[Vorige Seite] [Nächste Seite] [Titelseite] [Seitenanfang] [Suche] [Index] [Drucken] [Home]

ZARATHUSTRA

Berlin, 19. Januar 1911

Unter den Feststellungen der Geisteswissenschaft, auf die im Verlaufe der bereits stattgefundenen Vorträge dieses Zyklus hingewiesen werden durfte, findet sich vor allen Dingen die Idee der wiederholten Erdenleben, das heißt jene heute ja wenig beliebte und verstandene Idee davon, daß sich die menschliche Individualität immer wieder und wieder in einer einzelnen menschlichen Persönlichkeit im Laufe der Menschheitsentwickelung der Erde auszuleben hat. Wir haben gesehen und werden noch sehen, wie sich mancherlei Fragen an diese Idee knüpfen. Unter diesen Fragen wird aber eine sein, die sich bezieht auf die Bedeutung dieser wiederholten Erdenleben. Man könnte nämlich fragen: Was hat es denn für eine Bedeutung, daß die menschliche Individualität nicht nur einmal dieses Leben zwischen Geburt und Tod durchläuft, sondern immer wieder und wieder? Wenn man aber auf der anderen Seite die menschliche Erdenentwickelung im Sinne der Geisteswissenschaft betrachtet und findet, daß in dieser menschlichen Entwicklung ein fortschreitender Sinn enthalten ist, daß jede Epoche, jedes neue Zeitalter in einer gewissen Beziehung doch einen andern Inhalt darbietet und die Menschenentwickelung in einer aufsteigenden Linie ist, — so erscheint es einem bedeutungsvoll, daß diese mannigfaltigen Möglichkeiten des Lebens, diese vielen Inhalte des Lebens, die auf uns einströmen können im Laufe der Menschheitsentwickelung, eben wirklich von dem menschlichen Wesenskern auch immer wieder und wieder in sich aufgenommen werden. Das aber ist nur möglich, wenn der Mensch mit alledem, was er wesenhaft ist, nicht bloß einmal, sondern viele Male mit dem lebendigen Strome der Erdentwickelung verknüpft ist. Wenn wir so diese ganze menschliche Entwickelung der Erdenmenschheit als ein sinnvolles Fortschreiten mit Herauskehrung eines immer neuen Inhaltes betrachten, erscheinen uns erst diejenigen geistigen Größen in ihrer rechten Bedeutung, welche in den verschiedenen Epochen als die tonangebenden, als die eigentlich führenden zu gelten haben, als diejenigen, von denen in einer gewissen Beziehung neuer Inhalt, neue Impulse für die fortschreitende Entwickelung der Menschheit ausgehen. Mit einer Anzahl von solchen führenden Wesenheiten der Menschheitsentwickelung wollen wir uns im Zusammenhange mit anderen Fragen in diesem Winterzyklus beschäftigen. Heute sei die Aufgabe gestellt, auf eine solche führende Menschheitsindividualität hinzuweisen, die in einer gewissen Weise ganz besonders rätselhaft für die äußere Geschichtsforschung dasteht, sich auch für dieselbe in einem grauen, nicht mehr durch äußere Dokumente erreichbaren Altertum verliert: auf die viel besprochene, aber heute noch wenig erkannte Persönlichkeit des Zarathustra.

Gerade an einer solchen Persönlichkeit, wie Zarathustra es war, die in allem, was sie der Menschheit gegeben hat, was von ihr erhalten ist, das heutige Zeitalter schon so fremdartig anmutet, kann man sehen, wie groß die Unterschiede werden in bezug auf die ganze menschliche Wesenheit, wenn wir die verschiedenen Zeitalter der Menschheit in Betracht ziehen. Ein kurzsichtiger Blick mag sich leicht denken: wie der Mensch heute ist, wie er heute denkt, empfindet, vorstellt, wie er heute moralisch fühlt, so hat er im wesentlichen gefühlt, solange er Mensch ist. Die Geisteswissenschaft aber zeigt uns — das geht schon aus den bisher gehaltenen Vorträgen hervor und wird auch aus den folgenden hervorgehen —, daß gerade das menschliche Seelenleben, die Art des Empfindens, Fühlens und Wollens im Laufe der Menschheitsentwickelung großen, bedeutungsvollen Veränderungen unterworfen ist, daß das menschliche Bewußtsein in alten Zeiten ganz anders war, und daß wir Grund zu der Annahme haben, daß in der Zukunft wieder andere Stufen dieses Bewußtseins erreicht werden, als die ist, auf der heute die normale Menschheit lebt.

Wenn wir nun den Blick auf Zarathustra lenken, so ist es im Grunde genommen eine weite, weite Zeitstrecke, die wir von unserem Zeitpunkt aus zurückblicken müssen. Allerdings machen zwar gewisse neuere Forschungen den Zarathustra zu einem Zeitgenossen des Buddha, so daß er also etwa sechs oder sechseinhalb Jahrhunderte vor der Erscheinung des Christentums auf die Erde zu versetzen wäre. Allein hier ist die bemerkenswerte Tatsache zu verzeichnen, daß die Forschung auch in den letzten Jahren, indem sie aufmerksam alles verfolgt hat, was an Überlieferungen über Zarathustra vorhanden ist, darauf hat hinweisen müssen, daß doch diejenige Persönlichkeit, die sich hinter dem Namen des Zarathustra, des alten persischen Religionsstifters, verbirgt, viele, viele Jahrhunderte vor den Buddha zu setzen ist. Griechische Geschichtsschreiber weisen immer wieder und wieder darauf hin, daß man Zarathustra hinaufzuversetzen hat weit — etwa fünf bis sechstausend Jahre weit in die Zeit vor den Trojanischen Krieg. Man kann schon aus dem, was die äußere Forschung auf vielen Gebieten erfahren hat, den Schluß ziehen: die äußere Geschichtsforschung wird sich zwar schwer dazu entschließen, wird aber doch zuletzt — auch durch die Dokumente — genötigt sein dasjenige anzuerkennen, was die griechische Wissenschaft, die griechische Überlieferung aufbewahrt hat über das weite Zurückliegen des Zeitalters des Zarathustra. Die Geisteswissenschaft muß aus ihren Voraussetzungen heraus tatsächlich auch das Leben des persischen Religionsstifters, des Zarathustra, so weit zurückverlegen, als dies griechische Schriftsteller schon im Altertum getan haben. Dann aber haben wir ein Recht, darauf hinzuweisen, wie Zarathustra, wenn er Jahrtausende vor dem Eintritt des Christentums in der Welt gelebt hat, vor einer ganz andern Art des menschlichen Bewußtseins gestanden haben mag.

Nun ist schon öfters darauf hingewiesen worden und wird noch weiter ausgeführt werden, daß die Entwickelung des menschlichen Bewußtseins so geschehen ist, daß träumhafte, hellseherische-das Wort soll hier nicht so mißbraucht werden, wie es auf vielen Gebieten heute der Fall ist — Zustände in alten Zeiten die Bewußtseinszustände des eigentlichen normalen Menschen waren, so daß der Mensch nicht so die Welt in Begriffen und Ideen, in streng umgrenzten sinnlichen Wahrnehmungen gesehen hat, wie er sie heute sieht. Man bekommt am besten ein Bild davon, wie der Mensch in Urzeiten die Welt um sich herum in sein Bewußtsein aufgenommen hat, wenn man an die letzten Reste des alten Urbewußtseins denkt: an das Traumbewußtsein. Jedem sind die auf- und abwogenden, heute zum größten Teil für das menschliche Bewußtsein sinnlosen Traumbilder bekannt, die oft nur Reminiszenzen der äußeren Welt sind, obwohl auch höhere Bewußtseinsarten hineinragen können, die aber der heutige Mensch schwer zu deuten versteht. Das Traumbewußtsein — können wir sagen — verläuft bildhaft, in schnell wechselnden Bildern, aber zu gleicher Zeit symbolisch. Wer würde nicht erfahren haben, wie der Eindruck, das ganze Ereignis eines Feuers sich sinnbildlich im Traume offenbart? Lenken Sie einmal den Blick auf dieses andersartige Bewußtsein, auf diesen andersartigen Bewußtseinshorizont, wie er im Traume vorhanden ist; so wie er da vorhanden ist, ist er nur der letzte Rest eines uralten Menschheitsbewußtseins. Aber dieses uralte Bewußtsein war so, daß der Mensch in der Tat in einer Art von Bildern lebte. Diese Bilder bezogen sich nicht auf Unbestimmtes oder auf nichts, sondern auf eine reale Außenwelt. Es gab in den Bewußtseinszuständen der alten Menschheit zwischen Wachen und Schlafen Zwischenzustände, und in diesen Zwischenzuständen lebte der Mensch gegenüber der geistigen Welt. Diese geistige Welt kam herein in sein Bewußtsein. Heute ist das Tor der geistigen Welt gegenüber dem normalen Menschenbewußtsein verschlossen. In alten Zeiten war dies nicht so. Da hatte der Mensch die Zwischenzustände zwischen Wachen und Schlafen; dann sah er in Bildern, die zwar den Traumbildern ähnlich waren, aber eindeutig geistiges Wesen und geistiges Weben darstellten, wie es hinter der physischsinnlichen Welt ist. So daß der Mensch in alten Zeiten wirklich — wenn auch zu Zarathustras Zeiten schon ziemlich undeutlich und unbestimmt — dennoch aber eine unmittelbare Beobachtung und Erfahrung der geistigen Welt hatte und sagen konnte: Ebenso wie ich die äußere physische Welt und das sinnliche Leben sehe, ebenso weiß ich, daß es Erfahrungen und Beobachtungen eines anderen Bewußtseinszustandes gibt, daß eine andere Welt, eine geistige, dem Sinnlichen zugrunde liegt.

Der Sinn der Menschheitsentwickelung besteht darin, daß von Epoche zu Epoche immer geringer und geringer die Fähigkeit des Menschen wurde, hineinzuschauen in die geistige Welt, weil sich die Fähigkeiten so entwickeln, daß immer die eine auf Kosten der anderen erkauft werden muß. Unser heutiges exaktes Denken, unser Vorstellungsvermögen, unsere Logik, alles, was wir als die wichtigsten Triebräder unserer Kultur bezeichnen, war damals nicht vorhanden. Das mußte sich der Mensch erst in jener Epoche, die auch schon die unsrige ist, auf Kosten des alten hellseherischen Bewußtseinszustandes erkaufen. Das hat der Mensch heute auszubilden. Und in der zukünftigen Menschheitsentwickelung wird dann zu dem rein physischen Bewußtsein mit der Intellektualität und der Logik wieder hinzukommen der alte Hellseherzustand. Ein Abstieg und ein Aufstieg ist also in bezug auf das menschliche Bewußtsein zu unterscheiden. Ein tiefer Sinn liegt in der Entwickelung, wenn wir sagen: Der Mensch lebte erst mit seinem ganzen Seelenleben noch in einer geistigen Welt drinnen, stieg dann herunter in die physische Welt und mußte dazu das alte hellseherische Bewußtsein aufgeben, damit er sich in Anlehnung an die physische Welt — erzogen durch die rein physische Welt — die Intellektualität, die Logik aneignen konnte, um dann in der Zukunft wieder hinaufzusteigen in die geistige Welt.

Nun liegt allerdings das, was die Menschen geschichtlich innerhalb ihres alten, eben geschilderten Bewußtseinszustandes durchgemacht haben, vor den Zeiten, aus denen äußere geschichtliche Nachrichten vorhanden sind. Aber Zarathustra fällt auch in die Zeit, in welche noch nicht geschichtliche Nachrichten hinaufreichen, und Zarathustra ist eine der großen führenden Persönlichkeiten, welche die Anregungen für die großen Kulturfortschritte der Menschheit gegeben haben. Solche führenden Persönlichkeiten müssen immer, ob das normale Menschheitsbewußtsein auf dieser oder jener Stufe steht, aus dem schöpfen, was man die Erleuchtung, die Einweihung in die höheren Geheimnisse der Welt nennen kann. Und zu jenen Persönlichkeiten, die wir im Laufe dieser Vorträge betrachten werden — Hermes, Buddha, Moses — gehört nun auch Zarathustra. Er steht jedenfalls mindestens achttausend Jahre vor unserem jetzigen Zeitpunkt in der Menschheitsentwickelung, und was er an Großem, Gewaltigem aus einem erleuchteten Geiste heraus der Menschheit gegeben hat, ist lange Zeit unter den allerwirksamsten Kulturgütern der Menschheit deutlich vernehmbar gewesen. Das kann auch heute noch derjenige wahrnehmen, der die geheimeren Strömungen in der ganzen Menschheitsentwickelung beachtet. Zarathustra gehört wesenhaft zu denen, die in ihrer Seele Wahrheiten, Weistümer, Anschauungen zu erleben hatten, die weit über das normale Menschheitsbewußtsein ihrer Zeit hinausgingen. Wahrheiten also aus den übersinnlichen Welten, aus jenen Gebieten der übersinnlichen Welten, die weit hinaus liegen über alles, was das normale Menschenbewußtsein seiner Zeit schauen konnte, hatte Zarathustra seinen Mitmenschen in jenem Lande, wo sich später das persische Reich ausbreitete, zu verkünden.

Wenn man nun verstehen will, was Zarathustra für die Menschheit bedeutet, muß man sich darüber klar sein, daß er einem gewissen Teil der Menschheit, einem ganz bestimmten Bruchteile der Menschen eine gewisse Art von Weltanschauung, von Weltverstehen zu überliefern hatte, während in der Tat andere Menschenströmungen, andere Völker, andere Menschheitsgebiete eine andere Art von Weltanschauung sozusagen in das Gesamtgebiet der Menschheitskultur hineinzutragen hatten. Und Zarathustras Persönlichkeit ist uns deshalb so interessant, weil er innerhalb eines Völkergebietes lebte, das nach Süden hin unmittelbar an ein anderes Volksgebiet anstieß, das in ganz anderer Weise geistige Güter, geistige Strömungen der Menschheit zu schenken hatte. Da haben wir, indem wir in jene alten Zeiten hinaufblicken, auf dem Boden des alten Indiens diejenigen Völker, deren Nachkommen später die Vedensänger unter sich gesehen haben. Und nordwärts von diesem Gebiet, auf dem sich die große Brahman-Lehre ausgebreitet hatte, haben wir dasjenige Volksgebiet zu suchen, das durchströmt war von dem mächtigen Impuls des Zarathustra. Aber in einer gewissen Weise grundverschieden war das, was Zarathustra der Welt zu geben hatte, von dem, was die Lehrer, die großen führenden Persönlichkeiten den alten Indern zu geben hatten, was dann aufbewahrt ist in den hinreißenden Gesängen der Veden, in der tiefgründigen Vedanta-Philosophie, und was noch nachklingt wie in einem letzten großen Aufleuchten in der Offenbarung des großen Buddha.

Nun versteht man nur den Unterschied zwischen dem, was von der Strömung des alten Indien und was von der Strömung des Zarathustrismus ausging, wenn man ins Auge faßt, daß der Mensch von zwei Seiten her in das Gebiet der übersinnlichen Welt kommen kann. Es ist im Laufe dieser Vorträge über die Frage gesprochen worden, wie der Mensch in eine geistige Welt kommt. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, durch die der Mensch die Kräfte seiner Seele, die Fähigkeiten seines Inneren so über den normalen Zustand hinaufheben kann, daß er aus der sinnlichen Welt in die übersinnliche Welt hinaufgelangen kann. Man kann den einen Weg als den bezeichnen, durch welchen der Mensch immer mehr und mehr in die eigene Seele hineinsteigt, sich vertieft in seine eigene Seele; den anderen kann man so darstellen, daß man sagt, er führt den Menschen über das, was als der Teppich der physisch-sinnlichen Welt um uns herum ausgebreitet ist, führt ihn hinter diesen Teppich der physischen Welt. Man kommt auf beiden Wegen in das übersinnliche Gebiet. Wenn wir in einem intimen inneren Erleben alles, was wir in der Seele an inneren Gefühlswerten, an Vorstellungs- und Ideenwerten, kurz, an Impulsen in der Seele haben, vertiefen — sozusagen in uns selber immer mehr und mehr hineinschlüpfen, so daß die Kräfte unseres Innern immer stärker und stärker werden dann können wir gleichsam mystisch in uns untertauchen und durch das, was in uns selber der physischen Welt angehört, zu dem durchdringen, was unser eigentlicher geistigseelischer Wesenskern ist, der von Verkörperung zu Verkörperung geht und gegenüber dem Vergänglichen ein Unvergängliches ist. Wir dringen dann in die geistige Welt unseres eigenen Inneren ein. Indem wir den Schleier unseres eigenen Inneren durchdringen, indem wir das, was an Begierden, Leidenschaften und inneren Seelenerlebnissen in uns lebt und uns nur dadurch eigen ist, daß wir in dieser physischen Welt in einem physischen Leibe verkörpert sind, durchdringen und in unser Ewiges untertauchen, gelangen wir in eine geistige Welt. Aber auch wenn wir auf der anderen Seite diejenigen Kräfte entwickeln, die nicht nur auf die äußere Welt hinschauen und Farben sehen, Töne hören, äußere Wärme- oder Kälteeindrücke empfangen, sondern wenn wir unsere geistigen Kräfte so machtvoll machen, daß sie hinter die Farben, hinter den Ton, hinter Wärme und Kälte und die andern Sinneseindrücke dringen können, die sich wie ein Teppich um uns herum ausbreiten, dann dringen die Kräfte, die in unserer Seele verstärkt sind, hinter den Schleier der Außenwelt in das übersinnliche Reich, das sich ins Unendliche, man möchte sagen, in unendliche Fernen ausbreitet.

So gibt es einen Weg, den wir den mystischen nennen können, und so gibt es einen Weg, der durchdringend den Schleier des Sinnlichen in die Weiten des Kosmos führt, den wir den eigentlich geisteswissenschaftlichen nennen können. Auf diesen zwei Wegen sind alle die großen geistigen Persönlichkeiten zu Wahrheiten und Offenbarungen gekommen, die sie den Menschen als Kulturfortschritte einzuimpfen hatten. Nur war in uralten Zeiten die Entwickelung der Menschen so, daß immer einem bestimmten Volkstum nur auf einem dieser Wege die großen Offenbarungen zukommen konnten. Erst von dem Zeitalter an, in welchem die Griechen gelebt haben, in das dann auch der Aufgang, die Entstehung des Christentums hineinfällt, rinnen gleichsam die beiden Strömungen zusammen und wurden immer mehr und mehr eine Kulturströmung. Wenn wir heute reden von dem Betreten der höheren Welten, reden wir so, daß der, welcher zu den übersinnlichen Welten hinaufdringen will, gewissermaßen beide Kräftearten in seiner Seele entwickelt, sowohl die Kräfte für den mystischen Weg in das eigene Innere, wie auch für den geisteswissenschaftlichen Weg in die Außenweit. Heute werden die beiden Wege nicht mehr streng voneinander geschieden, denn es liegt im Sinne der Menschheitsentwickelung, daß ungefähr um die Epoche, die durch das Griechenvolk bezeichnet wird, diese beiden Ströme zusammenfließen: der, welcher seine Offenbarungen empfängt durch die mystische Versenkung in das eigene Innere, und der, welcher seine Offenbarungen empfängt durch Stärkung der geistigen Kräfte hinausführend in den großen Kosmos. In der vorgriechischen oder in der vorchristlichen Zeit aber war es so, daß diese beiden Möglichkeiten auf verschiedene Volkstümer verteilt waren, und sie treten uns — räumlich eng zusammengestellt — in uralten vorgriechischen und vorchristlichen Zeiten entgegen in der indischen Kultur, die in den Veden ihren Ausdruck gefunden hat, und in der Zarathustra- Kultur mehr im Norden. Denn alles, was wir in der indischen Kultur bewundern, was auch noch in Buddha zum Ausdruck gekommen ist, ist erlangt durch innere Versenkung, durch Hinwegwendung des Blickes von der äußeren Welt, durch Abtötung des Auges für die sinnlichen Farben, des Ohres für die sinnlichen Töne, der äußeren Organe für den Sinnesteppich überhaupt und durch Stärkung der inneren Seelenkräfte, um herunterzudringen zu Brahman, in dem sich der Mensch eins fühlt mit dem, was für alle Zeit webt als das Innere der Welt. Daraus sind die Lehren der alten heiligen Rishis entsprungen, die in den Veden dichterisch weiterleben, die in der Vedanta-Philosophie und im Buddhismus weiterleben. Aus der anderen Art ist der Zarathustrismus entsprungen.

Zarathustra hatte seinen Schülern namentlich das Geheimnis davon überliefert, wie man die Erkenntniskräfte des Menschen stärkt, damit sie den Schleier der äußeren Sinneswelt durchdringen. Nicht lehrte Zarathustra wie die Lehrer Indiens: Wendet den Blick ab von den Farben, von den Tönen, von den äußeren Sinneseindrücken und suchet den Weg zum Geistigen lediglich durch Versenkung in euer Seeleninneres! — sondern er sagte: Stärkt die Erkenntniskräfte so, daß ihr hinausschauen könnt auf alles, was als Pflanze und Tier, was in Luft und Wasser lebt, auf Bergeshöhen und in Talestiefen! Schaut hin auf diese Welt! — Wie wir wissen, war diese Welt für den Schüler der indischen Mystik doch nur Maja, um den Blick dorthin zu wenden, wo man Brahman findet. Zarathustra lehrte seine Schüler, daß sie den Blick nicht abwenden von dieser Welt, sondern sie durchdringen, daß sie sich sagen: Uber all, wo wir in der äußeren Welt sinnlich-physische Offenbarungen sehen, ist dahinter — außer uns — wirkend und webend Geistiges! — Das ist der andere Weg. Merkwürdig kommen in der griechischen Zeit die beiden Wege zusammen. Und weil in der Erkenntnis, die wahrhaftig in bezug auf Geistiges tiefer ging als in unserer Zeit, die es so herrlich weit gebracht haben will, alles ausgedrückt wird durch Bilder, die in die Mythen übergegangen sind, so finden wir auch, wie die beiden Strömungen — die eine, die mystische in das eigene Innere, und die andere nach außen in den Kosmos — in der griechischen Kultur zusammengekommen sind, sich getroffen haben und gleichzeitig gepflegt worden sind. Das kommt darin zum Ausdruck, wie man den einen Weg auf den Namen des Dionysos, des geheimnisvollen Gottes getauft hat, der gefunden werden kann, wenn der Mensch immer tiefer und tiefer in sein Inneres untertaucht und dort jenes fragliche Untermenschliche findet, das er früher nicht gehabt hat, aus dem er sich erst heraufentwickelt hat zum Menschen. Es ist das, was da noch ungeläutert, noch halb tierisch ist, getauft auf den Namen des Dionysos. Das aber, was uns entgegentritt, wenn wir die Welt durchschauen, wenn wir das, was uns physisch für die Sinne entgegentritt, geistig schauen, ist getauft auf den Namen des Apollo. Daher treten uns in der Apollo-Strömung die Zarathustra- Lehre und in der Dionysos-Strömung die Lehre der mystischen Versenkung im Griechentum nebeneinander entgegen. Da vereinigen sie sich, da strömen sie zusammen, der Zarathustrismus und die mystische Lehre, die uns auf ihren Höhen im alten Indertum entgegenkommt. So waren die alten Zeiten dazu berufen, sozusagen zwei Ströme nebeneinanderlaufen zu lassen, und im apollinischen und im dionysischen Glaubenskreise Griechenlands strömten beide zusammen, um dann einheitlich weiterzufließen, so daß sie in unserer Kultur, wenn wir uns zum Geistigen erheben, einheitlich weiterleben.

Es ist ganz merkwürdig — und das gehört zu den vielen Rätseln, die dem Denker aufgegeben werden daß Nietzsche davon eine Ahnung hatte — allerdings nicht mehr — und in seiner ersten Schrift «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» begründete, daß dieser dionysische und apollinische Glaubenskreis Griechenlands sich als die geisteswissenschaftliche und als die mystische Strömung begegnen.

Nun ist es interessant zu sehen, wie in der Tat Zarathustra in allen Einzelheiten seine Schüler und damit die ganze Kultur, die von ihm den Ausgangspunkt nahm, lehrte, hinter allem Sinnlichen den Geist zu sehen. Da handelt es sich darum, daß es nicht genügt, wenn man sagt: Vor uns breitet sich die Sinneswelt aus, und dahinter webt das Geistig-Göttliche. Man fühlt sich dabei vielleicht ganz besonders bedeutend, arbeitet aber damit nur auf einen allgemeinen Pantheismus hin. Man denkt, daß man schon etwas getan hat, wenn man sagt: Hinter allem Sinnlichen webt ein Göttliches — das heißt ein verschwommenes, nebuloses Geistiges hinter allen physischen Erscheinungen im allgemeinen zugibt. In einer solchen abstrakten verschwommenen und nebulosen Weise sprach ein Mensch wie Zarathustra, der wirklich in eine geistige Welt hinaufgestiegen war, nicht zu seinen Schülern und zu seinem Volke; sondern er wies darauf hin: so wie sich die einzelnen sinnlichen Erscheinungen unterscheiden, wie die eine bedeutender, die andere unbedeutender ist, so ist auch das Geistige, das dahinter ist, entsprechend den einzelnen Erscheinungen bald bedeutender, bald unbedeutender. Da wies er dann darauf hin, daß hinter dem Physischen der Sonne, die — rein in bezug auf die physische Anschauung unseres Weltsystems — zum Beispiel den Ursprung alles Lebens, aller Erscheinungen und Tätigkeiten enthält, sich verbirgt der Mittelpunkt des geistigen Lebens, insofern uns dieses geistige Leben zunächst angeht.

Es sagte Zarathustra, wenn wir etwa das, was er in eindringlichen Lehren seinen Schülern klarmachen wollte, in einfache Worte fassen: Seht, wie der Mensch, der vor uns steht, nicht allein der physische Leib ist, denn der ist nur der äußere Ausdruck des Geistes. Aber wie der physische Leib nur die Offenbarung, die Kristallisation des geistigen Menschen ist, so ist die Sonne, die uns als physischer Lichtkörper erscheint, insofern sie ein solcher physischer Lichtkörper ist, nur der äußere Körper eines Geistigen, gleichsam einer Geistessonne. — Und wie man das, was der Geistesmensch gegenüber dem physischen Menschen ist, als seine Aura bezeichnen kann — als Aura oder Ahura, wenn man den alten Ausdruck gebrauchen will —, so kann man das, was hinter der physischen Sonne ist, als «große Aura», als eine umfassende Aura bezeichnen, wogegen das, was hinter dem physischen Menschen als Geistiges ist, die «kleine Aura» ist! Deshalb nannte Zarathustra das, was hinter der physischen Sonne ist, die «Große Aura», Auramazda oder Ahura Mazdao. Das war das Geistige hinter der Sonne, dasjenige, was uns in bezug auf alle geistigen Ereignisse, alle geistigen Seinszustände ebenso angeht wie die physische Sonne in bezug auf das Gedeihen der Pflanzen, Tiere und alles Lebens auf der Erde. Hinter der physischen Sonne der geistige Herr und Schöpfer, Ahura Mazdao, Auramazda! Daraus wurde dann der Name Ormuzd oder «Geist des Lichtes». Während also die Inder mystisch in ihr Inneres hineinblickten, um so zu Brahman, zu dem Ewigen zu kommen, das wie in einem Punkte aus dem Inneren des Menschen herausleuchtet, wies Zarathustra seine Schüler hin auf die große Peripherie des Daseins und zeigte, wie in dem Sonnenleib der große Geist der Sonne, Ahura Mazdao, der Geist des Lichtes vorhanden ist. Und wie im Menschen sein eigentlicher Geistesmensch hinaufstrebt zur Vervollkommnung, aber gegen sich die niederen Leiden-Schäften und Begierden hat, die Möglichkeit, den Trugbildern der Lüge und Unwahrheit ausgesetzt zu sein, — wie der Mensch so den Gegner der eigenen Vervollkommnungsimpulse in sich hat, so hat Ahura Mazdao sich gegenüber den Gegner, den Geist der Finsternis; Angro-Mainyush, Ahriman.

Da sehen wir, wie sich des großen Zarathustra Anschauung auch umwandeln konnte aus einer Lehre in einen Empfindungs- und Gefühlsinhalt. Dadurch konnte er seine Schüler so weit bringen, daß er ihnen klarmachen konnte: Da steht ihr als Menschen mit einem Vervollkommnungsprinzip im Innern, das euch sagt: wie ich auch jetzt sein mag — das Prinzip zur Vervollkommnung in mir wird so wirken, daß der Mensch immer höher und höher kommen kann. Aber in diesem Innern arbeiten die zum Unvollkommenen führenden Neigungen und Triebe, Lug und Trug. Was so im Menschen ist, das ist ausgebreitet, expansiert als das Prinzip der Vervollkommnung, das immer höhere und höhere, immer weisere und weisere Vervollkommnungszustände in die Welt bringen muß: das Prinzip von Ahura Mazdao. Dieses Prinzip wird zunächst überall draußen in der Welt von dem bekämpft, was Unvollkommenheit, was das Böse, was den Schatten in das Licht hineinbringt: von Angro-Mainyush, von Ahriman! — So sahen und fühlten die Zarathustra-Schüler wirklich in dem einzelnen Menschen ein Abbild dessen, was die Welt draußen darstellt. Wir müssen das eigentlich Bedeutungsvolle einer solchen Lehre nicht in ihren Theorien, nicht in ihren Begriffen und Ideen suchen, sondern in dem lebendigen Gefühl und in der Empfindung, die sie durchdringt, wenn durch sie der Mensch so zum Weltall steht, daß er sich sagt: Ich stehe hier, bin' eine kleine Welt, bin aber als kleine Welt wie ein Abdruck einer großen Welt. Wie wir hier als Menschen in uns ein Prinzip zum Guten haben und etwas, was diesem entgegenarbeitet, so stehen sich in der großen Welt gegenüber Ormuzd und Ahriman. Die ganze Welt ist gleichsam ein ausgebreiteter Mensch, und die besten Kräfte sind die, welche wir als Ahura Mazdao bezeichnen, denen dann entgegenarbeiten die Kräfte des Angro-Mainyush.

So wie der Mensch, der nur das Sinnliche ins Auge faßt, mit seinen physischen Vorgängen sich in den ganzen Weltenprozeß hineingestellt findet und — selbst wenn er materialistisch denkt, aber nur zu fühlen beginnt — eine heilige Scheu haben kann, wenn er zum Beispiel durch die Spektralanalyse erfährt: dieselben Stoffe, die hier auf der Erde sind, existieren auf den fernsten Sternen, — so fühlte sich der Mensch im Sinne des Zarathustrismus mit seinem geistigen Teil in den Geist der ganzen Welt hineinversenkt, fühlte sich aus ihm herausgeboren. Und darin liegt das Bedeutungsvolle einer solchen geistigen Lehre.

Nun blieb aber diese Lehre durchaus nicht etwas Abstraktes, im Gegenteil, sie wurde etwas ganz Konkretes. Es ist für das heutige Zeitalter, selbst wenn die Menschen ein gewisses Gefühl für das Geistige haben, das hinter dem Sinnlichen steht, schon recht schwer begreiflich zu machen, wie eine wirklich geisteswissenschaftliche Weltanschauung nicht nur eine einheitliche zentrale Geistesmacht braucht. Wie wir aber die einzelnen Naturkräfte unterscheiden müssen — Wärme, Licht, chemische Kräfte und so weiter —, so müssen wir auch in der Welt des Geistigen nicht bloß einen einheitlichen Geist unterscheiden, der wahrhaftig dadurch nicht geleugnet wird, sondern geistige Unterkräfte, geistige «Hilfskräfte», deren Gebiet dann enger umgrenzt ist als das Gebiet des allumfassenden Geistes. So unterschied denn auch Zarathustra von diesem allumfassenden Ormuzd sozusagen die Diener, die dienenden geistigen Wesenheiten des Ormuzd. Bevor wir aber zu diesen dienenden geistigen Wesenheiten heruntersteigen, wollen wir noch auf eines aufmerksam machen, darauf nämlich, daß diese Zarathustra-Anschauung nicht etwa ein bloßer Dualismus 1st, eine bloße Zwei-Welten-Lehre, eine Lehre von der Welt des Ormuzd und der Welt des Ahriman; sondern sie ist schon eine Lehre davon, daß diesen zwei Weltenströmungen etwas Einheitliches zugrunde liegt, eine einheitliche Macht, aus der wieder hervorgeht sowohl das Reich des Lichtes wie das Reich des Schattens, das Reich des Ormuzd wie das des Ahriman. Es ist nun sehr schwierig, einen Begriff davon hervorzurufen, was Zarathustra als das Einheitliche hinter Ormuzd und Ahriman ansah, von dem uns schon die griechischen Schriftsteller sagten, daß die alten Perser es als das in Einheitlichkeit Lebende verehrten, und was Zarathustra nannte «Zeruane akarene», das ist, was hinter dem Licht steht. Wodurch können wir uns einen Begriff für das schaffen, was Zarathustra und die Zarathustra-Lehre unter «Zeruane akarene» oder «Zaruana akarana» versteht?

Denken wir uns einmal den Verlauf der Entwickelung. Wir müssen uns vorstellen, daß die Entwickelung gegen die Zukunft hin so verläuft, daß die Wesen immer vollkommener und vollkommener werden, so daß wir, wenn wir in die Zukunft blicken, immer mehr und mehr den Schein des Lichtreiches, des Ormuzd, sehen. Wenn wir in die Vergangenheit den Blick richten, sehen wir, wie da die Kräfte liegen, welche mit der Zeit völlig aufhören müssen, die besiegt werden müssen, so daß wir da in die dem Ormuzd gegnerischen Kräfte, in die ahrimanischen Kräfte hereinblicken. Nun hat man sich vorzustellen, daß dieser Bück sowohl in die Zukunft wie in die Vergangenheit zu demselben Punkte führt. Das ist eine Vorstellung, die für den heutigen Menschen außerordentlich schwer zu vollziehen ist. Denken wir uns dazu einen Kreis: wenn wir von dem untersten Punkte nach der einen Seite gehen, kommen wir zu dem gegenüberliegenden Punkte oben; wenn wir nach der andern Seite gehen, kommen wir ebenfalls zu demselben Punkte. Nehmen wir den Kreis größer, so müssen wir einen weiteren Weg machen, und der Bogen wird dadurch flacher und flacher. Nun können wir den Kreis immer größer und größer machen, dann ist das Ende, daß die Kreislinie zuletzt eine Gerade wird: dann geht der Weg nach der einen Seite in die Unendlichkeit und nach der anderen Seite auch. Aber kurz vorher, wenn wir nicht so weit gehen, wenn wir den Kreis nicht so groß machten, dann würden wir, wenn wir nach der einen Seite wie nach der andern Seite gingen, zu einem und demselben Punkte kommen. Warum sollte nun, wenn der Kreis so flach wird, daß seine Linie eine Gerade wird, nicht dasselbe gelten? Dann muß der eine Punkt in der Unendlichkeit der gleiche sein wie der auf der anderen Seite. Und wenn man nur lange genug den Atem halten könnte, müßte man nach der einen Seite gehen können und auf der andern Seite zurückkommen. Das heißt: es liegt für eine die Unendlichkeit ergreifende Vorstellung eine Linie zugrunde, die nach beiden Seiten ins Unendliche verläuft, die aber eigentlich eine Kreislinie ist.

Was ich Ihnen jetzt als eine Abstraktion vor Augen geführt habe, das liegt in der Zarathustra-Anschauung dem zugrunde, was er mit Zaruana akarana meinte. Wir blicken auf der einen Seite — der Zeit nach — in die Zukunft hinein, auf der andern Seite in die Vergangenheit; aber die Zeit schließt sich zum Kreise, nur liegt dieser Zusammenschluß erst in der Unendlichkeit. Und dieser sich selbst findenden Schlange der Ewigkeit — die dargestellt werden kann durch die Schlange, die sich selbst in ihren Schwanz beißt — ist sowohl die Kraft des Lichtes einverwoben, die uns immer heller und heller leuchtet, wenn wir nach der einen Seite blicken, wie auch die Kraft der Finsternis, die uns nach der andern Seite immer dunkler und dunkler scheint. Und wenn wir selbst mitten drinnen stehen, haben wir selbst Licht und Schatten — Ormuzd und Ahriman — durcheinandergemischt. Alles ist einverwoben dem sich selbst findenden, unendlichen Strome der Zeit: Zaruana akarana.

Es ist nun etwas weiteres für eine solche alte Weltanschauung dies, daß sie die Sache ernst nahm, von der sie ausging, daß sie nicht bloß nebulos hinstellte: da draußen ist hinter den Dingen der Sinneswelt, die auf unsere Augen, Ohren und anderen Sinne Eindruck machen, Geist, sondern daß sie in der Tat in dem, was sie sah, etwas wie die Schriftzeichen des Geistes oder der geistigen Welten erblickte. Wir nehmen zum Beispiel irgendein Blatt, sehen darauf die Buchstaben und setzen sie zu Worten zusammen; wenn wir aber das wollen, müssen wir erst etwas gelernt haben, nämlich lesen. Wer das nicht kann, kann nie Zarathustra lesen, sondern sieht nur gewisse Zeichen, denen er mit dem Blicke nachlaufen kann. Zarathustra aber kann er erst lesen, wenn er diese Zeichen gemäß dem, was er in seiner Seele trägt, zu verbinden versteht. Nun sah Zarathustra hinter dem, was in der Sinneswelt ist, besonders in der Art, wie sich die Sterne innerhalb des Weltenraumes zu Gruppen zusammenfügen, eine solche Zeichenschrift. Wie wir auf dem Papier die Buchstaben haben, so sah er in dem, was uns als die Sternenwelt im Räume umgibt, etwas wie die Buchstaben von den geistigen Welten, die zu uns sprechen. Und es bestand die Kunst, einzudringen in die geistige Welt und die Zeichen, die uns durch die Anordnung der Sterne gegeben sind, zu lesen, zu deuten, an der Bewegung und Anordnung der Sternenwelten die Art zu entziffern, wie die Geister draußen ihre Taten des Geist-Erschaffens in den Raum schreiben. Das wurde für Zarathustra und seine Schüler dasjenige, worauf es ihnen ankam. So war ihnen besonders ein wichtiges Schriftzeichen dies: daß Ahura Mazdao seine Schöpfungen, seine Offenbarungen in der Welt dadurch vollbringt, daß er scheinbar im Sinne unserer Astronomie einen Kreis im Himmelsraum zu beschreiben hat. Dieses Beschreiben eines Kreises wurde der Ausdruck für ein Schriftzeichen, das Ahura Mazdao oder Ormuzd den Menschen kundgibt, um zu zeigen, wie er wirkt, wie er seine Taten in den ganzen Weltenzusammenhang stellt. Da war es wichtig, daß Zarathustra darauf hinweisen konnte: Es ist der Tierkreis, der Zodiakus, eine in sich selbst zurückkehrende Linie, ein Ausdruck für die in sich selbst zurückkehrende Zeit. Im höchsten Sinne des Wortes geht der eine Ast der Zeit nach der Zukunft, nach vorwärts, der andere in die Vergangenheit, nach rückwärts. Was später der Tierkreis wurde, ist Zaruana akarana: die in sich selbst sich findende Zeitlinie, welche Ormuzd beschreibt, der Geist des Lichtes. Das ist der Ausdruck für die geistige Tätigkeit des Ormuzd. Die Bahn der Sonne durch die Tierkreisbilder ist der Ausdruck der Tätigkeit des Ormuzd, und Zaruana akarana hat sein Symbol im Tierkreis. Im Grunde genommen sind «Zaruana akarana» und «Zodiakus» dasselbe Wort so wie «Ormuzd» und «Ahura Mazdao». Einverwoben ist zweierlei in dem «Gehen durch den Tierkreis»: einmal ein gewisser Gang der Sonne im Hellen, wo sie im Sommer ihre vollen Kräfte als Lichtkräfte auf die Erde sendet, — aber auch ihre geistigen Kräfte schickt sie uns aus dem Lichtreich des Ormuzd. Derjenige Teil des Tierkreises also, den Ormuzd während des Tages oder während des Sommers durchläuft, zeigt uns, wie Ormuzd unbehindert von Ahriman wirkt; diejenigen Tierkreisbilder dagegen, die unter dem Horizont liegen, symbolisieren das Reich des Schattens, das sozusagen Ahriman durchläuft.

Wodurch drückt nun sowohl Ormuzd, der gedacht ist als der helle Teil des Tierkreises, des Zaruana akarana, und wodurch drückt Ahriman, der dunkle Teil des Tierkreises, die Art aus, wie sie auf die Erde wirken?

Anders wirkt die Sonne des Morgens, anders am Mittag. Indem sie hinaufsteigt vom Widder bis zum Stier, indem sie wieder hinuntersteigt, wirken ihre Strahlen immer anders; anders wirken sie im Winter, anders im Sommer, von jedem Sternbild aus verschieden. So werden für Zarathustra die Wirkungen des Ormuzd von den verschiedenen Riehtungen, die symbolisiert werden durch das Stehen der Sonne in den verschiedenen Sternbildern, das heißt die verschiedenen Richtungen der Ormuzd-Wirkungen, zum Ausdruck derjenigen geistigen Wesenheiten, die gleichsam die Diener, die Söhne des Ormuzd sind, die das ausführen, was er anordnet: das sind die «Amshaspands» oder «Amesha-Spentas», die gleichsam unterhalb des Ormuzd stehen und ihre Spezialtätigkeit haben. Während Ormuzd die ganze Tätigkeit des Lichtreiches hat, haben die Amshaspands die Spezialtätigkeiten, die ausgedrückt werden durch das Herleuchten der Sonne aus dem Widder, aus dem Stier, dem Krebs und so weiter. Die Ormuzd-Wirksamkeit kommt durch das volle Leuchten der Sonne durch alle hellen Tierkreisbilder — vom Widder bis zur Waage oder zum Skorpion — zum Ausdruck. So können wir weiter im Sinne des Zarathustra sagen: Ahriman wirkt gleichsam wie durch die Erde hindurch aus dem Finstern und hat da seine Diener, seine Amshaspands, die Gegner sind der guten Genien, welche dem Ormuzd zur Seite stehen. Zarathustra hat so in der Tat zwölf verschiedene geistige Wesenheiten unterschieden, welche die Diener sind — auf der einen Seite sechs beziehungsweise sieben des Ormuzd, auf der andern Seite sechs beziehungsweise fünf des Ahriman, die dann symbolisiert werden als gute oder böse Genien oder Untergeister, Amesha-Spentas, je nachdem die Sonne von den hellen oder von den dunklen Tierkreisbildern strahlt. Diese dienenden Geister des Ormuzd meinte zum Beispiel auch Goethe, als er im Anfang des «Faust», im «Prolog im Hirnmel» sagte:

Doch ihr, die echten Göttersöhne,

Erfreut euch der lebendig reichen Schöne!

Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,

Umfass' euch mit der Liebe holden Schranken,

Und was in schwankender Erscheinung schwebt,

Befestiget mit dauernden Gedanken.

An dasselbe noch, an was Zarathustra bei seinen Amshaspands dachte, dachte Goethe bei seinen «echten Göttersöhnen», welche die Diener sind der höchsten göttlichen Macht. Zwölf solcher Genien haben wir zu verzeichnen, die wir als die Amshaspands zu nennen haben. Unter diesen stehen wieder andere geistige Machte oder Kräfte, und zwar unterscheidet man gewöhnlich als unter ihnen stehend im Zarathustrismus achtundzwanzig. Aber die Zahl ist nie so ganz bestimmt; man könnte sagen vierundzwanzig bis achtundzwanzig oder einunddreißig «Yazatas» oder «Izeds». Was sind dies für Wesenheiten? Wenn wir uns die großen Kräfte, die durch den Raum wirken, in der Zwölfzahl denken als die Amshaspands, dann sind wieder die dienenden Kräfte, die hinter den niederen Naturwirkungen stehen, die Kräfte der Izeds, achtundzwanzig bis einunddreißig etwa. Und als eine dritte Gattung solcher geistiger Kräfte oder Mächte nennt dann der Zarathustrismus die «Fravashis». Diese Kräfte sind sozusagen die in unserem Sinne am wenigsten in die körperliche Welt eingreifenden. Während wir uns vorzustellen haben, daß in alledem, was physische Lichtwirkungen auf unserer Erde sind, die zwölf Kräfte wirksam sind, hinter denen die Amshaspands stehen, und wir uns hinter den Izeds Kräfte zu denken haben, die ins Tierreich hineinwirken, haben wir uns unter den Fravashis nur solche geistigen Wesenheiten vorzustellen, welche die Gruppenseelen der Tiere lenken. So sieht der Zarathustrismus ein spezialisiertes Reich hinter der Sinneswelt als übersinnliches Reich.

Was Zarathustra so-nicht in einer allgemeinen, abstrakten Weise, sondern ganz konkret — als die Welt durchorganisierend denkt: Ormuzd und Ahriman, hinter ihnen Zaruana akarana, dann die Amshaspands, die guten und die bösen, dann die Izeds, die Fravashis — was sind sie? Sie sind das, was die große Welt, den Makrokosmos, durchgeistigt, was hinter allen sinnlich-physischen Wirkungen steht, was das Wesenhafte ist hinter dem, was uns scheinbar bloß als äußeres Sinnliches erscheint. Der Mensch aber, wie er dasteht in der Welt, ist ein Abbild dieser großen Welt. Und in ihm muß sich daher alles finden, was die große Welt durchkraftet. Wie wir in den nach Vollkommenheit strebenden Kräften den Ausdruck des Ormuzd im Menschen, in den ungeläuterten Kräften den Ausdruck des Ahriman im Menschen gefunden haben, so werden wir auch für die anderen geistigen Wesenheiten, gleichsam für die Untergenien, den Ausdruck finden. Jetzt muß ich allerdings etwas sagen, was in unserer heutigen Zeit bei dem gegenwärtigen Stande unserer Weltanschauungen geeignet ist, unendliches Ärgernis zu erregen. Aber es wird sich schon in einer gar nicht so weiten Zukunft auch für die äußere Wissenschaft zeigen, daß hinter allem Physischen ein Übersinnliches, hinter allem Sinnlichen ein Geistiges steht. Dann wird sich auch zeigen, daß der physische Leib des Menschen in den gröbsten Teilen ein Abdruck ist von dem, was die ganze Welt durchwebt und durchlebt und in den physischen Leib des Menschen hereinströmt, um sich gleichsam im Menschen zu verdichten. Und wenn wir uns jetzt auf die Zarathustra-Vorstellung berufen, die der geisteswissenschaftlichen sehr nahe steht, so können wir sagen: Draußen wirken Ormuzd und Ahriman; sie wirken herein in den Menschen — und zwar Ormuzd als die Impulse zum Vollkommenen, Ahriman als alles, was diese aufhält. Aber auch die Amshaspands wirken herein, schicken herein ihre geistige Wirksamkeit. Denken wir uns diese im Menschen gleichsam verdichtet, so müßten sie sich nachweisen lassen bis in die physische Wirksamkeit hinein.

Zur Zeit Zarathustras gab es noch keine Anatomie im heutigen Sinne. Da sahen Zarathustra und seine Schüler durch ihre geistige Anschauung die Strömungen wirklich, von denen wir heute gesprochen haben, die als zwölf Ströme von der großen Welt auf den Menschen zufließen und sich in den Menschen hinein fortsetzen, so daß uns in der Tat das menschliche Haupt als der Ausdruck dessen erscheint, daß in den Menschen hereinströmen die Kräfte der sieben guten und der fünf bösen Amshaspands-Strömungen. Da drinnen im Menschen sind die Fortsetzungen der Ströme der Amshaspands. Wie geben sie sich heute kund einer viel späteren Zeit? Heute deckt der Anatom zwölf Hauptpaare von Gehirnnerven auf, die vom Gehirn aus in den Leib gehen. Das sind die physischen Gegenbilder, gleichsam die zwölf gefrorenen Strömungen der Amshaspands, zwölf Nervenpaare für die höchste menschliche Tätigkeit, durch die der Mensch zu den höchsten Vollkommenheiten wie auch zum ärgsten Bösen kommen kann. Da sehen wir, wie in unserm Zeitalter — materialistisch umgestaltet — das wiedererscheint, was Zarathustra seinen Schülern aus der geistigen Welt heraus gesagt hat. Das ist das Ärgerliche, und leicht wird es für einen heutigen Menschen, zu sagen: Da predigt die Geisteswissenschaft das ganz Phantastische, daß Zarathustra mit den zwölf Amshaspands etwas gemeint habe, was mit den zwölf Nervenpaaren im menschlichen Kopfe zusammenhängen soll! Aber die Welt wird noch etwas ganz anderes erfahren: sie wird erfahren, wie sich in den Menschen hinein fortsetzt, was die ganze Welt durchwebt und durchlebt. In unserer Physiologie steht der alte Zarathustrismus wieder auf! Und wie die achtundzwanzig bis einunddreißig Izeds unter den Amshaspands stehen, so stehen die achtundzwanzig Rückenmarksnervenpaare unter den Gehirnnerven. In den Rückenmarksnerven, die das niedere Seelenleben des Menschen anregen, schaffen die Izeds, die als geistige Strömungen draußen vorhanden sind; sie wirken in uns herein, kristallisieren sich gleichsam in den achtundzwanzig Rückenmarksnerven, denn in denselben haben wir die verdichteten Izeds-Strömungen. Und in dem, was nicht mehr Nerv ist, was uns zur Persönlichkeit abrundet, haben wir das, was nun nicht mehr in einer äußeren Strömung, in einer äußeren Richtung sich auslebt: was die Fravashis sind, das sind in uns die Gedanken, die sich über das bloße Gedanken- und Gehirnleben erheben.

Es ist damit in der Tat in einer ganz eigenartigen Weise unsere Zeit wieder verknüpft mit dem, was Zarathustra — allerdings in seinem geistigen Urbilde — den Menschen hat geben können als eine Strömung nach dem, was hinter dem Teppich der Sinneswelt ausgebreitet liegt. Das ist nun das ganz Bedeutsame der Zarathustra-Lehre. Nachdem sie eine lange Zeit hindurch durch diese oder jene Kulturfermente sich immer wieder und wieder in die weiterstrebenden Menschen hineinergossen hat und dann eine Weile zurückgegangen ist, ist es so gekommen, daß es in der Tat — wie man immer, nachdem im Griechentum sich die beiden Wege in die geistige Welt vereinigt hatten, eine Vorliebe für die mystische oder für die geisteswissenschaftliche Strömung hatte — heute wieder eine Vorliebe für eine mystische Strömung gibt. Daher die Vorliebe mancher für eine indische Geisteswissenschaft oder Vertiefung. Diese Tatsache hat es mit sich gebracht, daß das Wesentlichste, das Tiefbedeutsamste des Zarathustrismus — sein eigentlicher Lebensnerv — heute in unserem ganzen Geistesleben kaum bemerkt wird. Vieles von zarathustrischer Anschauungsweise und zarathustrischem Denken wird sich ja auch heute in unserem Geistesleben finden. Aber etwas, was als ein Grundnerv, als das Gesündeste in ihm liegt, ist in einer gewissen Weise unserem Zeitalter verlorengegangen. Und wenn man wieder verstehen wird, wie der Zarathustrismus das geistige Urbild ist für alles, was wir auf dem Gebiete der physischen Forschung — Unzähliges könnte von ihr angeführt werden — wiederfinden und was sich weiter einleben wird, dann wird ein Grundton in unserer Kultur glücklich überwunden werden durch einen anderen, der sich eben im Zarathustrismus findet.

Es ist merkwürdig, wie im Zarathustrismus durch seine Hingebung an die großen Erscheinungen des Makrokosmischen, der äußeren Welt, etwas zurücktritt, was fast in allen anderen, sich mehr an die Mystik anschließenden Kulturströmungen eine bedeutende Rolle spielt, auch in unserm Materialismus. Man faßte den großen Gegensatz, der in der Welt doch immer wieder vorhanden war, so auf, daß man als Symbol dafür den Gegensatz des Geschlechtlichen — des Männlichen und des Weiblichen — nahm: so zum Beispiel indem man in den alten Religionssystemen, die auf mystischem Boden fußen, den Göttern Göttinnen entgegenstellte für das, was als ein Gegensatz die Welt durchströmt. Im Zarathustrismus haben wir das Wunderbare, daß er sich erhebt über diese Anschauung, um die Urgründe der geistigen Wirksamkeit in einem andern Bilde sich zu denken: in dem Bilde des Guten, des Lichtvollen und des Bösen, des Schattenhaften. Daher die ungeheure Keuschheit des Zarathustrismus, die Erhabenheit, das Hinausgehen über alle die Vorstellungen und Anschauungen, die wieder in unserer Zeit eine so häßliche Rolle spielen, wenn man glaubt, die Anschauung des Menschen über das geistige Leben vertiefen zu können. Wenn auch selbst noch die griechischen Schriftsteller sagen: es mußte die höchste Gottheit, um Ormuzd zu schaffen, auch Ahriman schaffen, damit er einen Gegensatz hätte, so ist doch, indem Ahriman sich dem Ormuzd entgegenstellt, damit etwas gegeben, wie sich eine Urkraft der anderen entgegenstellt; was selbst noch im Hebräischen zum Ausdruck kommt, indem das Böse durch das Weib — durch Eva — in die Welt getreten ist. Nichts von dem, was die Welt durchlebt als das Böse, das durch einen Geschlechtsgegensatz in die Welt kommt, ist im Zarathustrismus zu finden. Was heute so häßlich bis in die Tagesliteratur unser ganzes Denken und Fühlen durchströmt, was vieles so verhäßlicht in bezug auf den Hauptwert bei Krankheits- und Gesundheitserscheinungen und was doch nicht die Hauptsachen des Lebens enthält, das wird überwunden werden, wenn der Gegensatz von Ormuzd und Ahriman, der ein ganz anderer — ein heroischer gegenüber dem spießbürgerlichen ist, sich einmal als ein Ferment mit den Worten des Zarathustrismus in unsere Kultur einleben wird. Die Dinge gehen in der Welt ihren Weg — und nichts wird den Siegeslauf der Zarathustra-Anschauung aufhalten, die sich ja nach und nach auch einleben wird.

Wenn wir Zarathustra so betrachten, sehen wir in ihm in der Tat einen Geist, der in einer längst vergangenen Zeit der Menschheitskultur mächtige Impulse gegeben hat. Denn man braucht nur das, was erlebt worden ist in Vorderasien in den späteren Zeiten der Völker der Assyrer, Babylonier bis in die ägyptische Zeit, ja bis in die Zeit, wo sich das Christentum ausgebreitet hat, zu verfolgen: überall wird man etwas an Vorstellungen finden, das sich zurückverfolgen und in seinem Ursprung sich aufweisen läßt in den großen Lichtern, die Zarathustra der Menschheit angesteckt hat. Wir werden es begreiflich finden, wenn der griechische Schriftsteller, der ausdrücken wollte, wie einzelne Führer ihren Völkerschaften immer den späteren Anteil gegeben haben, den diese Völker an der Kultur brauchen, darauf hinwies: als Pythagoras von den Vorfahren lernte, was auf ihn übergehen konnte — von den Ägyptern die Geometrie, von den Phöniziern die Arithmetik, von den Chaldäern die Astronomie —, da mußte er zu den Nachfolgern des Zarathustra gehen, um von ihnen die geheimnisvollen Lehren des Verhältnisses der Menschheit zur geistigen Welt und einer wahren Lebensführung zu lernen. Damit ist von dem Schriftsteller, der uns das von Pythagoras sagt, konstatiert, daß die Zarathustra-Lebensführung über alle anderen Gegensätze hinausführt und alle die anderen Gegensätze gipfeln läßt in dem einen Gegensatz von Gut und Böse, — ein Gegensatz, welcher nur seine Überbrückung in der Läuterung von dem Bösen, von Lug und Trug findet. Es wird zum Beispiel als schlimmster Gegner des Ormuzd derjenige angesehen, der mit dem Namen «Verleumdung» bezeichnet wird: das ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Ahriman. Damit wird von dem griechischen Schriftsteller darauf hingewiesen, wie Pythagoras das reinste Sittenideal, das Ideal für die moralische Läuterung des Menschen, weder finden konnte bei den Ägyptern, von denen er die Geometrie lernen konnte, noch bei den Phöniziern, von denen er die Arithmetik lernen konnte, und auch nicht bei den Chaldäern, von denen er die Astronomie 1ernen konnte, sondern wie er zu den Nachfolgern des Zarathustra gehen mußte, um eine heroische Weltanschauung zu haben, die ernst anerkennt die Überwindung des Bösen in der Läuterung. Damit war also der hohe Adel und die Einzigkeit des Zarathustrismus schon im Altertum anerkannt

Alles, was jetzt gesagt worden ist, könnte auch durch Aussprüche aus der äußeren Geschichte belegt werden. So sollten die Menschen nachdenken, ob es stimmt, was die Vertreter der äußeren Wissenschaft sagen, wenn zum Beispiel Plutarch erwähnt, daß es im Sinne des Zarathustrismus liegt, als Leiblichkeit für die höchste für die Erde in Betracht kommende Wesenheit das Licht anzusehen, und daß ihr Geistiges als die Wahrheit erscheint. Da gibt einer der alten Schriftsteller eine Definition, die ganz genau mit dem übereinstimmt, was jetzt ausgedrückt ist. Aber auch die historischen Erscheinungen werden klar werden, wenn wir in Betracht ziehen, was jetzt charakterisiert worden ist.

Sehen wir da noch einmal auf die altvedische Anschauung. Sie beruhte auf einem mystischen Hinuntertauchen in das eigene Innere. Bevor der Mensch zum inneren Licht des Brahman kommt, trifft er auf das, was innerlich an Begierden, Leidenschaften, an wilden, halbmenschlichen Impulsen entgegensteht der Vertiefung in das eigentliche Geistig-Seelische, in das ewig Innere. Durch das muß der Mensch durch. Der Inder kam zu der Anschauung, daß er nur zu dem inneren Licht kommt, wenn es ihm wirklich in der mystischen Versenkung gelingt, mit Brahman alles auszulöschen, was man in der Sinneswelt erlebt, was uns in den Farben und Tönen reizt und sinnliche Begierden erregt. Solange das noch in unsere Meditation hereinspielt, solange haben wir den Gegner unserer mystischen Vervollkommnung in uns. Werft alles heraus, so hätte der indische Lehrer gesagt, was aus den äußeren Mächten in die Seele hereinkommen kann, vertieft euch nur in das Innere der Seele, steigt zu den Devas herunter; da werdet ihr, wenn ihr auch die niederen Devas zu überwinden habt, im Reiche der Devas Brahman finden. Aber meidet das Reich der Asuras, der Wesenheiten, die aus der Welt der Maja, der äußeren Welt, an euch her andringen. Das muß unter allen Umständen gemieden werden! — Zarathustra dagegen mußte seinen Schülern sagen: Auf dem Wege, auf dem im Süden die Anhänger eines anderen Volkstumes durch ihre andersgeartete Organisation das Geistige suchen, kann ein Volk nicht vorwärtskommen, das nicht bloß zum übersinnlichen Brüten und Träumen berufen ist, sondern zum Leben in einer Welt, die reichlich alles, was zum Lebensunterhalt nötig ist, hergibt, — das dazu berufen ist, der Menschheit die Künste des Ackerbaues und die Überwindung der Unkultur zu geben. Ihr dürft nicht bloß das Äußere als Maja ansehen, sondern durch den Teppich, der sich in Farben und Tönen und so weiter um uns ausbreitet, müßt ihr durch! Alles daher, was in eurem Innern euch selbst in eurem Egoismus halten will, alles, was Deva-Charakter hat, das meidet! Ihr müßt durch das Reich der niederen Asuras bis zu den höchsten Asuras empordringen. Und da ihr dazu organisiert seid, durch die niederen Asuras hindurch zu den höheren Asuras zu kommen, so müßt ihr das Reich der Devas meiden! — In Indien dagegen war die Lehre der Rishis: Ihr seid nicht dazu organisiert, das zu suchen, was in den Reichen der Asuras ist; meidet das Reich der Asuras; in das Reich der Devas müßt ihr hinunterkommen!»

So ist der Gegensatz zwischen der indischen und der persischen Kultur: bei den Indern der Hinweis darauf, wie man die Asuras zu meiden hat, wie dies böse Geister sind, denn man kannte nur vermöge der indischen Organisation die niederen Asuras. Bei dem persischen Volke dagegen, wo man nur die niederen Devas im Reiche der Devas finden konnte, sagte man: Geht in das Reith der Asuras. Ihr seid so organisiert, daß ihr die Höchsten der Asuras finden könnt! — Es lag in dem, was Zarathustra als Impuls seiner Menschheit gab, die Stimmung: Ich habe der Menschheit etwas zu geben, was fortwirken muß durch alle Zeiten, was der Menschheit den Weg nach oben ebnet und alle Irrlehre überwindet, die ein Hindernis ist und die Menschen abzieht von dem Vollkommenheitsstreben! — Daher empfand sich Zarathustra als der Diener des Ahura Mazdao und empfand selber als solcher Diener des Ahura Mazdao die Gegnerschaft des Ahriman. Seine Lehre aber sollte der Menschheit dazu dienen, zur heroischen Überwindung alles Ahriman-Prinzips zu kommen. Das sprach Zarathustra mit den bedeutungsvollen Worten aus, die wir dann auch noch in den späteren Schriften finden, denn alles Schriftliehe ist ja erst später aufgezeichnet, — was die Geisteswissenschaft aber zu sagen hat, hat sie aus andern Quellen-, sprach er aus mit dem schönen Wort, aus dem uns der ganze innere Impuls seiner Mission herausklingt; die ganze Leidenschaft aber auch klingt uns da heraus, mit der er sich als Gegner des Ahriman- oder Finsternis-Prinzipes fühlte, wenn er sagt: «Ich will reden! Nun kommt und hört mir zu, ihr, die ihr von fern — ihr, die ihr von nah darnach Verlangen tragt, und merket alles genau. Denn nicht mehr soll besiegen er, der böse Feind und Irrlehrer, den guten Geist; solange hat er schon durchdrungen mit seinem schlimmen Hauch des Menschen Stimme und Rede. Ich aber will reden ihm entgegen im Sinne dessen, was das Höchste, das Erste mir sagt, was Ahura Mazdao mir sagt. Und wer nicht hören will meine Worte, wie ich sie sage, wie ich sie meine, der wird Schlimmes erfahren, bevor der Erdenzyklen Ende gekommen ist!»

So spricht Zarathustra. Und wir wollen darin empfinden, daß er der Menschheit etwas sagen konnte, was wirklich gespürt und empfunden werden kann durch alle späteren Kulturepochen. Und wer einen Sinn hat, hinzuhorchen auf das, was in unserer Zeit lebt, wenn auch nur schwach wahrnehmbar, wer mit geistigem Sinne unsere Kultur belauscht, dem wird noch immer der Nachklang dessen wahrnehmbar sein, was vor Jahrtausenden Zarathustra der Menschheit gesagt hat. Und so wird er einer von denjenigen sein, denen gegenüber das, was wir — auch in bezug auf vieles noch, was wir über Hermes, Buddha, Moses und andere große Führer noch hören werden — über die Gaben dieser großen Führer für die Menschheit und ihre Stellung innerhalb der Menschheit sagen können, sich zusammenfassen läßt in die Worte:

Es leuchten gleich Sternen
Am Himmel des ewigen Seins
Die gottgesandten Geister.
Gelingen mög' es allen Menschenseelen,
Im Reich des Erdenseins
Zu schauen ihrer Flammen Licht!


 [Vorige Seite] [Nächste Seite] [Titelseite] [Seitenanfang] [Suche] [Index] [Drucken] [Home]