FÜNFTER VORTRAG
Ilkley, 9. August 1923
Gestern versuchte ich auszuführen, wie Denken und
Fühlen im Menschen um das siebente und das vierzehnte Jahr
herum selbständig werden, sich gewissermaßen
von der körperlichen Organisation losreißen. Heute
möchte ich zeigen, wie der "Wille in der menschlichen
Wesenheit sich allmählich während des Wachstums
zu dieser Selbständigkeit durchringt.
Im
Grunde genommen ist der menschliche Wille am längsten an
den Organismus gebunden. Bis gegen das zwanzigste,
einundzwanzigste Jahr hin ist alles, was menschlicher
Wille ist, intensiv abhängig von der organischen
Tätigkeit; ist abhängig von der organischen
Tätigkeit, die namentlich ausgeführt wird durch
die Art und Weise, wie die Atmung sich fortsetzt in die
Blutzirkulation, und wie die Blutzirkulation wiederum
durch das innere Feuer, durch die innere Wärme, die im
Organismus dadurch entwickelt wird, den Bewegungsorganismus
ergreift, dasjenige ergreift, was sich ausdrückt in den
Beinen, den Füßen, Armen, Händen, wenn der
Mensch sich bewegt und in willensmäßige
Offenbarung versetzt.
Man
kann sagen: Alles Willensmäßige ist selbst noch bei
dem Kinde zwischen dem fünfzehnten und einundzwanzigsten
Jahre abhängig von der Art und Weise, wie der Organismus
in die Bewegung hineinwirkt. Gerade der Pädagoge
muß sich unbefangene Beobachtung für solche Dinge
wahren. Man muß sehen können, wie ein junger Mensch
in seinem Willen energisch ist, oder eigentlich die Anlage dazu
hat, energisch zu werden, wenn er stark mit dem hinteren Teil
seines Fußes, mit der Ferse, auf den Boden
aufstößt in seinem Gang, wie er weniger energisch
veranlagt ist in seinem Willen, wenn sein Gang so ist, daß
er mehr mit dem Vorderteil des Fußes tänzelnd sich
bewegt.
Das
alles aber: wie der Mensch seine Beine setzt, wie der Mensch in
der Lage ist, die Bewegung der Arme fortzusetzen in die
Geschicklichkeit der Finger, das ist selbst noch für
den jungen Menschen nach dem fünfzehnten Jahre eine
äußere physische Offenbarung seines Willens.
Und
der Wille emanzipiert sich erst um das zwanzigste Jahr herum in
derselben Weise von dem Organismus, wie sich das Gefühl um
das vierzehnte Jahr herum, das Denken um das siebente Jahr beim
Zahnwechsel emanzipiert. Nur sind die äußeren
Vorgänge, die sich bei der Offenbarung des emanzipierten
Denkens zeigen, sehr auffällig; jeder kann sie leicht
sehen, das Zähnewechseln ist eine sehr auffällige
Erscheinung im Menschenleben. Die Emanzipation des
Gefühles tritt schon weniger auffällig hervor. Sie
tritt hervor in der Aneignung der sogenannten sekundären
Geschlechtsorgane, der Vergrößerung der
Geschlechtsorgane beim Knaben, der entsprechenden
Umänderung beim Mädchen, der Veränderung der
Stimme beim Knaben, der Veränderung des inneren
Lebenshabitus beim Mädchen und so weiter. Da sind die
äußeren Symptome für die Metamorphose des
Menschen schon weniger auffällig. Das Gefühl also
emanzipiert sich mehr innerlich von der physischen Organisation
zur seelischen Selbständigkeit.
Die
äußeren Symptome für die Willensemanzipation um
das zwanzigste, einundzwanzigste Jahr herum treten noch
weniger äußerlich hervor und werden von einer im
Äußerlichen lebenden Zeit, wie es die unselige ist,
deshalb fast gar nicht bemerkt. Bei uns, in unserem
Zeitalter sind ja die Menschen nach ihrer eigenen Meinung
nach dem vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahr
erwachsen; und daß man nach dem vierzehnten,
fünfzehnten Lebensjahre nicht nur äußere
Kenntnis, sondern auch noch innere Charakterbildung,
gerade Willensbildung sich aneignen soll, das erkennen unsere
jungen Leute zwischen dem fünfzehnten und
einundzwanzigsten Jahre ja nicht an. Sie beginnen eher schon
als Reformatoren, als Lehrer aufzutreten, und statt sich zu
beschäftigen mit dem, was sie lernen können von
den Älteren, schreiben sie Feuilletons oder dergleichen
vor dem einundzwanzigsten Lebensjähre. Es ist dies ganz
begreiflich in einer auf das Äußere gerichteten
Zeit.
Für die verbirgt sich jene starke Änderung, die auch
noch mit dem zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahre im
Menschen vor sich geht, weil sie durchaus innerlich ist. Aber
sie ist da, und man kann sie etwa in der folgenden Art
beschreiben.
Bis
zum einundzwanzigsten Jahre, approximativ natürlich, wie
ich ja schon in den letzten Tagen gesagt habe, bis zum
einundzwanzigsten Jahre approximativ ist der Mensch noch nicht
ein geschlossenes persönliches Wesen, sondern er ist
in einer starken Weise hingegeben an die Gravitation, an die
Schwerkraft der Erde. Er kämpft mit der Schwerkraft der
Erde bis approximativ zum einundzwanzigsten Lebensjahre.
Und in dieser Beziehung wird die äußere Wissenschaft
noch manche Entdeckungen machen, die heute schon klar sind
für jene exakte Clairvoyance, von der ich gestern
gesprochen habe.
Wir
tragen in unserem Blute Eisen in den Blutkörperchen. Diese
Blutkörperchen sind im wesentlichen bis zum
einundzwanzigsten Jahre hin so, daß sie in ihrer Schwere
überwiegen. Vom einundzwanzigsten Jahre ab bekommt der
Mensch gewissermaßen von unten herauf einen
Gegenstoß, eine Art von Auftrieb seines ganzen Blutes. Der
Mensch setzt mit dem einundzwanzigsten Lebensjahre die Sohle
seines Fußes anders auf die Erde auf, als das vorher der
Fall war. Das weiß man nur heute nicht, aber das ist von
einer fundamentalen Wichtigkeit für die ganze
Menschenerkenntnis, insofern sich diese in Erziehung
offenbaren soll. Es wirkt gewissermaßen mit jedem
Fußaufsetzen eine Kraft von unten nach oben im
menschlichen Organismus vom einundzwanzigsten Jahre an,
die vorher nicht gewirkt hat. Der Mensch wird ein geschlossenes
Wesen, das die von oben nach unten strömenden Kräfte
paralysiert hat durch die von unten nach oben strömenden
Kräfte, während er vorher im wesentlichen alle
Kräfte seines Wachstums, seiner Entwickelung, vom
Kopfe nach unten strömend hat.
Dieses Strömen der Kräfte seines Wachstums vom Kopfe
nach unten, das ist beim ganz kleinen Kinde bis zum
siebenten Lebensjahre sogar am allerstärksten. Da
geht von der Kopforganisation die ganze menschliche
Körperorganisation aus. Der Kopf tut bis zum siebenten
Jahre alles; erst wenn sich das Denken mit dem Zahnwechsel
emanzipiert, löst sich der Kopf auch los von dieser
starken Kraft, die von oben nach unten wirkt.
Der
Mensch heute weiß viel über positiven und negativen
Magnetismus. Er weiß viel über positive und
negative Elektrizität. Aber er weiß
außerordentlich wenig über dasjenige, was im Menschen
selber vor sich geht. Daß sich die Kräfte vom Kopfe
zu den Füßen und von den Füßen zum Kopfe
erst einrichten in den ersten zwei Lebensjahrzehnten, das
ist eine bedeutsame anthroposophische Wahrheit, die
fundamental bedeutsam ist für das ganze
Erziehungswesen, und deren man sich heute eigentlich gar nicht
bewußt ist. Und doch, es ruht auf dieser Frage
überhaupt alle Pädagogik, alles Erziehungswesen. Denn
warum erziehen wir? Das ist die große Frage.
Wir
müssen uns — indem wir innerhalb der Menschheit,
nicht innerhalb der Tierheit stehen — fragen: Warum
erziehen wir? Warum wachsen die Tiere ohne Erziehung in
ihre Lebensaufgaben hinein? Warum müssen wir Menschen
überhaupt den Menschen erziehen? Warum geschieht es
nicht so, daß der Mensch einfach durch Anschauung und
Nachahmung sich dasjenige für das Leben erwirbt, was er
braucht? Warum muß ein Erzieher, ein Pädagoge in die
Freiheit des Kindes eingreifen? — Eine Frage, die
man meistens gar nicht aufwirft, weil man die Sache für
ganz selbstverständlich hält.
Aber man ist erst Pädagoge, wenn man diese Frage nicht
für selbstverständlich hält, wenn man
darauf kommt, daß es ja eigentlich eine Aufdringlichkeit
gegenüber dem Kinde ist, wenn man sich hinstellt und es
erziehen will. Warum soll das Kind sich das gefallen lassen?
Wir betrachten es als unser selbstverständliches
Geschäft, die Kinder zu erziehen — die Kinder in
ihrer Unbewußtheit ganz und gar nicht! Und deshalb reden
wir viel über die Ungezogenheit der Kinder und denken gar
nicht, daß wir ja — zwar nicht für das helle
Bewußtsein, aber für das Unterbewußte —
den Kindern höchst komisch vorkommen müssen, wenn wir
irgend etwas von außen an sie heranbringen. Sie haben eine
volle Berechtigung, daß ihnen das zunächst recht
unsympathisch ist. Und die große Frage der Erziehung
ist diese: Wie verwandeln wir dasjenige, was den Kindern
zunächst unsympathisch sein muß, in Sympathie?
Dazu ist aber Gelegenheit gerade gegeben zwischen dem siebenten
und vierzehnten Jahre. Denn mit dem siebenten Lebensjahre wird
der Kopf, der Träger des Denkens, selbständig. Er
entwickelt nicht mehr so stark nach unten gehende Kräfte,
wie das beim Kinde bis zum siebenten Jahre der Fall ist.
Er wird gewissermaßen bequem und besorgt seine eigenen
Angelegenheiten.
Wenn wir nun den Sprung hinüber machen zum vierzehnten,
fünfzehnten Jahre, da werden die Bewegungsorgane
erst willensgemäß persönlich. Der Wille wird in
den Bewegungsorganen selbständig. Da wirken erst
diejenigen Kräfte von unten nach oben, die der Mensch
haben muß als Willenskräfte. Denn aller Wille wirkt
von unten nach oben, alles Denken wirkt von oben nach unten.
Vom Himmel zur Erde geht die Richtung des Denkens, von der Erde
zum Himmel geht die Richtung des Willens. Beide sind in dem
Lebensalter zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre nicht
miteinander verbunden, nicht ineinander eingeschaltet. Das, was
von oben nach unten geht, verliert sich wiederum in
unbestimmter Weise. Und im mittleren Menschen, wo Atmung und
Zirkulation lebt, ihren Ursprung hat, da lebt auch dasjenige,
was sich in dieser Zeit als der Gefühlsmensch emanzipiert.
Und indem wir in der richtigen Weise den Gefühlsmenschen
zwischen dem siebenten und vierzehnten Lebensjahre ausbilden,
bringen wir das, was von oben nach unten geht und von unten
nach oben, in das richtige Verhältnis.
So
handelt es sich um nichts Geringeres, als daß wir zwischen
dem siebenten und dem vierzehnten Lebensjahre des Kindes das
Denken in die richtige Verbindung mit dem Wollen, mit dem
Willen bringen. Und das kann verfehlt werden. Deshalb
müssen wir erziehen, weil beim Tiere diese
Zusammenschaltung vom Denken, sofern das Tier ein traumhaftes
Denken hat, und vom Willen, sofern das Tier einen Willen hat,
von selbst geschieht; beim Menschen geschieht die
Zusammenschaltung von Denken und Wille nicht von selbst.
Beim Tiere ist sie eine natürliche Handlung, beim Menschen
muß sie eine sittliche, eine moralische Handlung werden.
Und deshalb kann der Mensch ein moralisches Wesen werden, weil
er hier auf Erden Gelegenheit hat, erst sein Denken mit seinem
Willen zusammenzuschalten, in Verbindung zu bringen. Darauf
beruht der ganze menschliche Charakter, insofern er aus
dem Inneren hervorgeht, daß die richtige Harmonie
hervorgerufen wird durch menschliche Tätigkeit
zwischen Denken und Wille. Und dieses Zusammenstimmen, dieses
Harmonisieren von Denken und Wille besorgten die Griechen
dadurch, daß sie gewissermaßen die Strömung vom
Kopf zu den Gliedern, die in den ersten Jahren von selbst da
ist, in ihrer Gymnastik wieder hervorriefen, daß sie Arme
und Beine so bewegen ließen in ihrem Tanzen und Ringen,
daß eingeschaltet wurde die Kopftätigkeit in der
richtigen Weise.
Diese Zivilisation können wir nicht mehr haben. Wir
müssen vom Geist ausgehen. Deshalb müssen wir
verstehen, wie der Wille des Menschen durch die geschilderten
inneren Vorgänge mit dem einundzwanzigsten Jahre in
den Bewegungsorganen so emanzipiert wird, wie das Gefühl
mit dem vierzehnten Jahre, das Denken mit dem siebenten Jahre
in der menschlichen Organisation emanzipiert wird.
Das
ist dasjenige, was die moderne Zivilisation im Grunde
genommen verschlafen hat. Verschlafen hat sie die
Einsicht, daß die Erziehung bestehen müßte
in der Zusammenschaltung des Willens, der erst mit dem
zwanzigsten Lebensjahre voll emanzipiert als seelische
Eigenschaft erscheint, mit dem Denken, das schon im
siebenten Jahre erscheint. Dann erst bekommt man die
richtige Ehrfurcht für die Entwickelung des
Menschen, wenn man, so wie wir es gestern gemacht haben in
bezug auf Denken und Fühlen, und wie wir es eben nun
versuchten auch mit dem Willen, den Geist heranzutragen
an den körperlichen Menschen; wenn wir lernen den
Willen heranzutragen an die menschlichen Bewegungsglieder,
lernen, ihn anschauen in dem ganz andersartigen Bewegen der
Finger, der Arme, in dem nun persönlichen Aufsetzen der
Füße mit dem zwanzigsten, einundzwanzigsten Jahre,
was sich seit dem fünfzehnten Jahre sukzessiv
vorbereitet.
Wenn wir in dieser Weise wiederum den Geist nicht als
Assoziation von Ideen, als Geistskelett haben, sondern als
lebendigen Geist, der nun auch anschauen kann, wie der Mensch
seine Beine aufsetzt, wie er seine Finger bewegt, dann sind wir
wiederum herangekommen an den Menschen, dann können wir
wiederum erziehen.
Diese Einsicht war instinktiv bei den Griechen noch vorhanden.
Sie verlor sich nach und nach, aber nur langsam; sie bestand
traditionell noch fort bis ins 16. Jahrhundert hinein. Und
dasjenige, was wir hauptsächlich im 16. Jahrhundert
beobachten, das ist, daß die zivilisierte Menschheit im
ganzen die Einsicht verliert in das Verhältnis zwischen
Denken und Willen. Und es beginnen die Menschen erst seit jener
Zeit, seit dem 16. Jahrhundert, nachzudenken über
Erziehung und haben die wichtigsten Fragen der
Menschenerkenntnis gar nicht im Auge. Sie verstehen den
Menschen nicht und wollen den Menschen erziehen! Das ist die
Tragik, die seit dem 16. Jahrhundert waltet. Und diese Tragik
hat sich bis in unsere Gegenwart herein erhalten.
In
unserer Gegenwart fühlen und sehen die Menschen: es
muß eine Metamorphose eintreten in bezug auf das
Erziehungswesen. Es entstehen überall die
Vereinigungen für Erziehungswesen, für
Reformfragen im Erziehungswesen. Man fühlt, daß
die Erziehung etwas braucht, aber man geht nicht an die
fundamentale Frage: Wie harmonisiert man im Menschenwesen
Denken und Wille? — Man sagt höchstens: Da ist
Zuviel Intellektualismus; da muß man weniger
intellektuell erziehen; da muß man den Willen
erziehen.
Man
muß den Willen für sich nicht erziehen. Alles Reden
darüber: Was ist besser, Gedankenerziehung oder
Willenserziehung? — all dieses Reden ist dilettantisch.
Sachgemäß, das heißt,
menschenwesengemäß ist allein die Frage: Wie bringen
wir das sich im Kopfe emanzipierende Denken mit dem in den
Gliedern sich emanzipierenden Willen in die richtige Harmonie?
— Weder einseitig auf das Denken, noch einseitig auf den
Willen, sondern allseitig auf den ganzen Menschen müssen
wir hinblicken, wenn wir Erzieher werden wollen.
Das
können wir nicht mit den sich assoziierenden Ideen, an die
wir gewöhnt sind, wenn wir heute von Geist reden; das
können wir nur, wenn wir in der Weise, wie ich es
angedeutet habe in meinem ersten Vortrage und gestern wiederum,
von dem Denken, das in der heutigen Zeit herrscht, so ergriffen
werden, als wäre es der Leichnam des lebendigen
Denkens, und als müßten wir uns durch eine eigene
Entwickelung hindurcharbeiten zum lebendigen Denken.
In
dieser Beziehung möchte ich nun eine erste fundamentale
Sache für alle Reform des Erziehungswesens jetzt in diesem
Augenblicke ungeniert hinstellen. Aber ich muß
selbstverständlich um Entschuldigung bitten, wenn
ich diese Wahrheit ungeniert hinstelle, weil sie, indem
man sie ausspricht, fast ausschaut wie eine Beleidigung der
gegenwärtigen Menschheit, und beleidigen mag man
doch nicht gern.
Es
ist eine Eigentümlichkeit der gegenwärtigen
Zivilisation, daß die Menschen wissen: es muß anders
erzogen werden. Daher überall Reformvereine für
Erziehung. Sie wissen ganz gut: es wird nicht ordentlich
erzogen, daher muß es anders werden. Aber nun sind die
Menschen ebenso überzeugt, daß sie
außerordentlich gut wissen, wie erzogen wird, daß
jeder einzelne in seinem Vereine sagen kann, wie erzogen werden
soll.
Man
sollte eigentlich denken: wenn so durchaus schlecht erzogen
worden ist, daß man so gründlich reformieren
muß, und man ist doch selbst dabeigewesen bei der
schlechten Erziehung, so müßte diese schlechte
Erziehung einen nicht gleich von vornherein fähig machen,
nun ganz gut, radikal gut wiederum zu wissen, wie man erziehen
soll. Heute weiß jeder Mensch, daß er schlecht
erzogen ist — mit den anderen. Aber er nimmt
ebensogut an, daß er ganz vollkommen, radikal gut
weiß, wie anders, wie gut erzogen werden soll. Und weil
das jeder Mensch weiß, so sprossen die
Erziehungs-Vereinigungen wie Pilze auf.
Von
diesem Grundsatz ist die Waldorfschul-Methode nicht
ausgegangen, sondern sie ist ausgegangen davon, daß
man noch nicht weiß, wie erzogen werden soll, und daß
man sich vor allen Dingen eine gründliche, fundamentale
Menschenerkenntnis anzueignen habe. Der erste seminaristische
Kursus für die Waldorfschule war daher eine
gründliche Menschenerkenntnis, damit die
Waldorfschullehrer allmählich lernten, was sie ja noch
nicht wissen konnten: wie erzogen werden soll. Denn, wie
erzogen werden soll, kann man erst wissen, wenn man weiß,
wie der Mensch eigentlich ist.
Eine gründliche, fundamentale Menschenerkenntnis war das,
was zunächst den Waldorfschullehrern in dem
seminaristischen Kursus übergeben worden ist. Davon konnte
dann erhofft werden, daß sie den inneren Enthusiasmus und
die Liebe für die Erziehung aus der Betrachtung der
wahren Menschennatur erlangen. Denn wenn man den Menschen
kennt, dann muß das Beste für die Erziehungspraxis
die selbständig im Menschen aufkeimende Liebe für den
Menschen sein. Pädagogik ist, im Grunde genommen, aus
Menschenerkenntnis heraus resultierende Liebe zum
Menschen. Mindestens kann sie nur darauf aufgebaut sein.
Nun, für denjenigen, der das Menschenleben, wie es in der
gegenwärtigen Zivilisation sich offenbart,
äußerlich nimmt, für den werden die zahlreichen
Erziehungsvereine eine äußere Offenbarung dafür
sein, daß man gegenwärtig möglichst viel
weiß, wie erzogen werden soll; für denjenigen, der
das Menschenleben tiefer betrachtet, ist das nicht der Fall.
Bei den Griechen war es ein Instinkt, der erzog. Man redete
nicht viel über Erziehung. Plato war der erste, der
— aus einer gewissen philosophischen Unerzogenheit
heraus — auch nicht viel, aber einiges über
Erziehung redete.
Und
sehr viel über Erziehung zu reden fing man eigentlich erst
im 16. Jahrhundert an. Die Menschheit redet nämlich
meistens sehr wenig von dem, was sie kann, und sie redet
sehr viel von dem, was sie nicht kann. Und für den
tieferen Menschenkenner ist, wenn viel von einer Sache geredet
wird, das nicht ein Zeichen dafür, daß man diese
Sache versteht; sondern das menschliche Leben ist für den
tieferen Kenner so, daß wenn in irgendeinem Zeitalter
auftaucht das Bestreben, über eine Sache möglichst
viel zu reden, dies ein Zeichen ist, daß man von einer
Sache möglichst wenig weiß! Und so ist für den,
der eigentlich hineinschaut in die heutige Zivilisation, das
Auftauchen der Erziehungsfrage ein Hindeuten darauf,
daß man nicht mehr weiß, wie es mit der Entwickelung
der Menschen beschaffen ist.
Das
ist allerdings eine Sache, wegen der man, wenn man sie
erwähnt, um Entschuldigung bitten muß. Das tue
ich auch mit allem schuldigen Respekt. Aber es kann die
Wahrheit doch nicht verhüllt werden, sie muß gesagt
werden. Und wenn die Waldorfschul-Methode einiges erreichen
wird, so wird sie es namentlich dadurch, daß sie
ausgegangen ist davon, anstelle der Unkenntnis über
die menschliche Wesenheit die Kenntnis von der menschlichen
Wesenheit zu setzen, an die Stelle eines bloß
äußerlichen anthropologischen Herumredens über
den Menschen eine wirkliche anthroposophische Einsicht in das
Innere der Menschennatur zu setzen, das heißt, den Geist
als etwas Lebendiges in den körperlichen Menschen
bis in die körperlichen Funktionen hineinzutragen.
Es
wird einmal ebenso selbstverständlich sein, vom Menschen
mit Kenntnis zu sprechen, wie es heute fast
selbstverständlich ist, mit Unkenntnis vom Menschen
zu sprechen. Man wird einstmals auch in der allgemeinen
Zivilisation wissen, wie das Denken zusammenhängt mit der
Kraft, welche die Zähne wachsen läßt. Man wird
einstmals beobachten können, wie die innere Kraft
des Fühlens zusammenhängt mit dem, was sich
ausdrückt von den Brustorganen aus in der Bewegung
der Lippen.
Man
wird in der Umänderung der Lippenbewegungen, der
Beherrschung der Lippenbewegungen durch das menschliche
Gefühl, die sich entwickeln zwischen dem siebenten und
vierzehnten Jahre, ein wichtiges äußeres
Anzeichen sehen für eine innere Entwickelung des Menschen.
Und man wird sehen, wie alles dasjenige, was der Mensch sich
erwirbt zwischen dem vierzehnten, fünfzehnten und
einundzwanzigsten Lebensjahre an Konsolidierung der
Kräfte, die von unten nach oben gehen, man wird merken,
daß alle diese Kräfte sich stauen gerade in dem
Kopfe des Menschen selbst.
Und
so wie in den Zähnen zum Vorschein kommt dasjenige, was
denkerisch ist, in den Lippen dasjenige, was im Gefühle
wurzelt, so wird in dem außerordentlich wichtigen
Organismus, in dem Gaumen-Organismus, der die
Mundhöhle nach rückwärts abschließt,
sichtbar werden für eine wirkliche Menschenkunde die Art
und Weise, wie die Kräfte von unten nach oben wirken und
sich gerade im Gaumen stauen, so daß sie übergehen in
die Sprachwirklichkeit.
Wird man einmal nicht nur in das Mikroskop oder in das Teleskop
hineinschauen, um das Kleinste und Größte zu sehen,
sondern wird man hinschauen auf dasjenige, was einem
äußerlich in der Welt entgegentritt, was man
aber heute nicht sieht, trotz Mikroskop und Teleskop,
dann wird man wahrnehmen, wie in den Zahnlauten das
Denkerische des Menschen lebt, in den Lippenlauten das
Fühlende des Menschen lebt, wie in den Gaumenlauten, die
insbesondere die Zunge impulsieren, das Willensmäßige
des Menschen lebt; und man wird in der Sprache durch
Zahnlaute, Lippen- und Gaumenlaute einen Abdruck des ganzen
Menschen wiederum sehen, wie in jeder menschlichen
Äußerung.
Heute bemühen sich die Menschen, in den Linien der Hand
und in ähnlichen äußeren Dingen zu lesen. Sie
suchen aus den Symptomen die Menschennatur zu erkennen. Alle
diese Dinge werden erst richtig verstanden, wenn man den ganzen
Menschen in seinen Äußerungen suchen muß, wenn
man sehen wird, wie die Sprache, die den Menschen aus einem
individuellen Wesen zu einem sozialen Wesen nach außen
macht, in ihrer inneren Bewegung und Konfiguration ein Abbild
ist der ganzen Menschennatur, und wie wir nicht durch eine
bloße Zufälligkeit Zahnlaute, Lippenlaute,
Gaumenlaute in der Sprache haben, sondern sie deshalb haben,
weil in den Zahnlauten zuerst der Kopf, in den Lippenlauten die
Brust, in den Gaumenlauten der übrige Mensch in die
Sprache hinein erobert wird.
Lernen muß unsere Zivilisation so zu sprechen über
die menschliche Offenbarung, dann wird sie den Geist an den
ganzen Menschen herantragen. Dann wird sie auch den Weg
finden von dem Geiste des Menschen hinein in seine intimsten
Äußerungen, in die
Moralitätsäußerungen. Dann wird aus alledem der
innere Impuls einer Erziehung, wie wir sie brauchen,
hervorgehen.
Das
bedeutsamste Dokument, das offenbaren kann, wie anders wir
heute die Welt und ihre Zivilisation auffassen müssen, als
das in alten Zeiten möglich war, ist das
Johannes-Evangelium, das eigentlich das allerschönste,
allertiefste Dokument gerade aus der griechischen Kultur heraus
ist. Und das Johannes-Evangelium zeigt — das ist das
Grandiose schon in seiner ersten Zeile wie wir uns zu
ganz anderen lebendigen Ideen aufschwingen müssen,
wenn wir für unsere heutige Zeit etwas lernen wollen aus
den alten Zeiten. Was der Grieche gedacht hat, was der
Grieche empfunden hat, das bildet das Kleid für das
heraufkommende Christentum in dem Johannes-Evangelium.
Die
erste Zeile des Johannes-Evangeliums ist: «Im Urbeginne
war das Wort» — im Griechischen «der
Logos». Bei alledem, was der Mensch heute empfindet bei
dem Worte «Wort», liegt ganz und gar nicht dasjenige,
was der Schreiber des Johannes-Evangeliums empfunden hat, als
er die Zeile niederschrieb: «Im Urbeginne war das
Wort.» Das Armselige, das Unbedeutende, was wir denken,
wenn wir das Wort «Wort» aussprechen, das hatte
wahrhaftig der Schreiber des Johannes-Evangeliums nicht im
Sinne, als er die Zeile niederschrieb: «Im Urbeginne war
das Wort.»
In
diesem Worte «Wort» liegt etwas ganz anderes. Bei uns
ist das Wort ein armseliges Aussprechen der abstrakten
Gedanken. Es spricht ja auch unser Wort nur zu den abstrakten
Gedanken. Bei dem Griechen war noch das Wort eine
Aufforderung an den menschlichen Willen. Und im
griechischen Organismus prickelte es noch, wenn eine Silbe
ausgesprochen wurde, diese Silbe auch auszudrücken durch
den ganzen Menschen. Der Grieche wußte noch, daß man
sich nicht nur ausdrückt, indem man sagt: Das ist mir
gleich —, sondern der Grieche wußte, wie es in ihm
prickelte, wenn das Wort floß: Das ist mir gleich —
nun auch diese entsprechenden Bewegungen zu machen. Es lebte
das Wort nicht nur im Sprachorgan, es lebte in dem ganzen
menschlichen Bewegungsorganismus. Das hat die Menschheit
vergessen.
Will man heute wiederum sich so recht vergegenwärtigen,
wie das Wort, das die Aufforderung zur Geste noch im alten
Griechenland war, durch den ganzen Menschen leben kann, dann
muß man sich Eurythmie ansehen. In der Eurythmie ist alles
nur ein Anfang, ich möchte sagen, ein schüchterner
Anfang, das Wort wiederum in den Willen hineinzubringen, den
Menschen, wenn man es auch noch nicht im Leben kann, wenigstens
auf der Bühne so hinzustellen, daß in seinen
Beinbewegungen, in seinen Armbewegungen das Wort unmittelbar
lebt. Das ist ein schüchterner Anfang, muß heute noch
als schüchterner Anfang genommen werden — auch wenn
wir die Eurythmie in die Schule hineintragen —, das Wort
wiederum zu einem bewegenden Motor wenigstens des ganzen
Lebens zu machen.
In
Griechenland war aus dem Orient herüber noch ein ganz
anderes Gefühl da. Da prickelte es, da drängte es den
Menschen bei jeder Silbe, bei jedem Worte, bei jedem Satze, bei
dem Rhythmus des Satzes, bei dem Takte des Satzes, den
menschlichen Willen durch die Gliedmaßen sich offenbaren
zu lassen. Da sah man das Wort, wie es schöpferisch in
jeder Bewegung werden konnte.
Aber da wußte man mehr. Da sah man in den Worten auch
dasjenige, was nun in der Wolkenbildung, in dem Wachsen
der Blumen, was in allen Naturerscheinungen lag. Da rollte das
Wort, wenn die Woge rollte. Da wehte das Wort, wenn der Wind
wehte. So wie in meinem Atem das Wort lebt, daß ich die
entsprechende Bewegung mache, so fand der Grieche dasjenige,
was im Worte lebte, in dem dahinbrausenden Winde, in der
brandenden Woge, selbst in dem grollenden Erdbeben; es
war das Wort, das herauf grollte aus der Erde.
Unsere armseligen Ideen, die wir bei dem Worte «Wort»
haben, sie wären sehr deplatziert, wenn man sie in den
Urbeginn hinsetzen würde. Ich möchte wissen, was wir
bei den Worten, bei den Vorstellungen eigentlich anfangen
sollten in der Welt, die noch gar nicht da ist, wenn da im
Urbeginne diese armseligen Ideen von dem Worte «Wort»
wären und nun schöpferisch sein sollten! Es hat
wahrhaftig unser intellektualistisch gewordenes Wort nicht mehr
sehr viel Schöpferisches.
Und
so muß man sich vor allen Dingen aufschwingen zu dem, was
der Grieche als die Offenbarung des ganzen Menschen, als den
Appell an den Willen empfand, wenn er vom Worte, vom Logos
redete und empfand, daß der Logos durch den ganzen Kosmos
bebt und webt und lebt. Und dann fühlte man, wie die Zeile
eigentlich lautet: «Im Urbeginne war das Wort.»
Da
lebte in der Tat in dem, was vorgestellt wurde bei dem Worte:
«Im Urbeginne war das Wort», alles, was an
schöpferischen Kräften nicht nur im Menschen lebt,
sondern in Wind und Welle, in Wolke und Sonnenschein und
Sternenglanz. Überall war die Welt und der Kosmos eine
Offenbarung des Wortes. Die griechische Gymnastik war eine
Offenbarung des Wortes. Und in ihrem schwächeren Teil, in
der musikalischen, musischen Erziehung war das wiederum eine
Abschattung desjenigen, was man im Worte empfand; im
griechischen Ringen wirkte das Wort; im griechischen
Tanze wirkte die Abschattung des Wortes im Musikalischen. Da
wirkte der Geist in die Menschennatur hinein, wenn man
auch eben körperliche, gymnastische Erziehung
hatte.
Wir
müssen uns klar werden, wie armselig wir im Vorstellen in
unserer Zivilisation geworden sind, und müssen uns in der
richtigen Weise zur Anschauung bringen, wie jener mächtige
Impuls, der durch solch eine Zeile rann, wie: «Im
Urbeginne war das Wort», abgeschwächt wurde,
als er ins Römertum hinüberkam, und immer mehr und
mehr abgeschwächt wurde, und wie wir nur noch eine innere
Lässigkeit haben, wenn wir davon sprechen: «Im
Urbeginne war das Wort.»
Und
eine Umschreibung dieses Satzes: «Im Urbeginne war das
Wort», war alle Weisheit, alle Wissenschaft in der alten
Zeit. Und es lebte immer weniger das Wort, es lebte immer
weniger der Logos in demjenigen, was man vorstellte, wenn man
sprach: «Im Urbeginne war das Wort.» Es kam das
Mittelalter, und der Logos starb — und man konnte vom
Menschen aus nur noch den gestorbenen Logos vertragen.
Diejenigen, die geschult werden sollten, die erzogen werden
sollten, wurden es nicht nur, indem man ihnen den gestorbenen
Logos gab, sondern indem man ihnen auch das gestorbene Wort
gab: die lateinische Sprache im Absterben. Das sterbende
Lautwort wird Erziehungsmittel bis ins 16. Jahrhundert
hinein, wo eine Art innere Revolte dagegen entsteht.
Was
bedeutet die ganze Zivilisation bis zum 16. Jahrhundert hin?
Das Absterben des menschlichen Gefühles für die
Lebendigkeit des Logos, wie er im Johannes-Evangelium enthalten
ist. Das Festhalten selbst an der toten Sprache ist eine
äußere Manifestation für dieses Absterben des
Logos.
Und
möchte man kurz den Gang der Zivilisation bezeichnen,
insofern dieser Gang fundamental bedeutsam ist gerade
für das, was man als Erziehungsimpulse empfinden
müßte, so müßte man eigentlich sagen:
Dasjenige, was die Menschheit verloren hat, drückt sich am
meisten darin aus, daß sie immer weniger und weniger
so etwas verstand, wie es noch lebt durch das
Johannes-Evangelium.
Der
Gang durch das Mittelalter hindurch, bis ins 16. Jahrhundert
hinein, bedeutet in seinem Verlieren der inneren Gewalt, von so
etwas wie das Johannes-Evangelium, gerade dasjenige, was heute
die Menschheit entbehrt und was sie nach
Erziehungsreformen schreien läßt. Und das richtige
Korrelat wird die pädagogische Frage der Gegenwart erst
dann haben, wenn man hinschauen kann auf das Kahle und
Öde, das heute das Menschenherz mitbringt, wenn es das
Johannes-Evangelium begreifen will, und es vergleicht mit der
ungeheuren inneren Hingabe, die der Mensch damals entwickelte,
als er glaubte, aus seinem eigenen Menschenwesen heraus in alle
Schöpferkräfte der Welt versetzt zu werden, wenn er
in sich erklingen ließ dasjenige, was schon bei dem ersten
Satze des Johannes-Evangeliums eigentlich gemeint war: «Im
Urbeginne war das Wort.» Und man begreift, wie gerade im
16., 17. Jahrhundert der Ruf entstand, man solle in anderer
Weise den Menschen erziehen, weil die frömmsten Leute
— gerade diejenigen, die damals am tiefsten
empfunden haben die Notwendigkeit einer Erneuerung der
Erziehung — zugleich gespürt haben, wie verschwunden
ist das, was wie eine elementare, innere Lebenskraft die
Menschen auch lebendig den Geist ergreifen
läßt. Denn vom Geist will das
Johannes-Evangelium sprechen, indem es vom Logos
spricht.
Wir
sind so weit gekommen, daß wir zwar immer die Sehnsucht
entwickeln nach dem Geiste, aber immer nur Worte sprechen, und
in den Worten den Geist verloren haben, den die Griechen noch
hatten. Ihnen ging noch bei dem Worte der ganze Mensch in
seinem Wirken in der Welt auf, wie einstmals überhaupt dem
Menschen das Weltenwirken aufgegangen ist, wenn er sich
in den weltschöpferischen, in den
kosmosschöpferischen Worten dasjenige vorgestellt hat, was
der Welt als Göttliches zugrunde liegt, was also auch im
Menschen lebendig werden muß, wenn er ein ganzer
Mensch werden soll. Und der Erzieher muß ein ganzer
Mensch werden, sonst erziehen wir halbe und Viertelsmenschen.
Daher muß der Erzieher wiederum zum Verständnis
des Wortes kommen.
Wollen wir das eben angedeutete Geheimnis des Wortes, wie das
Wort in der Zeit genommen worden ist und gewirkt hat, als noch
das Johannes-Evangelium voll genommen werden konnte, wollen wir
uns das ganz vor die Seele führen, so müssen wir uns
sagen: Es war eben auf die ursprüngliche, alte menschliche
Art in dem Worte, auch in dem schwachen Worte, das der Mensch
für seine Sprache hinsetzt, Geist anwesend. Der Geist
floß in das Wort, war die Kraft des Wortes.
Ich
kritisiere kein Zeitalter, möchte nicht sagen, daß
irgendein Zeitalter weniger wertvoll sei als das andere,
sondern möchte nur charakterisieren, wie die
verschiedenen Zeitalter aufeinander folgen und jedes sein
besonderes Wertvolles hat. Nur muß man manches Zeitalter
mehr durch Negatives, manches mehr durch Positives
charakterisieren.
Denken wir uns das allgemeine Verglimmen, Abdunkeln desjenigen,
was als Impuls im Worte lebt, wenn gesagt wird der Satz:
«Im Urbeginne war das Wort.» Denken wir uns jetzt die
zivilisierte Menschheit des 16., 17. Jahrhunderts, die
sich vorzubereiten hat für eine Erhöhung der
inneren Freiheitskraft. — Sie sehen, man hat dasjenige,
was in einem Zeitalter nicht vorhanden war, auch zu loben, von
einem gewissen Gesichtspunkt aus ja erst recht zu loben, denken
wir uns die Menschheit vor uns hingestellt, die aus vollem
Bewußtsein heraus ihre Freiheit zu erringen hat, die dies
nicht gekonnt hätte, wenn ihr schon im Worte der Geist
eingeflößt, inspiriert worden wäre, wie das in
früheren Zeiten der Fall war: dann verstehen wir, wie die
Unmöglichkeit, in alter Form zu erziehen, bereits
gegeben war, als Baco von Verulam im 16.,
17. Jahrhundert auftrat mit einer gewichtigen Behauptung,
die sich hinstellte, wenn man sie ehrlich empfindet, wie ein
Auslöschen dessen, was in dem Worte gegeben ist:
«Im Urbeginne war das Wort.» Denn noch immer war
vorher ein Schatten von Geist im Worte, im Logos.
Baco fordert die Menschheit auf, im Worte nur noch ein
«Idol» zu sehen, nicht mehr den Geist; nicht mehr
sich an das Wort zu halten, nicht mehr das Wort mit seiner
Kraft zu nehmen, sondern sich vor dem Intellektualismus des
Wortes zu hüten. Denn verfällt man an das Wort,
woraus früher die Erkenntnis, die Zivilisation, die Kraft
geschöpft war — meint Baco von Verulam
—, dann klammert man sich mit dem Worte an ein Idol.
In
der Lehre von den Idolen, wie man sie bei Baco von Verulam
findet, liegt der ganze Umschwung des Zeitalters des 16., 17.
Jahrhunderts: weg vom Worte. Wohin will man? Zu der
sinnlich gegebenen Sache. Das Ding, das die Sinne anschauen
können, das soll zugrunde liegen demjenigen, an das der
Mensch sich hält.
So
gab es einmal früher ein Zeitalter, in dem der Mensch beim
Worte nicht nur das Wort empfangen hat, sondern den Geist, ja,
den weltschöpferischen Geist, der in dem Worte, in dem
Logos lebte. Jetzt kam die Zeit, in der das Wort zum Idol
geworden war, zum Verführerischen, zum Idol, das zum
Intellektualismus verführt. Man muß sich an die
äußere sinnliche Sache halten, wenn man nicht dem
Idol des Wortes verfallen will.
Und
so liegt bei Baco von Verulam die Aufforderung, sich an
dasjenige zu halten, was nicht mehr von den Göttern
in den Menschen hineinkommt, sondern an dasjenige, was
draußen in der Welt in den leblosen oder höchstens
äußerlich belebten Dingen da ist. Von dem Worte wird
der Mensch verwiesen auf die äußere sinnliche
Sache.
Nun
bleibt in ihm nur noch das Gefühl: er muß doch
erziehen, er muß doch an das Menschenwesen selbst
herantreten, das ja den Geist in sich hat! Aber das Wort ist
ein Idol. Er kann das Menschenwesen nur hinweisen darauf, mit
seinen Augen zu sehen, was äußerlich, außer dem
Menschen ist. Die Erziehung nimmt nicht mehr das Menschliche zu
Hilfe, sondern nur noch das Außermenschliche.
Und
jetzt sehen wir, ich möchte sagen, mit einem furchtbaren
Eifer, aber auch mit einer furchtbaren Tragik, die
Erziehungsfrage aufkommen, wie sie heute noch in unseren
Gliedern ist. Wir sehen sie hervorschießen im 16.,
17. Jahrhundert, besonders charakteristisch bei Michel de
Montaigne, wir sehen sie dann zum Ausdruck kommen bei
John Locke, und wir sehen sie im Kontinent dann im
Einklänge mit dem, was hier in England geschieht, bei
Comenius.
In
dem Dreigestirn: Montaigne, Locke, Comenius kann man
ungefähr sehen, wie die Abzehrung vom Logos und die
Zukehrung zu den sinnlichen Dingen der größte Impuls
in der Zivilisation der Menschheit wird. Man fürchtete
sich vor dem Idol in den Worten.
Der
Logos verschwindet. Dasjenige, was man Anschauung nennt —
was ganz berechtigt ist, wie wir auch in den nächsten
Tagen sehen werden, was aber jetzt nur als sinnliche Anschauung
genommen wird —, das wird das Maßgebende. Und so
sehen wir, mit welcher Ängstlichkeit Montaigne, John
Locke, Comenius die Menschheit abkehren wollen von
irgendeinem Übersinnlichen, im Logos Lebenden; wie
Montaigne und John Locke immer hinweisen auf das
Außermenschliche, wie sie förmlich all das zu meiden
suchen, was nicht sinnlich gegeben werden kann; wie sie
bestrebt sind, durch die Pädagogik möglichst viel
Sinnliches heranzubringen an den jungen Menschen. Wir sehen,
wie Comenius Bücher entwirft, um nun nicht durch das Wort,
sondern durch die künstlich gemachte sinnliche Anschauung
zu wirken. Wir sehen, wie der Übergang sich vollzieht, wie
abkommt die Menschheit von dem Gefühl des Zusammenhanges
mit dem Geiste durch das Wort. Wir sehen, wie die ganze
Zivilisation nicht mehr innerlich so etwas nehmen kann wie
«Im Urbeginne war das Wort», sondern wie die
Menschheit dasjenige, was Zivilisation ist, an die
äußeren sinnlichen Tatsachen anklammert, und wie das
Wort, der Logos, nur noch genommen wird, weil er
Tradition wird.
Was
auf der einen Seite mit ungeheurem Eifer, auf der anderen Seite
aber mit einer ungeheuren Tragik heraufkommt, die Sehnsucht,
nur zu erziehen mit der sinnlichen Anschauung, weil man im
Bacosehen Sinne das Wort als ein Idol empfindet, das tritt
besonders symptomatisch hervor bei Montaigne, bei John
Locke, bei Comenius. Die zeigen uns aber wieder an der Spitze,
was in der ganzen Menschheit lebte, die zeigen uns, wie
die Stimmung, die wir heute noch als eine ungeheure Sehnsucht
haben: an den Menschen wiederum den Geist heranzubringen,
gerade da aufkommt, wo man nicht mehr an den Geist glauben
kann, sondern nur noch an das Idol von Worten, wie bei Baco von
Verulam. Und aus dem, was in allen
Erziehungs-Vereinigungen bis in die heutige Zeit von
Montaigne bis zu Arnos Comenius vollberechtigt für die
damalige Zeit gelebt hat, muß sich gerade für die
Gegenwart dasjenige entwickeln, was wiederum in der Lage ist,
den Geist, den gestaltenden Geist, den empfundenen Geist, den
willentragenden Geist an den Menschen heranzubringen, in dem
menschlichen Leibe wiederum und auch in der Menschentat auf
Erden wiederum eine Offenbarung des Geistes anzuerkennen, der
im Übersinnlichen sich offenbart.
Mit
diesem Übersinnlichen im Sinnlichen, mit dieser
Wiederentdeckung des Geistes, der in dem Worte, in dem
Logos verlorengegangen ist, als das Wort zum Idol
geworden ist, mit dieser Wiederentdeckung des Geistes
beginnt die neuere Ära der Erziehung. Wie man erziehen
soll, das haben Michel de Montaigne, John Locke, Arnos Comenius
sehr gut gewußt. Ihre Programme sind ebenso großartig
wie die Programme der heutigen Erziehungsvereine, und alles
dasjenige, was die Leute für die Erziehung fordern, kann
man in abstrakten Sätzen schon bei Montaigne, Locke und
Comenius finden. Dasjenige aber, was wir heute finden
müssen, sind eben die Mittel, wodurch wir die
Realität finden. Denn mit abstrakten Grundsätzen, mit
Programmen läßt sich keine Erziehung
entwickeln; einzig und allein mit Realität. Und weil der
Mensch selber Seele und Geist ist, selber physisch, geistig
ist, muß Realität, muß Wirklichkeit wiederum in
unser Leben hineinkommen. Denn mit der ganzen Wirklichkeit
kommt auch der Geist in unser Leben hinein. Und ein solcher
Geist kann allein die Erziehungskunst der Zukunft tragen.
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