DRITTER VORTRAG
Ilkley, 7. August 1923
Wenn ich Ihnen gestern das griechische Erziehungsideal vor die
Seele zu stellen versuchte, so konnte das nur in der Absicht
geschehen, eben ein Ideal hinzustellen, um an diesem diejenigen
Anschauungen anregen zu lassen, welche unser gegenwärtiges
Erziehungs- und Unterrichtssystem beherrschen
müssen. Denn es ist eine Unmöglichkeit, in dem
gegenwärtigen Zeitpunkte des Menschheitslebens dieselbe
Erziehungsmethode zu haben, welche der Grieche hatte.
Dessen ungeachtet kann aber vor allen Dingen eine umfassende
Wahrheit in bezug auf Erziehung und Unterricht gerade an dem
griechischen Erziehungsideal gelernt werden; und diese
umfassende Wahrheit wollen wir zunächst einmal als
schon durch die alte griechische Zivilisation
bekräftigt vor unsere Seele hinstellen.
Das
griechische Kind wurde bis zu seinem siebenten Lebensjahre im
Hause aufgezogen. Die öffentliche Erziehung kümmerte
sich erst vom siebenten Lebensjahre ab um das Kind. Im Hause
wurde das Kind aufgezogen, in dem ja auch die Frauen lebten,
zurückgezogen von dem allgemeinen sozialen Treiben der
Männer.
Damit aber ist von vornherein eine Erziehungswahrheit
bekräftigt, ohne deren Erkenntnis man überhaupt nicht
erziehen und unterrichten kann: daß eben das siebente
Lebensjahr als ein besonders wichtiger Einschnitt in dem
kindlichen Alter betrachtet wird.
Sehen wir zunächst auf das allgemeine Charakteristiken in
diesem siebenten menschlichen Lebensjahre, so bietet sich uns
dieses dar in dem Zahnwechsel. Wir weisen damit auf eine
Tatsache hin, die im menschlichen Leben gegenwärtig gar
nicht genug gewürdigt wird. Man sehe nur einmal darauf
hin, daß der menschliche Organismus so geartet ist,
daß er gewissermaßen durch ein Erbteil seine ersten
Zähne mitbringt, oder eigentlich die Kraft sich mitbringt,
aus dem Organismus heraus diese ersten Zähne, die im
siebenten Lebensjahre abgenutzt sind, hervorzubringen.
Man
gibt sich natürlich vollständig einem Irrtum hin,
wenn man glaubt, daß die Kraft, die zweiten Zähne um
das siebente Jahr herum hervorzubringen, etwa erst in diesem
Lebensalter erwächst. Sie entwickelt sich langsam
seit der Geburt und erreicht nur ihre Kulmination um das
siebente Jahr herum, treibt aus der Gesamtheit der menschlichen
Organisationskraft dann die zweiten Zähne heraus.
Nun
ist das deshalb ein so außerordentlich wichtiges Ereignis
im gesamten menschlichen Lebenslauf, weil es sich ja nun nicht
mehr wie« derholt, weil diejenigen Kräfte, die
zwischen der Geburt und dem siebenten Jahre da sind, und
deren Kulmination eben das Hervorgehen der zweiten Zähne
bedeutet, dann im ganzen menschlichen Erdenleben bis zum Tode
hin nicht mehr wirksam sind.
Diese Tatsache muß man verstehen. Und man versteht sie
nur, wenn man sich einen unbefangenen Blick wahrt auf
dasjenige, was sonst mit dem Menschen um dieses siebente
Lebensjahr herum vorgeht. Bis zu diesem siebenten Lebensjahre
wächst und gedeiht der Mensch, man mochte sagen,
naturhaft. In seiner ganzen Organisation sind noch nicht
voneinander getrennt die natürlichen Wachstumskräfte,
das seelische Wesen und das geistige Gebiet. Alles ist
bis zum siebenten Jahre eine Einheit. Indem der Mensch seine
organischen Gefäße, sein Nervensystem, seine
Blutzirkulation ausbildet, bedeutet diese Ausbildung der
Gefäße, diese Ausbildung des Nervensystems, der
Blutzirkulation zugleich seine seelische und geistige
Entwickelung.
Weil alles in diesem Lebensabschnitt noch beisammen ist, ist
der Mensch gewissermaßen mit jener starken inneren
Stoßkraft versehen, welche die zweiten Zähne
hervorbringt. Dann wird diese Stoßkraft schwächer.
Sie bleibt etwas zurück. Sie wirkt nicht mehr so stark aus
dem Inneren des Organismus heraus. Warum? Nehmen wir einmal an,
wir bekämen alle sieben Jahre Zähne. Ich will die
Sache von der Gegenseite aus beleuchten, damit sie uns klar vor
der Seele stehen kann. Nehmen wir an, wir würden dieselben
organischen Kräfte, die wir bis zum siebenten Lebensjahre
haben, jene Einheit von Leib, Seele und Geist durch das ganze
Lebensalter hindurch haben, dann würden wir ungefähr
alle sieben Jahre neue Zähne bekommen; die alten
würden ausfallen, wir würden neue Zähne
bekommen, aber wir würden auch unser ganzes Leben hindurch
solche Kinder bleiben, wie wir sind bis zum siebenten
Lebensjahre. Wir würden nicht ein von dem natürlichen
Leben abgesondertes Seelen- und Geistesleben entwickeln.
Daß die physische Stoßkraft geringer wird im
siebenten Jahre, daß der Körper gewissermaßen
nicht mehr so stark treibt, wuchtet, daß er feinere,
schwächere Kräfte aus sich hervortreibt, das macht,
daß die feinere Kraft des Seelenlebens sich nun entwickeln
kann. Man möchte sagen: Der Körper wird
schwächer, die Seele wird stärker.
Ein
ähnlicher Vorgang geschieht ja auch dann, wenn der Mensch
im vierzehnten, fünfzehnten Jahre geschlechtsreif wird. Da
wird das Seelische wiederum um einen Grad schwächer, und
das Geistige tritt hervor. So daß im Laufe der drei ersten
Lebensabschnitte, bis zum siebenten Jahre der Mensch
vorzugsweise ein körperlich-geistig-seelisches Wesen
ist; vom siebenten bis zum vierzehnten Jahre ein
körperlich-seelisches, und abgesondert davon ein
seelisch-geistiges Wesen, und von der Geschlechtsreife an ein
Wesen in drei Teilen, ein physisches Wesen, ein seelisches
Wesen, ein geistiges Wesen ist.
Das
ist eine Wahrheit, die ganz tief hineinschauen läßt
in die ganze menschliche Entwickelung. Ohne daß man diese
Wahrheit würdigt, sollte man überhaupt nicht
herangehen an die Kindererziehung. Denn ohne daß man von
allen Konsequenzen dieser Wahrheit durchdrungen ist, muß
eigentlich mehr oder weniger jede Kindererziehung
dilettantisch werden.
Der
Grieche — und das ist das Erstaunliche — wußte
um diese Wahrheit. Denn das galt bei ihm als ein ganz
festes Gesetz: der Knabe muß dem Elternhaus entnommen
werden, dem rein natürlichen, elementar
Selbstverständlichen der Erziehung, wenn er das siebente
Lebensjahr überschreitet. Und es war diese Erkenntnis so
eingewurzelt, daß man sich gerade heute sehr gut daran
erinnern sollte. Später, im Mittelalter, waren durchaus
noch gute Spuren von dieser wichtigen Erziehungswahrheit
vorhanden.
Die
heutige rationalistische, intellektualistische Zeit hat ja alle
solche Dinge vergessen, und sie möchte sogar
äußerlich zeigen, daß sie keinen Wert legt auf
solche Menschenwahrheiten, und fordert daher die Kinder
möglichst zu einer anderen Zeit, ein Jahr früher als
das siebente Lebensjahr vollendet ist, oder gar noch
früher, in die Schule herein.
Man
möchte sagen: Dieses Nichtnachfolgen den ewigen Wahrheiten
der Menschenentwickelung, das bezeichnet gerade das Chaotische
unseres gegenwärtigen Erziehungssystems, aus dem wir
uns herausarbeiten müssen. Der Grieche würdigte diese
Wahrheit so tief, daß er eigentlich alle Erziehung
daraufhin veranlagte; denn dasjenige, was ich Ihnen gestern
geschildert habe, geschah eigentlich alles, um die Erziehung in
das Licht der eben ausgesprochenen Wahrheit zu rücken.
Und
was sah der Grieche in dem kleinen Kinde von der Geburt bis zum
Zahn Wechsel? Er sah in ihm ein Wesen, das heruntergeschickt
worden ist aus spirituellen Höhen auf die Erde. Er sah in
dem Menschen ein Wesen, das ein Leben gehabt hat vor dem
irdischen Leben in einer geistigen Welt. Und indem er das Kind
ansah, suchte er in dem Körper zu erkennen, ob dieser
Körper in einer richtigen Weise das göttliche Leben
des vorirdischen Daseins zum Ausdruck bringt.
Es
war dem Griechen wichtig, in dem Kinde bis zum siebenten
Lebensjahr anzuerkennen: da umschließt ein physischer
Körper ein heruntergestiegenes spirituelles Wesen. Es gab
eine furchtbar barbarische Sitte in Griechenland in
gewissen Gegenden: diejenigen Kinder, von denen man
instinktiv glaubte, daß sie nur Hüllen seien,
daß sie nicht eine richtige spirituelle Wesenheit in ihrem
Physischen zum Ausdruck bringen, sogar auszusetzen und dadurch
zu töten. Aber das hängt zusammen mit einem starren
Hinschauen auf den Gedanken: Dieses physische Menschenwesen ist
in seinen ersten sieben Lebensjähren eine
Umhüllung eines göttlich-geistigen Wesens.
Und
wenn das Kind dann sein siebentes Lebensjahr
überschreitet, dann steigt es eigentlich über eine
zweite Stufe nieder. Das Kind ist gewissermaßen in den
ersten sieben Lebensjahren vom Himmel entlassen,
trägt noch an sich seine eigene ererbte Hülle, die es
mit dem siebenten Jahre ablegt; und es werden ja nicht nur die
ersten Zähne, sondern der ganze Körper alle sieben
Jahre abgelegt, also zum ersten Male mit dem siebenten
Lebensjahre. Das Kind zeigt in diesen ersten sieben
Lebensjahren für den Griechen in dieser körperlichen
Hülle dasjenige, was noch die Kräfte des
vorirdischen Lebens aus ihm gemacht haben. Und seine
eigentliche, seine erste irdische Hülle, die trägt es
erst vom siebenten Jahre ungefähr bis zum vierzehnten
Lebensjahre an sich.
Verehren wir — ich möchte dies jetzt mit den
Gedanken ungefähr zum Ausdruck bringen, mit denen die
besten Griechen dieses angesehen haben — das
Göttliche in dem kleinen Kinde. Wir brauchen uns um das
kleine Kind in den ersten sieben Lebensjahren nicht zu
kümmern, so dachte der Grieche, da kann es
aufwachsen in der Familie, in die es die Götter
hineingestellt haben. Da wirken noch aus dem vorirdischen
Leben die überirdischen Kräfte in ihm. Mit dem
siebenten Jahre muß die Menschheit selber die Entwickelung
der Kräfte in die Hand nehmen.
Was
muß dann diese Menschheit als Erzieher tun, wenn sie
selber in der richtigen Weise das Göttliche im Menschen zu
verehren weiß? Sie muß möglichst das fortsetzen,
was an Menscheninitiative bis zum siebenten Jahre in dem Kinde
sich vollzogen hat. Setzen wir also das göttliche Walten,
wie sich das Geistige im Körperlichen zum Ausdruck bringt,
möglichst fort. So mußte es dem Gymnasten
eingeschärft werden, Gotteswalten im
Menschenkörper zu verstehen und im
Menschenkörper fortzusetzen. Dieselben gesundenden,
dieselben lebenserhaltenden Kräfte, die es
mitbekommen hat aus dem vorirdischen Leben und rein elementar
gepflegt hat bis zu seinem Zahnwechsel, die sollten dem Kinde
vom siebenten bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Jahre
erhalten werden durch menschliche Einsicht, durch menschliche
Kunst. Ganz im Sinne des natürlichen Daseins sollte dann
weiter erzogen werden. Daher war alle Erziehung eine
gymnastische, weil man die göttliche Erziehung des
Menschen als eine Gymnastik ansah. Der Mensch muß
fortsetzen durch seine Erziehung die göttliche
Gymnastik.
Der
Grieche stand dem Kinde ungefähr in der Art
gegenüber, daß er sich sagte: Wenn ich möglichst
frisch, möglichst gesund erhalte, was das Kind an
Wachstumskräften bis zum siebenten Jahre entwickelt hat,
wenn ich das frisch und gesund erhalte durch meine Einsicht,
wenn ich das Kind so erziehe, daß die Kräfte, die bis
zu dem siebenten Jahre von selbst da sind, das ganze Erdenleben
hindurch bis zum Tode bleiben, dann erziehe ich das Kind am
allerbesten.
Das
war das große, mächtige Prinzip der griechischen
Erziehung, diese ungeheuer einschneidende Maxime: zu sehen,
daß das Kind im Menschen bis zum Tode nicht verlorengehe.
Sehen wir zu — so dachte etwa der griechische Erzieher
—, daß der Mensch durch sein ganzes Erdenleben bis
zum Tode die Kräfte des Kindes sich bewahren kann. Sorgen
wir zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre, daß
diese Kräfte lebendig bleiben! Eine ungeheuer
einschneidende, bedeutungsvolle Erziehungsregel. Denn nun
waren alle gymnastischen Übungen darauf angelegt,
gewissermaßen zu sehen: diese Kräfte, die bis zum
siebenten Jahre da waren, sie sind ja gar nicht fort, sie
schlafen nur im Menschen. Man muß sie von Tag zu Tag
aufwecken. Das Auferwecken von schlafenden Kräften
zwischen dem siebenten und vierzehnten Lebensjahre, das
war die gymnastische Erziehung der Griechen: alles das im
zweiten Lebensabschnitt aus dem Menschen nur
herauszuholen, was im ersten Abschnitt von selber da
ist.
Daß der Grieche bemüht war, durch Einpflanzung der
richtigen Erziehung das Kind im Menschen bis zum Tode zu
erhalten, das machte gerade die Größe der
griechischen Kultur und griechischen Zivilisation aus. Und wenn
wir bewundernd vor dieser Größe stehen, dann
müssen wir uns fragen: Können wir ein solches
Ideal nachahmen? Wir können es nicht. Denn auf drei
Voraussetzungen beruht es, ohne die es gar nicht denkbar
ist.
Diese drei Voraussetzungen, die muß wiederum der heutige
Erzieher haben, wenn er nach Griechenland
hinüberschaut. Das erste ist: Diese Erziehungsmaximen
waren nur für einen kleinen Teil der Menschheit da,
für eine obere Schicht, und sie setzten voraus, daß
die Sklaverei da war. Ohne daß die Sklaverei dagewesen
wäre, wäre mit der griechischen Art und Weise nicht
eine kleine Menschheitsschicht in dieser Art zu erziehen
gewesen. Denn um in dieser Weise zu erziehen, mußte ein
Teil dessen, was der Mensch auf Erden zu verrichten hat, von
denjenigen verrichtet werden, die man ihrem elementaren
Menschenschicksal überließ, ohne sie eigentlich
in der Weise zu erziehen, wie man es in Griechenland für
richtig hielt. Wie die ganze griechische Zivilisation nicht
ohne diese Sklaverei zu denken ist, ebensowenig ist die
griechische Erziehung ohne die Sklaverei zu denken.
Und
so hat eigentlich gerade für denjenigen, der mit inniger
Befriedigung und mit Entzücken hinschaut nach dem,
was Griechenland geleistet hat in der Entwicklungsgeschichte
der Menschheit, dieses Entzücken den furchtbar tragischen
Beigeschmack, daß es auf Kosten der Sklaverei erkauft
werden mußte. Das war die eine Voraussetzung.
Die
zweite Voraussetzung war die ganze Stellung der Frau im
griechischen sozialen Leben. Die Frauen lebten
zurückgezogen von dem, was eigentlich griechische Kultur
in den Impulsen aus erster Hand machte. Und dieses
zurückgezogene Leben machte auch einzig und allein
möglich, daß das Kind bis zum siebenten Jahre dem
reinen Instinkt im Hause überlassen worden ist. Denn
dieser Instinkt wurde dadurch ohne alles Wissen gepflegt. Aus
einem menschlichen Instinkt heraus wurde das Kind durch die
elementaren Kräfte seines Wachsturns bis zum Zahnwechsel
hingeführt.
Man
möchte sagen: Es war notwendig, daß ebenso
unbewußt, wie durch die Naturkräfte das
Embryonalleben des Kindes abläuft, ebenso unbewußt,
wenn auch um einen Grad verschieden, das Leben bis zum
Zahnwechsel in dem weiteren Schöße der Familie, der
den Mutterschoß ablöste, sich entwickelte. Das
war die zweite Notwendigkeit.
Und
die dritte Bedingung ist für den modernen Menschen sogar
etwas paradox; aber der moderne Mensch wird sich schon dazu
bequemen müssen, auch diese dritte Bedingung
einzusehen. Die zweite Bedingung, wie die Stellung der Frau
eben in Griechenland war, die ist ja leichter einzusehen, denn
man weiß aus einer sehr oberflächlichen Beobachtung
des modernen Lebens, daß eben zwischen dem
Griechentum und heute gerade durch dasjenige, was sich
dann im Verlaufe des Mittelalters abgespielt hat, in der
Neuzeit eben die Frauen ihren entsprechenden Anteil am
sozialen Leben gesucht haben. Und würden wir noch so sein
wollen, wie es die Griechen waren, mit dem
ausschließlichen Interesse der Männer an diesem
bewußten Erziehungswesen, dann möchte ich einmal
sehen, wie klein dieses Auditorium wäre, wenn es nur
besucht sein sollte von den Männern, die sich für die
Erziehung interessieren dürften!
Aber die dritte Bedingung, die liegt eben schon tiefer, und sie
ist eine solche, welche aus der modernen Zivilisation heraus am
wenigsten zugegeben werden will. Das ist: Wir erringen
dasjenige, was wir als geistiges Leben haben, durch menschliche
Anstrengung. Wir müssen es uns durch aktive Arbeit
erringen. Und derjenige, der durchschaut die aktive
Geistesarbeit des Zivilisationslebens, der wird sich sagen
müssen: Eigentlich müssen wir für die
wichtigsten Gebiete des Zivilisationslebens erst
überhaupt auf dasjenige rechnen, was wir uns in der
Zukunft erringen werden durch menschliche Arbeit.
Wenn wir auf all das sehen, was wir an menschlicher Arbeit
anwenden müssen, um uns ein Geistesleben in der
gegenwärtigen Zivilisation zu erringen, dann blicken
wir mit einigem Erstaunen hin auf das Geistesleben der alten
Griechen, namentlich der alten Orientalen. Denn dieses
Geistesleben war da. Eine solche Wahrheit, die der
heutige Mensch überhaupt noch nicht begreift: welche
Rolle das siebente Lebensjahr im menschlichen Leben spielt
— man kann es aus äußeren Symptomen andeuten,
was das bedeutet, aber vom Begreifen ist die heutige
Zivilisation noch ganz entfernt eine solche Wahrheit war tief
durchgedrungen in Griechenland, war eine von den großen
Wahrheiten, die durch das alte Geistesleben
hindurchströmen und denen wir bewundernd
gegenüberstehen, wenn wir kennenlernen, was in alten
Zeiten einmal die Menschheit als Urweisheit, als ein
spirituelles Wissen gehabt hat.
Gerade wenn wir, unbeirrt durch die modernen materialistischen
und naturalistischen Vorurteile, zurückgehen in
ursprüngliche Menschheitszivilisationen, so finden
wir überall im Beginne des geschichtlichen Lebens eine
eindringliche Weisheit, aus der heraus der Mensch sein Leben
eingerichtet hat.
Diese Weisheit war nicht eine durch die Menschheit erworbene,
sondern sie war eine der Menschheit durch Offenbarung, durch
eine Art Inspiration zugekommene. Das ist dasjenige, was die
moderne Zivilisation nicht zugeben will. Nicht zugeben will
sie, daß auf eine geistige Art dem Menschen eine
Urweisheit gegeben ward, wobei er sich eigentlich so
entwickelte, daß noch in Griechenland darauf gesehen
wurde, das Kind im Menschen bis zum Erdentode zu erhalten.
Diese Offenbarung der Urweisheit, sie ist — und das
hängt mit der ganzen Entwickelung der Menschheit zusammen
— nicht mehr da. Der Fortschritt des Menschen besteht zum
Teil darinnen, daß er nicht mehr eine ohne sein Zutun ihm
geoffenbarte Urweisheit bekommt, daß er sich durch seine
eigene Arbeit seine Urweisheit erringen muß. Das
hängt innig zusammen mit der Entwicklung des Impulses der
menschlichen Freiheit, der in der Gegenwart in seiner
größten Entwicklung steht. Der Fortschritt der
Menschheit ist nicht ein solcher, wie man sich leicht
vorstellt, der fortwährend gerade aufsteigt von einer
Stufe zur anderen; sondern was der Mensch in der neueren
Zeit aus sich selbst erringen muß, das muß er
sich dadurch erringen, daß er verloren hat das sich von
außen Offenbarende, das die tiefsten Weistümer in
sich geschlossen hat.
Der
Verlust der Urweisheit, die Notwendigkeit, durch eigene
menschliche Arbeit zur Weisheit zu kommen, das ist dasjenige,
was mit der dritten Vorbedingung für die griechische
Erziehung zusammenhängt.
So
daß wir sagen können: Die griechische Erziehung, wir
können sie bewundern, sie ist aber an drei Vorbedingungen
geknüpft: an das antike Sklaventum, an die antike Stellung
der Frau, an die antike Stellung der spirituellen Weisheit und
des, spirituellen Lebens. Alle drei sind heute nicht mehr da,
würden heute nicht mehr als menschenwürdig
angesehen werden. Wir leben in einer Zeit, in der die Frage
entsteht: Wie müssen wir erziehen, wenn wir uns
bewußt sind, daß diese drei Vorbedingungen gerade
durch den Fortschritt der Menschheit hinweggeräumt
sind? So müssen wir auf die Zeichen der Zeit
hinsehen, wenn wir aus inneren Gründen heraus den
richtigen Impuls für eine moderne Erziehung gewinnen
wollen.
Im
Grunde war nun die ganze sogenannte mittelalterliche
Entwickelung der Menschheit, die auf das Griechentum
folgte, und sogar bis zum heutigen Tag, ein durch die Tatsache
dieser Menschheitsentwickelung selbst gelieferter Beweis,
daß die Menschheit in bezug auf Erziehung und
Unterricht andere Wege einschlagen müsse, als die für
eine ältere Zeit so gesicherten griechischen Wege waren.
Die Menschennatur wurde eben eine andere. Es beruht die
Wirksamkeit, die Sicherheit der griechischen Erziehung
darauf, daß sie gebaut war auf die menschliche Gewohnheit,
auf dasjenige, was sich einbauen läßt in den
menschlichen Körper.
Bis
zum siebenten Lebensjahre, bis zum Zahnwechsel, entwickelt sich
die menschliche Wesenheit in innigem Zusammenhange mit dem
Körper. Der Körper aber entwickelt sich so,
daß seine Verrichtungen wie unbewußt ausgeübt
werden. Ja, sie sind erst dann die richtigen sieheren
Fähigkeiten, wenn sie unbewußt wirken; wenn ich mir
dasjenige, was ich tun soll, angeeignet habe im Handgriff, zu
dem ich gar nicht mehr irgendwelche intellektuelle
Überlegung brauche, sondern der sich von selber
ausführt. Wenn ich die Übung zur Gewohnheit gebracht
habe, dann habe ich dasjenige sicher errungen, was ich durch
den Körper erringen soll.
So
aber in Gewohnheiten ausbilden wollte das griechische Leben im
Grunde genommen das ganze menschliche Erdendasein. Was der
Mensch tun sollte bis zu seinem Tode hin von seiner Erziehung
an, das sollte eigentlich gewohnheitsmäßig getan
werden, so gewohnheitsmäßig, daß man es
eigentlich gar nicht unterlassen kann. Dann, wenn man die
Erziehung so anlegt, auf so etwas hinorientiert, dann kann man
das, was dem Menschen bis zum Zahnwechsel, bis zum
siebenten Jahre natürlich ist, forterhalten; dann
kann man die kindlichen Kräfte forterhalten, bis der
Mensch das Erdendasein durch den Tod vollendet.
Was
aber trat nun durch jene geschichtlichen Ereignisse ein, wo
ganz andere Völkerschaften von Osten nach dem Westen
während des Mittelalters herüberfluteten, die
namentlich in Mitteleuropa und im Westen sich festsetzten, bis
nach Amerika hin sich festsetzten und eine neue Zivilisation
begründeten, wo aufgenommen wurde vom Süden her
dasjenige, was diesem Süden natürlich war, wodurch
aber eben ganz andere Lebensgewohnheiten in die Menschheit
hineinkamen? Das bedingte auch eine ganz andere individuelle
Menschenentwickelung. Ein Mensch kam zum Beispiel herauf mit
dem Bewußtsein: Sklaverei darf es nicht geben, die Frau
muß respektiert werden, gleichzeitig damit kam in
der individuellen Menschenentwickelung das Bewußtsein
herauf: daß der junge Mensch zwischen dem siebenten und
vierzehnten Lebensjahre — wo also die Entwickelung nicht
mehr eine leibliche allein ist, sondern die Seele
gewissermaßen von dem Körper emanzipiert ist —
sich nicht mehr gefallen läßt, die Konservierung der
Kindheit so fortzusetzen, wie sie bisher üblich
war.
In
dem Lebensalter zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre
ist dies das wichtigste geschichtliche Ereignis des
Mittelalters und bis herauf in die neuere Zeit. Und heute erst
sehen wir die großen Kräfte, wo die Menschennatur am
stärksten revoltiert, wenn sie über das
vierzehnte, fünfzehnte Jahr hinausgewachsen ist und
eben noch das in sich trägt, was da revoltiert.
Wie
drückte sich dieses Revoltieren in der Menschennatur aus?
Aus der spirituellen Urweisheit, die bei den Griechen sozusagen
noch wie eine Selbstverständlichkeit herunterfloß,
wurde unter der römischmittelalterlichen Tradition
dasjenige, was nur noch durch das Buch, nur durch die Schrift
aufbewahrt war, und in der Tat nur auf die Autorität der
Tradition hin geglaubt wurde. Der Glaubensbegriff, wie er sich
während des Mittelalters entwickelte, war im Altertum und
noch bei den Griechen gar nicht da. Das wäre für das
Altertum und für die Griechen ein Nonsens gewesen. Der
Glaubensbegriff entwickelte sich erst, als die Urweisheit nicht
mehr unmittelbar floß, sondern nur noch aufbewahrt,
konserviert war.
Und
so ist ja im Grunde genommen für den größten
Teil der Menschheit alles, was sich auf das Spirituelle,
Übersinnliche bezieht, noch heute Tradition,
Überlieferung; es wird geglaubt, es ist nicht mehr
unmittelbar da. Die Natur und ihre Anschauung ist unmittelbar
da; dasjenige, was sich auf das Übersinnliche und dessen
Leben bezieht, ist überliefert, ist Tradition. Dieser
Tradition gibt sich ja die Menschheit hin bis herauf in
das Mittelalter und weiterhin, indem sie ja zuweilen
meint, sie erlebe dies. Aber die Wahrheit ist diese, daß
eben ein unmittelbar spirituelles Wissen, ein Geoffenbartes,
das zum schriftlich Aufbewahrten wurde, von Generation zu
Generation als Erbschaft da war, und nur auf die
Autorität der Tradition hin lebte. Das war das
Äußere. Und was war das Innere? Nun, sehen wir noch
einmal zurück nach Griechenland.
Durch die gewohnheitsmäßige Aneignung des ganzen
Menschenwesens, wodurch das Kind bis zum Tode im
Erdenmenschen bewahrt wurde, entwickelten sich die
Seelenfähigkeiten wie von selbst; für das Musische,
wie ich es gestern dargestellt habe aus der Atmung, aus der
Blutzirkulation heraus, und für den Intellekt, wie ich es
dargestellt habe, aus der Gymnastik heraus. Es entwickelte sich
bei dem Griechen, ohne daß es gepflegt wurde — weil
man die körperlichen Gewohnheiten entwickelte aus dieser
Summe der körperlichen Gewohnheiten ein wunderbares
Gedächtnis. Wir haben in unserer Zeit gar keinen Begriff
mehr von dem, was sich beim Griechen noch als Gedächtnis
entwickelte, ohne daß es gepflegt worden ist — und
im alten Orient war das noch bedeutsamer. Der Körper wurde
gepflegt, die Gewohnheiten wurden gepflegt, und da brachte der
Körper selber das Gedächtnis hervor. Durch seine
richtige Pflege brachte der Körper ein wunderbares
Gedächtnis hervor.
Daß wir von einem solchen Gedächtnis, wie es die
Griechen hatten, wodurch in wunderbarer Weise ihre
Geistesschätze so leicht überliefert und Gemeingut
werden konnten, keinen rechten Begriff haben, dafür ist
ein lebendiger Beweis der, daß wir bei Vorträgen, die
dann die Leute haben wollen, an die sie sich erinnern wollen,
Stenographen mitnehmen müssen, eine für die
griechische Zivilisation ganz absurde Tatsache. Denn wozu
brauchte man denn dasjenige, was man ja höchstens
weggeworfen hätte! Das Gedächtnis bewahrte das alles
treu, weil es getragen wurde von körperlicher
Tüchtigkeit. Die Seele entwickelte sich selber aus der
körperlichen Tüchtigkeit heraus. Indem sie sich
entwickelt hatte, stand sie gegenüber dem, was wie durch
Offenbarung von selbst da war: der spirituellen Urweisheit.
Diese spirituelle Urweisheit war nun nicht mehr da; sie war
Tradition. Sie mußte von Generationen zu
Generationen durch eine die Tradition bewahrende
Priesterschaft äußerlich getragen werden. Und
innerlich mußte man anfangen, dasjenige zu pflegen,
woran der Grieche als an eine Notwendigkeit, es zu pflegen, gar
nicht gedacht hätte. Man fing immer mehr und mehr an in
dem mittelalterlichen Erziehungswesen, das
Gedächtnis pflegen zu müssen. Man einverleibte dem
Gedächtnis dasjenige, was traditionell bewahrt
wurde.
So
hatte man außen die historische Tradition, innerlich
Erinnerung und Gedächtnis erziehungsmäßig zu
pflegen; das erste Seelische, das man pflegte, als die Seele
sich emanzipiert hatte: das Gedächtnis. Und wer da
weiß, welcher Wert noch vor kurzem in dem Schulwesen auf
das Gedächtnis gelegt worden ist, der kann auch
beurteilen, wie zäh sich diese Pflege des
Gedächtnisses, die durch eine historische
Notwendigkeit heraufgekommen ist, forterhalten hat.
Und
so schwankt das ganze Mittelalter hindurch das
Erziehungswesen wie ein Schiff im Sturme dahin, das sich
nicht recht halten kann; denn der Seele des Menschen kommt man
am schwersten bei. Dem Körper kommt man bei; über den
Geist kann man sich verständigen; die Seele aber sitzt so
im Individuellen des Menschen, daß man ihr am schwersten
beikommt.
Das
alles war aber eine Seelenangelegenheit. Ob der Mensch den
innerlichen Seelenweg fand zu jenen Autoritäten hin, die
ihm die Tradition bewahrten; ob die Pietät so
heranwachsen konnte, daß das Wort, das der
mittelalterliche Priesterlehrer verkündigte, um die
Tradition bei der Menschheit zu befestigen, stark genug
war; ob diese Pietät groß genug werden konnte: das
alles war seelische Angelegenheit. Und die Erinnerung pflegen,
das Gedächtnis pflegen, und bei dieser Pflege des
Gedächtnisses nicht den Menschen vergewaltigen, so
daß man ihm wie suggestiv gewisse Dinge einprägt, die
man bei ihm haben will: dazu gehört seelischer
Takt.
Was
da notwendig war, um der Seelenzivilisation des Mittelalters in
der richtigen Weise beizukommen, das wurde ebenso oft
beobachtet von taktvollen Menschen, wie es außer acht
gelassen wurde von taktlosen Menschen. Und in diesem
Schwanken zwischen demjenigen, was der menschlichen Seele gut
bekam, und demjenigen, was die menschliche Seele im
Tiefsten beleidigte, befand sich die Erziehung des
Mittelalters. Vieles, vieles hat sich von dieser
Erziehung des Mittelalters, ohne daß die Menschen es
bemerken, bis in die Gegenwart hinein erhalten.
Diese Erziehung des Mittelalters 1st aber so geworden, weil
zunächst die Seele nicht mehr das «Kind»
bewahren wollte, weil sie selbst erzogen werden sollte.
Und sie konnte nur erzogen werden nach den Zeitumständen
durch Tradition und Gedächtnis. — Wenn der Mensch
zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre ist, dann ist eine
Art labiler Zustand in seinem Menschenwesen. Das Seelische
wirkt im Menschen nicht in jener Festigkeit wie das
Körperliche bis zum siebenten Jahre hin, und die
Orientierung durch den Geist ist noch nicht da.
Alles gewinnt einen intimen Charakter, der Pietät und
Zartheit notwendig macht.
Das
alles ließ das Erziehungswesen durch lange Zeit innerhalb
der Menschheitsentwickelung eben auch in ein unbestimmtes,
unklares Fahrwasser kommen, ließ die Zeit, in der
Tradition und Gedächtnis gepflegt werden mußten, als
eine für das Erziehungswesen außerordentlich
schwierige erscheinen. Heute leben wir in einer Zeit, in der
der Mensch durch seine naturgemäße Entwickelung nun
eine andere Sicherheit haben will als diejenige, die auf
solchen labilen Grundlagen beruhte, wie sie das Mittelalter
hatte. Und dieses Suchen nach anderen Grundlagen, das
drückt sich aus in den zahlreichen Bestrebungen nach
erzieherischen Reformen in unserer Zeit.
Aus
der Erkenntnis dieser Tatsache ist die
Waldorfschul-Pädagogik hervorgegangen. Sie ruht auf der
Frage: Wie kann erzogen werden, wenn die Seele zwischen dem
siebenten und vierzehnten Lebensjahre weiterbehält die
Revolte gegen das Konservieren der Kindheit? Wie kann aber
erzogen werden, wenn der Mensch außerdem noch jenes alte,
mittelalterliche Verhältnis zu Tradition und
Gedächtnis verloren hat, wie er es eben verloren hat in
der neueren Zeit? Außen hat der Mensch das Vertrauen zur
Tradition verloren; innen will der Mensch ein freies Wesen
werden, das in jedem Augenblicke unbefangen dem Leben
gegenüberstehen will. Er will nicht sein ganzes Leben
hindurch auf einer Erinnerungsgrundlage stehen.
Das
ist der moderne Mensch, der nun innerlich wieder von
Tradition und Gedächtnis frei werden will. Und wie
sehr auch gewisse Glieder unserer Menschheit heute noch die
alte Zeit konservieren möchten — es geht
nicht. Einfach die Tatsache der vielen
Erziehungs-Reformbestrebungen zeigt an, daß die große
Frage vor uns steht: Wie müssen wir weiter erziehen, wenn
nun — geradeso wie für das Mittelalter die
Unmöglichkeit eingetreten ist, im griechischen Sinne zu
erziehen — heute die Notwendigkeit vorliegt, nicht
mehr bloß auf Tradition und Gedächtnis hin
erziehen zu können, sondern erziehen zu müssen auf
den unmittelbaren Lebensaugenblick, durch den der Mensch in das
Dasein auf Erden hineingestellt ist, wo er aus den
augenblicklich gegebenen Tatsachen heraus als freier
Mensch zur Entscheidung kommen muß? Wie müssen wir
freie Menschen erziehen? — Das ist die Frage, die heute
eigentlich zum ersten Male in dieser Intensität vor die
Menschheit hingestellt wird.
Mit
Rücksicht auf die schon vorgerückte Zeit will ich, um
den Gedanken ganz abzuschließen, dies nur noch in
wenigen Sätzen tun, und dasjenige, was als notwendige
Erziehungsmethode für die Gegenwart zu charakterisieren
ist, dann für den morgigen Vortrag versparen.
Sieht man hin auf die griechische Erziehung, so muß man
den Gymnasten anerkennen als den Bewahrer der Kindheit in den
zweiten menschlichen Lebensabschnitt des Kindes hinein, in das
Lebensalter zwischen dem siebenten und vierzehnten und
fünfzehnten Jahre hinein. Das «Kind» soll
bewahrt werden. Die Kräfte der Kindheit sollen dem
Menschen bleiben bis zu seinem Erdentode hin; er darf diese
Kräfte konservieren. Der griechische Erzieher, der
Gymnast, hat im ganzen dasjenige zu pflegen, worauf er
hinweisen muß, wenn er das Kind zwischen dem siebenten und
vierzehnten Lebensjahre vor sich hat, als auf die
Naturgrundlage. Die vererbte Naturgrundlage des Kindes, die
muß er aus seiner spirituellen Weisheit heraus zu
beurteilen verstehen, deren Konservator muß er
werden.
Indem die mittelalterliche Menschheitsentwickelung über
diese Dinge hinübergegangen ist, entwickelte sich unsere
Gegenwart heraus. Dasjenige, was der moderne Mensch eigentlich
in der sozialen Ordnung ist, das wird erst jetzt eine gewisse
Bewußtseinstatsache. Diese Bewußtseinstatsache
kann im individuellen Menschenleben sich nicht früher
vollziehen als nach der Geschlechtsreife, nach dem vierzehnten,
fünfzehnten Lebensjahre. Da tritt im Menschenwesen
dasjenige hervor, was ich wiederholentlich in den
nächsten Vorträgen zu charakterisieren haben
werde als das Bewußtsein der eigentlichen Wesenheit der
inneren menschlichen Freiheit. Da kommt der Mensch eigentlich
zu sich selbst. Und wenn, wie das ja heute zuweilen geschieht,
Menschen unter dem vierzehnten, fünfzehnten Jahre, vor der
Geschlechtsreife zu diesem Bewußtsein gekommen zu
sein glauben, so ist das nur eine Nachäffung des
späteren Lebensalters. Es ist keine ursprüngliche
Tatsache. Diese ursprüngliche Tatsache, die nach der
Geschlechtsreife eintritt, suchte der Grieche geradezu für
den Menschen zu vermeiden; denn die Stärke, mit der er die
Natur, das Kind hereinrief in das Menschendasein, umdunkelte,
verfinsterte das volle Erleben dieses
Bewußtseinsaugenblicks nach der Geschlechtsreife. Der
Mensch ging wie im dumpfen Bewußtsein, durch die Natur
zurückgehalten, durch diese Tatsache hindurch.
Die
menschliche Entwickelung im Laufe der Geschichte ist so,
daß der Mensch das jetzt nicht mehr kann. Diese
Bewußtseinstatsache würde mit elementarer,
vulkanischer Gewalt nach der Geschlechtsreife
hervorbrechen, wenn man versuchen wollte sie
zurückzuhalten.
Daher rechnete der Grieche in dem Lebensalter, das wir das
volksschulmäßige Lebensalter nennen, zwischen
dem siebenten und vierzehnten Jahre, mit dem ersten
natürlichen Leben des Kindes.
Wir
haben zu rechnen mit dem, was auf die Geschlechtsreife folgt,
was der von uns durch sieben Jahre geführte Knabe, oder
das durch sieben Jahre geführte Mädchen, nach der
Geschlechtsreife als das volle Menschenbewußtsein erleben
werden. Wir dürfen das nicht mehr in ein traumhaftes
Dunkel hinuntertauchen, wie es bei den Griechen, bei den
hervorragendsten Griechen der Fall ist, selbst noch bei Plato
und Aristoteles, die, weil es bei ihnen der Fall war, die
Sklaverei als etwas Selbstverständliches hingenommen
haben. Weil die Erziehung so war, daß sie diese wichtigste
Menschentatsache nach der Geschlechtsreife verdunkelte, konnte
der Grieche Bewahrer der ersten Kindheit sein zwischen dem
siebenten und vierzehnten Lebensjahre.
Wir
müssen Propheten des späteren Menschentums werden,
wenn wir in der richtigen Weise erziehen wollen. Der Grieche
konnte sich dem Instinkt überlassen, denn er hatte die
Naturgrundlage weiter zu konservieren. Wir müssen als
Erzieher Intuitionen entwickeln können. Wir müssen
alles Menschliche vorausnehmen können, wenn wir
Erzieher und Unterrichter sein wollen. Denn das wird das
Wesentliche sein in unserer Erziehung, daß wir in das Kind
zwischen dem siebenten und vierzehnten Lebensjahre
dasjenige hineinbringen, woran sich das Kind später, wenn
es zum charakterisierten Menschheitsbewußtsein kommt, so
erinnern kann, daß es mit einer inneren Befriedigung
blickt auf das, was wir in es hineingepflanzt haben, daß
es zu uns «Ja» sagt, wenn wir seine Lehrer und
Erzieher gewesen sind. Schlimm erziehen wir heute, wenn
später, nachdem das Kind in das Leben getreten ist, dieses
Kind so auf uns zurückschaut, daß es nicht mehr zu
uns «Ja» sagen kann.
So
müssen wir intuitive Erzieher haben, die sich einlassen
wiederum auf die Art und Weise, wie man die geistige Welt
erringen kann, wie man das spirituelle Leben erringen kann, und
die zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre
dasjenige in das Kind hineinbringen können, wozu es
mit Befriedigung später aufschauen kann.
Der
griechische Erzieher war ein Konservator. Er sagte: Im Kinde
nach dem siebenten Jahre schlummert, was in ihm früher da
war; ich habe es zu erwecken. — Wie kann alle Erziehung
so werden, daß wir in das kindliche Alter
hineinverpflanzen, was später von selbst in dem freien
Menschen aufwachen darf?
Wir
haben eine Erziehung in die Zukunft hineinzuführen. Das
macht es, daß in unserem heutigen Zeitalter die ganze
Angelegenheit der Erziehung zu etwas anderem werden muß,
als sie war. In Griechenland war sie eine Tatsache, die
sich den Menschen durch die Hingäbe an das
Natürliche ergab. Man möchte sagen: Eine ins
Menschenleben hereinspielende Naturtatsache war die
Erziehung. Durch das ganze bisherige Leben hat sie sich
herausgearbeitet aus dieser Naturgrundlage.
Und
wenn wir heute als Erzieher in der Schule stehen, so
müssen wir uns bewußt sein dessen: so wie wir dem
Kinde gegenübertreten, so müssen wir dem Kinde etwas
bieten, zu dem es später, wenn es zum selbständigen
Bewußtsein erwacht, «Ja» sagen kann. Es muß
das Kind uns nicht nur Heben während der Schulzeit,
sondern nach der Schulzeit in seinem reifen Urteile die Liebe
zu uns als Lehrer und Erzieher gerechtfertigt finden;
sonst ist die Erziehung nur eine halbe, daher eine sehr
schwache Erziehung.
Wenn wir uns dessen bewußt werden, dann werden wir uns
klar darüber, in welch hohem Grade die Erziehung und das
Unterrichtswesen aus einer ins Menschenwesen
hineinspielenden Naturtatsache eine sittliche Tat werden
muß.
Das
ist der tiefste innere Kampf, den heute jene kämpfen, die
aus dem innersten Menschenwesen heraus etwas verstehen von der
notwendigen Gestalt, welche Erziehung und Unterricht
annehmen müssen. Das ist dasjenige, was man
fühlt. Es drängt sich in die Frage zusammen:
Wie machen wir im höchsten Sinne für den freien
Menschen Erziehung und Unterricht zu einer freien Tat selber,
das heißt zu einer Im höchsten Grade sittlichen Tat?
Wie wird Erziehung ganz und gar eine sittliche Angelegenheit
der Menschheit?
Daran hängen wir heute als an dem großen Rätsel,
das beantwortet werden muß, wenn die
Erziehungs-Reformbestrebungen, die so löblich sind, in der
richtigen Weise weiter in die Zukunft hinein orientiert werden
sollen.
|