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ZWEITER VORTRAG
DIE MENSCHLICHE UND
DIE TIERISCHE ORGANISATION
Berlin, 6. März 1922
Sehr verehrte Anwesende!
Bei diesem Vortrage bitte ich Sie zu berücksichtigen, daß ich bis
gestern Abend annehmen mußte, daß ich diesen Vortrag heute von Dr.
Kolisko hören würde, und ihn nicht selber halten würde. Es war
daher in dieser kurzen Zeit nicht möglich, das, was ich zu sagen
haben werde, irgendwie zurechtzulegen, und ich kann auch nur
hoffen, im großen und ganzen ungefähr dasjenige in den Einzelheiten
zu treffen, was Dr. Kolisko heute zu Ihnen hat sagen
wollen.
Wenn von
anthroposophischen Gesichtspunkten aus über das Verhältnis der
tierischen Welt zur menschlichen Welt gesprochen wird, so darf
besonders darauf aufmerksam gemacht werden, wie die gegenwärtigen
anthroposophischen Ideen geschichtlich doch zusammenhängen mit
demjenigen, was sich aus der Goetheschen Weltanschauung — ich habe
das jetzt hier schon zweimal gesagt — ergibt. Und für das Thema,
das jetzt in Frage steht, kommt insbesondere eine der allerersten
Leistungen Goethes auf naturwissenschaftlichem Gebiete in Betracht,
nämlich seine Abhandlung, die den Titel trägt: «Dem Menschen wie
den Tieren ist ein Zwischenkieferknochen in der obern Kinnlade
zuzuschreiben». Man muß nun alle die Verhältnisse sich vor Augen
führen, aus denen heraus Goethe dazu gekommen ist, diese Abhandlung
aufgrund eingehender anatomischer und physiologischer Studien, auch
aufgrund von Ansätzen zu embryologischen Studien, die er gemacht
hat, zu schreiben.
In der Zeit, als Goethe
sich, schon als junger Student und später als der Freund der ja in
einer gewissen Weise von ihm abhängigen Jenaischen
Universitätsinstitute, in diejenigen Probleme hineinlebte, in die
er durch alles das hineingestellt war, und namentlich in das
Problem, welches der eigentliche Unterschied des Menschen gegenüber
dem Tiere sei, da sah er überall um sich herum, wie man bemüht war,
irgendetwas in der Gestaltung, in der Morphologie des Menschen und
der Tiere zu finden, das auf einen strengen Unterschied hinwies
zwischen dem Menschen, der gewissermaßen die Krone der Schöpfung
sein soll, und der Tierwelt. Und an dem Umstände, daß sich der
sogenannte Zwischenkieferknochen, der sonst bei den Tieren überall
von den anderen Kieferknochen deutlich abgetrennt ist, sich ja beim
Menschen nicht als abgesonderter Knochen findet, an diesem Umstände
glaubte man, gerade in einem Teil der Kopfes Bildung einen solchen
durchgreifenden Unterschied zwischen Mensch und Tier zu finden.
Goethe ging das nicht ein. Er war der Ansicht, da Mensch und Tier m
bezug auf ihre ganze Organisation analog gebildet sind, so dürfe in
einer solchen Einzelheit sich nicht eine Differenzierung zeigen.
Und da allerdings der Zwischenkieferknochen beim erwachsenen
Menschen mit den anderen Kieferknochen verwachsen ist, so suchte
Goethe zu zeigen, wie das eben nur auf einer späteren Verwachsung
beruht, und daß der Mensch in seinen embryonalen Verhältnissen den
oberen Zwischenkieferknochen auch hat, wie die Tiere.
Man muß nur einmal
verfolgen, mit welchem Enthusiasmus Goethe darauf hinweist, daß es
ihm gelungen ist zu zeigen, wie der Mensch tatsächlich den
Zwischenkieferknochen mit den Tieren gemeinsam hat, um eben aus dem
großen und ganzen heraus zu zeigen, daß aus dem Bau, aus der
Morphologie des Menschen und der Tiere ein so durchgreifender
Unterschied zwischen beiden im einzelnen nicht zu finden sei. Also
von einer solchen Abgrenzung des Menschen von den Tieren in der
Weise, wie es im 18. Jahrhundert überall sich fand, kann für Goethe
nicht die Rede sein — kann auch für die Anthroposophie nicht die
Rede sein. Was schon Goethe annahm, ist dies: Indem die tierische
Organisation zur menschlichen heraufsteigt, werden die einzelnen,
schon im Tiere liegenden Organformen umgebildet und dann
gewissermaßen durch ihre Umbildung in die Möglichkeit versetzt, nun
Platz zu haben für das, was sich vom Innern des Menschen her, aus
dem ganzen Menschen heraus in der also umgebildeten tierischen
Organisation offenbaren kann. Nur an eine Metamorphose der
tierischen Organisation ins Menschliche herauf dachte Goethe, nicht
an eine selbständig abgegliederte menschliche
Morphologie.
Dies, möchte ich sagen,
muß man als Grundlage voraussetzen, wenn nun auch im
anthroposophischen Sinne aufgesucht wird die Differenzierung
zwischen dem tierischen und dem menschlichen Organismus. Wenn die
Organisation selbst, in ihren Formen, nur auf einer Metamorphose
des Tierischen und des Menschlichen beruht, dann muß man, wenn man
die Differenzierung aufsuchen will, vor allem darauf sehen, wie das
Leben beim Menschen und wie es beim Tiere verläuft, man muß
gewissermaßen darauf sehen, wie aus dem Menschlichen heraus das
Funktionieren mit den Organen sich gestaltet, und wie aus dem
Tierischen heraus das Funktionieren mit den Organen sich gestaltet.
Kurz, man muß den Unterschied mehr auf einem biologischen, als auf
einem morphologischen Gebiete suchen.
Nun kann man von einer
gewissen Seite her der Auffassung von einem biologischen
Unterschied ganz besonders die Wege bereiten, indem man von
demjenigen ausgeht, was einem als die Grundlage des tierischen
Funktionierens erscheinen muß, und das ist sowohl bei den Menschen
wie bei den Tieren das, was mit den Sinnesorganen zusammenhängt.
Die Sinnesorgane oder besser gesagt, die Funktionen der
Sinnesorgane, leben ja mehr oder weniger in allem, was sich im
tierischen und menschlichen Organismus abspielt. Wir müssen schon
bei den niederen Tieren annehmen, daß sich bei den einfachen
Ernährungsprozessen, in den reinen Stoffwechselvorgängen, ein
gewisses Funktionieren primitiver Sinne abspielt, daß also, sagen
wir, Geschmackserlebnisse zum Beispiel parallel gehen dem, was mehr
oder weniger rein chemisch der Stoffwechsel ist. Diese Dinge
differenzieren sich immer mehr und mehr, je weiter man in der
Tierreihe heraufkommt, bis zum Menschen hin. Aber wir werden
durchaus nirgends, wenn wir unbefangen auf die tierische
Organisation eingehen, etwas finden, worinnen nicht ein Sinnesleben
vorhanden ist. Gewiß, man kann sagen: Was hat schließlich dieses
Sinnesleben zum Beispiel mit der Lymphe Bildung oder mit der
Blutbildung und so weiter zu tun?
Nun ist man heute auch
schon in der nicht von Anthroposophie beeinflußten Wissenschaft
dazu gekommen, von unterbewußten Vorgängen der menschlichen Psyche
zu sprechen, und es wird deshalb, auch wenn es der Kürze der Zeit
halber nur angedeutet werden kann, nicht als etwas ganz
Unberechtigtes erscheinen, wenn ich sage: Was sich in Mund und
Gaumen als das Geschmackserlebnis abspielt, was als das
Geschmackserlebnis auftritt unter dem Wirken und der Funktion zum
Beispiel des Ptyalins, des Pepsins und so weiter, wie sollte das
nicht auch ins Unbewußte hineinspielen? Warum sollte — ich sage es
als eine Art von Postulat — das Geschmackserlebnis sich nicht
fortsetzen durch den ganzen Organismus, und warum sollten nicht
unbewußt Geschmackserlebnisse parallel gehen der Lymphe- und
Blutbildung und allen Organprozessen? Wir werden daher die
menschliche und die tierische Organisation von ihrer biologischen
Seite her sehr wohl verfolgen können, wenn wir einmal das
Sinnesleben betrachten.
Dieses Sinnesleben
verläuft nun — wie ich für einige von Ihnen seit Jahren angedeutet
habe, wie es zum Teil durchaus schon eine Sache der äußeren
Wissenschaft ist — nicht nur in den gewöhnlich angeführten fünf
Sinnen, sondern in einer deutlich unterscheidbaren Anzahl von zwölf
menschlichen Sinnen. Dabei muß man aber bloß vom Menschen sprechen.
Für den, der einsehen will, daß es ebenso berechtigt ist, von zwölf
Sinnen zu sprechen, wie von fünf oder sechs — vom Sehen, Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen oder Tasten —, für den ist es
berechtigt, davon zu sprechen, daß wir zum Beispiel einen
Gleichgewichtssinn haben, der uns innerlich erkennen läßt, ob wir
auf beiden Füßen stehen oder nur auf einem, ob wir mit unsern Armen
die eine oder die andere Bewegung ausführen und so weiter. Indem
wir uns als Mensch in die Welt hineinstellen, sind wir in einer
Gleichgewichtslage. Diese Gleichgewichtslage nehmen wir also, wenn
auch viel dumpfer, sinnlich wahr, wie wir dasjenige sinnlich
wahrnehmen, was im Sehvorgang sich abspielt; so daß wir von einem
Gleichgewichtssinn sprechen können, wie wir von einem Sehsinn
sprechen können. Wir müssen uns nur darüber klar sein: Wenn wir von
diesem Gleichgewichtssinn sprechen, so wenden wir uns mehr der
eigenen Organisation zu; wir schauen gewissermaßen nach innen,
während wir mit den Augen nach außen schauen. Aber es hegt diesem
Erleben im Gleichgewichtssinn durchaus eine sinnliche Funktion
zugrunde. Ebenso können wir nach einer anderen Seite hin die Anzahl
der Sinne ergänzen. Wenn wir bloß hören, so ist das Funktionieren
des menschlichen Organismus etwas wesentlich anderes, als wenn wir
zwar durch das Ohr direkt hören, aber dann auf das eingehen, was
indirekt in der Sprache uns wahrnehmbar wird. Wenn wir mit innerem
Verständnis die Worte, die Sätze des anderen verfolgen, haben wir
es nicht bloß zu tun mit einem Urteilen, sondern dem Urteilsprozeß
geht auch da voraus ein Wahrnehmungsprozeß, ein Sinnesprozeß; also
wir müssen davon sprechen, daß wir einen Sprachsinn — oder
eigentlich einen Sprachesinn, einen Wortesinn — haben, wie wir
einen Gehörsinn haben. Mit anderen Worten: Wir müssen, wenn wir die
Worte mehr anatomisch-physiologisch betrachten, innerhalb der
menschlichen Organisation eine spezielle [Sinnes] Organisation
voraussetzen, welche dem Anhören des Gesprochenen ebenso
entspricht, wie die Gehörorganisation dem Anhören der
unartikulierten Töne. Und wir müssen eine Spezialorganisation
voraussetzen für den Sprachsinn, die ganz ähnlich ist einer
sonstigen Sinnesorganisation, zum Beispiel der Sehorganisation oder
der Hörorganisation.
Wir dürfen auch, wenn wir
unbefangen zu Werke gehen, nicht sagen: Wir lernen erkennen, daß
ein anderer Mensch vor uns steht, wenn wir sehen, daß an dieser
äußeren Raumes form etwas wie eine Nase ist, wie zwei Augen und so
weiter, und nun durch Analogie schließen, daß darin ein Mensch
steckt, weil wir sehen, daß in uns selber ein Mensch steckt, der
sich äußerlich offenbart durch Nase, Augen und so weiter. Ein
solcher unbewußter Schluß liegt in Wirklichkeit nicht zugrunde,
aber es liegt ein unmittelbares Eingehen auf den anderen Menschen
zugrunde, dem etwas Spezielles in der Organisation des Menschen
entsprechen muß, das nur zu parallelisieren ist mit einer
Sinnesorganisation, so daß wir auch von einem Ich sinn sprechen
können. Wenn wir in dieser Weise das Funktionieren des Menschen
ganz unbefangen durchschauen, müssen wir mit derselben
Berechtigung, mit der wir von einer Gehör —, Geschmack- und so
weiter -Organisation sprechen, auch sprechen von einer
Wahrnehmungsorganisation für Worte, von einer
Wahrnehmungsorganisation für Gedanken, von einer
Wahrnehmungsorganisation für das Ich — nicht für das eigene Ich,
denn das beruht auf etwas ganz anderem. Und wir müssen weiter
sprechen von einem Bewegungssinn, denn ob wir uns bewegen oder ob
wir in Ruhe sind, das ist etwas ganz anderes. Ebenso müssen wir
dann sprechen von einem Lebenssinn — die gewöhnliche Wissenschaft
spricht zum Teil schon davon.
Wenn wir so die Zahl der
Sinnesorganisationen feststellen, kommen wir auf zwölf menschliche
Sinne. Von diesen sind eine Anzahl allerdings innere Sinne; denn
wir nehmen den inneren Organismus — wie wir uns fühlen und wie es
uns geht im Gleichgewichtssinn, im Bewegungssinn und so weiter —
ebenfalls wahr. Aber qualitativ ist das Erlebnis beim Wahrnehmen
der inneren Organisation durchaus das gleiche wie beim Seh —,
Höroder Geschmackvorgang. Es handelt sich nur darum, die Dinge im
richtigen Zusammenhang zu sehen.
Wenn man in dieser Weise
in bezug auf den Menschen von einer vollständigen Sinnesphysiologie
ausgeht, werden gewisse biologische Erscheinungen auf der einen
Seite im Reiche des Menschen, auf der anderen Seite im Reiche der
Tiere von einer ganz besonderen Bedeutung [sichtbar], von einer
Bedeutung, die bestehen kann, auch wenn man alles dasjenige restlos
zugibt, was von neueren Naturforschern, selbst von Haeckel,
vorgebracht worden ist für den morphologischen und auch
physiologischen Zusammenhang der menschlichen Organisation mit der
tierischen. Hier walten ja allerdings die unmöglichsten
Mißverständnisse. Man glaubt zum Beispiel, die Anthroposophie müsse
sich in Gegensatz stellen zum Haeckelismus, einfach aus dem Grunde,
weil sie von der bloßen Betrachtung der Sinneswahrnehmungen zur
empirischen Betrachtung des Geistigen aufsteigt; man glaubt,
Anthroposophie müsse aus diesen Untergründen heraus etwas am
Haeckelismus verändern. Nein! — Was am Haeckelismus verändert
werden muß, das muß aus naturwissenschaftlicher Methodik heraus
verändert werden, da braucht Anthroposophie nicht mitzureden, da
kann man auch als Naturforscher mit Haeckel diskutieren.
Was Anthroposophie zu
sagen hat, das liegt auf einem ganz anderen Gebiete. Mit Recht kann
betont werden: Zählt man die Knochen der höheren Tiere, so
unterscheidet sich die Anzahl der Knochen nicht von der beim
Menschen. Und ebenso ist es mit den Muskeln. So kommen wir nicht zu
einer Differenzierung der menschlichen und der tierischen
Organisation. Aber wenn wir biologisch vorgehen, kommen wir zu
einer wirklichen Differenzierung. Wir kommen dann dazu, einen
besonderen Wert darauf zu legen, daß sich im wesentlichen die
menschliche Organisation in einer anderen Art in den Kosmos
hineinstellt als die tierische. Wenn wir gerade die höheren Tiere
betrachten, müssen wir sagen: Ein Wesentliches bei ihnen ist es,
daß die Achse ihres Rückgrats parallel zur Erdoberfläche geht,
während im Gegensatz dazu beim Menschen im Verlaufe seines Lebens
die horizontale Lage der Rückgratachse in eine vertikale verwandelt
wird, so daß also eine wichtige Lebensfunktion beim Menschen darin
besteht, sich aufzurichten. — Ich weiß, es kann nun natürlich
eingewendet werden: Es gibt doch aber auch Tiere mit mehr oder
weniger aufrechter, vertikaler Rückgratachse. — Darauf kommt es
aber nicht an, wie es sich gegenüber einer äußeren Morphologie
ausnimmt, sondern darauf, wie die ganze Organisation veranlagt ist.
Wir werden auch sehen, wie bei gewissen Tieren, Vogelarten oder
auch Säugetierarten, bei denen mehr oder weniger die Rückgratachse
in eine vertikale Lage gebracht werden kann, gerade gegenüber ihrer
ganzen Veranlagung eine Art Degenerierung auftritt, während es beim
Menschen schon in der Veranlagung liegt, daß die Rückgratachse eine
Vertikallage hat.
Als ich dies einmal vor
vielen Jahren bei einem Vortrage in München sagte, kam ein
naturwissenschaftlich gebildeter Mann zu mir, den ich natürlich
ganz gut verstehen konnte, und sagte: Wenn wir schlafen, haben wir
aber doch auch die Rückgratachse horizontal. — Darauf aber kommt es
nicht an, sagte ich ihm, sondern darauf, wie im Verhältnis zu der
Lage, sagen wir, der Bein- oder Fußknochen zum ganzen übrigen
Körperbau die Rückgratachse im ganzen kosmischen Zusammenhang des
Menschen gestellt ist, und wie sich das beim Menschen oder beim
Tier auswirkt. Der Mensch hat zwar beim Schlafen sein Rückgrat
horizontal, aber diese horizontale Lage ist äußerlich; innerlich
dynamisch ist der Mensch so organisiert, daß er sich in seinen
Gleichgewichtszustand bringen kann, wo die Rückgratachse vertikal
ist. Und wenn sich Tiere in einen solchen Gleichgewichtszustand
bringen, so degenerieren sie in gewisser Beziehung, oder sie
bringen es dahin, gewisse menschenähnliche Funktionen zu entwickeln
und dadurch auch das zu beweisen, was ich nun ausführen
will.
Wir können sagen: Indem
der Mensch rein funktionell aus der gesamten Dynamik seines Wesens
heraus im Laufe seiner ersten Lebensjahre seine Rückgratachse
vertikal gestaltet, bringt er sich im Kosmos in eine andere
Gleichgewichtslage als das Tier. Aber jedes Wesen ist ja aus dem
Gesamtkosmos heraus gebildet; man könnte auch sagen, es paßt sich
ihm an — ich will jetzt darauf nicht weiter eingehen. Wenn wir die
Gestaltung der einzelnen Knochen, zum Beispiel der Rippen- oder
Kopfknochen und so weiter verfolgen, dann werden wir auch
morphologisch die Möglichkeit gewinnen, in den Formen der Rippen-
oder der Kopfknochen eines Menschen oder eines Hundes die Anpassung
zu finden an die Vertikallage oder Horizontallage des Rückgrats.
Indem sich der Mensch in die vertikale Lage hineinfindet, lebt er
gegenüber dem Tier, das auf seinen vier Beinen steht, in einer ganz
anderen Gleichgewichtslage; er lebt in einem ganz anderen
kosmischen Zusammenhang.
Nun versuchen wir, das
Problem von einer anderen Seite her anzufassen und uns
klarzumachen, was eigentlich im Menschen beim Sinnesvorgang und was
in Anlehnung an den Sinnesvorgang bei ihm vorgeht. Ich werde dabei
wegen der Kürze der Zeit genötigt sein, nur andeutend zu sprechen,
aber es könnte das auch in eine ganz exakte
biologisch-physiologische Terminologie umgesetzt werden.
Nehmen wir den Sehvorgang.
Wir können ihn gliedern in das, was spezifische Funktion des
Sehorgans ist, und in das, was sich dann abspielt in der weiteren
Fortsetzung in das Physische hinein, ich möchte sagen, in Analogie
dazu, daß der Sehnerv vom Auge ausgeht und sich dann im Innern der
Nervenorganisation verliert. Wir können also unterscheiden: einmal
den Sehvorgang selbst, und dann alles, was sich daranschließt im
Gesamterleben. In dem unmittelbar präsenten Sehvorgang ist noch das
Vorstellungsmäßige immanent; indem wir irgend etwas anschauen,
trennen wir noch nicht das Vorstellungsmäßige von dem Sehvorgang.
Wenden wir das Auge ab von dem, was wir anschauen, so behalten wir
einen vorstellungsmäßigen Rest zurück, der deutlich seine
Verwandtschaft mit dem beim Sehvorgang Wahrgenommenen zeigt. Wer
das richtig analysieren kann, sieht, wie verschieden gerade das
ist, was sich als Vorstellungsrest ergibt aus dem Sehvorgang,
gegenüber dem, was sich ergibt aus einem Hörvorgang. Wir haben also
in uns das Erlebnis des Sehvorganges, ich möchte sagen, in
dualistischer Weise: zuerst mehr hingewendet zu dem, was die
eigentliche Sinneswahrnehmung ist, und dann hingewendet zu dem, was
uns als vorstellungsmäßiger Rest, als mehr oder weniger
ausgestaltete Erinnerung bleibt.
Nun nehmen Sie einmal
alles das, was im Menschen lebt an innerem Vorstellungsmäßigen, das
sich anlehnt an die fünf Sinne. Das meiste im menschlichen
Seelenleben lehnt sich ja an die Sehvorgänge; nur ein Neuntel etwa
von dem, was durch die Sehvorgänge gegeben ist, ist durch die
Hörvorgänge gegeben. Und wenn wir das innere Seelenleben
betrachten, so ist dadurch noch weniger gegeben als durch die Seh-
und Hörvorgänge und so weiter. Wir wissen, daß dabei das
Vorstellungmäßige, das ja zur bleibenden Erinnerung führt, auch
eine Rolle spielt, aber eine wesentlich geringere als beim Seh- und
Hörvorgang.
Nun können wir die Frage
aufwerfen: Gibt es für die mehr verborgenen Sinne, zum Beispiel für
den Gleichgewichtssinn oder für den Bewegungssinn auch diese
Dualität, wie wir sie finden beim Sehsinn in dem
Wahrnehmungsmäßigen und dem Vorstellungsmäßigen? Bei einer wirklich
unbefangenen Physiologie und Psychologie gibt es dies auch zum
Beispiel für den Gleichgewichtssinn, nur wird gewöhnlich der
Zusammenhang nicht bemerkt. In dem Vortrage, den ich eben gehalten
habe, habe ich von dem Mathematischen gesprochen, von dem Sich
zurechtfinden in den Raumes Verhältnissen, wo das Mathematische
geometrisch angewandt wird. Wir konstruieren uns Raumes
Verhältnisse. Was ist das eigentlich, was wir da tun? Es ist in
bezug auf den ganzen Menschen genau dasselbe wie das, was wir tun,
wenn wir beim Sehvorgang die Wahrnehmung deutlich absondern von dem
Vorstellungsmäßigen, indem wir die Vorstellung innerlich behalten.
[Wir nehmen eine Farbe nicht nur äußerlich wahr], sondern wir
erleben das Qualitative der Farbe, des Farbtones, und es lebt sogar
das Gefühl, das ich als Gefühl habe bei einer warmen oder kalten
Farbe, im Innern fort.
Wir können uns nun
folgendes sagen: Ich will einmal in einer umfassenden Seelenschau
alle diejenigen Vorstellungen überschauen, die ich im Leben dadurch
gewonnen habe, daß ich durch meine Augen sehen kann. Wir würden ein
inneres visuelles System in der Seele bekommen. Wir würden, ohne
daß wir jetzt äußere Sehvorgänge haben, innerlich aufsteigen haben
eine Art Nachkonstruktion der Sehvorgänge. Und wenn Sie dies in
ebensolcher Weise in bezug auf den Gleichgewichtssinn
berücksichtigen, dann kommen Sie darauf, daß Sie durch alles das,
was Sie durch den Gleichgewichtssinn im eigenen Organismus erleben,
etwas im Innern heraufsteigen haben, das dem Geometrischen in der
äußeren Welt [entspricht]. * [Die
nachfolgenden Ausführungen sind vom Stenographen nur lückenhaft
festgehalten. Die vom Herausgeber vorgenommenen notwendigen
Ergänzungen — gekennzeichnet durch eckige Klammern — stützen sich
im wesentlichen auf folgende Vorträge Rudolf Steiners: 16. März
1921, in GA 324; 29. September, 1. und 3. Oktober 1920, in GA
322.] Mathematik
oder Mechanik haben wir nicht [aus der äußeren Erfahrung] gewonnen.
Mathematische und mechanische [Gesetze] sind durch inneres
[Konstruieren gewonnen]. Wenn Sie sich mechanische [Gesetze]
vergegenwärtigen, so haben Sie sie [gewonnen] durch das
Vorstellungsmäßige Ihres Gleichgewichtssinnes. Der ganze Mensch
wird da zum Sinnesorgan und er bildet dabei [innerlich] gleichsam
den anderen Pol [zu dem Wahrgenommenen] aus. Wir bilden zum
Beispiel die Mathematik aus und glauben, wir haben in ihr eine
reine a-priori-Wissenschaft. Aber die Mathematik ist keine reine
a-priori-Wissenschaft. Wir merken nur nicht, daß wir dasjenige, was
wir im Gleichgewichtssinn erleben, ebenso [in
mathematisch-geometrische Vorstellungen] umsetzen, wie die
Sehwahrnehmung sich in die Sehvorstellungen umsetzt. Ohne daß wir
die Brücke bemerken, wird das [durch den Gleichgewichtssinn
Wahrgenommene] zu Mathematik oder zu Mechanik.
Wenn Sie das bedenken,
werden Sie den innigen Zusammenhang des menschlichen
Gesamtorganismus mit seiner Gleichgewichtslage im Kosmos verstehen.
Dann werden Sie sich sagen: Beim Tier, das auf seinen vier Beinen
steht und dem durch seine Gleichgewichtslage auch der Inhalt seines
Gleichgewichtssinnes gegeben ist, muß ja das Erleben des
Gleichgewichts sich in einer ganz anderen Weise innerlich spiegeln
als beim Menschen im Mathematischen. Wir finden das Mathematische
einfach als ein Ergebnis unseres Hineingestellt seins in den
Kosmos.
Wir reden von drei
Dimensionen, weil wir nach drei Dimensionen in den Kosmos
hineingestellt sind. Aber die vertikale Dimension haben wir uns
selbst erst im Laufe unseres Lebens errungen. Wir haben uns in die
vertikale Dimension erst hineingestellt. Was wir so in frühester
Kindheit erleben, das spiegelt sich uns später in der Mathematik;
es geht das nur nicht so schnell wie beim Sehvorgang. Die
Spiegelung des Gleichgewicht-Erlebens geht im Laufe des Lebens vor
sich. Wir haben in der Kindheit sehr stark das Erleben des
Gleichgewichtssinnes, wenn wir vom Kriechen übergehen zum Gehen und
Stehen. Das spiegelt sich uns im späteren Lebensalter und wird als
Mathematik und Mechanik sichtbar. Wir halten oft die Mathematik für
etwas aus uns selbst Gesponnenes. Das ist sie nicht. Sie geht aus
der Wahrnehmung des eigenen Organismus hervor. Warum sind denn
gewisse Gedanken beim Menschen so, daß er sie auf den Kosmos
beziehen kann, daß er sich aus den Gedanken ein ganzes
Gedankengebäude bilden kann? Das ist nur das Ergebnis dessen, wie
der Mensch im Kosmos drinnensteht. Und wenn wir nun die
Gleichgewichtslage, in der sich das Tier befindet [in seinem
Verhältnis zum Kosmos], vergleichen mit der Gleichgewichtslage des
Menschen, so können wir sagen: Wir haben beim Tier das Gebundensein
an die Erdenorganisation und wir haben beim Menschen das
Aufgerichtet sein, das Herausgehoben sein aus der
Erdenorganisation. Was wir als selbständige Gedanken aussprechen,
rührt davon her, daß wir uns für unsere menschliche Organisation
auch eine selbständige Gleichgewichtslage erringen.
Es ist also der Akt des
Sich Hineinstellens in den Kosmos nicht etwas, was aus dem
Organismus selbst hervorgeht und sich auch beim Tier findet,
sondern etwas, was in diesen menschlichen Organismus selbst sich
hineinbildet und was erst im Laufe der [ersten] Leben [sjahre]
errungen wird, bis in die Organe hinein. Dadurch kommen wir zu
jener Polarität des Menschen [gegenüber dem Tier], daß auf der
einen Seite der Mensch aufrechtsteht und einen aufrechten Gang hat,
und daß dieser ganzen kosmischen Position, in der der Mensch lebt,
nun eben alles das angepaßt wird, was sich im einzelnen bei Mensch
und Tier nicht unterscheidet. Und auf der anderen Seite erscheint
im Seelischen dasjenige als Gedanken, was jetzt über das sinnlich
Angeschaute, über das mit den fünf Sinnen Wahrgenommene hinausgeht,
was sich davon losmacht. So wie sich der Mensch durch seine
Stellung zum Kosmos losmacht von der Erde, ebenso machen sich die
Gedanken des Menschen los von ihrer Gebundenheit an die Sinneswelt,
sie werden in einer gewissen Beziehung frei.
Wir müssen — für die
Anthroposophie ist das wiederum eine Sicherheit, hier möchte ich es
zunächst mehr als Postulat hinstellen — wir müssen darin, daß der
Mensch diese durch die aufrechte Stellung seiner Rückgratachse
bedingte Gleichgewichtslage hat, etwas sehen, was den Menschen
trennt von dem Tiere; und auf der anderen Seite müssen wir die
besondere Form der Vorstellungswelt, der Gedanken, als das
spezifisch Menschliche ansehen. Aber gerade der, der solche Dinge
vom anthroposophischen Standpunkte aus durchschaut — das wird mehr
oder weniger noch zur Sprache kommen können —, der sieht, wie der
Mensch durch die besondere Ausbildung seines Gleichgewichtssinnes
und seines Bewegungssinnes auch mehr zu einem freien Gedankensystem
kommt, als das [bei dem Erleben durch] Augen und Ohren der Fall
ist, und der wird auch einsehen, daß der Mensch nun dafür auch eine
innere Organisation haben muß. Der Mensch hat einfach eine
Organisation in sich, die beim Tier noch nicht zu finden ist — das
kann durchaus auch einmal materiell nachgewiesen werden —, die
einfach derjenigen Form der Gedanken dient, die sich losgerissen
hat von der [Gebundenheit an die Erde] wie beim Tier, und die durch
die besondere Gleichgewichtslage beim Menschen bedingt ist. Wir
können also sagen: Indem der Mensch sich aufrichtet, schafft er
sich ein Organ für die abstrakten Gedanken.
Und so haben wir beim
Menschen die durch seine aufrechte Lage bedingte Organisation, die
zunächst nichts anderes zeigt, als daß die Organe, die beim Tier
auch da sind, eine andere Lage haben; aber durch diese aufrechte
Lage wird in der Nerven- und Blutorganisation bewirkt, daß unter
dem Einfluß dieser anderen Gleichgewichtslage im Menschen etwas
auftritt, was das Tier nicht haben kann. Da finden wir das, was den
Menschen biologisch vom Tier unterscheidet. Wir finden diesen
Zusammenhang wirklich in der physischen Organisation des Menschen
und nicht in einem bloßen Dynamismus. Das ist von fundamentaler
Bedeutung. Stellen Sie sich nur einmal die Umbildung der
Organisation vor, die geschieht durch die Veränderung der
Gleichgewichtslage, wie sie beim Tier ist, in die
Gleichgewichtslage des Menschen, was sich da ändert zum Beispiel in
bezug auf die Ober- und Unterschenkel, die Hände und so weiter.
[Stellen Sie sich einmal vor, was es bedeutet], daß der Mensch ein
Zweihänder ist und kein Vierfüßler. Der Mensch ist zwar mit
denselben Formen ausgestattet wie das Tier, aber er hat sie in
einer anderen Lage und dadurch in veränderten, metamorphosierten
Formen. Das wird auch einmal anatomisch nachgewiesen werden können,
wenn die notwendigen Werkzeuge und Experimentiermethoden
ausgebildet sein werden. Wir suchen nach solchen Werkzeugen und
Experimentiermethoden in unseren Instituten in Stuttgart. Man muß
allerdings, um diese Methoden auch äußerlich empirisch zu finden,
zuerst durch imaginatives Anschauen darauf gekommen sein, [wo die
Unterschiede hegen]. Daher ist die Anthroposophie in bezug auf [die
Erforschung] der feineren Gebiete der Menschen —, Tier- und
Pflanzenformen der Wissenschaft durchaus nicht unnütz, denn die
Wissenschaft kann die Dinge nicht durch Imagination finden. Sind
sie aber gefunden, dann können sie auch [durch die Wissenschaft]
verifiziert werden.
Wenn man darauf schaut,
wie eine andere Gleichgewichtslage die Organe umbildet, so findet
man auch, daß bestimmte Organe so umgeändert werden, daß sie zum
menschlichen Sprachorgan werden, daß der Organismus
sprachschöpferisch wird.
Damit haben Sie nun eine
Einsicht gewonnen in die besondere Organisation des Menschen, die
einfach dadurch entsteht, daß er ein aufrechtgehendes Wesen ist,
was sogar bis ins Materielle hinein Folgen hat. Auch in bezug auf
den physiologischen Sprachorganismus haben Sie etwas gegeben — auch
wo man einen äußeren morphologischen Unterschied zwischen Mensch
und Tier nicht festsetzen kann —, was doch eine Differenzierung
zwischen Mensch und Tier in biologischer Beziehung
zeigt.
Dies sind einige
Anregungen, die den Weg angeben können, wie das, was in einer
äußeren, laienhaften Weise gesucht wird, auch auf einem wirklich
wissenschaftlichen Wege untersucht werden kann. Ich konnte das, was
ich sagen wollte, hier nur skizzieren. Aber denken Sie sich [diese
Gedanken] weiter fortgesetzt, so ergibt sich für die Wissenschaft
tatsächlich ein Weg, um die Unterschiede zwischen der tierischen
und der menschlichen Organisation in biologischer Beziehung zu
[erforschen].
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