SECHSTER VORTRAG
Ilkley, 10. August 1923
Aus
der bisher gegebenen Darstellung sollte sich nicht etwa
bloß eine Theorie über die Notwendigkeit einer neuen
Erziehungsgestaltung ergeben, sondern es sollte aus dem
Gesprochenen so etwas wie eine Art Erziehungsgesinnung
hervorgehen. Ich wollte in den vorangehenden Vorträgen
weniger zu dem Verstände sprechen, als vielmehr zu den
menschlichen Herzen. Und dies ist gerade für den Erzieher,
für den Unterrichtenden das Allerwichtigste, das
Wesentlichste. Denn wie wir ja gesehen haben, Erziehungskunst
muß aufgebaut sein auf durchdringender
Menschenerkenntnis.
Man
kann seit langer Zeit, wenn von Erziehungskunst die Rede ist,
hören, das oder jenes habe man mit dem Kinde zu tun. Es
besteht sehr häufig die pädagogische Anweisung in
solchen Geboten, gewissermaßen theoretischen Befehlen, was
man mit dem Kinde zu tun habe.
Auf
diese Art würde aber niemals die volle Hingabe des
Unterrichtenden und Erziehenden an seinen Beruf
hervorgebracht, sondern allein dadurch, daß der
Unterrichtende und Erziehende die Möglichkeit hat,
in die ganze menschliche Wesenheit nach Leib, Seele und Geist
wirklich einzudringen.
Wer
in dieser Art lebendige Ideen hat über den Menschen, bei
dem werden diese lebendigen Ideen dann, wenn er vor seinen
Beruf hingestellt ist, unmittelbarer Wille. Er lernt von
Stunde zu Stunde praktisch eine gewichtige Frage sich
beantworten.
Wer
stellt diese Frage? Das Kind selber stellt diese Frage. Und so
ist das Wichtigste, in dem Kinde lesen zu lernen. Und eine
wirkliche, praktische, nach Körper, Seele und Geist
orientierte Menschenerkenntnis leitet dazu an, in dem
Kinde wirklich lesen zu lernen.
Daher ist es so schwierig, über die sogenannte
Waldorfschul-Pädagogik zu sprechen. Denn
Waldorfschul-Pädagogik ist nicht eigentlich etwas, das man
lernen kann, über das man diskutieren kann, sondern
Waldorfschul-Pädagogik ist eine reine Praxis, und man kann
eigentlich nur beispielhaft erzählen, wie in diesem oder
jenem Falle, für dieses oder jenes Bedürfnis die
Praxis ausgeübt wird. Die Praxis selber ergibt sich
durchaus aus der unmittelbaren Erfahrung. Denn das ist immer
die Bedingung, daß die entsprechende Menschenerkenntnis
vorhanden ist, wenn man von dieser Gesinnung ausgeht. Dann aber
1st Pädagogik und Didaktik in gewisser Beziehung schon
eine ganz allgemeine soziale Frage; denn die Erziehung des
Kindes muß doch eigentlich unmittelbar nach der Geburt
beginnen. Das heißt aber nichts anderes, als daß
Erziehung eine Angelegenheit der ganzen Menschheit, jeder
Familie, jeder Menschengemeinschaft ist. Aber gerade dieses
lehrt uns am allerintensivsten die Erkenntnis der kindlichen
Wesenheit selber, bevor der Zahnwechsel um das siebente Jahr
eingetreten ist. Ein deutscher Schriftsteller, Jean
Paul, Friedrich Richter, hat ein wunderbares Wort
gesprochen, indem er sagte: In den ersten drei
Lebensjahren lernt der Mensch für das Leben viel mehr als
in allen — damals gab es nur drei als in allen drei
akademischen Jahren.
In
der Tat, vor allen Dingen die drei ersten Lebensjahre, dann
aber auch die Lebensjahre bis zum siebenten hin, sind für
die Gesamtentwickelung des Menschen die allerwichtigsten,
denn da ist das Kind als Mensch etwas ganz anderes als
später. Das Kind ist in den ersten Jahren eigentlich ganz
Sinnesorgan. Nur stellt man sich den Umfang dieser Idee: das
Kind ist in den ersten Jahren ganz Sinnesorgan —
gewöhnlich gar nicht intensiv genug vor. Man muß
schon zu recht drastischen Aussagen gehen, wenn man diese ganze
Wahrheit eigentlich enthüllen will.
Im
späteren Leben hat der Mensch einen Geschmack von den
aufgenommenen Speisen im Munde, im Gaumen, auf der Zunge.
Der Geschmack ist sozusagen im Kopfe lokalisiert. Beim
Kinde, insbesondere in den ersten Lebensjahren, ist das nicht
der Fall, sondern der Geschmack wirkt durch den ganzen
Organismus hindurch. Das Kind schmeckt bis in seine
Gliedmaßen hinein die Muttermilch und die erste Nahrung.
Was im späteren Lebensalter auf der Zunge vor sich geht,
das geht bei dem Kinde im ganzen Organismus vor sich. Das Kind
lebt sozusagen, indem es alles, was es aufnimmt, schmeckt. In
dieser Beziehung lebt da etwas stark Animalisches. Aber wir
dürfen niemals das Animalische, das in dem Kinde ist,
vorstellen gleich dem Animalischen, das in dem Tiere ist. Es
ist immer das Animalische bei dem Kinde sozusagen auf ein
höheres Niveau heraufgehoben. Der Mensch ist nie Tier,
niemals, auch nicht als Embryo, da am allerwenigsten. Aber man
kann sozusagen die Ideen deutlich machen, wenn man sie so
gestaltet, sie mit etwas vergleicht.
Wer
jemals mit einem wirklichen Blick für die
Naturvorgänge eine Herde gesehen hat, die eben auf einer
Wiese, auf dem Felde ihre Nahrung abgegrast hat und dann
daliegt, sagen wir eine Herde von Kühen im Grase, jede
einzelne Kuh hingegeben in einer wunderbaren Weise der ganzen
Welt, das Verdauungsgeschäft besorgend, der bekommt einen
Eindruck von dem, was da eigentlich in dem Tiere vor sich geht.
Eine ganze Welt, ein ganzer Extrakt des kosmischen Geschehens
geht da in dem Tier vor sich, und das Tier erlebt, während
es verdaut, die wunderbarsten Visionen. Das
Verdauungsgeschäft ist das allerwichtigste
Erkenntnisgeschäft beim Tiere. Und während das Tier
verdaut, ist es in einer träumerisch-imaginativen Art an
die ganze Welt hingegeben.
Das
sieht übertrieben aus, allein das Merkwürdige dabei
ist, daß es gar nicht übertrieben ist, daß es
durchaus der Wahrheit entspricht. Und wenn wir das um eine
Stufe heraufheben, dann bekommen wir das Erlebnis des Kindes
bei seinen physischen Funktionen. Alle physischen Funktionen
begleitet der Geschmack. Ebenso wie der Geschmack alle
physischen Funktionen begleitet, so ist etwas, was sonst nur in
Auge und Ohr lokalisiert ist, in dem ganzen Organismus des
Kindes.
Stellen Sie sich das Wunderbare eines Auges vor, wie das Auge
das Farbige geformt von außen aufnimmt, innerlich ein Bild
macht, wodurch wir sehen. Das ist lokalisiert, das ist
abgesondert von unserem Gesamterleben. Und wir ergreifen dann
dasjenige, was das Auge in wunderbarer Weise formt, mit dem
Verstände, in einem Schattenbilde des Verstandes, das
davon gemacht wird.
Ebenso wunderbar sind die Vorgänge, die im Ohre
lokalisiert sind beim erwachsenen Menschen. Aber das, was beim
erwachsenen Menschen in den Sinnen lokalisiert ist, ist
ausgebreitet über den ganzen Organismus beim Kinde. Daher
gibt es beim Kinde keine Trennung zwischen Geist, Seele,
Körper, sondern alles dasjenige, was von außen wirkt,
wird innerlich nachgebildet. Das Kind bildet nachahmend die
ganze Umgebung nach.
Und
nun müssen wir, indem wir diesen Gesichtspunkt gewonnen
haben, hinschauen darauf, wie drei für das ganze Leben
maßgebende Tätigkeiten von dem Kinde in den ersten
Lebensjahren erworben werden: Gehen, Sprechen, Denken.
Diese drei Fähigkeiten, die werden maßgeblich
für das ganze Leben in den ersten Lebensjahren von dem
Kinde erworben.
Gehen, ja, das ist, ich möchte sagen, eine Abbreviatur,
ein verkürzter Ausdruck für etwas viel
Umfassenderes. Weil es am meisten auffällt, daß wir
gehen lernen, sagen wir: das Kind lernt gehen. Aber dieses
Gehenlernen, das ist ja verbunden mit einem
Sich-Hineinversetzen in eine Gleichgewichtslage gegenüber
der ganzen Raumeswelt. Wir suchen als Kind die aufrechte Lage,
wir suchen als Kind die Beine in ein solches Verhältnis
zur Schwerkraft zu bringen, daß wir das
Gleichgewicht haben. Wir versuchen dasselbe aber auch mit
den Armen und Händen. Der ganze Organismus wird
orientiert. Gehenlernen bedeutet, die Raumrichtungen der Welt
finden, den eigenen Organismus in die Raumrichtungen der Welt
hineinzustellen.
Hier handelt es sich darum, daß wir in richtiger Weise
hinschauen darauf, wie das Kind ein nachahmendes Sinneswesen
ist. Denn alles muß in den ersten Lebensjahren durch
Nachahmung gelernt werden, aufgenommen werden durch Nachahmung
aus der Umgebung.
Nun
wird doch jedem auffallen, wie der Organismus aus sich selber
die orientierenden Kräfte heraustreibt, wie der Organismus
des Menschen daraufhin veranlagt ist, sich in die vertikale
Lage zu bringen, nicht wie beim Kriechen bei der horizontalen
Lage zu bleiben, die Arme in entsprechender Weise im
Gleichgewicht gegenüber der Raumeswelt zu
gebrauchen. Das alles ist eine Veranlagung des Kindes, geht
sozusagen aus den eigenen Impulsen der Organisation hervor.
Wenn wir nun anfangen, als Erziehende in das, was da die eigene
Menschennatur will, den geringsten Zwang hineinzubringen, wenn
wir nicht verstehen, frei die Menschennatur sich selbst zu
überlassen und nur die Hilfeleister zu bilden, dann
verderben wir die menschliche Organisation für das ganze
Erdenleben.
Wenn wir daher das Kind durch äußere Handhabungen in
unrichtiger Weise veranlassen zu gehen, wenn wir ihm
nicht bloß helfen, sondern wenn wir durch Zwang das Gehen,
das Stehen herbeiführen wollen, dann verderben wir dem
Kinde das Leben bis zum Tode hin. Insbesondere verderben wir
ihm das höchste Alter. Denn es handelt sich bei einer
wirklichen Erziehung immer darum, nicht bloß auf die
Gegenwart des Kindes zu schauen, sondern auf das ganze
menschliche Leben zu schauen bis zum Tode hin. Wir müssen
wissen, daß in dem kindlichen Alter im Keime das ganze
menschliche Erdenleben steckt.
Nun
ist das Kind, weil es ein außerordentlich fein
organisiertes Sinnesorgan ist, empfänglich eben nicht nur
für die physischen Einflüsse seiner Umgebung,
sondern empfänglich für die moralischen
Einflüsse, namentlich für die gedanklichen
Einflüsse. So paradox das dem heutigen, materialistisch
denkenden Menschen erscheint, das Kind empfindet das, was
wir in seiner Umgebung denken. Und es ist nicht nur wichtig,
daß wir uns in der Umgebung des Kindes, wenn wir Eltern
oder Erzieher sind, nicht bloß nicht gestatten,
äußerlich sichtbar ungehörige Dinge zu
tun, sondern wir müssen auch in unseren Gedanken und
Empfindungen, die das Kind fühlt, aufnimmt, innerlich
wahr, innerlich moraldurchdrungen sein. Denn das Kind gestaltet
sein Wesen nicht bloß nach unseren Worten oder nach
unseren Handlungen, sondern das Kind gestaltet sein Wesen
nach unserer Gesinnung, nach unserer Gedankenhaltung,
Gefühlshaltung. Und für die erste Zeit der kindlichen
Erziehung bis zum siebenten Jahre hin, ist das Allerwichtigste
dieses, wie die Umgebung ist.
Nun
entsteht die Frage: Was können wir hineinmischen in
dasjenige, was wir als Anleitung, als Hilfeleistung geben
beim Gehen, beim Sich-Orientierenlernen? Hier handelt es sich
darum, daß man mit einer spirituellen Wissenschaft die
Lebenszusammenhänge überschaut, mit einer toten,
unspirituellen Wissenschaft die Lebenszusammenhänge nicht
überschaut.
Nehmen wir ein Kind, das durch allerlei äußere
Zwangsmittel, weil man dieses für richtig hielt, zum
Gehen, zum Orientieren im Räume angehalten worden ist, und
nun betrachten wir dieses Kind dann wieder in seinem
fünfzigsten Lebensjahre, zwischen dem fünfzigsten und
sechzigsten Lebensjahre, und wir werden unter Umständen,
wenn nichts anderes im Leben dagegen gewirkt hat, dieses Kind,
wenn es das fünfzigste, das sechzigste Jahr erreicht hat,
mit allen möglichen Stoffwechselkrankheiten, die es nicht
beherrschen kann, behaftet sehen, mit Rheumatismus, mit
Gichterscheinungen und so weiter.
Bis
zu diesem Grade geht es, daß alles Seelisch-Geistige, das
wir beim Kinde ausüben — denn es ist ja ein
Seelisch-Geistiges, wenn wir es durch Zwang in die vertikale
Lage, in das Gehen hineinbringen, selbst wenn wir mit
gleichgültigem Herzen dabei sind —, bis zu diesem
Grade geht es, daß das Geistige beim Kinde in das
Physische hineinwirkt. Und die Kräfte bleiben. Die
Kräfte, die wir da durch Maßnahmen höchst
fragwürdiger Art erzeugen, diese Kräfte bleiben das
ganze menschliche Leben hindurch, und später zeigen sie
sich, wenn sie nicht richtig waren, in physischen
Krankheiten.
Alle Erziehung ist gerade beim Kinde auch eine physische
Erziehung. Sie können gar nicht das Kind abgesondert
physisch erziehen, denn alle seelisch-geistige Erziehung, alle
Erziehung ist beim Kinde zugleich auf die Physis wirkend, ist
physische Erziehung, Wenn Sie an einem Kinde sehen: der
Organismus orientiert sich dahin, aufrecht zu stehen, zu gehen,
wenn Sie mit einer innigen Liebe auf dieses wunderbare
Geheimnis des Menschenorganismus hinsehen, der aus der
horizontalen Lage in die vertikale übergehen kann, wenn
Sie das religiöse Gefühl haben, in scheuer Ehrfurcht
den schaffenden Götterkräften
gegenüberzustehen, die hier das Kind hinorientieren
in den Raum, wenn Sie, mit anderen Worten, als der Hilfeleister
beim Gehen, beim Orientierenlernen dastehen als
derjenige, der die menschliche Natur in dem Kinde innig liebt,
indem er jede Äußerung dieser menschlichen Natur mit
Liebe als der Hilfeleister verfolgt: dann erzeugen Sie in dem
Kinde gesundende Kräfte, die sich gerade in einem gesunden
Stoffwechsel noch zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten
Jahre zeigen, wo man nötig hat, diesen Stoffwechsel zu
beherrschen.
Denn das ist das Geheimnis der Menschenentwickelung: Was auf
einer bestimmten Stufe des Lebens geistig-seelisch ist, wird
später physisch, offenbart sich physisch; nach
Jahren offenbart es sich physisch. So viel über das
Gehenlernen. Ein in Liebe zum Gehen angeleitetes Kind wird zum
gesunden Menschen erzogen. Und die Liebe beim Gehenlernen
anzuwenden, ist ein gut Stück einfach
körperlich-gesundheitlicher Erziehung des
Kindes.
Das
Sprechen entwickelt sich ja heraus aus dem Orientieren im
Räume. Die heutige physiologische Wissenschaft weiß
davon nicht viel; aber sie weiß schon doch ein Stück.
Sie weiß, daß, während wir mit der rechten Hand
unsere Verrichtungen im Leben vollziehen, eine gewisse Windung
auf der linken Seite des Gehirns den Motor des Sprechens
darstellt. Diese physiologische Wissenschaft stellt schon dar
eine Korrespondenz zwischen der Bewegung der rechten Hand und
dem sogenannten Brocaschen Organ in der linken
Gehirnhälfte. Wie die Hand sich bewegt, wie die Hand
Gesten macht, wie die Kraft in die Hand hineinergossen wird,
das geht in das Gehirn und bildet den Motor für das
Sprechen. Es ist ein kleines Stück von dem, was man
über die Sache wissenschaftlich weiß. Denn die
Wahrheit ist diese: Das Sprechen geht nicht nur aus der
Bewegung der rechten Hand hervor, die mit der linken
Stirnwindung korrespondiert, sondern das Sprechen geht aus dem
ganzen motorischen Organismus des Menschen hervor. Wie das Kind
gehen lernt, sich orientieren lernt im Räume, wie es die
ersten zappelnden, unbestimmten Bewegungen der Arme verwandeln
lernt in zweckentsprechende Bewegungen, die mit der
Außenwelt in Verbindung stehen, das überträgt
sich durch die geheimnisvolle innere Organisation des Menschen
auf die Kopforganisation. Das kommt im Sprechen zum
Vorschein.
Wer
diese Dinge richtig beurteilen kann, der weiß, wie jeder
Laut, namentlich jeder Gaumenlaut anders tönt bei einem
Kinde, das beim Gehen mit den Füßen schlenkert, als
bei demjenigen Kinde, das fest auftritt. Die ganze Nuancierung
der Sprache ist im Bewegungsorganismus gegeben. Das Leben
ist zuerst Geste, und die Geste verwandelt sich innerlich in
das Motorische des Sprechens. So daß das Sprechen ein
Ergebnis des Gehens, das heißt, des Orientierens im
Räume ist. Und davon, daß wir liebevoll das Kind zum
Gehen veranlassen, wird viel abhängen, wie es dann die
Sprache beherrschen wird.
Das
sind die feineren Zusammenhänge, die eine wirkliche
Menschenerkenntnis gibt. Ich habe wirklich in den
vorangehenden Tagen nicht umsonst ausführlich dieses
Herantragen des Geistes an die menschliche Organisation
besprochen. So trägt man den Geist heran an den
Körper. Denn der Körper folgt bei jedem Schritte dem
Geist, wenn der Geist in der richtigen Weise herangebracht
wird.
Nun
ist es wieder so, daß das Kind das Sprechen zunächst
lernt durch seinen ganzen Organismus. Wenn Sie so die Sache
überblicken, so haben wir zuerst das äußerliche
Bewegen, das Bewegen der Beine, was das starke Konturieren
hervorruft; das Artikulieren mit Armen und Händen, was das
Biegen der Worte, das Gestalten der Worte hervorruft. Wir
sehen, wie innerlich beim Kinde die äußerliche
Bewegung in die Bewegung der Sprache umgesetzt wird.
Und
wenn wir als Hilfeleister beim Gehenlernen jede Anleitung, die
wir geben, in Liebe tauchen sollen, dann ist weiter notwendig,
daß wir im Sprechenlehren, in der Hilfeleistung, die wir
beim Sprechenlernen leisten, innerlich ganz wahr sind.
Die größten Unwahrhaftigkeiten des Lebens
werden erzeugt während des Sprechenlernens des Kindes;
denn da wird die Wahrhaftigkeit des Sprechens durch den
physischen Organismus, durch die physische Organisation
aufgenommen.
Ein
Kind, dem gegenüber man als Erziehender, Unterrichtender
immer wahrhaftig sich als Mensch äußert, ein solches
Kind wird, seine Umgebung nachahmend, die Sprache so erlernen,
daß sich jene feinere Tätigkeit in ihm festigt, die
fortwährend im Organismus vor sich gehen muß,
indem wir einatmen und ausatmen.
Diese Dinge sind natürlich alle nicht im Groben, sondern
im Feineren vorzustellen. Aber im Feineren bestehen sie
und zeigen sich im ganzen Leben. Wir atmen Sauerstoff ein, wir
atmen Kohlensäure aus. In unserem Organismus muß
durch den Atmungsprozeß Sauerstoff in Kohlensäure
verwandelt werden. Die Welt gibt uns den Sauerstoff; sie nimmt
die Kohlensäure von uns hin. Ob wir in der richtigen Weise
im feineren, intimeren Menschenleben den Sauerstoff in uns
selber in Kohlensäure verwandeln, das hängt davon ab,
ob wir durch unsere Umgebung beim Sprechenlernen wahrhaftig
oder unwahrhaftig behandelt werden. Das Geistige
verwandelt sich da ganz in ein Physisches.
Und
eine der Unwahrhaftigkeiten besteht darin, daß wir in der
Umgebung des Kindes sehr häufig glauben, dem Kinde etwas
Gutes zu tun, wenn wir uns im Sprechen auf die Stufe des Kindes
herabsetzen. Das Kind will aber in seinem Unbewußten
nicht eine kindlich zugerichtete Sprache haben, sondern es will
die Sprache hören, welche die wahrhaftige Sprache des
Erwachsenen ist. Wir wollen daher zum Kinde so sprechen, wie
wir gewohnt sind im Leben zu sprechen, und wollen nicht eine
besonders zugerichtete Kindessprache haben.
Das
Kind wird zunächst wegen seines Unvermögens dasjenige
lallend nachsagen, was man ihm vorsagt; aber wir sollen
nicht selber lallend werden. Denn das ist die größte
Unvollkommenheit. Und wenn wir das Lallen des Kindes, die
unvollkommene Sprache des Kindes glauben anwenden zu
müssen, so verderben wir dem Kinde die
Verdauungsorgane. Denn alles Geistige wird physisch, geht
hinein gestaltend in die physische Organisation. Und
alles, was wir geistig tun beim Kinde, ist — weil das
Kind gar nichts selber ist — auch noch eine physische
Trainierung. Manche verdorbenen Verdauungsorgane des
späteren Lebens rühren vom falschen Sprechenlernen
her.
Geradeso wie das Sprechen aus dem Gehen, aus dem Greifen, aus
der Bewegung des Menschen entsteht, so entsteht wiederum das
Denken aus dem Sprechen. Und haben wir nötig, bei
der Hilfeleistung, die wir beim Gehen anzuwenden haben, alles
in Liebe zu tauchen; haben wir nötig — weil das Kind
innerlich das nachbildet, was in seiner Umgebung sich
realisiert —, beim Sprechenlernen der gediegensten
Wahrhaftigkeit uns zu befleißigen, so haben wir
nötig, damit das Kind, das ganz Sinnesorgan ist und auch
das Geistige innerlich physisch nachbildet, damit es aus dem
Sprechen das richtige Denken herausholt, in unserem
Denken in der Umgebung des Kindes Klarheit walten zu
lassen.
Es
ist das Schlimmste, was wir dem Kinde antun können, wenn
wir in der Umgebung des Kindes irgendeine Anordnung geben,
hinterher wieder zurücknehmen, etwas anderes sagen,
wodurch die Dinge verwirrt werden. Verwirrung
hervorzurufen durch Denken in der Umgebung des Kindes,
das ist der eigentliche Urheber desjenigen, was wir in der
heutigen Zivilisation die Nervosität des Menschen
nennen.
Warum sind so viele Menschen in unserem Zeitalter nervös?
Nur aus dem Grunde, weil die Menschen nicht klar, präzise
in der Umgebung gedacht haben, während das Kind,
nachdem es sprechen gelernt hat, auch denken lernt.
Die
nächste Generation, wenn sie gerade ihre großen
Fehler zeigt, ist in ihrem physischen Verhalten einfach ein
getreues Abbild der vorhergehenden Generation. Und wenn
man Kinder, die man hat, im späteren Leben beobachtet, wie
sie gewisse Untugenden haben, dann sollte das Beobachten dieser
Untugenden eigentlich ein bißchen Veranlassung zur
Selbsterkenntnis sein. Denn es ist ein ganz intimer
Vorgang, wie alles dasjenige, was in der Umgebung des
Kindes geschieht, sich in der physischen Organisation
ausdrückt. Für dieses Kindesalter wird Liebe in der
Behandlung des Gehenlernens, Wahrhaftigkeit in der Behandlung
des Sprechenlernens, Klarheit, Bestimmtheit bei der Umgebung
während des Denkenlernens des Kindes zur physischen
Organisation. So bauen sich die Gefäße auf, so bauen
sich die Organe auf, wie sich Liebe, Wahrhaftigkeit, Klarheit
in der Umgebung entwickelt.
Stoffwechselkrankheiten sind die Folge unliebsamen
Gehenlernens. Verdauungsstörungen können Folge sein
unwahrhaftigen Behandelns, während das Kind zum Sprechen
kommt. Nervosität ist die Folge im Leben von verwirrtem
Denken in der Umgebung des Kindes.
Wenn man darauf hinsieht, wie heute im dritten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts die Nervosität herrscht, dann muß
man daraus den Schluß ziehen, eine wie starke Verwirrung
bei den Erziehenden so ungefähr um den Beginn des
Jahrhunderts geherrscht haben muß. Denn alles das, was da
Verwirrung war im Benehmen durch das Denken, das ist die
heutige Nervosität. Und die Nervosität wiederum, die
die Leute gehabt haben um die Wende des Jahrhunderts, die ist
nichts anderes als das Bild der Verwirrung ungefähr um
1870. Diese Dinge können ja so betrachtet werden, daß
nicht Physiologie und Hygiene und psychologische
Pädagogik dasteht und bei jeder Gelegenheit der Lehrer
nötig hat, wenn es sich um irgend etwas Gesundheitliches
handelt, den Arzt zu rufen, sondern diese Dinge können ja
so behandelt werden, da physiologische Pädagogik und
Schulhygiene, Schulphysiologie, ein Ganzes sind, daß der
Lehrer auch dasjenige in seine Mission, in seine Aufgaben
aufnimmt, was das geistige Wirken im physisch-sinnlichen
Organismus ist.
Aber da eigentlich alle Menschen Erzieher sind für das
Lebensalter zwischen der Geburt und dem siebenten Lebensjahre,
stehen wir einfach auch vor der sozialen Aufgabe,
daß eine wirkliche Menschenerkenntnis überhaupt
notwendig ist, wenn die Menschheit nicht einem Niedergang,
sondern einem Aufgang entgegengehen soll.
Unser humanes Zeitalter hat, mit Recht selbstverständlich,
ein sehr gebräuchliches Erziehungsmittel der früheren
Zeiten abgeschafft: das Prügeln, das Schlagen. Aber unsere
Zeit — es soll mir niemand den Vorwurf machen, daß
ich etwa für die Prügelstrafe in diesem
Vortrage eintrete —, unsere Zeit hat gerade deshalb
das große Talent gehabt, die Prügelstrafe im
Unterrichtswesen zu entfernen, weil ja dieses Zeitalter
auf Äußerlichkeiten gut eingestellt ist, weil dieses
Zeitalter die Schädlichkeiten der Schläge
für den physischen Organismus und die moralischen
Konsequenzen, die aus dieser Schädigung des physischen
Organismus beim Prügeln hervorgehen, ganz gut einsehen
kann.
Aber in der Kindererziehung ist gerade in diesem Zeitalter, das
so sehr orientiert ist auf das Physische, Sinnliche und wenig
orientiert ist auf das Geistige und Seelische, eine furchtbare
Prügelei eingezogen, eine Prügelei, von der man sich
allerdings keine Vorstellung macht, weil man heute eben
allzuwenig auf den Geist hin orientiert ist.
Unsere Mütter, bisweilen unsere Väter auch, finden es
in einer außerordentlich starken Weise notwendig, zum
Beispiel dem kleinen Mädchen eine sehr schöne Puppe
zu schenken, damit das kleine Mädchen im Spielalter
nun mit der schönen Puppe spielen kann. Diese
«schöne Puppe» ist ja trotzdem immer
scheußlich, weil sie unkünstlerisch ist; aber
sie ist, wie man bisweilen meint, eine schöne Puppe, die
«richtige» Haare hat, die auch richtig angemalt ist,
die sogar bewegliche Augen hat — wenn man sie
niederlegt, schließt sie die Augen, verdreht sie, wenn man
sie aufhebt, schaut sie einen an bewegliche Puppen sind sogar
entstanden; kurz, es sind Spielzeuge in die Spielweisen
der Kinder eingezogen, die in einer merkwürdigen,
unkünstlerischen, aber vermeintlich das Leben
nachahmenden Weise nun an das Kind herangebracht werden sollen.
Die Puppe ist bloß ein charakteristisches Beispiel;
wir formen ja alle unsere Spielzeuge nach und nach aus unserer
Zivilisation heraus in einer solchen Weise. Diese Spielzeuge
sind die furchtbarste innere Prügelei der Kinder. Und wie
sich Kinder innerhalb der Familie, der Gemeinschaft ja auch
wacker artig zeigen, wenn man sie verprügelt, wie das also
durch Konventionelles hervorgerufen werden kann, so
drücken auch die Kinder dasjenige aus Artigkeit
nicht aus, was eigentlich tief im Grunde ihrer Seele wurzelt:
die Antipathie gegen diese schöne Puppe. Wir bringen mit
aller Gewalt dem Kinde bei, daß ihm das sympathisch sein
soll, aber die unbewußten, unterbewußten Kräfte
im Kinde spielen stark, und denen ist eigentlich all das, was
in dem Stil der «schönen Puppe» ist, tief
unsympathisch; denn es ist, wie ich gleich zeigen werde, eine
innerliche Prügelei des Kindes.
Geht man aber so vor, daß dasjenige in Betracht gezogen
wird, was das Kind in seinem einfachen Denken bis zum vierten,
fünften Jahre, ja noch bis zum sechsten, siebenten Jahre
hin, schon innerlich erfahren hat beim Aufrichten, beim
Vertikalrichten, beim Spüren des Gehens, dann bekommt man
eine Puppe, die man aus einem Taschentuch formt, oben den Kopf,
ein Paar Tintenkleckse für die Augen allenfalls^ und dann
hat man in dieser Puppe all dasjenige, was das Kind verstehen
kann, was das Kind auch lieben kann. Da sind in einer
primitiven Weise die Eigenschaften der menschlichen Gestalt
vorhanden, soweit sie das Kind einzig und allein in seinem
Kindesalter überschauen kann.
Das
Kind weiß nicht mehr vom Menschen, als daß der Mensch
aufrecht ist, daß er ein Unten und ein Oben hat,
daß da oben ein Kopf ist, und daß ein Paar Augen da
sind; den Mund — das werden Sie bei kindlichen
Zeichnungen finden den zeichnen sie manchmal auf die Stirne
hinauf. Die Lage des Mundes ist noch nicht einmal klar.
Dasjenige, was das Kind wirklich erlebt, ist aus der
Puppe, die aus dem Taschentuch geformt und mit ein paar
Tintenklecksen versehen ist, zu ersehen. Im Kinde arbeitet eine
innerliche plastische Kraft. All dasjenige, was aus der
Umgebung des Kindes an das Kind herankommt, geht über in
ein inneres Bilden, auch in das Organbilden.
Wenn das Kind, sagen wir, einen Vater neben sich hat, der sich
alle Augenblicke in Jähzorn äußert, wo also alle
Augenblicke im unmittelbar äußerlichen
Erlebnisse etwas vorkommt, was Schock bewirkt, ein
Unmotiviertes ist, dann erlebt das Kind dies mit; das Kind
erlebt dies so mit, daß es sich ausdrückt in seinem
Atem und seiner Blutzirkulation. Indem es sich aber
ausdrückt in der Atmung und Blutzirkulation, gestaltet es
Lunge, gestaltet es Herz, gestaltet es das ganze
Gefäßsystem; und das Kind tragt dasjenige plastisch
gestaltet innerlich sein ganzes Leben hindurch mit, was
es durch den Anblick der Taten eines jähzornigen Vaters in
sich plastisch ausgebildet hat.
Damit will ich nur andeuten, wie das Kind eine innerlich
wunderbar wirkende plastische Kraft hat, wie das Kind
fortwährend innerlich als Bildhauer an sich
arbeitet. Und wenn Sie dem Kinde die Puppe aus dem Taschentuch
geben, dann gehen die Kräfte, die aus dem menschlichen
Organismus plastisch bildend in das Gehirn heraufgehen,
die namentlich aus dem rhythmischen System, aus Atmung und
Blutzirkulation das Gehirn ausbilden, sanft in das Gehirn. Sie
bilden das kindliche Gehirn so, wie ein Bildhauer arbeitet, der
mit biegsamer, leicht beweglicher, durchgeistigter, beseelter
Hand den bildhauerischen Stoff bearbeitet: da geht alles in
Bildsamkeit und in organischer Entwickelung vor sich. Das
Kind schaut sich dieses zur Puppe geformte Taschentuch an, und
das wird im Menschen Bildekraft, richtige Bildekraft, die
aus dem rhythmischen System heraus sich gestaltet in das
Gehirnsystem.
Wenn Sie dem Kinde eine sogenannte schöne Puppe geben
— die Puppe, die sich sogar bewegen kann, die Augen
bewegen kann, die angestrichen ist, schöne Haare hat
—, wenn Sie dem Kind dieses künstlerisch
angeschaut, furchtbar scheußliche Gespenst übergeben,
dann wirken die Kräfte aus dem rhythmischen System herauf,
diese plastischen Kräfte, die vom Atmungs- und Blutsystem
das Gehirnsystem gestalten, fortwährend wie
Peitschenhiebe: das alles, was das Kind noch nicht verstehen
kann, das peitscht herauf in das Gehirn. Das Gehirn wird
gründlich durchgepeitscht, durchgeprügelt in einer
furchtbaren Art. Das ist das Geheimnis der schönen
Puppe. Das ist aber auch das Geheimnis des kindlichen
Spiellebens in vieler Beziehung.
Man
muß sich klar sein darüber, wenn man nun liebevoll
das Kind zum Spiel anleiten will, wieviel von innerlich
bauenden Kräften beim Kind zum Vorschein kommt. In dieser
Beziehung sieht ja unsere ganze Zivilisation falsch. Unsere
Zivilisation hat zum Beispiel den sögenannten Animismus
erfunden. Das Kind, das sich an dem Tisch stößt,
schlägt die Tischecke. Da sagt unsere Zeit: das Kind
belebt den Tisch, stellt den Tisch vor, wie wenn er leben
würde, wie ein Lebewesen, träumt das Leben in den
Tisch hinein, schlägt den Tisch.
Das
ist ja gar nicht wahr. Das Kind träumt gar nichts in den
Tisch hinein, sondern aus den Lebewesen, aus den Wesen, die
wirklich leben, träumt es das Leben heraus. Nicht daß
es in den Tisch das Leben hineinträumt, sondern aus
den wirklichen Lebewesen träumt es das Leben heraus. Und
wenn es sich verletzt hat, so schlägt es aus einer Art
Reflexbewegung; und da alles noch unbelebt ist für das
Kind — es träumt nicht das Leben in den Tisch hinein
—, verhält es sich gegen das Belebte und Unbelebte
gleich.
Aus
solchen ganz verkehrten Ideen sieht man, wie unsere
Zivilisation gar nicht in der Lage ist, an das Kind
heranzukommen. Und so handelt es sich darum, daß wir uns
wirklich liebevoll dem Kinde gegenüber verhalten
können, daß wir dasjenige, was es selber will, nur
liebevoll anleiten. Und so sollen wir es nicht innerlich
verprügeln durch schöne Puppen, so sollen wir mit ihm
leben können und die Puppe gestalten, die es innerlich
selber erlebt.
Und
so mit Bezug auf das ganze Spielwesen. Das Spielwesen
fordert in der Tat ein wirkliches Durchschauen des
kindlichen Wesens. — Wenn wir so lallen wie das kleine
Kind, wenn wir die Sprache herunterbilden bis zum Kinde,
wenn wir nicht wahrhaftig so sprechen, wie das Kind es
hören muß als wahrhaft aus unserem Wesen
herauskommend, so kommen wir mit Unwahrhaftigkeit dem
Kinde entgegen. Während wir aber da uns nicht in
Unwahrhaftigkeit hineinversetzen sollen, müssen wir uns in
das, was willensartig ist, was ins Spielwesen hineingeht,
gerade auf die kindliche Stufe versetzen können. Dann wird
es uns klar sein, daß das Kind ganz und gar nicht in
seinem organischen Wesen dasjenige hat, was heute in unserer
Zivilisation ganz besonders beliebt ist: die
Intellektualität. Wir dürfen daher auch in das
kindliche Spiel nichts hineinbringen, was irgendwie
intellektuell beherrscht ist.
Nun
wird das Kind auf naturgemäße Weise ja auch im Spiel
Nachahmer in bezug auf dasjenige, was in der Umgebung
sich abspielt; aber man wird wenig erlebt haben, daß
jemals ein Kind ein, sagen wir, Philologe hat werden wollen.
Selten wird man erleben bei einem vierjährigen Kind,
daß es ein Philologe werden will; aber ein Chauffeur zum
Beispiel will es unter Umständen werden. Warum? Weil man
alles dasjenige sieht, was am Chauffeur sich offenbart. Das
sieht man, das macht einen unmittelbaren Bildeindruck. Was der
Philologe tut, das macht keinen Bildeindruck. Das ist
unbildlich, das geht überhaupt vor dem Leben des Kindes
vorüber. Wir sollen aber ins Spiel nur dasjenige
hineinbringen, was an dem Kinde nicht vorübergeht. Alles
Intellektuelle geht aber noch am Leben des Kindes
vorüber. Was haben wir daher nötig, damit wir in der
richtigen Weise das kindliche Spiel anzuleiten vermögen
als Erwachsene? Wir pflügen, wir bereiten Hüte, wir
nähen Kleider und so weiter. Darinnen liegt überall
die Hinorientierung auf das Zweckmäßige, und in
dieser Hinorientierung auf das Zweckmäßige liegt das
Intellektualistische. Wovon man den Zweck einsieht im Leben,
das hat man intellektualistisch durchdrungen.
Nun
hat aber alles dasjenige, was im Leben drinnensteht, ob es
Pflügen ist, ob es irgend etwas anderes ist, Wagenbauen,
Pferde beschlagen lassen, außer dem, daß es
nach einem Zweck orientiert ist, etwas, was in seiner
äußeren Gestaltung lebt, in der bloßen
äußeren Gestaltung. Man kann, wenn man einen Landmann
ansieht, der den Pflug über die Furchen führt —
ganz abgesehen von dem, was der Zweck dieser Tätigkeit ist
fühlen und empfinden, wenn ich mich so ausdrücken
darf, das Gestaltende desjenigen, was im Bilde lebt, was zum
Bilde wird. Wenn man nur als Mensch sich durchringt — und
es ist der ästhetische Sinn, der es dazu bringt —,
überall das vom Zweck noch absehende Gestaltende
aufzufassen, dann bekommt man dasjenige, was in den
Spieldingen wirklich an das Kind herankommen kann. Man wird
gerade dadurch, daß man nicht auf jenes Schöne geht
— was ja auch durch und durch ein Intellektualistisches
ist —, das man bei den heutigen «schönen
Puppen» anstrebt, sondern auf dasjenige geht, was sich in
der Haltung, in der ganzen Empfindung des Menschen ausspricht,
hingeleitet zu der primitiven, zu der wirklich
entzückenden Puppe, die dann mehr so ausschaut (eine
von Waldorfschülern geschnitzte Puppe wird gezeigt),
nicht wie die sogenannte «schöne» Puppe. Aber
das ist schon für ältere Kinder!
Es
handelt sich also darum, daß wir, um Erzieher zu werden,
dieses Ästhetische der Arbeit in der Arbeit schauen
können, damit wir das Ästhetische der Arbeit
heranbringen an die Ausarbeitung des Spielzeuges. Wenn
wir das Ästhetische der Arbeit an die Ausarbeitung des
Spielzeuges heranbringen, dann nähern wir uns dem, was das
Kind aus sich selber heraus will. Wir sind in unserer
Zivilisation fast ausschließlich
Nützlichkeitsmenschen, das heißt,
intellektualistische Menschen geworden, bringen daher auch
schon an das Kind alles mögliche Ausgedachte heran. Aber
es handelt sich darum, daß wir an das Kind nicht dasjenige
vom späteren Leben heranbringen, was gedacht ist, sondern
was am späteren Leben gefühlt, empfunden werden kann.
Das muß im Spielzeug drinnen sein. Wir mögen dem
Knaben einen Pflug geben, aber es handelt sich darum, daß
wir ihm das Gestaltende, das Ästhetische des Pflügens
in das Spielzeug hineinlegen. Das ist dasjenige, was die
Vollkraft des Menschen zur Entwickelung bringen kann.
Darin haben die ja sonst in vieler Beziehung
außerordentlich anerkennenswerten Kindergärten
große Fehler gemacht. Der Kindergarten, der von
Fröbel und anderen mit einer wirklich innigen
Kindesliebe eingerichtet worden ist, muß sich klar
sein darüber, daß das Kind ein nachahmendes Wesen
ist, aber nachahmen nur dasjenige kann, was noch nicht
intellektualistisch ist. So dürfen wir nicht allerlei
Kinderarbeiten in den Kindergarten hineinbringen, die
ausgedacht sind. Alles Stäbchenlegen, alles Flechten und
dergleichen, was im Kindergarten vielfach eine so große
Rolle spielt, ist ausgedacht. Wir dürfen in dem
Kindergarten nur dasjenige im Bilde haben, was die großen
Leute auch machen, nicht was im besonderen ausgedacht ist. Den
Menschenkenner beschleicht oftmals ein tragisches
Gefühl, wenn er in diese gutgemeinten Kindergärten
hineinkommt, wo so schön ausgedachte Arbeiten darin sind.
Denn auf der einen Seite gehen diese Kindergärten
aus einem so unendlich guten Willen hervor, aus so viel
Kinderliebe, und auf der anderen Seite wird nicht
beachtet, daß alles inhaltlich Intellektualistische,
alles dasjenige, was ausgedacht ist an Kinderarbeiten,
vom Kindergarten ausgeschlossen sein muß, daß es nur
die äußere Nachahmung des äußeren Bildes
der Erwachsenentätigkeit sein darf, die im Kindergarten
entfaltet werden kann.
Ein
Kind, das vor dem vierten, fünften Jahre innerlich
intellektualistisch trainiert wird, das nimmt etwas Furchtbares
ins Leben mit, das wird geradezu zum Materialisten erzogen. Je
intellektualistisch-geistiger Sie ein Kind bis zum vierten,
fünften Jahre erziehen, einen desto größeren
Materialisten erzeugen Sie von ihm im Leben. Denn es wird das
Gehirn auf der einen Seite so bearbeitet, daß der Geist
schon in den Formen des Gehirns lebt und innerlich der Mensch
die Intuition bekommt: alles ist nur materiell, weil sein
Gehirn so früh vom Intellektualistisch-Geistigen ergriffen
worden ist.
Wollen Sie den Menschen zum Verstehen des Spirituellen
erziehen, dann müssen Sie das sogenannte äußere
Geistige in seiner intellektualistischen Form so spät als
möglich an ihn heranbringen, dann müssen Sie, obzwar
es eine große Notwendigkeit ist, daß gerade in der
heutigen Zivilisation der Mensch im späteren Leben
zum vollen Erwachen kommt, das Kind in jenem sanften,
bildträumerischen Erleben, in dem es hereinwächst in
das Leben, möglichst lange lassen, möglichst lange
bei der Imagination, bei der Bildhaftigkeit, bei der
Unintellektualität lassen. Denn wenn Sie erstarken lassen
seinen Organismus an dem Unintellektualistischen, dann wird es
auf richtige Weise später in das der heutigen Zivilisation
notwendige Intellektualistische hineinwachsen.
Peitschen Sie sein Gehirn in der Weise, wie angedeutet, dann
verderben Sie die Seele des Menschen für das ganze
Leben. So wie Sie durch Lallen die Verdauung verderben, wie Sie
durch ein falsches liebloses Gehenlernen den Stoffwechsel
für das spätere Leben verderben, so verderben Sie die
Seele, wenn Sie in dieser Weise von innen das Kind peitschen.
Und so muß es ein Ideal unserer Erziehung werden, vor
allen Dingen die seelischen, aber doch dadurch, daß das
Kind ganz physisch-seelisch-geistiges Wesen ist, auch
physisch-inneren Prügelstrafen — das
heißt die «schöne Puppe» abzuschaffen, um
vor allen Dingen das Spiel auf das richtige Niveau zu
bringen.
Heute möchte ich diese Betrachtungen damit
abschließen, daß ich hingewiesen habe, wie man gerade
das falsche Geistige vermeiden muß, damit das richtige
Geistige, der ganze Mensch überhaupt, im späteren
Lebensalter zum Vorschein kommt.
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