinaufstieg zu einer körperlichen Offenbarung der
Schönheit Gottes. Und dann erwartete der Grieche ruhig die
weitere Entwickelung, wie man von der Pflanze erwartet,
wenn man die Wurzel in der richtigen Weise behandelt hat,
daß sie durch Sonnenlicht und Wärme sich von selber
zur Blüte entwickelt. Und wenn wir heute so
hingebungsvoll hinschauen auf die griechische Kultur und
Zivilisation, so dürfen wir nicht vergessen, daß der
Träger dieser griechischen Kultur und Zivilisation der
Gymnast war, derjenige, der nicht den dritten Schritt,
möchte ich sagen, zuerst gemacht hat, sondern den
ersten Schritt zuerst machte — die körperliche
Harmonisierung des Menschen —, und daß alle
Schönheit, alle Größe, alle Vollkommenheit der
griechischen Kultur nicht unmittelbar beabsichtigt war, sondern
als ein selbstverständlich Gewachsenes aus dem
schönen, gewandten, starken Körper durch die
innerliche Wesenheit und Beschaffenheit des Erdenmenschen
hervorgehen sollte.
So
haben wir nur ein einseitiges Verständnis des
Griechentums, namentlich in bezug auf seine Erziehung,
wenn wir nicht neben die Bewunderung der geistigen
Größe Griechenlands die Tatsache hinstellen, daß
der Grieche sein Erziehungsideal in dem Gymnasten gesehen
hat.
Und
dann sehen wir, wie die Menschheit sich fortentwickelt, und wir
sehen, wie ein wichtiger Einschnitt in der Fortentwickelung der
Menschheit vor sich geht, indem die Griechenkultur und
-zivilisation übergeht auf das Römertum. Und im
Römertum sehen wir zunächst heraufkommen jene
Kultur der Abstraktion, die dann dazu übergeht, Geist,
Seele und Leib zu trennen, auf diese Dreiheit besonders zu
schauen.
Wir
sehen im Römertum, wie zwar nachgeahmt wird das
Schönheitsprinzip der gymnastischen Erziehung der
Griechen; aber wir sehen zugleich, wie die
körperliche und die seelische Erziehung
auseinanderfallen. Wir sehen, wie im Römertum
nunmehr, ganz leise — denn der Römer gibt viel auf
körperliche Erziehung aber doch schon ganz leise die
körperliche Erziehung anfängt eine Nebensache zu
werden, und wie der Blick hingewendet wird mehr auf dasjenige,
was eigentlich in der Menschennatur als vornehmer angesehen
wird: das Seelische. Und wir sehen, wie nun jene Trainierung,
die in Griechenland nach dem Ideal des Gymnasten hinging, im
Römertum allmählich heraufrückt in eine
Trainierung des Seelischen.
Und
das pflanzt sich dann fort durch das Mittelalter, jenes
Mittelalter, welches im Seelischen etwas Höheres als
im Körperlichen sieht. Und wir sehen wiederum ein
Erziehungsideal aus diesem romanisierten Menschheitswesen
heraus entspringen.
Wir
sehen namentlich in der ersten Zeit des Mittelalters dasjenige
als Erziehungsideal des höheren Menschen sich aufrichten,
was aus dem Römertum hervorgeblüht ist, was nunmehr
eine Kultur des Seelenwesens eigentlich ist, insoferne
dieses Seelenwesen allerdings sich äußerlich am
Menschen offenbart.
Wir
sehen an die Stelle des Gymnasten einen anderen Menschen
treten. Wir haben heute kein starkes historisches
Bewußtsein mehr von diesem Umschwung. Aber derjenige, der
innerlich das Mittelalter anschaut, wird gewahr werden,
daß dieser Umschwung da war. Es ist der Umschwung in bezug
auf das Menschenerziehungsideal vom Gymnasten zum Rhetor, zu
demjenigen, bei dem nun ein seelisch sich Offenbarendes,
die Rede, hauptsächlich trainiert wird.
Wie
der Mensch wirken kann durch die Rede als Rhetor, das ist
hervorgegangen aus dem Römertum, das ist übergegangen
auf die ersten Zeiten des Mittelalters, das manifestiert den
Umschwung von der rein körpergemäßen Erziehung
zu der nunmehr seelischen Erziehung, neben welcher die
körperliche Erziehung gewissermaßen wie eine Beigabe
einherläuft.
Und
dadurch, daß das Mittelalter insbesondere den Rhetor
brauchte für die Verbreitung des Geistlebens, wie es in
den Klosterschulen, wie es überhaupt innerhalb des
mittelalterlichen Erziehungswesens galt, dadurch kam, wenn man
auch das Wort nicht immer aussprach, der Rhetor im Grunde
genommen zu der Stellung in dem Erziehungswesen der
Menschheitszivilisation, die der griechische Gymnast
eingenommen hat.
So
sehen wir die Menschheit gewissermaßen in ihrem
Erziehungsideal vorrücken von dem Gymnasien zu dem
Rhetor, wenn wir hinblicken, in welchen Idealen man die
höchste Verkörperung des Menschen gesehen hat.
Das
aber hat gewirkt auf die Ansichten in der Erziehung. Die
Kindererziehung wurde so eingerichtet, daß sie
gemäß war dem, was man als ein Menschheitsideal der
Vervollkommnung ansah. Und noch unsere moderne
Erziehungsgewohnheit, wie man das Sprachwesen, das
Sprachenlernen bei den Kindern heute behandelt, ist für
denjenigen, der die Sache historisch betrachten kann, ein
Erbstück dessen, was mit Bezug auf den Rhetor als ein
Ideal vor der mittelalterlichen Erziehung stand.
Nun
kam die Mitte des Mittelalters mit ihrem großen Umschwung
zum intellektuellen Wesen, mit ihrer Verehrung und
Respektierung des intellektualistischen Wesens. Es entstand ein
neues Ideal für die erzieherische Menschheitsentwickelung,
ein Ideal, das geradezu das Gegenteil vorstellt von dem, was
das Griechenideal war: es entstand dasjenige Ideal, das vor
allem als vornehm ansah am Menschen die
intellektualistisch-geistige Bildung. Und der, welcher etwas
weiß, wurde nun das Ideal. Während das ganze
Mittelalter hindurch noch derjenige, der etwas konnte, seelisch
konnte, der die anderen Menschen überzeugen konnte, das
Erziehungsideal war, wurde jetzt der Wissende das
Erziehungsideal.
Man
sehe nur hin auf die ersten Universitätseinrichtungen, man
sehe auf die Pariser Universität im Mittelalter hin, und
man wird sehen, daß da noch nicht das Ideal gesehen wird
in dem Wissenden, sondern in dem Könnenden, in demjenigen,
der durch die Rede am meisten überzeugen kann, der die
größte Geschicklichkeit besitzt in dem Aufbringen von
Gründen, in der Handhabung der Dialektik, des schon
gedankengefärbten Wortes. Da haben wir noch den Rhetor als
Erziehungsideal, wenn auch der Rhetor schon nach dem
Gedanklichen hin gefärbt ist.
Und
jetzt kommt mit der ganzen neuen Zivilisation ein neues Ideal
herauf für den sich entwickelnden Menschen, das wiederum
abfärbt auf die Kindererziehung, und unter dessen
Einfluß im Grunde genommen unsere Kindererziehung zum
großen Teil geblieben ist bis zum heutigen Tage, selbst in
der materialistischen Zeit. Jetzt kommt erst herauf das Ideal
des Doktors. Der Doktor wird dasjenige, was man als Ideal des
vollkommenen Menschen ansieht.
Und
so sehen wir in der Menschheitsentwickelung die drei Stufen:
den Gymnasten, den Rhetor, den Doktor. Der Gymnast, der den
ganzen menschlichen Organismus handhaben kann von
demjenigen aus, was man als das göttliche Wirken und
Walten in der Welt, im Kosmos ansieht; der Rhetor, der nur noch
das Seelische, insoferne es sich körperlich
äußert, zu handhaben weiß. Der Gymnast, der den
Körper trainiert, und damit das Seelische und Geistige
miterreicht bis zu der Höhe der griechischen Kultur und
Zivilisation; der Rhetor, der bedacht ist auf das
Seelische, der seine Höhe, seinen Glanz erreicht in dem
Redner über das Seelische, in dem Kirchenredner. Und wir
sehen dann, wie das Können vollständig in die
Unterschätzung hinuntertritt, und wie derjenige, der nur
noch weiß — der also nicht mehr die Seele in ihrer
körperlichen Wirksamkeit handhabt, sondern der nur noch
das, was ganz unsichtbar im Inneren waltet, handhabt, der nur
noch weiß als Erziehungsideal der höchsten Stufe
erglänzt.
Das
aber färbt ja ab auf die untersten Prinzipien der
Erziehung. Denn diejenigen, die Gymnasten waren, haben in
Griechenland auch die Erziehung der Kinder gemacht. Diejenigen,
die Rhetoren waren, haben in der späteren Zeit die
Erziehung der Kinder gemacht. Und die Doktoren waren es
schließlich, welche die Erziehung der Kinder in der
neuesten Zeit machten, gerade in der Zeit, als in der
allgemeinen Kultur und Zivilisation der Materialismus
heraufkam.
Und
so sehen wir gewissermaßen die Erziehung vorrücken
von einer körperlich-gymnastischen Erziehung durch eine
seelisch-rhetorische Erziehung zu einer
Doktorerziehung.
Und
dasjenige, was unsere Erziehung geworden ist, ist sie
eigentlich durch den Doktor geworden. Derjenige, der aufsuchen
will gerade in den tiefsten Prinzipien der modernen
Pädagogik das3 was verstanden werden sollte,
muß sorgfältig darauf schauen, was der Doktor in das
Erziehungswesen hineingebracht hat.
Neben diesem aber ist immer mehr und mehr aufgetaucht ein
anderes Ideal in der modernen Zeit, das allgemeine
MenschheitsideaL Man hatte ja nur noch Augen und Ohren für
dasjenige, was dem Doktor gebührte. Und so kam herauf die
Sehnsucht, nun wiederum den ganzen Menschen zu erziehen,
hinzuzunehmen zu der Doktorerziehung, die man schon in das
kleine Kind hineinpfropfte — weil ja die Doktoren auch
die Lehrbücher schrieben und die Lehrmethoden ausdachten
—, die allgemeine Menschheitserziehung. Und heute
möchten eben die Menschen, die ursprünglich,
elementar aus der Menschennatur heraus urteilen, ihr Wort
mitreden im Erziehungswesen.
Daher ist die Erziehungsfrage aus innerlichen Gründen
heute eine Zeitfrage geworden. Und diesen innerlichen Gang der
Menschheitsentwickelung, den müssen wir uns vor die
Seele stellen, wenn wir den gegenwärtigen Zeitpunkt
begreifen wollen. Denn nach nichts Geringerem muß
eine wirkliche Fortbildung des Erziehungswesens gehen als nach
Uberwindung des Doktorprinzipes. Und wenn ich dasjenige, was
eigentlich nach einer bestimmten Seite hin
Waldorfschul-Erziehung will, in ein paar Worten zusammenfassen
will, so möchte ich zunächst präliminarisch
selbstverständlich, nur heute sagen: es handelt sich
darum, die Doktorenerziehung zu einer Menschheitserziehung zu
machen.
Insbesondere ein Verständnis des Erziehungswesens, wie es
im Griechentum aufgekommen ist, das eigentlich noch in
seiner Weiterentwickelung bis heute wirkt, eignet man
sich nicht an, wenn man nicht den Gang der
Menschheitsentwickelung vom Griechentum bis in unsere
Zeit im rechten Lichte sieht. Das Griechentum war in der Tat
noch eine Fortsetzung, gewissermaßen ein Anhang des
orientalischen Zivilisationswesens. Was sich in der
Menschheitsentwickelung durch Jahrtausende herausgebildet
hat drüben in Asien, im Orient, das fand dann, und wie ich
glaube, ganz besonders im Erziehungs- und
Unterrichtswesen, bei den Griechen den letzten Ausdruck.
Erst dann tritt ein bedeutsamer Entwickelungseinschnitt ein zum
Römertum hinüber. Und vom Römertum stammt dann
dasjenige, was in Zivilisation und Kultur des ganzen
Abendlandes bis in die amerikanische Kultur hinein später
eingeflossen ist.
Daher versteht im Grunde genommen insbesondere das griechische
Erziehungswesen niemand, der nicht auf das ganze
Eigentümliche der orientalischen Entwickelung des Menschen
einen richtigen Blick werfen kann. Daß man die
höchste Menschheitsbildung dadurch erringt, daß man
sich, um Examina abzulegen, vor Bücher setzt, und da
irgend etwas Unbestimmtes, was man den menschlichen Geist
nennt, man kann nicht sagen trainiert, sondern
malträtiert, und nachdem man diesen sogenannten Geist,
vielleicht jahrelang, wenn man fleißig ist, monatelang,
wenn man faul ist, malträtiert hat, dann sich fragen
läßt von jemandem, wieviel man nun weiß, nachdem
man den Geist jährelang malträtiert hat,
daß man auf diese Weise ein vollkommener Mensch werden
könne, das würde dem, der an der Wiege jener
Zivilisation gestanden hat, aus welcher die Veden und die
wunderbare Vedanta hervorgegangen sind, als der reinste
Wahnsinn erschienen sein. Man versteht die menschliche
Zivilisationsentwickelung nicht, wenn man nicht zuweilen einen
Blick darauf wirft, wie sich dasjenige, was ein Zeitalter als
das Ideal ansieht, vor den Blicken eines anderen Zeitalters
ausnimmt. Denn was hat der getan, der im alten Oriente die
Zivilisation und Kultur, die sein Volk als höchste
dargeboten hat, erringen wollte, erringen wollte in jener Zeit,
welcher dann erst folgte jene große Inspiration, die zu
den Veden geführt hat? Im Grunde genommen war das,
was er geübt hat, eine Art Körperkultur. Und er hat
die Hoffnung gehabt, daß er durch einen besonderen, wenn
uns auch heute einseitig erscheinenden Körperkultus die
Blüte des menschlichen Lebens, die höchste
Geistigkeit erreicht, wenn das in seinem Schicksal ihm
vorgezeichnet ist.
Daher war nicht Bücherlesen und den abstrakten Geist
malträtieren die Methode der höchsten Ausbildung im
alten Orient, sondern eine, wenn auch außerordentlich
verfeinerte, Körperkultur. Ich will nur ein Beispiel aus
der verfeinerten Körperkultur herausheben: das war ein
ganz bestimmtes, streng systematisch geregeltes System des
menschlichen Atmens.
Wenn der Mensch atmet in der Weise, wie er es eben notwendig
hat, um sich von Minute zu Minute mit der richtigen
Sauerstoffmenge zu versorgen, dann atmet er unbewußt. Er
treibt das ganze Atmungsgeschäft unbewußt. Der
alte Orientale gestaltete dieses Atmungsgeschäft
— also im Grunde genommen jene körperliche
Verrichtung — zu etwas aus, was mit Bewußtheit
vollzogen wurde. Er atmete ein nach einem bestimmten Gesetze;
er hielt den Atem zurück und atmete wieder aus nach einem
bestimmten Gesetze. Dabei war er in einer ganz bestimmten
körperlichen Verfassung. Die Beine mußten eine
bestimmte Lage haben, die Arme mußten eine bestimmte Lage
haben. Das heißt, der Atemweg durch den physischen
Organismus mußte zum Beispiel, wenn es auftraf auf das
Knie, sich umbiegen in die horizontale Lage. Daher saß der
alte orientalische Mensch, der die menschliche Vervollkommnung
suchte, mit untergelegten Unterbeinen. Und es war eine eben auf
das Luftförmige im Menschen hinorientierte, aber
immerhin körperlich orientierte Entwickelung, die
derjenige durchzumachen hatte, welcher dann als den Erfolg, als
die Konsequenz dieser körperlichen Trainierung die
Offenbarung des Geistes in sich erleben wollte.
Und
was liegt denn einer solchen Trainierung, einer solchen
Erziehung des Menschen zugrunde? Ja, dem liegt eigentlich
folgendes zugründe. Ebenso wie in der Wurzel der
Pflanze die Blüte und die Frucht schon drinnenstecken und,
wenn die Wurzel in der richtigen Weise gepflegt wird,
sich dann auch Blüte und Frucht unter dem Sonnenlichte und
der Sonnenwärme in der richtigen Weise entfalten
müssen, so liegen, wenn man auf das Körperliche des
Menschen hinschaut, in dem Körper, der gottgeschaffen ist,
auch schon Seele und Geist drinnen. Wenn man die Wurzel im
Körper ergreift, aber so, daß man das Göttliche
in dieser Körperwurzel erfaßt, dann entwickeln sich
aus ihr, wenn man in einer richtigen Weise diese
körperliche Wurzel zur Entfaltung gebracht hat und sich
einfach dem freien Leben überläßt, die in ihr
liegende Seele und der Geist, so wie sich die inneren
Kräfte der Pflanze, die aus der Wurzel schießen,
unter dem Sonnenlicht und der Sonnenwärme frei
entwickeln.
Dem
Orientalen würde die besondere abstrakte Ausbildung des
Geistes so vorgekommen sein, wie wenn wir unsere Pflanzen im
großen Maße abschließen wollten von dem
Sonnenlichte, um sie in einen Keller zu tun und sie dann
vielleicht unter elektrischem Lichte zur Entfaltung bringen
wollten, weil wir die freie Sonnenentfaltung nicht mehr
vornehm genug für das Pflanzenwachstum finden.
So
war es tief begründet in der ganzen orientalischen
Menschheitsanschauung, nur auf das Körperliche
hinzuschauen. Wenn auch diese körperliche Entfaltung dann
einseitig geworden ist, ja sogar in dieser Form, in der ich sie
geschildert habe, schon einseitig war beim Judentum, so
weist uns gerade diese Einseitigkeit darauf hin, daß man
überall die Ansicht hatte, Körper, Seele und
Geist sind Eines; daß man genau wußte: Hier auf Erden
zwischen Geburt und Tod muß man die Seele und den Geist im
Körper suchen.
Das
führt vielleicht zu einigem Erstaunen, wenn man gerade die
alte spirituelle Kultur des Orients in diesem Lichte zeigt.
Allein wenn Sie den wirklichen Gang der Menschheitsentwickelung
studieren, dann werden Sie eben finden, daß die
spirituellsten Konsequenzen der Menschheitszivilisation in
denjenigen Zeiten errungen worden sind, in denen man Seele und
Geist noch voll in dem Körperlichen zu schauen verstand.
Hier hat sich eine für das Innerste der
Menschheitszivilisation außerordentlich bedeutsame
Entwickelung vollzogen.
Warum durfte der Orientale, dem es ganz und gar darauf ankam,
den Geist zu suchen, warum durfte er dieses Suchen nach dem
Geist durch Methoden anstreben, die eigentlich körperliche
waren? Es durfte der Orientale dies anstreben, weil ihm seine
Philosophie die Ansicht gab nicht nur dessen, was irdisch ist,
sondern auch dessen, was übersinnlich ist. Und er
wußte: Betrachtet man Seele und Geist hier auf Erden als
etwas Selbständiges, ja, dann — verzeihen Sie den
etwas trivialen Vergleich, er ist durchaus aber im Sinne der
orientalischen Weisheit gehalten —, dann betrachtet man
Seele und Geist wie ein gerupftes Huhn, nicht wie ein
Huhn, das Federn hat, also nicht wie ein
vollständiges Huhn. Wie ein Huhn, dem man die Federn
ausgerissen hat, so wäre dasjenige, was wir uns von Seele
und Geist vorstellen, dem Orientalen vorgekommen; denn
von dem, was Seele und Geist ist, von dem, was wir in anderen
Welten suchen, von dem hatte er eine konkrete
übersinnliche Anschauung. Er durfte es sich erlauben, hier
den Erdenmenschen in seiner irdisch-sinnlichen
körperlichen Offenbarung zu suchen, weil er für
andere Welten gründlich überzeugt war, daß das
gerupfte Hühnchen, die bloße Seele, dort
wiederum ihre spirituellen Fedem bekommt, wenn sie an dem
richtigen Orte anlangt.
So
war es gerade der Spiritualismus der Weltanschauung, welche dem
Orient eingab, für die Erdenentwickelung des Menschen in
erster Linie darauf zu sehen, daß dasjenige, was verborgen
im Körper ist, wenn der Mensch geboren wird, wo er als ein
bloß physisches Wesen erscheint, was aber in wunderbarer
Weise in dieser Physis im Kinde drinnen ruht, Seele und Geist
ist. Denn es war dem Orientalen klar, daß aus dieser
Physis, wenn diese Physis richtig geistig behandelt wird, Seele
und Geist sich ergibt.
Das
ist die besondere Färbung, welche — selbst für
die höchste Erziehung zum Weisen — im Oriente
drüben galt. Und das als innere Uberzeugung, die weiter
gewirkt hat, ist dann übergegangen auf das Griechentum,
das ein Ausläufer des Orientalismus ist. Und wir
verstehen, warum der Grieche nun — ich möchte
sagen, bis zum Äußersten hintreibend dasjenige, was
der Orient als seine Uberzeugung behalten hat —, wie der
Grieche durch den orientalischen Einfluß gerade zu seiner
besonderen Art der Menschheitsausbildung schon in der Jugend
gekommen ist.
Nichts anderes war dieses besondere Hinblicken auf die
Körperlichkeit beim Griechentum, als was der Grieche
geworden ist als derjenige Mensch, der durch Kolonisation aus
dem Oriente und von Ägypten herüber eigentlich sein
gesamtes Geistesleben erhalten hat.
Und
so muß man, wenn man in die griechische Palästren
hineinschaut, in denen der Gymnast wirkte, in diesem
Wirken des Gymnasten eine Fortsetzung dessen sehen, was aus
tiefer spiritueller Weltanschauung heraus der Orient
gerade für denjenigen Menschen als
Menschheitsentwickelung anzustreben hatte, der bis zum
höchsten Ideal menschlicher Vollkommenheit auf Erden
kommen sollte.
Der
Orientale hätte niemals eine einseitig entwickelte Seele,
einen einseitig entwickelten Geist als eine menschliche
Vollkommenheit angesehen. Er hätte angesehen ein
solches Lernen, ein solches Unterrichten, wie es in der
späteren Zeit Ideal geworden ist, als ein Ertöten
desjenigen, was von den Göttern den Menschen
für das Erdenleben geworden ist. Und so sah es im
Grunde genommen auch noch der Grieche an.
Und
so erlebt man es in einer eigentümlichen Weise, wie die
griechische Geisteskultur, die wir heute als etwas ganz
ungeheuer Hohes ansehen, von dem damaligen nichtgriechischen
Menschen angesehen wurde. Es ist uns ja überliefert die
anekdotische Geschichte, daß ein Barbarenfürst
Griechenland besucht hat, sich die Erziehungsstätten
angesehen hat, mit einem der allervollkommensten
Gymnasten Zwiespräche gepflogen hat. Der Barbar sagt: Ich
kann nicht verstehen, was ihr eigentlich da für
wahnsinniges Zeug treibt. Ich sehe, daß eure Jungen
zuerst mit öl, dem Friedenszeichen, eingesalbt werden,
dann mit Sand bestreut werden, so als ob sie nun zu besonders
friedlichen Verrichtungen kommen sollten. Dann aber
beginnen sie wie toll sich herumzutreiben, fassen
einander an; der eine wirft sich auf den anderen, wirft ihn,
stößt ihm das Kinn in die Höhe, so daß ein
anderer hinzukommen und ihm die Schulter in Bewegung
setzen muß, damit er nicht erstickt — es ist eine
Beschäftigung, die ich nicht verstehe, die zum
mindesten dem Menschen keinen Nutzen bringen kann.
— So sagte der Barbar zu dem Griechen.
Und
dennoch, aus dem, was der Barbar so barbarisch an dem
Griechen gefunden hat, ist die hohe geistige
Kulturblüte Griechenlands hervorgegangen. Und geradeso wie
der griechische Gymnast nur ein Lächeln hatte für den
Barbaren, der nicht verstand, wie man den Körper
pflegen muß, um den Geist zur Erscheinung zu bringen, so
würde der Grieche, wenn er heute aufstehen könnte und
unseren aus älteren Zeiten gebräuchlichen Unterricht
und unsere Erziehung sehen würde, still in sich versenkt
innerlich lächeln über das Barbarentum, das sich
entwickelt hat seit dem Griechentum, und das von einer
abstrakten Seele und von einem abstrakten Geist spricht. Auch
der Grieche würde noch sagen: Das ist ja wie ein gerupftes
Hühnchen; da habt ihr dem Menschen die Federn genommen.
— Der Grieche würde dasjenige, was nicht, so wie
angedeutet, im Knabenalter sich gewürgt und umeinander
geworfen hat, eben barbarisch gefunden haben. Aber der Barbar
konnte keinen Zweck sehen, keinen Nutzen finden in der
griechischen Erziehung.
Wenn man in dieser Weise den Menschheitslauf betrachtet und
sieht, was in anderen Zeiten geschätzt worden ist, dann
kann das doch schon eine Art Unterlage geben, um auch wiederum
in unserer Zeit zu einer richtigen Schätzung der Dinge zu
kommen.
Schauen wir jetzt ein wenig hinein in diejenige Stätte, wo
der griechische Gymnast die Jugend, die ihm als männliche
Jugend im siebenten Jahre anvertraut worden ist, erzogen und
unterrichtet hat.
Dasjenige, was wir da gewahr werden, unterscheidet sich
allerdings sehr wesentlich von dem, was man als eine Art
Erziehungsideal im 19. Jahrhundert zum Beispiel für das
Nationale hatte. In dieser Beziehung gilt wahrhaftig dasjenige,
was zu sagen ist, nicht für diese oder jene Nation,
sondern für alle zivilisierten Nationen. Und was wir
erblicken, wenn wir in eine solche Lehr- und
Erziehungsstätte hineinschauen — eine Lehr- und
Erziehungsstätte für die Jugend vom siebenten
Lebensjahre an —, kann heute noch, wenn es in der
richtigen Weise mit modernen Impulsen durchdrungen wird, eine
richtige Grundlage abgeben für das Verständnis
dessen, was heute für Erziehung und Unterricht notwendig
ist.
Da
wurden die Knaben namentlich nach zwei Seiten hin — wenn
ich mich so ausdrücken darf, das Wort ist immer in seinem
höchsten Sinne gemeint — trainiert. Die eine Seite
war die Orchestrik, die andere Seite war die
Palästrik.
Die
Orchestrik war, von außen angesehen, vollkommen eine
körperliche Übung, eine Art Gruppentanz, der aber in
einer ganz bestimmten Weise eingerichtet war — ein
solcher Reigen in der mannigfaltigsten, kompliziertesten
Gestaltung, wo die Jungen lernten, sich in bestimmter Form nach
Maß, Takt, Rhythmus und überhaupt nach einem gewissen
plastisch-musikalischen Prinzipe zu bewegen, so daß
dasjenige, was der im Chorreigen sich bewegende Junge wie eine
innerliche Seelenwärme empfand, die sich organisierend
durch alle Glieder ergoß, zu gleicher Zeit als schön
geformter Reigentanz für denjenigen sich offenbarte, der
das von außen anschaute.
Das
ganze war durchaus eine Offenbarung der Schönheit der
göttlichen Natur und zugleich ein Erleben dieser
Schönheit für das Innerste des Menschen. Dasjenige,
was da erlebt wurde durch diese Orchestrik, das wurde innerlich
gefühlt und empfunden. Und indem es innerlich gefühlt
und empfunden wurde, verwandelte es sich als körperlicher,
physischer Vorgang in dasjenige, was sich seelisch
äußerte, was die Hand begeisterte zum Kitharaspiel,
was die Rede, das Wort begeisterte zum Gesang.
Und
will man verstehen, was Kitharaspiel und Gesang in
Griechenland waren, so muß man sie ansehen als
Blüte des Chorreigens. Aus dem Tanze heraus erlebte der
Mensch dasjenige, was ihn inspirierte zum Bewegen der Saiten,
so daß er den Ton hören konnte aus dem Chorreigen
heraus. Aus der menschlichen Bewegung erlebte der Mensch
dasjenige, was sich ergoß in sein Wort, so daß das
Wort zum Gesang wurde.
Gymnastische und musische, musikalische Bildung war dasjenige,
was wie die Erziehungs- und Unterrichtssphäre alles
durchwallte und durchwebte in einer solchen griechischen
Palästra. Aber was als Musisch-Seelisches gewonnen
wurde, es war geboren aus dem, was in wunderbarer
Gesetzmäßigkeit als äußere körperliche
Bewegung sich abspielte in den Tanzbewegungen in den
griechischen Palästren.
Und
wenn man heute durch eine unmittelbare Anschauung näher
eingeht auf dasjenige, was nun eigentlich der den Barbaren
unbekannte Sinn dieser geformten Bewegungen in einer
griechischen Palästra war, dann findet man: Wunderbar sind
da alle Bewegungsformen eingerichtet, wunderbar sind die
Bewegungen des einzelnen Menschen eingerichtet! —
So daß das Nächste, was nun daraus als Konsequenz
sich ergibt, nicht etwa gleich das Musikalische ist, das ich
charakterisiert habe, sondern noch ein anderes.
Wer
eingeht auf jene Maße, auf jene Rhythmen, die
hineingeheimnißt wurden in die Orchestrik, in den
Chorreigentanz, der findet, daß man nicht besser heilend,
gesundend wirken kann auf das menschliche Atmungssystem und auf
das menschliche Blutzirkulationssystem, als wenn man gerade
solche körperlichen Übungen ausführt, wie sie in
diesem griechischen Chorreigen ausgeführt
wurden.
Wenn man die Frage aufgestellt hätte: Wann atmet der
Mensch am besten ganz von selber? Wie bringt der Mensch am
besten sein Blut durch die Atmung in Bewegung? — so
hätte man antworten müssen: Er muß sich
äußerlich bewegen, er muß als Knabe vom
siebenten Jahre an tanzartige Bewegungen ausführen, dann
unterliegt sein Atmungs- und Blutzirkulationssystem nicht der
Dekadenz, sondern der Heilung, wie man dazumal sagte.
Und
alle diese Orchestrik war darauf abgesehen, Atmungssystem und
Blutzirkulationssystem in der vollkommensten Weise beim
Menschen auszudrücken. Denn man war überzeugt:
Derjenige, der richtig die Blutzirkulation hat, in dem wirkt
diese Blutzirkulation bis in die Fingerspitzen, so daß er
aus dem Instinkt heraus die Saiten der Kithara, die Saiten der
Leier in der richtigen Weise bewegt.
Das
ergibt sich als Blüte der Blutzirkulation. Das ganze
rhythmische System des Menschen wurde durch den Chorreigen in
der richtigen Weise angefacht. Daraus erwartete man dann in der
Konsequenz das Musisch-Geistige in bezug auf das Spielen, und
man wußte: wenn der Mensch als einzelner Mensch im
Chorreigen mit seinen Gliedern in entsprechender Weise
Bewegungen ausführt, so inspiriert dies das
Atmungssystem, so daß es auf
natürlich-elementare Weise in einer geistigen Weise
in Bewegung kommt.
Aber zugleich ergibt sich als eine letzte Konsequenz, daß
der Atem überfließt in dasjenige, was der Mensch
durch seinen Kehlkopf und die anderen in Verbindung stehenden
Organe nach außen offenbart.
Man
wußte: wenn man heilsam durch den Chorreigen auf das
Atmungssystem wirkt, so entflammt die richtige Heilung des
Atmungssystems den Gesang. Und so wurde aus dem richtigen
Organismus, den man zuerst in einer richtigen Weise erzog durch
den Chorreigen, als höchste Blüte, als höchste
Konsequenz Kitharaspiel und Gesang hervorgeholt.
So
sah man eine innerliche Einheit, eine innerliche Totalität
für den irdischen Menschen in dem Physischen und in dem
Psychischen, in dem Spirituellen. Das war durchaus der Geist
der griechischen Erziehung.
Und
wiederum, sieht man hin auf dasjenige, was insbesondere als
Palästrik gepflegt wurde, von der ja — weil sie
sozusagen Allgemeingut war für diejenigen, die
überhaupt in Griechenland zur Erziehung kamen
— die Erziehungsstätten den Namen haben, und fragt
man sich dann, was da besonders gepflegt wurde, bis in die
besonderen Formen, wie der Ringkampf entwickelt wurde, so zeigt
sich, daß das geeignet war, zweierlei im Menschen zu
entwickeln: zwei Arten, wie der Wille angeregt wird von den
körperlichen Bewegungen aus, so daß er stark und
kräftig wird nach zwei Seiten. Auf der einen Seite sollte
alle Bewegung, alle Palästrik im Ringkampf so sein,
daß derjenige, der den Ringkampf ausführte, eine
besondere Gelenkigkeit, Gewandtheit, Beweglichkeit, zweckvolle
Beweglichkeit in seine Glieder bekam. Das ganze Bewegungssystem
des Menschen sollte so harmonisiert werden, daß die
einzelnen Teile in der richtigen Weise zusammenwirkten,
daß der Mensch überall, wenn er in einer bestimmten
Lage des Seelenlebens war, die zweckvollen Bewegungen gewandt
ausführte, so daß er von innen aus seine Glieder
beherrschte. Die Rundung der Bewegungen zum zweckvollsten
Leben, das war die eine Seite, die ausgebildet wurde in der
Palästrik; die andere Seite war, ich möchte sagen,
das Radiale der Bewegung, wo die Kraft in die Bewegung
hineingestellt werden mußte. Gewandtheit auf der einen
Seite — Kraft auf der anderen Seite; Aushalten
können und Überwinden der gegen wirkenden Kräfte
einerseits — selber kraftvoll sein können, um etwas
in der Welt zu erleben, das war die andere Seite. Gewandtheit,
Geschicklichkeit, äußere Harmonisierung der Teile in
der Kraftentfaltung — auf der einen Seite; frei in alle
Richtungen sein Menschenwesen in die Welt hinausstrahlen
können — auf der anderen Seite.
Und
man war überzeugt, daß, wenn der Mensch durch die
Palästrik so sein Bewegungssystem harmonisiert, er dann in
die richtige Lage zum ganzen Kosmos kommt. Und man
überließ dann die Arme, die Beine, mit der Atmung,
wie sie durch die Palästrik ausgebildet war, dem Wirken
des Menschen in der Welt. Man war überzeugt: der Arm, der
richtig durch die Palästrik ausgebildet ist, der fügt
sich in jene Kräfteströmung des Kosmos hinein, die
dann wiederum zum menschlichen Gehirn geht, und aus dem Kosmos
heraus dem Menschen die großen Ideen offenbart.
Wie
man das Musische nicht von einer besonderen musikalischen
Ausbildung erwartete — die schloß sich nur an,
hauptsächlich erst bei den Zwanzigjährigen an
dasjenige, was man aus der Blutzirkulation und aus der Atmung
herausholte —, so schloß sich das, was man zum
Beispiel als Mathematik und Philosophie zu lernen hatte, an die
Körperkultur in der Palästrik an. Man wußte,
daß das richtige Drehen der Arme die Geometrie innerlich
inspirierte.
Das
ist dasjenige, was heute die Menschen auch nicht mehr aus der
Geschichte lesen, was ganz vergessen ist, was aber eine
Wahrheit ist und dasjenige rechtfertigt, was die Griechen
taten: den Gymnasten an die Spitze des Erziehungswesens zu
stellen. Denn der Gymnast erreichte die spirituelle
Entwickelung der Griechen am besten dadurch, daß er ihnen
ihre Freiheit ließ, die Köpfe der Menschen nicht
vollpfropfte und zum Buch machte, sondern die
befähigsten Organe des Menschen in der richtigen Weise in
den Kosmos hineinstellte. Dann wird der Mensch empfänglich
für die geistige Welt, dessen war er überzeugt
— in ähnlicher Weise noch wie der Orientale, nur in
einer späteren Gestalt.
Ich
habe zunächst durch eine einleitende Schilderung des alten
Erziehungswesens heute nur etwas vor Sie hingestellt wie
ein Fragezeichen. Und es ist — da man sehr tief
schürfen muß, will man heute die richtigen
Erziehungsprinzipien finden — schon notwendig, sich
zunächst auch in diese Tiefen der
Menschheitsentwickelung zu begeben, um von da aus dann die
richtige Fragestellung zu finden für dasjenige, was als
Rätsel unseres Erziehungs- und Unterrichtswesens zu
lösen ist.
Und
so wollte ich heute zunächst einmal einen Teil des ganzen
Fragezeichens, das uns beschäftigen soll, vor Sie
hinstellen. Die Vorträge sollen im weiteren die eben
für die heutige Zeit angemessene, ausführliche
Antwort bringen auf dieses Fragezeichen, das wir heute
hinstellen, das wir morgen noch in einem gewissen Sinne
ergänzen wollen.
So
wird die Betrachtungsweise, die wir hier anstellen, das
richtige Verständnis für die große Frage sein
müssen, die uns die Menschheitsentwickelung für
Erziehung und Unterricht aufgibt — und dann das Schreiten
zu denjenigen Antworten, die wir aus der Erkenntnis des
Menschenwesens der Gegenwart heraus für diese große
Frage gerade in dieser heutigen Zeit gewinnen können.
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