ERSTER VORTRAG
ANTHROPOSOPHIE UND
NATURWISSENSCHAFT
Berlin, 6. März 1922
Sehr verehrte Anwesende!
Es war der Wunsch des Komitees für diese Hochschulwoche, daß ich an
jedem Tage durch einige Ausführungen einleite, was im Laufe des
Tages wissenschaftlich zur Verhandlung kommen soll. Es ist das ja
wohl so eingerichtet worden aus der Anschauung heraus, daß durch
Anthroposophie die einzelnen Wissenschafts- und Lebenszweige eine
gewisse Befruchtung erfahren sollen; und nur in diesem Sinne, als
einleitende Bemerkungen zu den Verhandlungen des Tages, bitte ich
Sie diese ersten Vorträge aufzufassen.
Was mich immer am meisten
gewundert hat bei der Entgegennahme der anthroposophischen
Forschungsmethode, das ist der Widerstand, der insbesondere von
philosophisch-naturwissenschaftlicher Seite — ich sage nicht: rein
von naturwissenschaftlicher Seite — der Anthroposophie
entgegengebracht wird, und zwar aus dem Grunde, weil man glaubt,
daß Anthroposophie in einer unberechtigten oppositionellen Weise
den Methoden der Naturwissenschaft gegenüberstehe, welche sich in
so fruchtbarer Art im Laufe der letzten Jahrhunderte, insbesondere
des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben. Und mir scheint, daß
unter all den Dingen, die in bezug auf Anthroposophie von unserer
Zeitgenossenschaft am allerschwersten eingesehen werden, das ist,
daß Anthroposophie gerade gegenüber der Naturwissenschaft nichts
anderes will, als die Methoden, die in der Naturwissenschaft sich
so fruchtbar erwiesen haben, in entsprechender Weise
weiterzubilden. Allerdings muß man unter der Idee der Weiterbildung
etwas anderes noch verstehen können, wenn man von dieser Seite her
zum Begreifen des Anthroposophischen kommen will, als das, was man
gewöhnlich heute eine Weiterbildung von theoretischen Anschauungen
nennt.
Eine Weiterbildung der
theoretischen Anschauungen ist heute den meisten Menschen dieses:
daß die besondere Art der Gedankenverknüpfung — insbesondere, wenn
ich mich so ausdrücken darf, das Feld der Gedanken — dieselbe
bleibt, auch wenn man die betreffenden Gedankensysteme auf andere
Gebiete der Welterscheinungen ausdehnt. So zum Beispiel: Man kommt,
wenn man sich naturwissenschaftlich betätigt, gegenüber der
leblosen, der anorganischen Natur in die Notwendigkeit, gewisse
Gedankenverknüpfungen, ein gewisses Feld von Gedanken, das heißt
eine Summe von miteinander verbundenen Gedanken zugrundezulegen, um
gewissermaßen eine Theorie der unorganischen, der leblosen
Naturerscheinungen zu bekommen. Dieses System von Gedanken will man
dann so, wie es ist, weiter ausdehnen, wenn man ein anderes Gebiet
der Welt, also zum Beispiel das Gebiet der organischen
Naturerscheinungen, zu begreifen bestrebt ist. Man will also mit
derjenigen kausalen Orientierung, die sich so fruchtbar erweist im
unorganischen Gebiet, einfach hinübergehen in das Gebiet der
Lebewesen und diese mit denselben Begriffen durchtränken und
erklären, also gewissermaßen begrifflich das Gebiet der Lebewesen
ebenso zu einem Wirkungssystem von unorganischen Kausalitäten
machen, wie man ja genötigt ist, es gegenüber der leblosen, der
unorganischen Natur zu tun. Also was man sich angeeignet hat als
Gedankensystem aus der leblosen Natur, das trägt man einfach
hinüber in die organische Natur. Und das ist das, was man heute
gewöhnlich unter «Erweiterung» von Gedanken und Theorien
versteht.
Damit steht allerdings
dann im vollen Gegensatz, was Anthroposophie unter einer solchen
Erweiterung von Gedanken verstehen muß. Sie muß den Begriff eines
gewissen selbständigen Wachsens, eines Sichmetamorphosierens der
Idee vollziehen, wenn von einem Gebiete der Welterscheinungen zu
einem anderen übergegangen wird, so daß man nicht bloß das, was man
an den leblosen Naturerscheinungen gelernt hat, ich möchte sagen
«logisch übertragen» kann auf die belebten Naturerscheinungen. So
wie vergleichsweise in der Lebewelt die Dinge selber sich sehr
verändern, wenn sie wachsen, wenn sie Metamorphosen durchmachen,
und wie sie dann oftmals in der Gestaltung, die sie angenommen
haben, gar nicht wiederzuerkennen sind, so müssen auch die Gedanken
andere Gestaltungen annehmen, wenn sie in ein anderes Gebiet
kommen. Was aber über alle Gebiete hin dasselbe bleibt und was dann
der ganzen wissenschaftlichen Weltauffassung methodisch einen
monistischen Charakter gibt, das ist die Art und Weise, wie man
sich innerlich stellt zu dem, was man «wissenschaftliche Gewißheit»
nennen kann, was die Grundlage gibt zur wissenschaftlichen
Überzeugung. Wer zu prüfen vermag, warum man nicht mit den
Begriffen, die man in der leblosen Natur schon einmal gewohnt ist
anzuwenden, zu einer Befriedigung des menschlichen
Kausalitätsbedürfnisses kommt — wenn ich mich des Du
Bois-Reymondschen Ausdruckes bedienen darf —, wer das wirklich
innerlich kennenlernt, der kann es dann hinüberführen in die Art
und Weise, wie man durch ganz andere Begriffe, die aber doch nur
Metamorphosen gegenüber den früheren Begriffen sind, überzeugt wird
in der Welt des Lebendigen. Diese Art, wie sich der Mensch da
innerhalb des Wissenschaftsgetriebes stellt, ist durchaus
monistisch durch die ganze wissenschaftliche Weltanschauung
hindurch. Das ist etwas, was gewöhnlich mißverstanden wird und was
dazu führt, daß man der anthroposophisch-wissenschaftlichen
Weltanschauung nicht einen monistischen, sondern einen
dualistischen Charakter beilegen will.
Das zweite, was sehr
häufig zu Mißverständnissen führt, ist der Phänomenalismus, dem
sich Anthroposophie gerade mit Bezug auf Naturwissenschaft hingeben
muß. Wir haben ja gerade in dem für so vieles fruchtbarsten
Zeitalter naturwissenschaftlicher Entwicklung, etwa in der Zeit, in
welcher der bedeutende Naturforscher Virchow seine Rede gehalten
hat über die Ablösung der philosophischen Weltanschauung durch die
naturwissenschaftliche, erfahren, wie alles, was damals mit einer
gewissen historischen Berechtigung an fruchtbaren Begriffen über
das Anorganische gewonnen worden ist, dazu geführt hat, einen
gewissen Rationalismus in der Naturwissenschaft zu begründen. Und
das Zeitalter, das auf der einen Seite streng auf Empirismus
gegenüber der äußeren Tatsachenwelt hinarbeitete, das erging sich
doch in einem sehr weittragenden Rationalismus, wenn es dazu kam,
die empirisch erkundeten Naturtatsachen zu erklären.
Demgegenüber steht nun die
Anthroposophie auf dem Standpunkte, der sich ergibt — wenigstens
für mich sich ergeben hat, wenn ich diese persönliche Bemerkung
machen darf — aus der Goetheschen Naturauffassung heraus.
Anthroposophie steht auf dem Boden einer phänomenologischen
Naturauffassung. In einer gewissen Weise hat diese Phänomenologie
in der neueren Zeit wieder Ernst Mach begründet, und so wie er sie
begründet, scheint sie durchaus wiederum fruchtbare Gesichtspunkte
zu enthalten, wenn man ihre Grenzen einhält. Es handelt sich bei
Goethe einfach um das, was in seinen Worten liegt: Die
Erscheinungswelt selbst ist schon genügend Theorie, man braucht
nicht erst zu künstlichen Theorien fortzuschreiten. Die Bläue des
Himmels ist ein Phänomen, innerhalb dessen man stehenbleiben und
sich nicht herbeilassen soll, nun in rationalistischer Weise durch
bloße Gedanken hinter den Erscheinungen zunächst hypothetische,
angenommene Erklärungsgründe zu suchen. Goethe kam ja auf diesem
Wege zur Statuierung dessen, was er «Urphänomen» nannte. Wenn auch,
wie es ja selbstverständlich ist, im Laufe des für die
Naturwissenschaft so fruchtbaren 19. Jahrhunderts vieles von dem
überholt worden ist, was Goethe in der Naturwissenschaft wollte, so
kann man doch sagen: Das Methodische, die Denkweise selbst, die
Goethe in die Naturwissenschaft hineingetragen hat, ist heute nicht
nur noch nicht überholt, sondern sie scheint mir überhaupt noch
nicht gründlich genug verstanden zu sein.
Ich weiß sehr gut, wie im
19. Jahrhundert manches — man möchte sagen fast alles — von den
Einzelheiten Goethescher Darstellungen über naturwissenschaftliche
Dinge überholt worden ist. Dennoch möchte ich auch heute noch den
Satz aufrecht erhalten, den ich in den 80er Jahren des vorigen
Jahrhunderts in bezug auf die Goethesche Naturanschauung
ausgesprochen habe: daß Goethe der Kopernikus und Kepler ist für
die organische Naturwissenschaft. Ich will diesen Satz aus dem
Grunde auch heute noch aufrecht erhalten, weil ich glaube, daß
folgendes durchaus gerechtfertigt ist.
Wodurch kommen wir denn
schließlich zu einer wirklichen Naturanschauung auf dem Gebiete,
auf dem gerade das 19. Jahrhundert so viel geleistet hat? Ich kann
das, was ich meine, nicht anders begrenzen als durch diese
historische Kategorie. Das, worin das 19. Jahrhundert in der
Naturwissenschaft so viel geleistet hat, führt zuletzt fast überall
zurück auf die Anwendung der mathematischen Methoden; denn auch da,
wo man nicht rein mathematisch vorgeht, sondern nach anderen
Kausalitätsprinzipien denkt, wo man Theorien ausgebildet hat, lag
ja durchaus auch die mathematische Denkweise zugrunde.
Bezeichnend dafür ist etwa
das Folgende: Wir haben gesehen, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts
gewisse Partien der Naturwissenschaft durchaus in einer gewissen
rationalistischen Weise dadurch begründet werden sollten, daß man
Mathematik in sie einführte. Bekannt ist der Kantsche Satz, daß
eigentlich in jeder Wissenschaft nur so viel wirkliche Gewißheit
sei, wie Mathematik in ihr zu finden sei. — Nun kann man
selbstverständlich Mathematik nicht überall hintragen. Die
Kausalitätserklärungen gehen weiter als die Möglichkeit
mathematischer Begriffsbildungen. Aber das, was man so unternommen
hat an Kausalitätserklärungen, das wurde doch weitgehend nach dem
Muster mathematischer Begriffsbildungen unternommen. Und als sich
dann Ernst Mach daranmachte, von seinem mehr phänomenologischen
Standpunkte aus dieses Begriffssystem zu überschauen, mußte er auch
auf den Begriff der Kausalität zurückblicken, wie er sich in der
Naturwissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat,
und er wollte zu einem gewissen Inhalt für diesen
Kausalitätsbegriff kommen. Zuletzt sagte er sich: Wenn ich eine
Wirkung mit einer Ursache zusammendenke, so ist doch eigentlich
nichts anderes darin enthalten als ein mathematischer
Funktionsbegriff; zum Beispiel wenn ich sage: x ist gleich y, wobei
ich unter x die Ursachen zusammenfasse und unter y die Wirkung,
habe ich das Ganze auf diejenigen Begriffe zurückgeführt, die ich
in der Mathematik habe, wenn ich den Funktionsbegriff bilde. Also
man kann auch aus der Geschichte der Wissenschaften sehen, wie man
den Mathematikbegriff in das ganze Gebiet der Naturwissenschaft
hineingetragen hat.
Nun wird Goethe — und zwar
mit einem gewissen Recht — gewöhnlich als ein Nicht-Mathematiker
angesehen; er hat sich ja selbst als einen solchen bezeichnet. Aber
wenn man so einfach Goethe als einen Nicht-Mathematiker hinstellt,
so führt das auch wieder zu Mißverständnissen — in dem Sinne etwa,
daß Goethe nicht viel im einzelnen mathematisch habe leisten
können, daß er nicht besonders geschickt gewesen sei, auch schon zu
seiner Zeit durchaus bestehende mathematische Exempel zu lösen. Das
muß natürlich durchaus zugegeben werden. Ich glaube auch nicht, daß
Goethe bei seinem ganzen Wesen sonderlich viel Geduld gehabt hätte,
sich auf die Lösung einzelner mathematischer Exempel einzulassen,
wenn es mehr ins Algebraische hineingegangen wäre. Das muß schon
zugegeben werden. Aber Goethe war in gewissem Sinne, so paradox es
klingt, mehr ein mathematischer Kopf als mancher Mathematiker; denn
er hatte eine feine Einsicht in die Natur des Mathematisierens, in
die Natur des Bildens von mathematischen Begriffen, und er schätzte
diese Art und Weise zu denken, die ganz in dem inneren Seelenprozeß
auch mit dem Inhalt der Vorstellung bleibt, wenn sie Begriffe
bildet.
Man überschaut im
Mathematischen, wenn man Begriffe bildet, innerlich vollständig
alles. Nehmen Sie als ein einfaches Beispiel in der euklidischen
Geometrie den gewöhnlichen Beweis dafür, daß die drei Winkel eines
Dreiecks zusammen 180 Grad betragen, wo man oben durch die Spitze
des Dreiecks eine Parallele zur Grundlinie zieht, die dort auf
diese Weise entstandenen Winkel betrachtet, die als Wechselwinkel
gleich sind den beiden anderen Winkeln des Dreiecks — der
dazwischen liegende bleibt sich ja gleich —, und wo man dann sehen
kann, wie diese drei Winkel dort an der Spitze zusammen 180 Grad
betragen, also in ihrer Summe den drei Winkeln des Dreiecks gleich
sind. — Wenn man das überschaut, hat man einen mathematischen
Beweis, aber man hat zu gleicher Zeit etwas, wobei man gar nicht
abhängig ist von einer äußeren Anschauung, sondern durchaus die
Dinge in innerlichem Konstruieren überschauen kann. Hat man dann
ein äußeres Dreieck, so findet man, daß durch die äußeren Tatsachen
verifiziert wird, was man vorher innerlich überschaut hat. Das ist
in der ganzen Mathematik so. Es bleibt alles so, daß man nicht an
die Sinnesanschauung heranzugehen braucht, um zu dem zu kommen, was
man «Beweis» nennt, daß aber alles, was man innerlich gefunden hat,
auch äußerlich Stück für Stück verifiziert werden kann.
Diese besondere Art des
Mathematischen ist es ja, welche Goethe gerade als die eminent
wissenschaftliche ansah, und insofern war er wirklich ein guter
mathematischer Kopf. Das liegt zum Beispiel auch der Führung jenes
berühmten Gespräches zugrunde, das Goethe und Schiller einmal in
der Blütezeit ihrer Freundschaft geführt haben über die Methode der
naturwissenschaftlichen Betrachtung. Sie waren beide bei einem
Vortrage, den der Naturforscher Batsch in der Naturforschenden
Gesellschaft in Jena gehalten hatte, und als sie fortgingen, sagte
ja Schiller zu Goethe über das, was sie dort gehört hatten, das sei
eine zerstückelte Art, die Naturerscheinungen zu betrachten, damit
komme man zu nichts Ganzem. — Man kann sich denken, daß Batsch
einfach die einzelnen Naturobjekte nebeneinander hingeordnet und es
unterlassen hatte, wie es ja auch durchaus einem Naturforscher der
damaligen Zeit geziemte, irgendetwas vorzuführen, was zu einer
Gesamtanschauung in der Natur führen konnte. Schiller empfand dies
unbefriedigend und sprach sich darüber bei Goethe aus. Und Goethe
sagte, er verstehe es, eine gewisse Einheit, eine gewisse Ganzheit
in eine solche Naturbetrachtung hineinzubringen. Und er fing an,
mit wenigen Strichen — er erzählt es ja selbst — die «Urpflanze»
aufzuzeichnen, wie sie zu denken ist, wie sie innerlich angeschaut
werden kann, nicht, wie sie in dieser oder jener Pflanze zu Tage
tritt, sondern wie sie innerlich angeschaut werden kann mit Wurzel,
Stengel, Blättern, Blüte, Frucht.
Ich habe in meinen
Einleitungen zu den «Naturwissenschaftlichen Schriften» Goethes in
den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts versucht, das Bild, das
damals Goethe auf das Papier vor Schiller hingeworfen hat,
nachzuzeichnen. — Schiller sah sich das an und sagte dann aus
seiner Denkweise heraus: Das ist keine Erfahrung, das ist eine
Idee. — Schiller hatte eben gemeint: wenn man so etwas aufzeichnet,
so hat man das aus sich heraus gesponnen; das ist als Idee, als
Gedanke ganz gut, hat aber in der Wirklichkeit im Grunde genommen
keine Quelle. Goethe verstand diese Denkweise eigentlich gar nicht,
und zuletzt endete das Gespräch damit, daß Goethe erwiderte,
gewissermaßen das Gespräch zusammenfassend: Wenn das so ist, dann
sehe ich meine Ideen mit Augen.
Was meinte denn Goethe
damit? Er meinte — er hat es nicht so ausgesprochen, aber er meinte
es: Wenn ich ein Dreieck hinzeichne, so hat es von selbst eine
Winkelsumme von 180 Grad; und wenn ich noch so viele Dreiecke
anschaue, das, was ich an diesem einen Dreieck innerlich
konstruiert habe, das paßt auf alle Dreiecke; ich habe also
etwas aus dem Innern heraus gewonnen, das nun in vollem Umfang auf
das Erfahrene paßt. So wollte Goethe auch eine «Urpflanze» —
gewissermaßen gemäß dem «Urdreieck» — zeichnen, und einen solchen
Charakter sollte diese Urpflanze haben, daß man diesen bei jeder
einzelnen Pflanze finden könne. Und so, wie die Winkelsumme jedes
Dreiecks, wenn man das Urdreieck hat, 180 Grad beträgt, so sollte
auch dieses ideelle Gebilde, die Urpflanze, in jeder einzelnen
Pflanze wiedergefunden werden, wenn man die ganze Pflanzenreihe
durchgeht.
In diesem Sinne wollte
Goethe die ganze Wissenschaft gestalten. Im wesentlichen wollte er
— er kam ja damit nicht weiter — die Wissenschaft des Organischen
so gestalten und eine solche Denkweise einführen, wie sie sich für
die Wissenschaft des Unorganischen als fruchtbar erwiesen hat. Man
sieht das ganz besonders klar, wenn Goethe von Italien aus
schreibt, wie er die Idee der Urpflanze immer weiter ausgebildet
hat. Da sagt er ungefähr: Da, unter den Pflanzen in Süditalien und
Sizilien in der Mannigfaltigkeit der Pflanzenwelt ist mir die
Urpflanze ganz besonders aufgegangen, und es muß sich doch ein
Gebilde finden lassen, das die Möglichkeit aller wirklichen
Pflanzen in sich hat, ein Gebilde, das sich nach verschiedenen
Seiten hin variieren kann; es nimmt dann diese oder jene,
langgestreckte oder andere Blattform an, bildet bald die Blüte,
bald die Frucht mehr aus und so weiter — so wie ein Dreieck
stumpfwinklig oder spitzwinklig sein kann. Ein Gebilde wollte
Goethe finden, nach dessen Muster alle Pflanzen gebildet sind. Es
ist ganz falsch, wenn dann später Schieiden meinte, Goethe habe mit
der Urpflanze eine tatsächliche Pflanze gemeint. Das ist nicht so —
so wie auch der Mathematiker, der vom Dreieck spricht, nicht
irgendein bestimmtes Dreieck im Auge hat —, sondern Goethe meinte
ein Gebilde, das innerlich erzeugt wird, das sich aber in der
Außenwelt überall verifiziert findet.
So war Goethe im Grunde
genommen ein durchaus mathematischer Kopf, viel mathematischer als
etwa die, die die Astronomie ausbilden. Und das ist das
Wesentliche. Das veranlaßte Goethe auch, in diesem Gespräch mit
Schiller zu sagen: Dann sehe ich meine Ideen mit Augen. — Er sah
sie mit Augen, weil er sie überall in den Phänomenen verfolgen
konnte. Er begriff gar nicht, daß etwas nur eine «Idee» sein
sollte, weil er sich im vollen Einklang fand mit der Erfahrung,
wenn er Ideen bildete; geradeso, wie der Mathematiker sich im
Einklang fühlt mit der Erfahrung, wenn er mathematische Ideen
bildet. Das aber führte Goethe, ich möchte sagen, durch eine innere
Konsequenz dazu, zur bloßen Phänomenologie zu kommen, das heißt,
nichts hinter den Erscheinungen als solchen zu suchen, vor allen
Dingen nicht eine rationalistische Atomwelt zu
konstruieren.
Nun, damit betritt man ein
Gebiet, auf dem sich viele — ich kann aber doch nur sagen — auf
Mißverständnissen beruhende Kämpfe gegenüber mancher
naturwissenschaftlich-philosophischen Anschauung entwickelten. Es
handelt sich zunächst einfach darum, das, was sich den Sinnen in
der äußeren Welt darbietet, was also in der Beobachtung und im
Experiment gegeben ist, rein als Phänomen zu betrachten. Goethe und
mit ihm die ganze naturwissenschaftliche Phänomenologie beschränkt
sich darauf, nicht gleich von irgendeinem sinnlichen Phänomen zu
einem dahinterstehenden Atomgeschehen zu gehen, sondern zunächst
das sinnliche Phänomen und das einzelne Element der sinnlichen
Tatsachen rein ins Auge zu fassen, sie also nicht auf ein
Dahinterliegendes zu beziehen, sondern auf andere Elemente in der
sinnlichen Erscheinungswelt, und den Zusammenhang in der sinnlichen
Erscheinungswelt aufzusuchen.
Man kann sehr leicht — ich
verstehe vollständig, woher die entsprechenden Mißverständnisse
kommen — eine solche Phänomenologie sogar trostlos finden. Man
könnte zum Beispiel sagen: Wenn man sich nun bloß beschränken will
auf das Beschreiben der gegenseitigen Beziehungen der sinnlichen
Phänomene und dann diejenigen Phänomene aufsucht, die am
einfachsten sind, in denen sich möglichst überschaubares Geschehen
abspielt — und die Goethe «Urphänomene» nennt —, so kommt man bei
einem solchen Vorgehen nicht zu einer Anschauung über jene
unendlich fruchtbaren Dinge, die zum Beispiel die moderne Chemie
geliefert hat. Wie, so könnte man fragen, kann man denn eigentlich
gegenüber den Atomgewichtsverhältnissen auskommen, ohne eine
Anschauung über eine atomistische Welt? Nun, in einem solchen Falle
möchte man aber doch die Gegenfrage stellen: Wenn man sich nun
wirklich besinnt auf das, was da vorliegt, hat man es denn da zu
tun mit einer Notwendigkeit, vom Phänomen abzugehen? Man hat es gar
nicht damit zu tun. Man hat es auch bei den
Atomgewichtsverhältnissen mit Phänomenen zu tun, nämlich mit
Gewichtsverhältnissen. Aber man könnte auch fragen: Führt es denn
weiter, wenn man nun diese durch Zahlen ausdrückbaren
Atomgewichtsverhältnisse dadurch zu erklären versucht, daß man
gewisse Molekularstrukturen aus den Atomgewichten auf rein
denkerische, rationalistische Weise bildet? Man kann eben auch
diese Frage aufwerfen. Kurz, worum es sich handelt, wenn die
Goethesche Denkweise ausgebildet wird, das ist: stehenzubleiben
innerhalb der Phänomene selbst. Ich möchte dafür einen trivialen
Vergleich gebrauchen.
Nehmen wir an, jemand
bekommt ein aufgeschriebenes Wort vor sein Auge. Was wird er tun?
Nun, wenn er nie lesen gelernt hat, wird er davor stehen wie vor
etwas Unerklärbarem. Hat er aber lesen gelernt, so wird er unbewußt
die einzelnen Formen zusammenfügen; er wird den Wortsinn in der
Seele erleben. Aber er wird ganz gewiß nicht von den Formen aus,
zum Beispiel beim W, etwas zu erklären versuchen, indem er den
Ausgang nähme von dem nach aufwärts gehenden Strich, dann überginge
zu dem nach abwärts gehenden, um dadurch auf etwas diesem
Buchstaben Zugrundeliegendes zu kommen. Nein, er wird lesen
— und nicht durch Unterlegungen erklären wollen. So möchte auch
die Phänomenologie «lesen». Sie möchte innerhalb des Zusammenhanges
der Phänomene stehenbleiben und lesen lernen, und nicht, wenn ich
einen Komplex von Phänomenen habe, von ihm aus zurückgehen auf
Atomstrukturen.
Es handelt sich also
darum, das Feld des Phänomenalen hinzunehmen und in seiner eigenen
inneren Bedeutung lesen zu lernen. Dadurch wird man dann zu einer
Naturwissenschaft kommen, welche in ihren Inhalten nichts
Rationalistisches, hinter den Phänomenen Konstruiertes hat, sondern
welche einfach in der Art und Weise, wie sie die Phänomene
überschaut, gewisse gesetzmäßige Strukturen findet. Überall wird
dieser Naturwissenschaft eingegliedert sein die Summe der Phänomene
selbst. Man wird auf eine bestimmte Art über die Natur
reden. In dieser Art zu reden werden die Naturgesetze enthalten
sein, aber überall werden m den Ausdrucksformen schon die Phänomene
selber liegen. Man wird also das bekommen, was ich nennen möchte:
eine den Erscheinungen immanente Naturwissenschaft. Nach einer
solchen strebte Goethe. Die Art und Weise, wie er das betrieb, muß
unter den Fortschritten der neueren Zeit verändert werden, aber es
ist doch so, daß das Grundprinzip festgehalten werden kann. Und
wenn dieses Grundprinzip festgehalten wird, stellt sich für die
menschliche Auffassungsweise der Natur ganz von selbst etwas
heraus, das ich in der folgenden Weise charakterisieren
möchte.
Es ist ja ganz
selbstverständlich, daß wir als gegenwärtige Menschheit unsere
naturwissenschaftlichen Begriffe zunächst an der unorganischen
Natur gebildet haben. Das ist dadurch veranlaßt gewesen, daß die
unorganischen Naturerscheinungen verhältnismäßig einfach sind; das
war aber auch veranlaßt dadurch, daß ja, wenn man ins organische
Reich hinaufsteigt, durchaus auch die im Leblosen wirkenden
Agenzien fortdauern. Wenn man vom Mineralreich zum Pflanzenreich
heraufsteigt, dann ist es ja nicht so, daß etwa die leblose
Wirkungsweise bei der Pflanze aufhörte; sie wird nur eingefaßt in
ein höheres Prinzip, aber sie dauert in der Pflanze fort. Wir tun
recht, wenn wir die physischen und chemischen Prozesse in den
Pflanzenorganismus hinein weiterverfolgen, und zwar nach denselben
Gesichtspunkten, nach denen wir gewohnt sind, sie in der
unorganischen Natur zu verfolgen. Wir müssen dann nur auch die
Fähigkeit haben, in unseren Begriffssystemen überzugehen zu
veränderten, zu metamorphosierten Begriffen. Wir müssen schon
verfolgen, wie das Unorganische auch verwendet wird in der Pflanze
und wie dieselben Prozesse, die sich in der leblosen Natur finden,
auch in die Pflanze hineingehen. Aber dadurch wird die Versuchung
hervorgerufen, daß man wissenschaftlich nur das verfolgt, was sich
aus der mineralischen Welt hereinerstreckt in Pflanze und Tier und
dabei einfach unberücksichtigt läßt, was dann in den höheren
Reichen dazu auftritt. Diese Versuchung wurde durch einen
besonderen Umstand gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts noch
außerordentlich größer. Das ist in folgender Weise
geschehen.
Wenn man die leblose Natur
betrachtet, fühlt man sich gewissermaßen innerlich tief befriedigt,
weil man die Erscheinungen mit mathematischen Gedanken verfolgen
kann. Und es ist sehr begreiflich, daß Du Bois-Reymond in einer so
wortreichen und glänzenden Weise m seiner Rede «Über die Grenzen
des Naturerkennens» die Laplacesche Weltanschauung, die er die
«astronomische Auffassung» des ganzen natürlichen Weltendaseins
nennt, gefeiert hat, möchte ich sagen. Nach dieser astronomischen
Auffassung wird ja nicht nur der Sternenhimmel so angesehen, daß
man seine einzelnen Phänomene mit mathematischen Gedanken
zusammenfaßt und sie dann als ein Ganzes, soweit es geht,
konstruiert, sondern man versucht, auch damit unterzutauchen in die
Konstitution der Materie. Man versucht im Molekül ein kleines
Weltsystem zu konstruieren, wo sich die Atome so bewegen und
zueinanderstehen wie die Sterne im Weltgebäude. Man konstruiert
sich so im Kleinen kleinste Weltsysteme und hat die Befriedigung,
daß man so im Kleinen dieselben Gesetzmäßigkeiten findet wie im
Großen. So hat man in den einzelnen Atomen und Molekülen ein System
sich bewegender Körper, wie man draußen im Weltgebäude das System
der Fixsterne und Planeten hat. Das ist charakteristisch für die
Art, wie man vor allem im 19. Jahrhundert gestrebt hat und wodurch,
wie Du Bois-Reymond sagte, das Kausalitätsbedürfnis des Menschen
sich befriedigt fühlt. Es ist das einfach entstanden aus dem Drang
heraus, das mathematisch Fruchtbare in alle Naturerscheinungen
hineinzutragen. Daraus entstand nun eben die Versuchung, bei diesem
Mathematischen in der Betrachtung der Naturerscheinungen
stehenzubleiben.
Es wird keinem einfallen,
auch einem Anthroposophen nicht, wenn er nicht laienhaft über diese
Dinge spricht, bestreiten zu wollen, daß dies alles seine
Berechtigung hat, namentlich dann, wenn man innerhalb der Phänomene
stehen bleibt und sich bemüht, die Einzelheiten, zum Beispiel der
Astronomie, in diesem Sinne aufzufassen. Keinem wird es einfallen,
dagegen einen Kampf zu führen. Aber im Laufe des 19. Jahrhunderts
trat das ein, daß man bei dem, was die Welt darbietet, alles das
übersah, was qualitativ ist, und nur das sah, was ja da ist
und in allem Qualitativen drinnen ist: das, was durch die
Mathematik zu erfassen ist. Da muß man unterscheiden: Man kann
durchaus zugeben, daß diese mechanistische Welterklärung voll
berechtigt ist; es ist gar nichts dagegen einzuwenden. Aber etwas
anderes ist es, ob man sie auf bestimmten Gebieten als
vollberechtigt erklärt oder ob man sie nun als das einzige mögliche
Begriffssystem hingestellt will und mit diesem Begriffssystem schon
alles in der Welt für erklärt halten will.
Hier liegt der
Differenzpunkt. Es wird durch den Anthroposophen nicht im
geringsten das bestritten, was seine Berechtigung hat. Die
Anthroposophie kämpft nämlich gar nicht gegen die anderen, und es
ist interessant, bei Diskussionen zu verfolgen, wie Anthroposophie
eigentlich alles innerhalb der berechtigten Grenzen zugibt. Es
fällt den Anthroposophen gar nicht ein, das, was durch die
Naturwissenschaft geltend gemacht wird, irgendwie zu bestreiten.
Sondern es handelt sich darum, ob es berechtigt ist, das ganze
Gebiet der Phänomene mit der mathematisch-kausalen Denkweise zu
umfassen, oder ob es berechtigt ist, aus der Summe der
Erscheinungen dasjenige herauszunehmen, was mathematisch-kausal
eine reine Abstraktion ist, und es hinzustellen als einen
«erdachten» Welteninhalt, wie es zum Beispiel der frühere Atomismus
getan hat. Heute ist der Atomismus bis zu einem gewissen Grade
schon phänomenologisch geworden, und bis zu diesem Grade geht
Anthroposophie ganz gewiß mit. Aber es handelt sich darum, daß
heute eben noch etwas hereinspukt von dem im 19. Jahrhundert so
ungoetheschen Atomismus, der sich nicht beschränkte auf die
Phänomene, sondern der ein reines Begriffssystem hinter den
Phänomenen konstruierte. Und wenn man sich nicht klar darüber ist,
daß man es doch nur mit einem Begriffssystem zu tun hat, das die
Welt hinter den Erscheinungen sucht, sondern sich der Anschauung
hingibt, man habe mit diesem Begriffssystem ein Reales ergriffen,
so wird man durch dieses Begriffssystem gewissermaßen festgenagelt.
Denn es ist die Eigentümlichkeit solcher Begriffssysteme, daß sie
den Menschen festnageln. Er wird durch sie zum Dogmatiker, und dann
sagt er: Da gibt es Leute, die wollen das Organische mit ganz
anderen Begriffen erklären, die sie von ganz woanders herhaben,
aber das gibt es nicht; wir haben solche Begriffssysteme
ausgebildet, die die Welt hinter den Erscheinungen umfassen, und
die ist die einzige Welt und die muß auch das einzig Wirksame in
bezug auf das Organische sein. — Aber auf diese Weise wird in die
Betrachtung des Organischen das hineingetragen, was man für die
Erscheinungen der unorganischen Natur ausgebildet hat; man sieht
das Organische als auf dieselbe Art gebildet an wie die
unorganische Natur.
Hier muß Klarheit
geschaffen werden. Ohne diese Klarheit kann man niemals eine
wirkliche Diskussionsgrundlage schaffen. Anthroposophie will
durchaus nicht in dilettantischer Weise gegen berechtigte Methoden
sündigen; sie will nicht sündigen gegen das Berechtigte des
Atomismus, sondern sie will die Bahn frei haben für das Bilden von
Gedankensystemen, wie sie früher für das Anorganische gebildet
wurden und jetzt für andere Gebiete der Natur gebildet werden
müssen. Das wird geschehen, wenn man sich sagt: In den Phänomenen
will ich nur «lesen»; das heißt, das, was ich zuletzt über den
Inhalt der Naturgesetze bekomme, liegt innerhalb der Phänomene
selber — geradeso wie beim Lesen eines Wortes der Sinn in den
Buchstaben selber hegt. Wenn ich recht liebevoll innerhalb der
Phänomene stehenbleibe und nicht darauf aus bin, die Wirklichkeit
irgendwie mit einem hypothetischen Gedankensystem zu durchsetzen,
dann werde ich in meinem wissenschaftlichen Sinne frei bleiben für
eine Weiterentwicklung der Begriffe. Und dieses Freibleiben ist
das, was wir ausbilden müssen.
Wir dürfen uns nicht durch
ein Begriffssystem, das wir für ein bestimmtes Naturgebiet
vollberechtigt ausgebildet haben, festnageln lassen, es auf andere
Gebiete anzuwenden. Bilden wir eine bloße Phänomenologie aus, was
selbstverständlich nur dadurch geschehen kann, daß man die
geschauten oder durch das Experiment dargestellten Phänomene mit
Gedanken durchsetzt und verbindet und so zu Naturgesetzen kommt,
bleibt man also innerhalb der Phänomene stehen, so bekommt man ein
ganz anderes Verhältnis zum Gedanken selbst; dann bekommt man ein
Erlebnis davon, wie in den Phänomenen selbst schon die Naturgesetze
vorhanden sind, die dann in unseren Gedanken auftreten. Geben wir
uns so diesen Gedanken hm, dann haben wir gar keine Berechtigung
mehr, sofern wir innerhalb der Naturerscheinungen stehenbleiben,
von einem Gegensatz zwischen dem subjektiven Gedanken und dem
objektiven Naturgesetz zu sprechen. Wir tauchen einfach in die
Phänomene unter und haben dann in den Inhalten der Naturgesetze
einen Gedankeninhalt gegeben, den uns die Dinge selber geben.
Deshalb sagte Goethe ganz naiv: Dann sehe ich meine Ideen — die
eigentlich Naturgesetze waren — in der Natur mit Augen.
Wenn man sich in
dieser Weise zu den Phänomenen der unorganischen Natur
stellt, dann ist es möglich, dies in die Organik hinüberzutragen,
auch im wissenschaftlichen Sinne. Wenn man dann sieht, daß ein
Pferd braun oder ein Schimmel weiß ist, wird man das nicht auf
unorganische Farben zurückführen, sondern es nur auf etwas
beziehen, was als ein geistig-seelisch Lebendiges in einem
Organismus selber lebt. Man wird verstehen lernen aus der
erkrafteten inneren Organisation heraus, daß sich das Tier wie auch
die Pflanze selbst die Farbe gibt. Selbstverständlich muß man dabei
alle Einzelheiten, zum Beispiel das Funktionieren des
Stoffwechsels, innerlich durchschauen. Aber man trägt dann nicht in
die Organik das herauf, was man in der Unorganik gefunden hat. Man
nagelt sich nicht fest auf ein bestimmtes Gedankensystem, und man
wird nicht dieselbe Gesinnung, die man auf einem Gebiete gehabt
hat, in die anderen Gebiete herauftragen. Man bleibt ein
«mathematischer Kopf», mehr als die, welche die Begriffe nicht
metamorphosieren wollen ins Qualitative hinein. So kommt man dazu,
für die höheren Gebiete des Naturdaseins das innere Anschauen
ebenso gelten zu lassen, wie man das innere Anschauen gelten läßt
für leblose mathematische Gebilde. Das ist das, was ich hier nur
kurz skizzieren kann, was aber, wenn es weiter ausgebildet wird,
zeigt, daß die wissenschaftliche Seite der Anthroposophie durchaus
das kann, was Goethe nannte: Rechenschaft ablegen vor jedem, auch
vor dem strengsten Mathematiker. Denn das wollte Goethe mit der
Ausbildung seiner Idee von der Urpflanze, zu der er gekommen ist,
und mit der Idee des Urtieres, wozu er nicht gekommen ist. Und das
will Anthroposophie: Hervorgehen lassen aus der Goetheschen
Weltanschauung das, was diese in bezug auf die Erscheinungen der
Natur konnte und vom Erfassen des Lebendigen in der Imagination
aufsteigen zu dem Typus der Pflanze und zu dem Typus des Tieres.
Ich habe schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gezeigt,
daß wir für die organische Natur die aus dem Unorganischen
genommenen Begriffe metamorphosieren müssen. Davon werde ich in den
nächsten Tagen noch weiter zu sprechen haben. Dadurch kommt man
aber dazu, in der Organik dasjenige zu sehen, was das eigentliche
Wirkungsprinzip, Gestaltungsprinzip ist. Und da möchte ich an den
Schluß dieser Betrachtungen etwas hinstellen, was in den nächsten
Tagen noch weitere Betrachtung erfahren wird, und was zeigen soll,
wie diese materialistische Phase naturwissenschaftlicher
Entwicklung von der Anthroposophie nicht unterschätzt
wird.
Die Anthroposophie muß in
dieser materialistischen Phase der Naturwissenschaft ein wichtiges
Übergangsprinzip sehen, eine Erziehungsmethode, damit man einmal
gelernt hat, sich rein der äußeren Sinnes-Empirie hinzugeben. Das
war außerordentlich erzieherisch für die Entwicklung der
Menschheit, und nur wenn man diese Erziehung genossen hat, kann man
auch dazu kommen, gewisse Dinge mit voller Klarheit zu übersehen.
Denn wer nun, ausgerüstet mit solchem Wissenschaftssinn die äußere
materielle Welt betrachtet, der schaut, wie sich diese materielle
Welt innerlich im Menschen «spiegelt», wenn ich mich dieses
Ausdrucks bedienen darf.
Die Welt, wie wir sie im
Innern erleben, ist mehr oder weniger eine Abstraktion, ein von
Empfindungen und Willensimpulsen durchzogenes inneres Bild dessen,
was die äußere materielle Welt ist; so daß wir, wenn wir vom
Verfolgen der materiellen Außenwelt zum Geistig-Seelischen
übergehen, zu einem bloß Bildhaften kommen. Halten wir das ganz
streng fest: außen die Summe der materiellen Erscheinungen, die wir
im phänomenologischen Sinne anschauen — im Innern das
Seelisch-Geistige, mit einem gewissen abstrakten Charakter, mit
einem Bildcharakter. Tritt man aber mit anthroposophischer
Anschauung in die Betrachtung dessen ein, was der äußeren
materiellen Welt geistig zugrunde liegt, in den Geist, der da wirkt
in den Bewegungen der Sterne, in dem Werden der Mineralien, der
Pflanzen und der Tiere, tritt man ein in das Geistige des Werdens
der Außenwelt, lernt man diese durch Imagination, Inspiration und
Intuition kennen, dann gibt uns auch das ein inneres Spiegelbild
des Menschen. Aber was ist dieses innere Spiegelbild des Menschen?
Das sind unsere materiellen Organe. Sie antworten mir jetzt auf
das, was ich vorher kennengelernt habe als die Natur der Sonne, als
die Natur des Mondes, der Mineralien, der Pflanzen, der Tiere und
so weiter; darauf antworten mir die inneren Organe. Ich lerne das
Eigene des menschlichen Organismus nur kennen, wenn ich das Äußere
der Welt kennenlerne. Die materielle Welt außen spiegelt sich innen
geistig-seelisch; die geistig-seelische Welt außen spiegelt sich
innen in den Formen von Lunge, Leber, Herz und so weiter. Die
inneren Organe sind, wenn man sie anschaut, so in einem Verhältnis
zur geistigen Außenwelt, wie unsere Gedanken und Empfindungen zur
materiellen Außenwelt in einem Verhältnis sind.
Das zeigt uns, wie die
Anthroposophie durchaus nicht in einem schwärmerischen Sinne den
Materialismus ablehnen will. Sehen Sie sich den ganzen Umfang der
Naturwissenschaft an: Tausende werden unbefriedigt sein über das,
was da aus der Naturwissenschaft mit den gewöhnlichen Methoden
gewonnen wird. Die Anthroposophie wird durch ihre Methoden gerade
über das Materielle der Welt eine Anschauung gewinnen, die nicht
unbefriedigt lassen wird. Sie anerkennt das Materielle in der
eigenen inneren Organisation und in dem Phänomenologischen der
Umwelt; aber sie muß zu gleicher Zeit erkennen, daß diese innere
Organisation ein Ergebnis, eine Konsequenz von kosmischem
Geistig-Seelischen ist. Sie will daher auch das ergänzen, was in
der Astronomie, in der Astrophysik, Physik oder Chemie nur
mathematisch geleistet wird. Das wird sie in einer organischen
Kosmologie und so weiter erkunden und dadurch auch zu einem
Verständnis des materiellen Menschen vordringen. Darin liegen dann
die Grundlagen für dasjenige, was Anthroposophie für die Medizin,
die Biologie und so weiter geben will.
So glaube ich durch diese
Andeutungen, die ich jetzt nur ganz skizzenhaft geben konnte,
darauf hingedeutet zu haben, wie Anthroposophie, wenn man sie
richtig erfaßt, nicht so angesehen werden kann, als ob sie von sich
aus sich in einen Kampf stellen wolle gegen die gegenwärtige
Wissenschaft; sondern die Dinge liegen so, daß die gegenwärtigen
Vertreter der Wissenschaft noch nicht die Brücke zur Anthroposophie
geschlagen haben, um zu sehen, wie die Anthroposophie streng
wissenschaftlich auch gegenüber den Naturerscheinungen sein
will.