VIERTER
VORTRAG
Dornach,
14. Oktober 1921
Gestern
versuchte ich zu entwickeln, wie man den ersten Teil eines
Dreigliederungsvortrags vor einem gewissen Publikum behandeln
könnte, und ich machte darauf aufmerksam, daß es namentlich
notwendig ist, eine Empfindung hervorzurufen für den besonderen
Charakter des auf sich selbst gestellten Geisteslebens. Im zweiten
Teil wird es sich darum handeln, überhaupt einer
gegenwärtigen Menschheit erst begreiflich zu machen, daß es
so etwas geben kann wie einen demokratisch-politischen Zusammenhang,
der Gleichheit anzustreben hat. Denn eigentlich –
und das muß man bedenken, namentlich wenn man sich für
einen solchen Vortrag vorbereitet – ist das der Fall, daß
der gegenwärtige Mensch gar keine Empfindung hat für ein
solches Staatsgebilde, das auf das Recht als auf sein eigentliches
Fundament aufgebaut ist. Und dieser Teil, der politisch-staatliche
Teil des Vortrags, er wird ganz besonders schwierig zu behandeln sein
innerhalb der schweizerischen Verhältnisse. Und es wird sich
ganz besonders darum handeln, daß die Redner, welche innerhalb
der schweizerischen Verhältnisse die Dreigliederung des sozialen
Organismus vertreten wollen, gerade von den also bedingten
schweizerischen Verhältnissen ausgehen, und besonders darum,
daß sie bei dem mittleren, dem rechtlich-staatlichen Teil,
Rücksicht darauf nehmen, wie man aus den schweizerischen
Verhältnissen heraus zu reden hat. Denn die Sache liegt ja im
allgemeinen so: Durch die Verhältnisse der neueren
Menschheitsentwickelung ist das eigentliche Staatsleben als solches,
das sich eigentlich im Rechtsstaat ausleben sollte, im wesentlichen
verschwunden, und was sich im Staate auslebt, ist eigentlich ein
chaotisches Zusammensein der geistigen Elemente des menschlichen
Daseins und der wirtschaftlichen Elemente. Man könnte sagen: In
den modernen Staaten haben sich allmählich die geistigen
Elemente und die wirtschaftlichen Elemente
durcheinandergeschweißt, und das eigentliche Staatsleben ist
zwischendurch eben heruntergefallen, eigentlich verschwunden.
Dies
ist besonders innerhalb der schweizerischen
Verhältnisse bemerkbar. Da haben wir es überall zu tun mit
einer in ihren eigentlichen Ausgestaltungen unmöglichen,
scheinbaren Demokratisierung des geistigen Lebens und mit einer
Demokratisierung des Wirtschaftslebens, und damit, daß die Leute
glauben, dieses scheinbar demokratisierte Gemisch von Geistesleben
und Wirtschaftsleben, das wäre eine Demokratie. Und da sie sich
ihre Vorstellung von Demokratie gebildet haben aus dieser Mischung
heraus, da sie also eine vollständige Scheinvorstellung von
Demokratie haben, so ist es so schwierig gerade zu den Schweizern von
wirklicher Demokratie zu sprechen. Eigentlich verstehen gerade von
wirklicher Demokratie die Schweizer am alleraller-wenigsten.
Man
denkt in der Schweiz darüber nach, wie man die Schulen demokratisieren
soll. Das ist ungefähr so, als wenn man darüber nachdenken und
aus wirklichen, wahren Begriffen heraus eine Vorstellung davon
bekommen sollte, wie man einen Stiefel zu einer guten Kopfbedeckung
macht. Und in ähnlicher Weise werden hier die staatlichen
sogenannten demokratischen Begriffe behandelt. Es nützt ja
nichts, über diese Dinge, ich möchte sagen, leisetreterisch
zu sprechen, um, wenn man hauptsächlich vor Schweizern spricht,
höflich zu sprechen; denn dann würden wir uns doch nicht
verstehen können. In der Höflichkeit über solche Dinge
kann man sich ja niemals ordentlich verstehen. Nun, gerade deshalb
ist es notwendig, den Begriff des Rechts und der Gleichheit der
Menschen vor einer solchen Bevölkerung zu erörtern, wie es
die schweizerische ist.
Man
muß sich da durchaus angewöhnen, wenn man
rednerisch aktiv sein will, auf jedem Boden anders zu sprechen. Wenn
man, wie es der Fall war vom April 1919 ab, in Deutschland über
die Dreigliederung sprach, sprach man unter ganz anderen
Verhältnissen als etwa hier in der Schweiz, und auch unter so
ganz anderen Verhältnissen, als in England oder in Amerika von
der Dreigliederung gesprochen werden kann. Gerade in jenem
Frühling, im April 1919, unmittelbar nach der deutschen
Revolution, waren in Deutschland alle, sowohl proletarische wie
bürgerliche Kreise, die einen natürlich mehr
revolutionär, die anderen resignierend, davon überzeugt,
daß irgend etwas Neues kommen müsse. Und in diese
Empfindung hinein, daß irgend etwas Neues kommen müsse,
sprach man ja eigentlich. Man sprach doch damals zu
verhältnismäßig vorbereiteten Leuten, und man konnte
natürlich damals auch in Deutschland ganz anders sprechen, als
man etwa heute sprechen kann. Zwischen heute und dem Frühling
1919 liegt ja auch in Deutschland eine Welt. Heute kann man
höchstens hoffen, in Deutschland mit irgend etwas, was an
Dreigliederung anklingt, eine Vorstellung davon hervorzurufen, wie
das geistige Leben als solches selbständig gestaltet werden kann
und eigentlich gerade unter solchen Verhältnissen, wie sie in
Deutschland sind, heute gestaltet werden müßte, wie unter
gewissen Verhältnissen auch das innerstaatlich-rechtliche Leben
gestaltet werden könnte. Aber man kann natürlich heute in
Deutschland nicht von einer völlig im Sinne der Dreigliederung
gelegenen Gestaltung des Wirtschaftslebens sprechen, denn das
Wirtschaftsleben in Deutschland ist ja tatsächlich etwas, was
unter Zwangsmaßregeln, unter Druck und so weiter steht, was sich
nicht frei bewegen kann, was keine Gedanken haben kann über
seine eigene freie Beweglichkeit. Es ist dies zum Beispiel ganz
auffällig in der ganz verschiedenen Art des Lebens, sagen wir,
des «Futurum» und des «Kommenden Tages». Der
«Kommende Tag» steht mitten drin, so wie wenn er in einer
Zwangsjacke wäre, und hat die Aufgabe, unter solchen
Verhältnissen zu arbeiten; das «Futurum», wie es sich
hier in der Schweiz entwickelt, muß eben mit schweizerischen
Verhältnissen arbeiten, über die wir ja gleich noch etwas
mehr werden zu sprechen haben. Es ist also durchaus eine Rede
verschieden zu gestalten, ob sie hier in der Schweiz, ob sie in
Deutschland, ob sie zu dieser oder jener Zeit gehalten wird.
In
England, in Amerika müßte man natürlich
wieder ganz anders sprechen. Es ist ja, was zunächst von hier
aus in bezug auf England und Amerika gemacht werden kann, doch nur
eine Art Surrogat, denn schon zum Beispiel «Die Kernpunkte der
sozialen Frage»: es ist gut, wenn sie übersetzt werden,
gut, wenn sie überall verbreitet werden; aber, was ich von
Anfang an gesagt habe, das wirklich Richtige, das letztlich Richtige
wäre, wenn für Amerika und auch für England die
«Kernpunkte» ganz anders geschrieben würden als
für Mitteleuropa und auch für die Schweiz. Für
Mitteleuropa und die Schweiz können sie schon ganz wörtlich
und satzgemäß lauten, wie sie sind, aber für England
und Amerika müßten sie eigentlich ganz anders verfaßt
werden, denn da spricht man zu Menschen, die ja zunächst das
Gegenteil von dem haben, was in Deutschland zum Beispiel im April
1919 vorhanden war. In Deutschland war die Meinung vorhanden, etwas
Neues müsse kommen, und man müsse nur zunächst wissen,
was dieses Neue sei. Man hatte nicht die Kraft, es zu verstehen, aber
man hatte zunächst das Gefühl, man müsse wissen, was
irgend etwas vernünftiges Neues sein könnte. Davon ist
natürlich im ganzen Gebiete von England und Amerika auch nicht
einmal die allergeringste Empfindung vorhanden. Da ist nur die
Empfindung vorhanden: Wie kann man das Alte festlegen, retten? Was
muß man tun, damit das Alte nur ja recht fest bleibt? Denn das
Alte ist ja gut! An dem Alten ist ja nicht zu rütteln. –
Ich weiß selbstverständlich, daß da, wenn man so etwas
ausspricht, erwidert werden kann: Ja, aber es sind doch so viele
progres-sistische Bewegungen in den westlichen Gebieten! –
Diese progressisti-schen Bewegungen sind aber alle, ganz
gleichgültig, ob sie auch dem Inhalte nach neu seien, der
Führung nach durchaus reaktionär, konservativ. Da muß
also die Empfindung davon erst hervorgerufen werden, daß es so
nicht weitergeht, wie es bisher gegangen ist.
An
einzelnen Fragen kann das durchaus bemerkt werden. Nehmen
wir eine furchtbare, schreckliche, ich möchte sagen, die
schrecklichste Frage, die hat heraufkommen können vom rein
menschlichen Standpunkte aus, nehmen wir die Frage der Verhungerung
Rußlands. Innerhalb Deutschlands – wenn auch die
Anschauungen noch so chaotisch sind, wenn auch aus
Agitationsgründen gegen das gehandelt wird, was vernünftig
wäre, und aus menschlichen Gründen wiederum in
selbstverständlicher Weise dem Mitleid gehuldigt wird, gegen
welches Walten des Mitleids natürlich gar nicht gesprochen
werden soll –, innerhalb Deutschlands kommt man endlich,
wenigstens in einzelnen Kreisen, mehr oder weniger darauf, daß
es ja ein Unsinn ist für den ganzen Gang der
Menschheitsentwickelung, in Form von Unterstützungen für
die Verhungerung Rußlands etwas zu tun, durch Schenkungen
gewissermaßen von westlicher Seite. Man kommt darauf, daß
das ganz gewiß vom menschlichen Standpunkte aus sogar gefordert
wird, daß aber, was nach dieser Richtung getan wird, so
selbstverständlich ist, daß man nur ja nicht sagen soll, es
habe irgend etwas mit den Aufgaben zu tun, die heute die Verhungerung
Rußlands stellt. Im Westen werden höchstens einige
Theoretiker – aber dann auch nur auf dem Boden des
Theoretischen – zu einer solchen Anschauung kommen. Es ist also
natürlich, daß man im Westen erst eine Empfindung davon
hervorrufen muß, daß die Welt eine Neugestaltung braucht.
Die
Schweiz hat so dagestanden während der furchtbarsten
Katastrophe der neueren Zeit, daß sie eigentlich nur
theoretisierend – nämlich durch die journalistische
Theorie – daran teilgenommen hat, und durch das, was von
außen eben in die geistigen und die wirtschaftlichen
Verhältnisse hereingewirkt hat. Die schweizerische
Bevölkerung hat deshalb gar nicht eine eigentliche Empfindung,
weder davon, daß etwas Neues kommen müsse, noch davon
daß das Alte bleiben müsse. Wenn heute der Schweizer, je
nach der einen oder anderen Parteirichtung davon spricht, daß
ein Neues kommen müsse oder das Alte bleiben müsse, so hat
man immer das Gefühl: Er erzählt einem nur, was er
gehört hat, gehört hat auf der einen Seite von
Mitteleuropa, gehört hat von England und dem Westen auf der
anderen Seite. Er erzählt einem nur, was zu seinen beiden Ohren
hineingegangen ist, und nicht, was er eigentlich erlebt hat. Und
daher erscheint es einem auch als so schweizerisch, wenn diejenigen
Menschen, die sich nicht gern nach rechts oder nicht gern nach links
engagieren – und das sind ja maßgebende Schweizer heute
sehr häufig –, daß diese Menschen sagen: Ja, wenn das
geschieht, dann geschieht es eben so, wenn das andere geschieht,
geschieht es eben so! Wenn ein Neues kommt, dann verläuft die
Sache halt so, wenn das Alte bleibt, dann verläuft die Sache so!
– Es wird gewissermaßen ausgeknobelt, was man in die eine
oder andere Waagschale noch zu legen hat.
Es
ist so: Wenn man versucht, jemanden in der Schweiz zu
erwärmen für das, was der Welt heute bitter notwendig ist,
so gerät man in Verzweiflung, weil es ihn eigentlich gar nicht
angreift, weil es gleich zurückprallt, weil er eigentlich in
Wirklichkeit mit dem Herzen gar nicht dabei ist. Es ist ihm zu sehr
zuwider, als daß es für ihn interessant sein könnte,
und er hat zu wenig Erfahrung über diese Dinge, als daß es ihm
irgendwie sympathisch sein könnte. Er möchte Ruhe haben. Aber
er möchte doch auch wiederum Schweizer sein. Das heißt: Wenn
da alle möglichen Fortschrittsgeschichten mit
«Freiheit» und «Demokratie» über die Grenze
herübertönen, so kann man doch, weil man sich durch viele
Jahrhunderte hindurch immerfort demokratisch genannt hat, wiederum
nicht sagen, man wolle die Demokratie nicht! Kurz, man hat wirklich
das Gefühl, als ob in der Schweiz die Menschen einen sehr gut
ausgebauten Kanal hätten zwischen dem rechten und dem linken
Ohr, so daß alles, was auf der einen Seite hineingeht, auf der
anderen Seite wiederum herausgeht, ohne daß es zu Verstand und
Herzen gekommen ist.
Daher
wird man wenigstens an den Punkten eben angreifen
müssen, wo gezeigt werden kann, daß ja solch ein
Staatswesen wie die Schweiz wirklich etwas ganz Besonderes ist. Und
es ist etwas ganz Besonderes. Denn erstens ist die Schweiz –
was schon während des Krieges bemerkbar war, wenn man es nur
sehen wollte – etwas wie ein Schwerpunkt der Welt. Und gerade
ihr Unengagiertsein gegenüber den verschiedenen
Weltverhältnissen könnte sie benützen, um ein freies
Urteilen und auch ein freies Handeln gegenüber ringsherum zu
bekommen. Die Welt wartet ja nur darauf, daß die Schweizer das
auch in ihren Köpfen bemerken, was sie in ihrer Tasche bemerken.
In ihrer Tasche bemerken sie, daß der Franken vom Auf- und
Absteigen der Valuta, von der Korrumpierung der Valuta, eigentlich
nicht betroffen worden ist. Daß ja die ganze Welt sich um den
Schweizer Franken bewegt, das bemerken die Schweizer. Daß das
auch in geistiger Beziehung der Fall ist, das bemerken die Schweizer
eben nicht. Aber so, wie sie den unbeweglichen Franken, der
gewissermaßen der Regulator geworden ist der Valuta der ganzen
Welt, wie sie den zu würdigen verstehen, so sollten sie auch
ihre durch die Weltverhältnisse wirklich unabhängige
Stellung, durch die die Schweiz tatsächlich eine Art
Hypo-mochlion sein könnte für die Weltverhältnisse
– dies sollten die Schweizer verstehen. Daher ist es notwendig,
daß man ihnen dies eben begreiflich macht.
Es
ist schon fast so, wie man es in ähnlicher Art einmal
hat über Österreich sagen müssen. Leute, die etwas von
den Dingen verstanden in Österreich, die haben oftmals
darüber nachgedacht, warum denn dieses Österreich, das ja
nur zentrifugale Tendenzen hatte, bestehen blieb, warum es nicht
auseinandersplitterte. Ich habe in den achtziger, neunziger Jahren
nie etwas anderes gesagt als: Was in Österreich selber
geschieht, das hat zunächst noch gar keine Bedeutung für
das Zusammenhalten oder Auseinandersplittern, sondern nur, was
ringsherum geschieht. Weil die anderen – Deutschland,
Rußland, Italien, Türkei und diejenigen, die an der
Türkei interessiert sind, Frankreich und auch die Schweiz selber
–, weil diese ringsherum liegenden Staatsgebilde
Österreich nicht zerfallen lassen, sondern mitten drinnen
zusammenhalten, weil keiner dem anderen ein Stück davon
gönnte! Jeder sorgte dafür, daß der andere ja nichts
bekomme: dadurch blieb Österreich beisammen. Es wurde von
außen zusammengehalten. Das konnte man sehr genau sehen, wenn
man einen Sinn hatte für solche Verhältnisse. Und erst als
dieses gegenseitige Beschauen der umliegenden Mächte im
Weltkrieg durch den Nebel der Kanonen getrübt wurde, erst da
zerfiel Österreich, selbstverständlich. Das Bild besagt im
Grunde genommen alles.
Nun,
bei der Schweiz ist es ähnlich, aber doch wiederum
anders. Ringsherum sind alle möglichen Interessen, aber diese
Interessen haben einen kleinen Fleck da übriggelassen, wo sie
sich nicht begegnen. Und heute, wo man Weltwirtschaftsleben,
Weltgeistesleben hat, da ist die Sache so, daß ja dieser kleine
Fleck allerdings dadurch aufrechterhalten wird, daß er nun etwas
ganz Besonderes ist. Was ist er denn eigentlich? Er ist etwas, was
innerhalb seiner Grenzen durch rein politische Verhältnisse
zusammengehalten wird. Das geht Ihnen aus der schweizerischen
Geschichte hervor. Die schweizerische Geschichte ist eine scheinbar
ganz politische, so wie das schweizerische Denken ein scheinbar ganz
demokratisches ist. Aber auch mit der Politik verhält es sich so
für die Schweiz, wie ich es vorhin für die Demokratie
auseinandergesetzt habe: Es ist eine Politik, die eigentlich keine
ist, die auf einem kleinen Fleck Erde das Geistesleben und das
Wirtschaftsleben verwaltet3 aber eigentlich in Wirklichkeit gar nicht
Politik treibt. Vergleichen Sie, was in der Schweiz und was
anderwärts Politik ist! Es muß manchmal das eine oder
andere politisch gemacht werden, weil man mit den anderen
Ländern in Korrespondenz treten muß. Aber wirkliche
schweizerische Politik – man müßte eben die Dinge auf
den Kopf stellen, wenn man eine wirkliche schweizerische Politik
finden wollte. Die gibt es eigentlich nicht. Auch daraus ist eben
ersichtlich, daß hier ein Landgebilde geschaffen worden ist, auf
dem im politischen Sinne das Geistesleben, im politischen Sinne das
Wirtschaftsleben verwaltet wird, in dem aber eigentlich gar nicht
eine wirkliche Empfindung, ein wirkliches Erleben von dem
Rechtsdasein vorhanden ist.
Daher
handelt es sich darum, daß man hier ganz besonders
tief einschärft, daß das Recht etwas ist, was man nicht
definieren kann, so wie man Rot oder Blau nicht definieren kann,
daß das Recht etwas ist, was in seiner Selbständigkeit
erlebt werden muß, und was erlebt werden muß, wenn sich als
Mensch bewußt wird jeder mündig gewordene Mensch. Es wird
sich also darum handeln, zu versuchen, für schweizerische Mittel
gerade dieses menschliche Empfindungs- und
Gefühlsverhältnis im Rechtsleben herauszuarbeiten, daß
im einzelnen Menschen die Gleichheit leben müsse, wenn
Rechtsleben da sein soll. Gerade die Schweiz ist nämlich dazu
berufen, und ich möchte sagen: Die Engel der ganzen Welt schauen
auf die Schweiz, ob hier das Richtige geschieht –, gerade die
Schweiz ist dazu berufen, da sie, ich möchte sagen, völlig
jungfräulich ist in bezug auf den Rechtsstaat, nur einen
geistigen, nur einen Wirtschaftsstaat hat, einen Rechtsstaat zu
schaffen unter Freigebung des geistigen und des Wirtschaftslebens.
An
den schweizerischen Bergen hat sich für die Herzen der Menschen
eigentlich gebrochen das römische Recht, das in ganz anderer
Weise in Frankreich und in Deutschland und anderen europäischen
Ländern eingezogen ist. Es ist nur in das Äußerliche
hineingegangen, nicht aber in das Empfinden der Menschen. Es ist also
jungfräulicher Rechtsboden, auf dem alles geschaffen werden
kann. Wenn nur die Menschen zur wirklichen Besinnung kommen, was es
für ein unendliches Glück ist, hier zwischen den Bergen zu
leben und einen eigenen Willen haben zu können, unabhängig
von der ganzen Welt, die sich um dieses kleine Ländchen dreht.
Hier können, gerade wegen dieser Weltverhältnisse, die
Rechtselemente bloß aus dem Menschen herausgearbeitet werden.
Also
ich deute Ihnen an, wie man die besondere Lokalität, die besondere
örtlichkeit in das Vorbereiten hineinbringen muß für
solch einen Vortrag, wie man tatsächlich mit sich selber
völlig eins sein muß, was das Wesen des Schweizertums ist.
Ich kann es natürlich hier nur skizzieren; aber jeder, der in
der Schweiz reden will, müßte eigentlich sich bemühen,
ganz zu verstehen, welch besonderer Art dieses Schwei-zertum
ist.
Nicht
wahr, Sie können sagen: Wir sind ja Schweizer
– so wie die Engländer sagen können: Wir sind ja
Engländer –, und du willst uns jetzt sagen, wie der
Schweizer das Schweizertum kennenlernen soll, und was der
Engländer alles nicht hat von solcher Empfindung und so weiter.
– Gewiß, das kann man sagen. Aber diejenigen, die heute zu
den Gebildeten gehören, haben ja nirgends eine wirklich erlebte
Bildung, nirgends eine Bildung, die heraus ist aus dem Unmittelbaren
des Erlebens. Daher muß gerade gegenüber dem Rechte auch
sehr hingewiesen werden auf dieses unmittelbare Erleben.
Da
kommen wir zu der Betrachtung, wie die Menschen allmählich unter
der neueren Zivilisation in gegenseitige Verhältnisse, in soziale
Verhältnisse hineingekommen sind auf dem Gebiete, wo sich
eigentlich das Recht entwickeln sollte. Von Mensch zu Mensch sollte
sich das Recht entwickeln. Und alles also, alles Parlamentarisieren
ist eigentlich im Grunde genommen nur ein Surrogat für das, was
sich von Mensch zu Mensch abspielen müßte in einem wirklich
richtigen Rechtsgebiete.
Da
hat man dann Gelegenheit, wenn man nun nachdenkt über
das Rechtsgebiet, wiederum einzugehen – aber jetzt in einer
realeren Weise einzugehen – auf dasjenige, was die Begriffe des
Proletariats sind und die Empfindungen der Bourgeoisie. Man kann aber
jetzt in einer realeren Weise dasjenige, was das Proletariat an
Begriffen entwickelt hat, herüberführen in das Empfinden
der Bourgeoisie. Ich sage: Begriffe des Proletariats, Empfindungen
der Bourgeoisie. Die Erklärung dafür finden Sie in meinen
«Kernpunkten der sozialen Frage».
Das
Proletariat hat aus den vier Begriffen, die ich gestern
hier entwickelt habe, durchaus eben das Gefühl des
Klassenbewußtseins entwickelt; es muß erobern, was im
Besitze der Bourgeoisie ist, den Staat. Inwieweit der Staat nun ein
wirklicher Rechtsstaat ist oder nicht, das ist natürlich dem
Proletariat auch nicht klargeworden. Aber was als Rechtsstaat sich
entwickelt hat, davon ist die Schweiz am allerwenigsten berührt,
daher sie am leichtesten ohne Vorurteile einen wirklichen Rechtsstaat
begreifen könnte. Was sich als ein wirklicher Rechtsstaat
entwickelt hat, das lebt ja nur zwischen den Äußerungen des
eigentlichen Seelenlebens der Menschen fast in der ganzen Welt heute,
nur eben nicht in der Schweiz! Überall sonst in der Welt lebt
eigentlich dasjenige, was Rechtsstaat ist, ein, ich möchte
sagen, Unter-der-Hand-Dasein, währenddem dasjenige, was wirklich
von Mensch zu Mensch erlebt wird, auf etwas ganz anderem beruht, und
zwar auf etwas ganz durch und durch Bürgerlichem. Was der Mensch
im öffentlichen Leben eigentlich sucht, was er hineinträgt
in das ganze öffentliche Leben, wodurch ihm eine Verdunkelung
des eigentlichen Rechtslebens geschieht, das kann man nur erfassen,
wenn man ein wenig die konkreten Beziehungen ins Auge faßt.
Sehen
Sie, das Geistesleben ist allmählich aufgesogen worden vom Staatsleben.
Das Geistesleben aber ist, wenn man ihm gegenübersteht als einem
Elemente, das auf sich selbst gebaut ist, ein sehr strenges Element,
ein Element, demgegenüber man fortwährend seine Freiheit
bewahren muß, das deshalb nicht anders als auch in der Freiheit
organisiert werden darf. Lassen Sie einmal eine Generation ihr
Geistesleben freier entfalten und dann dieses Geistesleben
organisieren, wie sie es will: es ist die reinste Sklaverei für
die nächstfolgende Generation. Das Geistesleben muß
wirklich, nicht etwa bloß der Theorie nach, sondern dem Leben
nach, frei sein. Die Menschen, die darinnenstehen, müssen die
Freiheit erleben. Das Geistesleben wird zur großen Tyrannei,
wenn es überhaupt auf der Erde sich ausbreitet, denn ohne
daß eine Organisation eintritt, kann es sich nicht ausbreiten,
und wenn eine Organisation eintritt, wird sogleich die Organisation
zur Tyrannin. Daher muß fortwährend in Freiheit, in
lebendiger Freiheit gekämpft werden gegen die Tyrannis, zu der
das Geistesleben selber neigt.
Dieses
Geistesleben ist nun im Laufe der neueren Jahrhunderte
aufgesogen worden vom Staatsleben. Das heißt: Wenn man das
Staatsleben der Toga entkleidet, die es noch immer sehr stark anhat
in der Erinnerung an die alte Römerzeit, obwohl schon sogar die
Richter anfangen, den Talar abzulegen, aber im ganzen kann man doch
sagen, daß das Staatsleben die Toga noch anhat; aber wenn man
absieht von dieser Toga, wenn man auf das sieht, was darunter ist:
dann ist es eigentlich überall das verzwangte Geistesleben, das
im Staate und im sozialen Leben des Staates vorhanden ist. Es ist das
verzwangte Geistesleben! Verzwangt, aber nicht wissend, daß es
verzwangt ist, daher nicht nach Freiheit strebend, aber immerhin doch
gegen die Verzwangt-heit fortwährend ankämpfend. Und vieles
in der neuesten Zeit ist gerade aus diesem Ankämpfen gegen die
Verzwangtheit des Geisteslebens hervorgegangen. Unser ganzes
öffentliches Geistesleben steht eigentlich unter dem Zeichen
dieser Verzwangtheit des Geisteslebens, und wir können nicht
gesunde Verhältnisse gewinnen, wenn wir uns nicht einen Sinn
aneignen für die Beobachtung dieser Verzwangtheit des
Geisteslebens. Man muß ein Gefühl dafür haben, wie
einem diese Verzwangtheit des Geisteslebens entgegenkommt im Alltag.
Ich
wurde einmal von einer Anzahl Berliner Damen, die in
einem Institute von mir Vorträge angehört hatten, dann
eingeladen, einen Vortrag zu halten bei einer der Damen in ihrem
Privatappartement, und die ganze Veranstaltung war eigentlich dazu
da, daß die Damen entgegenarbeiten wollten einer gewissen
dazumal recht gutmütigen Stimmung bei ihren Männern. Nicht
wahr, diese Damen kamen so etwa um zwölf Uhr in das
Unterrichtsinstitut, wo ich die Vorträge hielt. Und die
Männer, wenn wiederum solch ein Tag kam – ich glaube, es
war einmal in der Woche –, sagten dann: Na ja, da geht Ihr halt
in eure verrückte Anstalt heute wieder hin; da wird die Suppe
wieder schlecht sein, oder es wird etwas anderes nicht in Ordnung
sein! – Und da wollten denn diese Damen, daß ich einen
Vortrag hielte über Goethes «Faust» – das wurde
als Thema ausgesucht –, und dazu wurden auch die Männer
eingeladen. Nun hielt ich eben einen Vortrag über Goethes
«Faust» vor den Damen und Herren. Ja, die Herren waren
nachher etwas verdutzt und sie sagten: «Ja, aber Goethes
‹Faust› ist halt eine Wissenschaft; Kunst ist ja Goethes
‹Faust› nicht. Kunst, das ist Blumenthal» –
ich zitiere wörtlich –, «da braucht man sich nicht
anzustrengen. Wenn man sich schon im wirtschaftlichen Beruf so
anstrengt, will man sich doch im Leben nicht auch noch
anstrengen!» Sehen Sie, was eingezogen ist als Ersatz des
Enthusiasmus für die Freiheit im Geistesieben, das tritt uns im
staatlichen Leben entgegen als bloßes leichtes
Unterhaltungsbedürfnis.
Ich
habe einmal auf dem Lande gesehen, wo man so etwas noch gut sehen konnte,
wie diese alten herumziehenden Schauspieler, die immer, in Deutschland
nannte man es den Dummen August, also den Bajazzo bei sich hatten,
wie diese manchmal ganz feine Sachen darstellten. Da sah ich, wie der
Clown, der nun seine Clownkunststücke eine ganze Zeit hindurch
gemacht und die Leute unterhalten hatte, weil er nun daranging, etwas
für ihn sehr Ernstes darzustellen, das Clownkostüm abwarf
und nun in schwarzen Beinkleidern und schwarzem Frack dastand. Mir
dreht sich dieses Bild immer um: Ich sehe dann zuerst den Mann in
schwarzen Beinkleidern und schwarzem Frack, und hinterher sehe ich
den Mann mit dem Clownkostüm. Mir kommt es so vor wie schwarzes
Beinkleid und Frack, wenn ich irgendwo in einem Schaufenster ein Buch
von Einstein über die Relativitätstheorie sehe; und dann
habe ich den Clown vor mir, wenn ich daneben ein Buch von Moszkowski
über die Relativitätstheorie vor mir habe. Denn
tatsächlich, im äußeren Leben ist ja manches Maja:
Aber man könnte sich gar nicht denken, daß innerlich die
ganze Denkerpedanterie anders auftreten könnte als in schwarzem
Beinkleid und in wohlgeschnittenem Frack, will sagen, in der
Relativitätstheorie. Und wiederum: Es ist unangenehm, sich so
strengen Gedankengängen, so konsequenten Gedankengängen zu
fügen, die schon wirklich so geschnitten sind wie ein
gutsitzender Frack; das muß den Leuten auch anders
entgegentreten. Da macht sich denn der als Philosophenclown
feuilletonistisch ganz besonders begabte Alexander Moszkowski daran
und schreibt ein dickes Buch. Aus dem lernen nun alle Leute in
Feuilletonform, im Clownkostüm, was im Frack geboren worden ist!
Sehen Sie, man kann gar nicht anders heute, als die Dinge
herüber zu übersetzen in dasjenige, wobei man sich nicht
anzustrengen braucht, wobei man auch keinen großen Enthusiasmus
zu entfalten braucht.
Gegen
diese allgemeine Stimmung muß nämlich
empfindungsgemäß angekämpft werden, wenn man über
Rechtsbegriffe sprechen will, denn da tritt der Mensch mit seinem
ganzen inneren Werte als ein Gleicher den anderen Menschen
gegenüber. Und dasjenige, was die Rechtsbegriffe nicht
heraufkommen läßt, das ist das, ja, ich möchte sagen,
Alexander-Moszkowskimäßige! Man muß überall die
Dinge beim Konkreten aufsuchen.
Ich
sage natürlich durchaus nicht, daß man nun nötig hat, wenn
man über Rechtsbegriffe spricht, von Frack und Clownkostüm
zu sprechen, aber ich möchte zeigen, wie man die Begriffe
für diese Dinge elastisch bekommen muß, wie man wirklich
auf das eine hinweisen muß, wenn man auf das andere hinweist;
auch wie man disponieren können muß, zuerst in sich selber,
um dann die nötige Geläufigkeit zu haben, vor den Menschen
zu sprechen.
Und
auch noch aus einem anderen Grunde muß der heutige Redner so etwas
wissen. Er ist ja zumeist dazu verurteilt, wenn er für etwas
Zukunftswürdiges zu sprechen hat, abends zu sprechen. Das
heißt, er hat diejenige Zeit auszufüllen, in der eigentlich
die Leute im Konzertsaal oder im Theater sein möchten. Er
muß sich also durchaus klar sein darüber, daß er zu
einem Publikum spricht, das besser an seinem Platze wäre, der
Zeitverfassung nach, wenn es im Konzertsaal oder im Theater
wäre, oder noch woanders, aber nicht eigentlich an seinem Platz
ist da unten, wo es zuhören soll, wenn oben ein Redner von
zukunftswürdigen Dingen spricht. Man muß sich klar sein,
was man eigentlich tut, bis in die Einzelheiten hinein.
Was
tut man denn eigentlich, wenn man vor einem solchen
Publikum spricht, vor dem zu sprechen man heute zumeist verurteilt
ist? Man verdirbt ja diesem Publikum eigentlich in ganz
wörtlichem Sinne den Magen! Eine ernste Rede hat nämlich
die Eigentümlichkeit, daß sie dem Pepsin feindlich ist,
daß sie das Pepsin, den Magensaft nicht zur Wirksamkeit kommen
läßt. Eine ernste Rede macht den Magen sauer. Und nur wenn
man selber in der ganzen Stimmung ist, eine ernste Rede so
vorzubringen, daß man, weigstens innerlich, sie mit dem
nötigen Humor vorbringt, dann hilft man dem Magensaft wieder.
Man muß mit einer gewissen inneren Leichtigkeit eine Rede
vorbringen, mit einer gewissen Modulation, mit einer gewissen
Begeisterung, dann hilft man dem Magensaft. Und dann gleicht man das
wiederum aus, was man dem Magen zufügt in der Zeit, in der wir
heute zumeist zu reden haben. Daher ist es wirklich eher als für
die Dreigliederung des sozialen Organismus für die
Magenspezialisten gearbeitet, wenn Menschen in aller Schwere, mit
allem inneren Herauspressen, in pedantischer Form über die
Dreigliederung zu den Menschen sprechen. Das muß mit
Leichtigkeit, mit Selbstverständlichkeit geschehen, sonst
arbeitet man nicht für die Dreigliederung, sondern für die
Magenspezialisten. Es gibt nur noch keine Statistik darüber, wie
viele Leute, nachdem sie pedantische Vorträge angehört
haben, zu den Magenspezialisten gehen müssen! Wenn man einmal
eine Statistik über diese Dinge hätte, würde man
nämlich erstaunt sein darüber, welcher Prozentsatz in den
Patientenkreisen der Magenspezialisten eifrige Vortragszuhörer
der heutigen Zeit abgeben.
Ich
muß schon auf diese Dinge auch aufmerksam machen, denn es naht sich
die Zeit, wo man kennen muß, wie eigentlich der Mensch lebt: wie Ernst
auf seinen Magen, wie Humor auf seinen Magensaft wirkt, wie zum Beispiel,
sagen wir, der Wein eine Art Zyniker ist, der die ganze menschliche
Organisation nicht ernst nimmt, sondern mit ihr spielt. Und so
könnte man, wenn man nicht mit den Wischiwaschibegriffen der
heutigen Wissenschaft, sondern mit menschlichen Begriffen an die
menschliche Organisation heranginge, durchaus einsehen, was nun auch
für eine organische Wirkung, fast chemische Wirkung, jedes Wort
und jeder Wortzusammenhang beim Menschen hervorruft.
Solche
Dinge zu wissen, erleichtert einem auch das Reden. Während man sonst
eine Mauer vor sich hat gegenüber dem Publikum, hört diese Mauer
auf zu sein, wenn man gewissermaßen bei einer pedantischen Rede
immer durchsieht, wie der Magensaft träufelt und endlich sauer
wird im Magen, die Magenwände angreift. Man hat schon zuweilen
Gelegenheit, das zu sehen. In Hörsälen der
Universitäten ja weniger; da helfen sich die Studenten dadurch,
daß sie nicht zuhören.
Sie
sehen aber daraus, was ich so sage, wieviel beim Reden
von der Stimmung abhängt, wieviel mehr Bedeutung das Vorbereiten
der Stimmung, das In-die-Hand-Nehmen der Stimmung hat, als das
wortwörtliche Vorbereiten. Wer oftmals sich für die
Stimmung vorbereitet hat, der hat dann gar nicht mehr nötig,
sich für das Wortwörtliche so vorzubereiten, daß er
sich im entsprechenden Moment durch das zu gute wortwörtliche
Vorbereiten eben zum Verderber des Magensaftes gerade macht.
Sehen
Sie, zu einem – wenn ich mich jetzt so
ausdrücken darf – richtig geschulten Redner gehört
verschiedenes; und ich möchte es gerade an dieser Stelle
vorbringen, weil das Auseinandersetzen der Rechtsbegriffe gerade
vieles fordert, was man nach dieser Richtung charakterisieren
muß. Ich möchte es gerade jetzt vorbringen, bevor ich dann
wohl morgen zu der Hineinverwebung der Wirtschaftselemente in das
Reden sprechen möchte.
Ein
Anthroposoph brachte einmal in den Architektenhaussaal in
Berlin den Ihnen ja vielleicht auch schon bekannten Max Dessoir mit
an einem Abend, wo ich dort einen Vortrag zu halten hatte. Dieser
damalige Freund des Max Dessoir sagte hinterher: Ach, der Dessoir
ging doch nicht mit! – Ich fragte ihn, wie ihm der Vortrag
gefallen habe; da sagte er: Ja, wissen Sie, ich bin selbst ein
Redner; und derjenige, der selbst ein Redner ist, der kann nicht
richtig zuhören, der hat kein Urteil über das, was der
andere redet! – Nun, ich hatte nicht nötig, mir über
Dessoir ein Urteil zu bilden nach dieser Aussage, denn dazu hatte ich
andere Urteilsbildungsgelegenheiten, würde mir auch kein Urteil
gebildet haben nach dieser Aussage: denn ich konnte gar nicht wissen,
ob es wirklich wahr ist, oder ob der Dessoir, wie sonst, auch diesmal
gelogen hat. Nun aber, nehmen wir an, es wäre wahr gewesen:
Wofür wäre das ein Beweis? Dafür, daß jedenfalls
derjenige, der solche Ansicht hat, niemals ein richtiger Redner
werden kann. Denn niemals kann derjenige ein richtiger Redner werden,
der gerne redet, und der sich selbst gerne hört, und der auf
sein eigenes Reden besonders viel gibt. Ein richtiger Redner muß
eigentlich immer eine gewisse Überwindung durchmachen, wenn er
reden soll, und er muß diese Überwindung deutlich
fühlen. Er muß vor allen Dingen selbst den schlechtesten
fremden Redner lieber hören wollen, als daß er selber
sprechen will.
Ich
weiß sehr genau, was ich mit dieser Sache sage, und
weiß sehr genau, wie schwer es manchem von Ihnen ist, das gerade
mir zu glauben, aber es ist so. Ich gebe zwar zu, daß es andere
Vergnügungen gibt in der Welt, als schlechten Rednern
zuzuhören. Aber es darf jedenfalls zu diesen anderen
größeren Vergnügungen nicht das gehören, selber
zu sprechen. Man muß sogar einen gewissen Drang haben, andere zu
hören. Man muß gerne anderen zuhören, denn durch das
Zuhören wird man eigentlich ein Redner, nicht durch die Liebe
zum eigenen Reden. Durch das eigene Reden bekommt man eine gewisse
Geläufigkeit; das muß aber instinktiv verlaufen. Was einen
zum Redner macht, das ist eigentlich das Zuhören, das Entwickeln
eines Ohres für die besonderen Eigentümlichkeiten der
anderen Redner, und selbst wenn sie schlechte Redner sind. Daher
werde ich jedem, der mich fragt, wie er sich am besten vorbereite,
nach einer gewissen Richtung hin ein guter Redner zu werden,
antworten: Er höre, aber insbesondere er lese – ich habe
den Unterschied zwischen Hören und Lesen auseinandergesetzt
– er höre und lese – man kann das ja auch; denn der
Unfug besteht einmal, daß die Reden gedruckt werden – die
Reden von anderen! Man wird nur auf diese Art jenes starke
Gefühl bekommen der Abneigung gegen das eigene Reden. Und diese
Abneigung gegen das eigene Reden ist es eigentlich, die es einem
ermöglicht, eben entsprechend wirklich zu reden. Das ist
außerordentlich wichtig. Und bei den Menschen, die es doch nicht
zustande kriegen das eigene Reden mit Antipathie zu betrachten, bei
denen ist es gut, wenn sie wenigstens das Lampenfieber sich bewahren,
denn ohne Lampenfieber und mit Sympathie für das eigene Reden
sich hinstellen und reden, das ist eigentlich etwas, das man
unterlassen sollte, denn es wirkt unter allen Umständen nicht
gut in der Welt. Es wirkt zur Sklerotisierung der Rede, zur
Verknöcherung, zur Verkapselung der Rede und gehört dann
eben zu dem, was den Leuten die Predigt verdirbt.
Sehen
Sie, ich würde Ihnen wahrhaftig nicht im Sinne der Aufgabe dieses Kurses
über das Reden sprechen, wenn ich aus irgendeiner alten Rhetorik
oder aus nachgebildeten alten rhetorischen Reden heraus Ihnen hier
Redegesetze aufzählen würde, sondern ich will Ihnen aus
voller Erfahrung heraus ans Herz legen, was man eigentlich immer im Herzen
haben soll, wenn man durch Reden auf seine Mitmenschen wirken will.
Gewiß,
einigermaßen ändern sich die Dinge, wenn man zur
Wechselrede gezwungen ist, wenn also, ich möchte sagen, ein
gewisses Rechtsverhältnis auftritt zwischen Mensch und Mensch in
der Diskussion. Aber in der Diskussion, an der man gerade das
Rechtsverhältnis am schönsten lernen könnte, macht
sich heute fast gar nicht dieses Hin-einprojizieren der allgemeinen
Rechtsbegriffe in das Verhältnis, das zwischen Mensch und Mensch
in der Diskussion, im Wortverhältnis, im Satzverhältnis
besteht, geltend. Da handelt es sich wirklich darum, daß man
dann bei der Diskussion nicht verliebt ist in seine eigene Art zu
denken, in seine Art zu empfinden, sondern daß man in der
Diskussion eigentlich antipathisch empfindet, was man selber zu etwas
sagen möchte und das man heraufholt. Dann kann man das
nämlich, wenn man seine eigene Meinung, auch seinen eigenen
Arger oder die eigene Aufgeregtheit zurückzudämmen versteht
und hinüberkriechen kann in den anderen. So wird das fruchtbar
auch in der Debatte, wo etwas zurückgewiesen werden muß.
Man kann natürlich nicht dasselbe sagen, was der andere sagt,
aber man kann von dem anderen das nehmen, was man gerade zu einer
wirksamen Debatte braucht.
Ein
ganz eklatantes Beispiel ist das Folgende. Es ist
erzählt in der letzten Nummer der «Dreigliederung»;
ich habe es vor mehr als zwanzig Jahren erlebt. Der Abgeordnete
Rickert hielt im deutschen Reichstag eine Rede, in der er Bismarck
vorwarf, daß er die Richtung seiner Politik ändere. Er wies
darauf hin, wie Bismarck eine Zeitlang mit den Liberalen gegangen
ist, sich nachher nach den Konservativen gewendet hat, und hielt eine
sehr wirksame Rede, die er zusammenfaßte in das Bild, daß
die Bismarcksche Politik darauf hinausliefe, den Mantel nach dem
Winde zu drehen. Nun, Sie können sich denken, wie das in der
Empfindung eines Auditoriums, noch dazu einer Schwatzanstalt –
nun, der deutsche Ausdruck ist nicht gut, wenn man ihn braucht, aber
für Parlament ist die richtige deutsche Übersetzung schon
Schwatzanstalt –, innerlich, empfindungsgemäß wirkt,
wenn solch ein Bild gebraucht wird. Bismarck aber stellte sich hin
und hielt nun dem Abgeordneten Rickert die Dinge entgegen –
zunächst mit einer gewissen Überlegenheit –, die er
zu sagen hatte; und dann kroch er in den Abgeordneten Rickert Linein3
wie er das in ähnlichen Fällen immer tat, und sagte: Der
Abgeordnete Rickert hat mir vorgeworfen, daß ich den Mantel nach
dem Winde drehe. Aber Politik treiben ist so etwas, wie auf der See
fahren. Ich möchte wissen, wie man eigentlich richtig steuern
sollte, wenn man sich nicht nach dem Winde drehen will! Ein richtiger
Seefahrer muß sich, wie ein richtiger Politiker, beim Steuern
selbstverständlich nach dem Winde richten, wenn er nicht etwa
selbst Wind machen will!
Sie
sehen: Das Bild ist aufgegriffen, so gewendet, daß es nun
tatsächlich den Pfeil auf den Schützen zurückschlägt.
Es handelt sich in der Debatte darum, die Dinge aufzunehmen, aus dem Redner
selber heraus die Dinge zu holen. Wenn es sich um ein leichteres Bild
handelt, ist ja die Sache begreiflich. Aber man wird das auch ganz im
Seriösen tun können: aufsuchen bei dem Gegner, was aus dem
Gegner heraus selber die Sache zerfasert! In der Regel wird es nicht
viel nützen, wenn man seine eigenen Gründe den Gründen
des Gegners einfach entgegensetzt.
Bei
der Debatte sollte man eigentlich in folgender Stimmung
sein können: Man sollte in dem Augenblick, wo die Debatte
losgehen soll, eigentlich alles, was man bisher gewußt hat,
ausschalten können, das alles ins Unbewußte
hinunterdrängen, und eigentlich nur wissen, was der Redner, dem
man zu erwidern hat, eben gesagt hat, und dann redlich sein
Zurechtrückungstalent über das, was der Redner gesagt hat,
walten lassen. Das Zurechtrückungstalent walten lassen! In der
Debatte handelt es sich darum, unmittelbar aufzunehmen, was der
Redner sagt, und nicht einfach das, was man schon vor längerer
Zeit gewußt hat, eben einfach entgegenzustellen. Wenn man das,
was man schon vor längerer Zeit gewußt hat, einfach
entgegenstellt, wie es bei den meisten Debatten geht, so geht die
Debatte eigentlich wirklich ergebnislos aus, tatsächlich
ergebnislos. Man kann ja eigentlich nie jemanden in einer Diskussion
widerlegen. Man muß sich dessen nur bewußt sein, daß
man nie jemanden in einer Debatte widerlegen kann, sondern man kann
nur zeigen, daß ein Redner entweder sich selbst oder der
Wirklichkeit widerspricht. Man kann nur eingehen auf das, was er
gesagt hat. Und das wird gerade, wenn es als Grundsatz entwickelt
wird, für Debatten, für Diskussionen von einer
außerordentlichen Wichtigkeit sein. Wenn einer in der Debatte
nur das sagen will, was er schon gewußt hat, dann wird es sicher
gar keine Bedeutung haben, daß er es nach dem Redner vorbringt.
Mir
trat das einmal ganz besonders instruktiv, möchte ich sagen, vor Augen.
Ich wurde in Holland auf meiner letzten Reise eingeladen, auch in der
Philosophischen Gesellschaft der Amsterdamer Universität einen
Vortrag zu halten über Anthroposophie. Da war schon der
Vorsitzende selbstverständlich anderer Meinung als ich. Es war
gar kein Zweifel, daß er, wenn er in die Debatte eingriff, etwas
ganz anderes sagen werde als ich. Aber es war ebenso klar, daß
schließlich das, was er sagte, nichts ausmachte in bezug auf
meine Rede, und daß meine Rede auch keinen besonderen
Einfluß haben würde auf dasjenige, was er sagen würde,
aus dem, was er ja ohnedies wußte. Daher fand ich, daß er
es ganz gescheit gemacht hat: Er brachte, was er zunächst
vorzubringen hatte, nicht etwa hinterher in der Debatte, sondern
schon vorher vor! Er hätte auch das, was er nachher in der
Debatte noch angefügt hat an seine vorausgehenden Worte, schon
am Anfang auch gleich vorher vorbringen können, es würde an
der Sache gar nichts geändert haben.
Über
solche Dinge muß man sich nur keinen
Illusionen hingeben. Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß
gerade ein Redner sich recht, recht stark in menschliche
Verhältnisse hineinfindet. Aber über menschliche
Verhältnisse darf man sich, wenn die Dinge wirken sollen, keinen
Illusionen hingeben. Vor allen Dingen – das möchte ich
Ihnen heute noch sagen, weil das eine gewisse Grundlage für die
nächsten Vorträge abgeben wird –, vor allen Dingen
soll man sich keiner Illusion darüber hingeben, daß Reden
doch wirken.
Ich
muß immer innerlich furchtbar in eine humoristische
Stimmung kommen, wenn gutmeinende Zeitgenossen immer wieder und
wieder sagen: Auf Worte kommt es nicht an, auf Taten kommt es an!
– Ich habe an den ungeeignetsten Stellen, sowohl in
Zwiegesprächen wie auch von verschiedenen Podien herab, immer
wieder deklamieren hören: Auf Worte kommt es nicht an; auf Taten
kommt es an! – Bei dem, was in der Welt an Taten geschieht,
kommt alles auf die Worte an! Es geschehen nämlich für den,
der die Sache durchschaut, gar keine Taten, die nicht vorher durch
die Worte von irgend jemandem vorbereitet sind.
Aber
Sie werden verstehen, daß die Vorbereitung etwas
recht Subtiles ist. Denn, wenn es wahr ist, und es ist wahr, daß
man eigentlich dadurch, daß man pedantisch theoretisch,
prinzipiell marxistisch redet, den Leuten den Magensaft verdirbt,
wobei der Magensaft den übrigen Organismus infiziert, dann
können Sie sich denken, wie die Taten draußen, die sehr
stark vom Magensaft abhängen, wie er sich dann in den
übrigen Organismus ergießt, wenn er zerstreut wird –
wie die Taten draußen Folgen solcher schlechten Reden sind. Und
wie auf der anderen Seite wiederum, wenn die Leute nur als
Spaßmacher auftreten, fortwährend Magensaft produziert
wird, der dann eigentlich als Essig wirkt, und der Essig ist ein
furchtbarer Hypochonder. Aber die Leute werden weiter unterhalten,
indem das, was heute in die Öffentlichkeit fließt, ein
fortwährendes Getriebe von Spaßmacherei ist. Die
Spaß-macherei von gestern ist noch gar nicht verdaut, wenn die
Spaßmacherei von heute auftritt. Da verschlägt sich der
Magensaft von gestern und wird etwas Essighaftes. Der Mensch wird ja
heute schon wiederum unterhalten. Er kann ganz lustig sein. Aber so,
wie er sich in das öffentliche Leben hineinstellt, so ist es
eigentlich der hypochondrische Essig, der da wirkt. Und diesen
hypochondrischen Essig, den kann man dann finden!
Ja,
in den Wirtshäusern sind es die marxistischen Redner, die den
Leuten den Magen verderben, und wenn die Leute dann den
«Vorwärts» lesen, so ist dies dasjenige, woran der
verdorbene Magen wieder zurechtgerückt werden muß. Das ist
schon ein ganz realer Prozeß.
Man
muß wissen, wie sich in die Welt der Taten die Welt
der Reden hineinstellt. Der unwahrste Ausspruch –
weil aus einer falschen Sentimentalität, und alles, was aus
einer falschen Sentimentalität kommt, ist nämlich unwahr
–, der unwahrste Ausspruch gegenüber dem Reden ist der:
«Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich
Taten sehn!» Das kann ganz gewiß stehen an einer Stelle
eines Dramas, und dort, wo es steht, steht es schon zu Recht. Aber
wenn es da herausgerissen und als ein allgemeines Diktum hingestellt
wird, dann mag es richtig sein, aber gut ist es ganz sicher nicht.
Und wir sollen lernen, nicht etwa bloß schon, nicht etwa
bloß richtig, sondern auch gut zu reden, sonst bringen wir die
Menschen in den Abgrund hinein, können jedenfalls nichts
Zukunftswürdiges mit den Leuten besprechen.
Also
morgen um drei Uhr.
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