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Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung

Schmidt-Nummer: S-5386

Online seit: 15th July, 2013

ACHTER VORTRAG

Ilkley, 12. August 1923

Die Tage der Woche sind während dieses Kurses einer fachlichen Betrachtung des pädagogischen Wesens gewidmet. Lassen Sie uns heute den Sonntagsvortrag, der herausfallen soll in seinem Wesen und Inhalte aus der Reihe der pädagogischen Vorträge, dazu benützen, um aufzublicken von der irdischen Menschenerziehung, die wir uns als eine Kunst aneignen sollen, zu den großen göttlichen Erziehern der gesamten Menschheit, zu den Weltenerziehern, welche die Menschheit im Laufe der geschichtlichen Entwickelung von Epoche zu Epoche geführt haben, so daß in jeder Epoche Verschiedenes gerade in religiössittlicher Beziehung im Zusammenhange mit der Welterkenntnis von der Menschheit angestrebt werden sollte.

Überblickt man die Geschichte als Ganzes, so erscheint sie doch trotz mannigfaltiger Wellentäler, Niederungen, die sich den Wellenbergen der aufsteigenden Entwickelung der Menschheit entgegenstellen, als eine fortlaufende Erziehung des Menschengeschlechtes, als ein immer erneutes Durchdringen mit dem, was man das religiös-sittliche Bewußtsein der Menschheit nennen kann.

Derjenigen Initiationswissenschaft, welche ich in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» zu beschreiben versuchte und welche die heutige Initiationswissenschaft ist, die uns heute von dem bloßen Naturerkennen zu dem Geist-Erkennen führt, entsprach zu allen Zeiten, in allen Epochen der Menschheitsentwickelung eine irgendwie geartete Initiationswissenschaft. Und für diese Initiationswissenschaft erscheint der Gang der Menschheit ein dreigliedriger.

Man kann zurückblicken in eine sehr alte Entwickelungsepoche der Menschheit, die etwa ihren Abschluß gefunden hat im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Man kann dann in eine Epoche der Menschheitsentwickelung blicken, welche ihren Glanz und ihre Sonne erhält durch das Mysterium von Golgatha, durch dasjenige, was durch den Christus Jesus als ein ewiger, immerdauernder Impuls in diese Menschheitsentwickelung hereingekommen ist. Und man kann dann eine dritte Epoche ins Auge fassen, eine Epoche, an deren Aufgang wir eigentlich jetzt stehen, und die wir gerade durch eine neuere Initiationswissenschaft zu vertiefen haben werden.

Jede dieser Epochen hat über dasjenige hinaus, was dem Menschen durch seine naturgemäße Entwickelung, durch Sinn und Verstand, Wollen und Fühlen wie von selbst und durch die gewöhnliche irdische Erziehung zukommt, noch nach etwas anderem gestrebt. Jede dieser Epochen hat ein großes, in das Menschenschicksal tief eingreifendes Weltenrätsel empfunden. Und in jeder Epoche hatte dieses Weltenrätsel in einer gewissen Beziehung eine andere Gestalt, weil die Menschheit verschiedene Seelenzustände in den verschiedenen Epochen durchgemacht hat. Nur einer heutigen abstrakten Zeit erscheinen die Menschenseelen, seit sie sich, wie man heute durch eine allerdings ungültige Hypothese annimmt, aus der Tierwelt heraus entwickelt haben, gleichgeartet.

Demjenigen, der durch eine vertieftere Wissenschaft unbefangener in die Wirklichkeit des Menschenlebens hineinschaut, dem erscheint die Menschenseele in der ersten genannten Epoche in einer ganz anderen Weise geartet als in jener Epoche, die sich erfreuen durfte des Eintrittes des Mysteriums von Golgatha, und wiederum anders, als in unserer Epoche, in der wir das Mysterium von Golgatha wiederum suchen müssen, damit wir nicht der Gefahr unterliegen, es für die Erkenntnis zu verlieren.

Wenn wir auf die Art und Weise hinblicken, wie die Menschenseelen im alten Orient geartet waren, aus dem uns herüberleuchtet die Veden-weisheit, die Vedantaphilosophie, und die wir heute wiederum — allerdings durch manches Mißverständnis — in der mannigfaltigsten Weise aufsuchen, wenn wir auf diese Seelen hinsehen, ja selbst wenn wir noch hinsehen auf die alten chaldäisch-assyrisch-babylonischen Seelen, auf die ägyptischen Seelen und selbst noch auf das griechische Wesen in seiner älteren Zeit, wie diese Vorträge über Pädagogik in diesen Tagen gezeigt haben, dann müssen wir die Menschenseelen in jenen Zeiten in einer ganz anderen Art sehen, als sie heute beschaffen sind.

Diese Menschenseelen empfanden viel mehr ein träumerisches, geistiges Leben als die heutige Seele, die in ihrem Wachleben ganz und gar angewiesen ist auf die Sinneseindrücke, auf dasjenige, was der Verstand aus diesen Sinneseindrücken machen kann und was in der Erinnerung von diesen Eindrücken als Seeleninhalt erhalten blieb.

Alles, was so Eigentum der heutigen Seele ist, war nicht in derselben Weise bei den Seelen einer älteren Menschheitsepoche vorhanden. Es war bei diesen Seelen vielmehr eine instinktive Urweisheit vorhanden von dem inneren seelisch-geistigen Menschenleben. Nicht das war vorhanden, was wir heute aus der Gewohnheit unserer Sinneserkenntnis heraus als eine klarbewußte Einsicht ansehen, aber ein innerliches Weben und Leben, wie wir es abgeschwächt und abgeschattet im Traumleben haben, ein innerliches Leben, in dem sich für den Menschen nicht nur die Gewißheit ergab: du hast eine Seele, die den Körper durchwellt und durchwebt, die dein eigentliches Menschtum ausmacht, sondern du hast eine Seele, die hervorgegangen ist, bevor du dich in dem irdischen Dasein mit einem Leibe umkleidet hast, aus göttlich-geistigem Dasein.

Man möchte sagen: wie im wachen Träumen, so erlebte sich der Mensch in diesen älteren Epochen. Und er erlebte sich als Seele. Er erlebte sich als Seele so, daß für diese in elementarer Lebendigkeit innerlich empfundene und erlebte Seele der Körper etwas wie eine Art Umkleidung war, wie nur ein Werkzeug, um das Erdendasein zu vollbringen.

Das Seelenbewußtsein, wenn auch traumhaft, war dasjenige, in dem der Mensch auch während des Wachens lebte. Und aus diesem Seelenerleben ging ihm mit voller Klarheit hervor, daß er, bevor er in einen physischen Leib auf Erden eingekleidet wurde, als Seele in einer geistigen Sphäre, in einer geistigen Welt, in einem göttlichen Reiche gelebt habe.

Und so kannte dieser ältere Mensch das seelisch-geistige Leben durch unmittelbare innere Anschauung. Und er hatte dadurch, daß er dieses seelisch-geistige Leben durch eine unmittelbare Anschauung kannte, ein ganz anderes Bewußtsein von dem Tode, als es die heutige Menschheit hat. Die heutige Menschheit fühlt sich mit dem Körper verwandt. Es löst sich nicht in derselben Weise, wie bei einer älteren Menschheit, das seelische Bewußtsein los vom körperlichen Bewußtsein. Und so sieht der heutige Mensch auf die Geburt wie auf einen Anfang, auf den Tod wie auf ein Ende hin.

Der altere Mensch hatte ein so lebendiges innerliches Erleben von dem Dauernden, Ewigen der Seele, daß er sich, indem er auf dieses seelische Leben hinblickte, immer als über Geburt und Tod erhaben fühlte. Sie waren ihm Wachstumszustände, Metamorphosen des Lebens. Er war sich klar darüber, daß er war, bevor er auf Erden war. Er konnte dadurch sicher sein, daß er auch dann ist, wenn er durch die Pforte des Todes durchgegangen sein wird. Geburt und Tod erschienen als vorübergehende Ereignisse im Leben.

Aber immer hat der Mensch nötig, daß er durch eine ins Geistige hineinschauende Wissenschaft eine Ergänzung dieses seines unmittelbaren Erlebens erhält, daß ihm durch eine geistige Initiationswissenschaft noch etwas anderes gesagt werde, als ihm durch sein eigenes Innere und durch das, was ihm im gewöhnlichen Leben die Erdenerziehung geben kann, aufgeht.

Die alten Initiierten, die Weisheitslehrer jener älteren Menschheit, die etwas hatten wie ein instinktives Hellsehen, die mußten den Menschen auf eine ganz bestimmte Frage eine Antwort geben. Im Geistig-seelischen wußte sozusagen die ältere Menschheit Bescheid. Man wußte, wie es sich mit dem Geistig-Seelischen verhält; denn das erlebte man, wie ich es eben angedeutet habe. Was aber ein Rätsel war, das war dies: Du ziehst, indem du die Erde betrittst, durch Empfängnis und Geburt in das physische Leben ein; du wirst mit deinem physischen Körper umkleidet, der dieselben Kräfte, ja dieselben Stoffe in sich trägt wie die äußere tote Natur. Du wirst mit etwas Fremdem umkleidet. Du steckst zwischen der Geburt und dem Tode in einem Körper, der ein Naturkörper ist. Du wirst geboren auf physische Weise. Diese Geburt auf physische Weise ist deinem innerlich erlebten Dasein fremd.

Die große Frage, welche dem sein Inneres erblickenden Menschen der alten Zeit vor der Seele stand, war nicht eine Seelenfrage, war nicht eine Geistesfrage, war gerade die Naturfrage, jene Frage, welche den Menschen überkam, wenn er sich mit seinem vollen geistig-seelischen Werte fühlte, und wenn er dann einsehen wollte, warum er mit einem ihm fremden physischen Körper umkleidet ist.

Und da handelte es sich dann für die Initiationswissenschaft darum, dem Menschen zu lehren, daß man dieselben Kräfte, durch die man das geistig-seelische Leben innerlich erblickt, auch auf die äußere Natur richten kann, die sonst stumm nur die äußeren Erscheinungen zeigt. Und wenn man, so lehrte jene Initiationswissenschaft, mit entsprechender Schulung die Kräfte, die sonst nur zur Innenerkenntnis, zur Seelenerkenntnis führen, auf die Steine, Pflanzen, Tiere, auf die Wolken, auf die Sterne, auf den Gang von Sonne und Mond richtet, dann kann man auch das Äußere erkennen. Und dann schaut man geistige Wesen, nicht nur im eigenen Menscheninneren, sondern schaut geistige Wesen in der sprudelnden Quelle, in dem fließenden Strom, in dem sich auftürmenden Berg, in der ziehenden Wolke, in Blitz und Donner, in Stein, Pflanze und Tier.

Und so sagte eine alte Initiationswissenschaft dem Menschen: Du bist gewöhnt, indem du in dich schaust und lebendig dein Geistig-seelisches empfindest, das Göttliche in dir zu finden. Die Initiationswissenschaft aber schult die Kräfte, die sonst nur das Göttliche im Menschen erblicken, auch für das Göttliche in allem Naturdasein. Dadurch kannst du beruhigt sein darüber, daß, indem du mit einem äußeren physischen Körper umkleidet wirst, der auch aus einem Göttlichen ist, daß deine physische Geburt dich nicht aus einem Außergöttlichen, sondern aus einem Göttlichen in das Erdendasein hereinträgt.

Und so war es für eine ältere Initiationswissenschaft die Aufgabe, den Menschen die große Wahrheit zu lehren: Du bist nicht nur, indem du in dein Inneres blickst, ein Gottgeborener, du bist auch, indem du in deinem Körper bist, der durch physische Geburt in der Welt erscheint, ein Gottgeborener.

Dasjenige, was dann eine spätere Zeit zusammengefaßt hat in drei aufklärende, eindringliche Worte, das war es, was die alte Vaterinitiation dem Menschen vor die Seele hingestellt hat: Aus dem Gotte sind wir geboren.

Ex deo nascimur.

Das war die erste Stufe, wie Initiationsweisheit auf die Menschen gewirkt hat, wie Initiationsweisheit religiöses Bewußtsein in dem Menschen erzeugt hat.

Die alten heidnischen Religionen sind Naturreligionen geworden aus dem Grunde, weil der Mensch seine physische Geburt innerhalb der Natur religiös gerechtfertigt haben wollte. Das Naturrätsel stand vor seiner Seele. Und in dem «Ex deo nascimur» wurde ihm das Naturrätsel gelöst, so daß er beruhigt sein Erdendasein führen durfte in einem religiösen Element, trotzdem er sich vom Aufwachen bis zum Einschlafen als ein über das Physische erhabenes Geistig-Seelisches fühlte.

Der Fortgang in der Menschheitsentwickelung bestand dann darin, daß jenes alte traumhafte Erleben des Seelisch-Geistigen, das der Mensch gewissermaßen als die ihm eingeborene Erkenntnis des eigenen Wesens in sich trug, immer mehr und mehr in den Hintergrund trat, und der Mensch sich immer mehr und mehr der Werkzeuge seines physischen Leibes zu bedienen lernte. Ich möchte sagen: die Träume von Seelisch-Geistigem, die einem Urinstinkte des Menschengeschlechtes eigen waren, dämmerten hinunter in unbestimmtes Dunkel, und die Menschheit lernte, und zwar erst im letzten Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha, sich der äußeren Sinne zu bedienen und desjenigen Verstandes, der an die äußeren Sinne gebunden ist. Und das, was wir heute Natur nennen, trat immer mehr und mehr den Menschen als unmittelbares Erlebnis vor Augen. Hatten noch die alten Initiierten durch Weisheit das Geistige in der Natur vor die menschliche Seele hinrücken müssen, so stand jetzt das rein Physische der äußeren Natur fragend vor der Menschenseele, und zu dem alten Rätsel von der Erdennatur des Menschen kam das zweite große Rätsel in der historischen Menschheitsentwickelung: das Rätsel vom Erdentode des Menschen.

Der Mensch lernte eigentlich erst im letzten Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha den Tod im Erdendasein in intensiver Weise fühlen. Hatte er früher wenig Empfindung von seinem Körper, um so mehr Empfindung von seinem Geistig-Seelischen, so fühlte und erlebte er sich jetzt in seinem physischen Körper. Und er erlebte dasjenige Ereignis, das mit dem physischen Körper rätselhaft verbunden 1st, als das große Daseinsrätsel in dieser zweiten Epoche der Menschheitsentwickelung: er erlebte dieses Todesrätsel. Wir sehen dieses Todesrätsel in intensiver Gestalt auftreten, zum Beispiel bei den alten Ägyptern, die die Leichname einbalsamierten, weil sie gewissermaßen wie historisch die Todesfurcht des Menschen erlebten, die Verwandtschaft desjenigen, in dem der Mensch jetzt sich als in seinem physischen Leibe fühlte, mit dem Tode. Und während das erste Rätsel für den Menschen dieses war: Wie lebe ich in meinem physisch-irdischen Körper? — entstand jetzt das zweite große Rätsel: Wie durchlebe ich den Erden Tod?

In jener Zeit, in welcher der Mensch hinaufgeschaut hat zu dem Geistig-Seelischen dadurch, daß er dieses Geistig-Seelische unmittelbar wie durch ein instinktives Hellsehen erlebte, da wußte er: Wenn ich nicht mehr mit diesem Erdendasein verbunden sein werde, dann gehöre ich auch der Erde nicht mehr an, dann geht mein Erdendasein durch eine Metamorphose hindurch, und ich bin wieder mit dem Außerirdischen, mit den Sternen verbunden. Denn von den Sternen wußte die Seele, als sie sich instinktiv lebendig fühlte im alten Dasein, auf geistige Art. Aus den Sternen las der Mensch sein Schicksal. Mit der Sonne und mit dem Monde fühlte er sich verbunden, von den Sternen wußte er. Aber von dem Geist in den Sternen kam er aus einem vorirdischen Dasein; zu den Sternen, aber zu dem Geiste in den Sternen kehrt er zurück, wenn er durch die Pforte des Todes geht.

Jetzt wurde ihm dies alles rätselhaft. Er sah hin auf den Tod; er sah im Tode das Ende des Menschenkörpers. Er fühlte die Seele innig verbunden mit diesem Menschenkörper. Er fragte sich, indem er dieses Rätsel tief empfand: Wie wird es mit mir nach dem Tode? Wie gehe ich durch die Pforte des Todes hindurch? — Aus diesem Rätsel heraus hätte den Menschen zunächst nichts auf der Erde führen können.

Die alten Initiierten wußten dem Menschen Bescheid zu geben in bezug auf das Naturrätsel. Da antworteten sie ihm, wenn wir es in eine spätere Sprache übersetzen: Ex deo nascimur.

Dasjenige aber, woraus der Mensch wußte, von woher er im vorirdischen Dasein gekommen ist, wohin er gehen sollte, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist, das, was den alten Menschen klar vor der Seele stand, es war jetzt aus der Seele der Menschen erloschen. Das Wissen, das der Mensch instinktiv empfand, indem er sein eigenes seelisch-geistiges Erleben auf die Sternenwelt ausdehnte, das war nicht mehr da. Da ereignete sich das Große, daß die Sternenwelt, der Geist der Sternenwelt, den eine spätere Zeit den Christus genannt hat, den eine frühere griechische Zeit den Logos nannte, selber herunterkam substantiell als Wesenheit auf die Erde und sich verkörperte in dem Menschenleib des Jesus von Nazareth. Und so konnte die Menschheit das Große im Erdendasein erleben, daß dasjenige, was vorher eine alte Menschheit ahnte, indem sie hinaufsah zu den Sternen, das Göttliche, zu dem auch das Göttliche der Erde gehörte, selber durch ein Erdendasein, durch den Tod hindurchschritt. Denn der Tod Christi, die Auferstehung Christi, war zunächst für die Christen, die das Christentum verstanden, die Hauptsache.

Und dieses Durchgehen des Gottes, der früher nur aus den Sternen sich offenbarte, durch einen Menschenleib, durch den Tod eines Menschenleibes, das gab nun, indem es von den Initiierten zur Zeit des Mysteriums von Golgatha in der sogenannten Gnosis den Menschen erörtert wurde, den Menschen die Lösung des zweiten Lebensrätsels, des Todesrätsels.

Jetzt konnten die Initiierten den Menschen darauf hinweisen, wie das, was in der alten Weise die Ewigkeit verbürgte, was in den Sternen wohnt, in einen Menschenleib eingezogen ist und in einem Menschenleib den Tod überwunden hat. Jetzt wurde der Christus wieder Extrakt des ganzen Geistes, des Logos, der Welt. Hatten früher die alten Initiierten auf die Natur hingewiesen und die Menschen gelehrt: aus dem Gotte ist deine Natur geboren —, so konnten jetzt die Initiierten den Menschen darauf hinweisen, wie er verbunden sein kann mit dem göttlichen Wesen, das durch den Menschen Jesus von Nazareth gegangen ist, das im Menschen Jesus von Nazareth mit der übrigen Menschheit gemeinsam durch den Tod gegangen ist, aber den Tod besiegt hat. Und wiederum konnte man aus jener Initiationswissenschaft, jetzt aus der durchchristeten Initiations Wissenschaft, so wie früher das Naturrätsel, jetzt das Todesrätsel lösen.

Und während es noch im Buddhismus so war, daß uns erzählt werden kann, wie der Buddha die vier großen Wahrheiten entdeckt und eine von diesen Wahrheiten ihm aufgeht beim Anblick eines Leichnams, wo er von der Trostlosigkeit des toten menschlichen Körpers so ergriffen wird, daß uns angedeutet wird, wie der Buddha, etwa sechs Jahrhunderte vor dem Mysterium von Golgatha, in dem Anblick des Toten sozusagen zu dem letzten Ausläufer der alten Weltanschauung hinkommt, so sehen wir, wie sich — etwa wiederum sechs Jahrhunderte nach dem Mysterium von Golgatha — die Anschauung ausbildet, die hinaufschaut zu dem Toten am Kreuze, zu der toten Menschengestalt. Und so wie der Buddha in der toten Menschengestalt das Leiden des Lebens als letzten Ausläufer der alten Weltanschauung entdeckt zu haben glaubte, so sah jetzt die durchchristete Menschheit zu der toten Menschengestalt am Kreuze, zu dem Kruzifixus hin und empfand an der toten Menschengestalt die völlige himmlische Garantie für das Leben durch den Tod, den der Christus im Jesus besiegt hat.

Und so wie aus der historischen Todesfurcht heraus die Ägypter ihre Leichname einbalsamiert hatten, um gewissermaßen noch das Naturhafte im Menschen vor dem Tode zu bewahren in der Zeit, als man noch sagte: Ex deo nascimur so sehen wir die ersten Christen, die noch den Impuls des initiierten Christentums hatten, ihre Toten begraben, aber über den Toten — in der Gewißheit, daß die mit Christus vereinigte Seele den Tod besiegt — den Gottesdienst halten. Und das Grab wird zum Altar. Aus dem Mysterium von Golgatha zieht der Mensch die Gewißheit: wenn er verbunden ist mit dem Christus, der als der Sterneninhalt heruntergestiegen ist auf die Erde, in einer Menschengestalt Leben und Tod und Auferstehung durchgemacht hat, so wird er durch diese Verbindung mit dem Christus selber als Mensch den Tod besiegen.

So antwortete der Inhalt des Vatergottes auf das Naturrätsel des Lebens. So antwortete der Inhalt des Christus auf das Todesrätsel des Lebens. Und dem Tode wurde sein Stachel genommen. Der Tod wurde fortan durch ein stärkeres Argument, als früher nötig war, zu einer Metamorphose des Lebens gemacht. In dem Hinschauen auf das Mysterium von Golgatha, in der Gewißheit: der Christus ist zur Erde heruntergestiegen und hat dasjenige, was todbringend in der Erde ist, zu neuem Leben erweckt, durchdrangen jetzt — das beweist die später ausgerottete, nur in wenigen Resten erhaltene Gnosis — die Initiierten des Christentums die Menschheit mit jener Wahrheit, welche die Menschenwahrheit enthält von der Verbindung des sterblichen Menschen auf Erden mit dem Christus, durch den der Mensch sein Todgeweihtes in sich erlöst, sein Todgeweihtes zum Leben erweckt. Es durchdrangen jetzt die Initiierten die Menschheit mit einem neuen Unsterblichkeitsbewußtsein.

Die Initiierten konnten den Menschen sagen: Eure Seele kann verbunden sein mit Ihm, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist; eure Seele kann leben mit Leben, Tod und Auferstehung des Christus. Indem ihr das Erdenleben nicht nur naturhaft durchlebt, indem ihr das Erdenleben so durchlebt, daß euch in allen Erdenleben, besonders in eurem Umgange mit allen Menschen, das Christus-Reich auferweckt wird, so lebt ihr in Gemeinschaft mit dem Christus selber, so machet ihr das göttliche Wesen Christus zu eurem Bruder. Sterbet ihr im Tode, so sterbet ihr im Leben, indem ihr in dem Christus sterbet.

Und hinzugefügt werden konnte zu der Urwahrheit des Geborenseins aus dem Vatergotte das Leben mit dem Sohnesgotte, mit Christus, was später in einem weiteren dreiwertigen Spruche als Ergänzung zu dem «Ex deo nascimur» hinzugekommen ist als:

In Christo morimur,

in dem Christus sterben wir, das heißt, als Seele leben wir.

Und so war hinzugefügt für die Menschheit in jener Epoche, die ein Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha begonnen hat, und die geschlossen hat etwa im 15. nachchristlichen Jahrhundert — wir stehen in einer dritten Epoche drinnen, die wir erst richtig verstehen müssen —, so war hinzugefügt in der großen, durch die göttlichen Weltenlenker selbst geleiteten Erziehung des Menschengeschlechts zu dem «Aus dem Vatergotte sind wir geboren»: «In dem Christus-Gotte sterben wir, auf daß wir leben.»

Die großen Rätsel der ersten und der zweiten Epoche stehen den Menschen im geschichtlichen Rückblick deutlich vor Augen. Das Rätsel der dritten Epoche, in der die Menschheit seit einigen Jahrhunderten drinnen lebt, wird heute sogar noch wenig genannt, wenig empfunden, trotzdem gefühlsmäßig unterbewußt in der Gegenwart dieses Rätsel schon ebenso lösungsbedürftig in der Menschenseele lebt wie einstmals das Rätsel von der Erdennatur des Menschen, dann das Rätsel vom Erdentode des Menschen.

Die Menschheit hat seit dem 14., 15. Jahrhundert der nachchristlichen Zeit sich ein in die physische Natur tief eindringendes Wissen erworben. Wir brauchen nur daran zu denken, wie jener Sternenhimmel gewonnen worden ist, der einstmals mit Erkenntnisträumen geschaut worden ist von einer alten Menschheit, aus dem heraus in ihren Erkenntnisträumen eine alte Menschheit ihr Schicksal gelesen hat, wie dieser Sternenhimmel durch äußeres Rechnen, durch Geometrie, Mechanik immer mehr und mehr sich bis in unsere Gegenwart herein geoffenbart hat. Wir brauchen nur daran zu denken, wie die Wissenschaft von den Steinen, den Tieren, den Pflanzen sich ausgebreitet hat als eine rein natürliche Wissenschaft.

So war es nicht in der ersten Epoche der Menschheitsentwickelung; so war es auch noch nicht in der zweiten Epoche der Menschheitsentwickelung, in jener zweiten Epoche, wo vor allen Dingen die Menschheit im tiefsten Inneren ihrer Seele geahnt hat: Was einstmals ein instinktives Hellsehen der Menschenseele von den Sternen abgelesen hat, das ist in Substanz selber eingezogen in den Jesus von Nazareth als Christus, das lebt als Christus bei uns. Diese Menschheit der zweiten Epoche sah auf den Christus hin, fühlte den Christus im Herzen, und in diesem herzlichen Zusammensein mit dem Christus fühlte sie dasselbe, was einstmals aus dem Geiste des Kosmos heraus in einem träumhaft alten Hellseherbewußtsein die Menschheit zur Rechtfertigung des Erdendaseins gewußt hat. Sozusagen in den kosmischen Weiten lebte die Menschheit der zweiten Epoche, indem sie mit dem, der aus den kosmischen Weiten zur Erde heruntergestiegen ist, mit dem Christus zusammenlebte.

Da kam die dritte Epoche der Menschheit, jene Epoche, die nur noch mit der Rechnung, mit der Mechanik, mit dem Teleskop, mit dem Spektroskop in die Sternenwelten hinaufschauend dasselbe, was sie als ein Totes, höchstens ätherisch Belebtes auf Erden findet, auch in den Sternen findet; jene Epoche, in der die Menschheit nicht mehr den Christus sehen kann als den von den Sternen Heruntergekommenen, weil sie in den Sternen nicht mehr das den Kosmos durchsetzende Geistige erblickt. Und so ist der Kosmos gottesfremd und damit auch christusfremd für die Menschheit geworden.

Die Menschheit der Gegenwart steht daher in bezug auf ihr inneres Bewußtsein in der großen Gefahr, den Christus zu verlieren. Und wir sehen schon die ersten Schritte in dem Verlieren des Christus. Die Gottesweisheit, die Theologie, die durch Jahrhunderte hindurch in voller Harmonie lebte in ihren Ideen mit Bezug auf die Christus-Offenbarung, weiß heute vielfach nicht mehr den Christus zu finden, den Gott in dem Jesusmenschen von Nazareth. Und viele wissen, indem sie in die Zeit des Mysteriums von Golgatha blicken, nicht mehr den Christus, den geistigen Extrakt, die geistige Wesenheit des Kosmos zu finden, sondern viele finden nur noch den Menschen Jesus von Nazareth. Weil sie in dem Sternenhimmel nur noch die entgötterte Natur schauen, können sie nicht mehr in dem, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, das Wesen finden, dessen physisches Reich der ganze Kosmos ist, das aber in dem Menschen Jesus von Nazareth während des Mysteriums von Golgatha Wohnung genommen hat.

Indem das alles tief durchlebt werden kann, unterscheidet sich heute derjenige, der durch die Initiationsweisheit geht, von dem, der nur durch die äußere uninitiierte Naturwissenschaft geht. Diese äußere uninitiierte Naturwissenschaft hat den Geist des Kosmos verloren, steht vor der Gefahr, daß die Menschheit auch den Christus in dem Jesus von Nazareth verliert.

Deshalb fühlen diejenigen, die gerade in unserer Gegenwart tiefer hineindringen in unser Naturwissen, wie heraufgeblüht ist in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit während der dritten Epoche, seit dem 14. oder 15. Jahrhundert, etwas wie das dritte große Rätsel der Erdenentwickelung der Menschheit. Sie schauen hin historisch auf das erste große Rätsel, auf das Rätsel von der Erdennatur; auf das zweite große Rätsel, auf das Rätsel von dem Erdentode des Menschen; und ihnen geht auf das dritte große Rätsel, indem sie sich etwas sagen, was die Menschheit sich heute noch nicht gerne sagt, was aber des Menschen Herz dennoch schon unterbewußt mit einer gewissen Deutlichkeit fühlt. Die Initiierten der gegenwärtigen Zeit sagen sich: Wir leben in der Welt, die einstmals als Geist vom Kosmos aus zu den Menschen gesprochen hat, so daß der Mensch in dieser Welt wie ein im Kosmos Wachender war. So leben wir, daß der Mensch begann, dieses Wachen des Kosmos in sich erlöschen zu fühlen, dieses Verbundensein mit dem Christus, der als das Wesen dieses den Menschen wachhaltenden Geistkosmos auf die Erde heruntergestiegen ist, wir nur mehr in einem Kosmos leben, der uns seine Außennatur zeigt. Wir leben den Ideentraum des Kosmos, wir leben einen errechneten, einen mit der Waage gewogenen, einen durch das Spektroskop geschauten Kosmos. Das ist unser Traum. Dadurch trennen wir uns mehr von dem wirklichen Geiste des Kosmos, als daß wir als Menschen mit ihm verbunden sind.

Daher steht derjenige, der teilhaftig ist in der neueren, in der dritten Epoche der Menschheitsentwickelung nicht nur der uninitiierten Wissenschaft, sondern der Initiationswissenschaft, vor dem dritten großen Rätsel: vor dem Rätsel des Erkenntnisschlafes, des großen Lebensschlafes der Menschheit.

Gefühlt haben es die tieferen Geister. Cartesius fühlte es, indem er dann an der Wahrheit alles dessen zu zweifeln begann, was die äußere Naturerkenntnis sagen kann. Aber es war erst anfänglich gefühlt. Es muß immer tiefer und tiefer zur Bewußtheit der Menschheit kommen, daß die ganze Erkenntnis, auf welche die neuere Menschheit seit drei, vier, fünf Jahrhunderten so stolz ist, einen Lebensschlaf darstellt, daß das dritte große Rätsel immer mehr und mehr über die Menschen kommen muß. Die Menschen mußten sich einmal fragen: Warum wohnen wir in einem physischen Erdenkörper? —, mußten sich dann fragen: Warum gehen wir durch den physischen Erdentod hindurch? — Und als drittes muß vor das Menschenherz die Frage treten: Warum schlafen wir den Erdenschlaf trotz einer bloß auf die Natur gerichteten Erkenntnis? Wie können wir uns dem Traume des errechneten Kosmos, des durch Astrophysik und Astrochemie bloß äußerlich geschauten, des äußerlich geträumten Kosmos, hintreten vor denjenigen Kosmos, der uns wiederum im tiefsten Inneren verbindet mit dem tiefsten Inneren seines Selbst? Wie können wir aus unserem Erkenntnistraum der neuesten Zeit aufwachen?

Und haben die alten ersten Initiierten dem Menschen die Frage: Warum lebe ich in einem Erdenleibe, in einem physischen Erdenleibe? — zu beantworten gehabt mit der Explikation des «Ex deo nascimur»; haben die Initiierten in dem Zeitalter des Mysteriums von Golgatha das Todesrätsel zu lösen versucht durch die Verbindung des Menschen mit dem Christus Jesus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, in dem, was dann eine spätere Menschheit das «In Christo morimur» genannt hat, so hat eine neuere Initiationswissenschaft den Menschen durch die Gegenwart und namentlich in den nächsten Jahrhunderten allmählich hinzuführen zum Gottesbewußtsein, zum religiösen Leben, zu der Art, wie er sein Inneres für eine Geist-Erkenntnis des Kosmos auferweckt. Diejenige Initiationswissenschaft, die durch die Anthroposophie kommen soll, die auch der hier vorgetragenen Pädagogik zugrunde liegt, will nicht bloß das heutige schlafende äußere Wissen vermehren, auf das trotzdem die Menschheit so stolz ist, und trotzdem dieses äußere Wissen in bezug auf äußere Erfolge so glorios ist: sie will als anthroposophische Initiationswissenschaft dieses schlafende Wissen zum Erwachen bringen, sie will den in Verstandes-, in intellektualistischen Träumen befangenen Menschen auferwecken.

Daher ist diese Initiationswissenschaft, die durch Anthroposophie getragen werden will, nicht bloß eine Vermehrung von Kenntnissen und Erkenntnissen, sondern ein Impuls des Aufwachens, ein Versuch, die Frage zu beantworten: Wie erwachen wir aus dem Lebensschlafe?

Und so wie die ältesten Initiierten der Menschheit expliziert haben das Wort «Ex deo nascimur», so wie die späteren Initiierten expliziert haben das Wort «In Christo morimur», so wird diejenige Initiationsweisheit, welche trägt ein wirklich im Geiste erwachendes Erkenntnisleben der Zukunft, welche trägt ein wiederum zur religiösen Vertiefung führendes Leben, welche trägt ein wirkliches Gottesbewußtsein, nun dazu führen, daß man den Christus, den man erlebt im Hinblick auf das Mysterium von Golgatha, wiederum fühlt als den Logos, der durch den Kosmos weht und webt. Und indem der Mensch sich in seinem kosmischen Dasein wiederum fühlen wird, wird diese neue Initiationswissenschaft, die eine wirkliche spirituelle Christologie bringen soll, wie sie im Kleinen wirkend zum Beispiel eine Pädagogik bringen soll — es wird diese Initiations Wissenschaft im Großen und im Kleinen in religiöser Hingebung in dem Dienste des Lebens, den sie der Praxis leisten will, sich immerdar bemühen, hinzuzufügen zu dem «Aus dem Gotte sind wir als physische Menschen geboren», zu dem «In dem Christus sterben wir, das heißt leben wir als Seele», das dritte: Indem wir zum Geiste vordringen durch die neuere Initiation, werden wir schon in diesem Erdenleben im Geiste lebendig, wachen wir auf, erleben wir die Erkenntniserweckung, die all unser Leben wiederum durchzieht mit dem Lichte der Religiosität, mit dem Lichte einer aus wirklich innerlicher Religiosität ergriffenen Moralität und Sittlichkeit. Kurz, diese neuere Initiationswissenschaft wird sich bestreben, zu dem alten Initiationsrätsel des «Ex deo nascimur» und dem mittleren Initiationsrätsel des «In Christo morimur», indem sie diese beiden Rätsel der Menschenseele wiederum voll lösend zurückgibt, sie wird sich bemühen, das andere in Lichtesklarheit in das Menschenherz hineinzutragen, das zur Auferweckung des Geistes in Menschenherz und Menschenseele führen soll, zur Religiosität der Erkenntnis: In der Erfassung des wahren, lebendigen Geistes werden wir selber als Leib, Seele und Geist auferweckt:

Per spiritum sanctum reviviscimus.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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