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DRITTER VORTRAG
ANTHROPOSOPHIE UND
PHILOSOPHIE
Berlin, 7. März 1922
Meine sehr verehrten
Anwesenden! Es ist immer schwer, wenn man mit einem ernsten
wissenschaftlichen Gewissen den überkommenen Ausdruck «Logos» in
irgendeine der neueren Sprachen übersetzen will. Wir sagen ja, wenn
wir «Logos» übersetzen, gewöhnlich «Wort», wie das für die Bibel
üblich ist. Wir denken aber, wenn wir zum Beispiel die «Logik» im
Sinne haben, nicht so sehr an das «Wort», sondern wir denken dann
an den «Gedanken», wie er in den menschlichen Individuen wirkt und
seine Gesetzmäßigkeiten hat. Doch wenn wir von «Philologie» reden,
so haben wir wiederum das Bewußtsein: Wir entwickeln eine
Wissenschaft, die sich auf das Wort bezieht. Ich möchte sagen:
Gerade heute ist das, was nach neuerem Sprachgebrauch in dem Wort
«Logos» enthalten ist, im Grunde genommen in allem Philosophischen
drinnen. Und wenn wir von «Philosophie» sprechen, dann können wir
in dem, was wir dabei nicht so sehr definieren als erleben, gar
wohl empfinden, wie ein Abglanz dieses unbestimmten Erlebnisses
gegenüber dem Logos in all dem enthalten ist, was wir bei
«Philosophie» fühlen.
Philosophie deutet ja dem
Wortlaute nach — was aber zweifellos damals, als Philosophie
entstand, etwas mehr als nur Wortlaut war —, deutet ja auf ein ganz
bestimmtes inneres Erlebnis des Menschen; das Wort Philosophie
deutet darauf, daß der Mensch an dem, was dem Logos verwandt ist,
«Sophia», ein bestimmtes, man möchte sagen, wenn auch nicht ein
persönliches, so doch ein allgemein menschliches Interesse hat. Es
deutet das Wort Philosophie weniger unmittelbar auf den Besitz
eines Wissenschaftlichen hin, als auf ein inneres Verhalten des
Menschen zu dem weisheitsvollen Inhalt des Wissenschaftlichen. Da
unser Gefühl gegenüber der Philosophie heute nicht mehr so ganz
sicher ist wie in den Zeiten, als Philosophie auf der einen Seite
fast zusammenfiel mit, ich will nicht sagen mit Wissenschaft, aber
mit wissenschaftlichem Streben, und auf der anderen Seite etwas
war, was auf ein inneres menschliches Verhalten hindeutete, haben
wir heute ein außerordentlich unbestimmtes Erlebnis, wenn wir von
Philosophie sprechen oder uns in Philosophie betätigen. Dieses
unbestimmte Erlebnis ist aber außerordentlich schwer aus den Tiefen
des Bewußtseins heraufzuheben, wenn man das auf eine bloß
dialektische oder auch äußerlich definierende Weise versucht, und
nicht einzugehen versucht auf das, was gegenüber der Philosophie
menschliches Erleben im Laufe der geschichtlichen Entwicklung war.
Zu einer solchen Betrachtung fordert ja die Gegenwart ganz
besonders heraus.
Blicken wir als
mitteleuropäische Menschen um einige Jahrzehnte zurück, so war
eigentlich das Hineinleben in die Philosophie für den Menschen, der
ein solches Einleben suchte, gerade in Mitteleuropa noch etwas
anderes, als es heute im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
ist, wo wir ja im Grunde genommen nicht nur äußerlich physisch,
sondern gerade geistig wirklich so viel durchlebt haben, wie früher
— man darf das ruhig aussprechen — in Jahrhunderten erlebt worden
ist. Und wenn man zurückblickt auf die Erlebnisse, die ein — wenn
ich mich des pedantisch-philiströsen Ausdruckes bedienen darf —
Philosophie-Beflissener so in den 50er, 60er, 70er Jahren des 19.
Jahrhunderts, vielleicht auch noch später, als Mitteleuropäer haben
konnte, so sind es im wesentlichen diese: Man blickte zurück auf
die Blütezeit deutscher philosophischer Entwicklung, man blickte
zurück auf die große Philosophenzeit Fichtes, Schellings, Hegels;
man hatte um sich eine gebildete und gelehrte Welt, welche diese
Philosophenzeit als etwas durchaus Abgetanes betrachtete und welche
in der heraufkommenden naturwissenschaftlichen Weltanschauung
dasjenige sah, was an die Stelle früherer philosophischer
Betrachtungen treten sollte. Man bewunderte die Größe der
Gedankenerhebung, wie sie bei einem Schelling hervortrat, man
bewunderte die Energie und die Kraft Fichtescher
Gedankenentwicklung, man hatte vielleicht auch ein Gefühl für das
rein Umfassende, Scharfsinnige Hegeischen Denkens, aber man
betrachtete mehr oder weniger dieses klassische Zeitalter deutscher
Philosophie doch als etwas Überwundenes.
Und daneben gab es dann
die Bestrebung, aus der Naturwissenschaft heraus etwas zu
entwickeln, was eine allgemeine Weltanschauung werden sollte, von
den Bestrebungen der «Kraft- und Stoff-Menschen» bis zu denjenigen,
die vorsichtiger aus naturwissenschaftlichen Begriffen heraus zu
einer philosophischen Weltanschauung kommen wollten, die aber die
ehemalige idealistische Philosophie eben ablehnten. Es gab alle
Nuancen von Denken und Forschen auf diesem Gebiete.
Und dann gab es eine
dritte Sorte von Denkern auf diesem Gebiete, die konnten nicht
mitgehen mit dem bloßen naturwissenschaftlichen Begründen einer
Weltanschauung, aber sie konnten auf der anderen Seite auch wieder
nicht hineintauchen in das real Gedankliche, wie es etwa bei Hegel
gegeben ist. Für diese entstand die große Frage: Wie kann sich der
Mensch mit seinem Denken, das er als etwas ausbildet, das nur in
ihm selber liegt, in ein Verhältnis zur Objektivität, zur Außenwelt
setzen? — Es waren die Erkenntnistheoretiker der verschiedenen
Nuancen, welche in dem Ruf «zurück zu Kant» übereinstimmten, aber
diesen Weg zu Kant in der verschiedensten Weise einschlugen; es
waren scharfsinnige Denker wie etwa Liebmann, Volkelt und so
weiter, die aber im Grunde genommen doch innerhalb des
Erkenntnistheoretischen blieben und nicht über die Frage
hinauskamen: Wie soll der Mensch mit dem, was er gedanklich,
vorstellungsgemäß in sich trägt, die Brücke schlagen zu einer
transsubjektiven, außerhalb des Menschen bestehenden
Realität?
Was ich Ihnen hier als
eine Situation schildere, die der Philosophie-Beflissene etwa im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vorfand, hat zu keinerlei Art
von Lösung geführt. Das war gewissermaßen die Mitte eines Dramas
oder irgendeines in der Zeit verlaufenden Kunstwerkes, zu dem kein
Ende hinzugefunden worden ist. Es liefen diese Bestrebungen mehr
oder weniger ins Unbestimmte aus. Sie liefen aus in eine große
Anzahl von Fragen, und überall fehlte im Grunde genommen der Mut,
gegenüber diesen Fragen auch nur das Streben nach Lösungsversuchen
zu entwickeln.
Heute nimmt sich die
Situation in der ganzen philosophischen Welt so aus, daß man sie
gar nicht mehr so schildern kann, wie ich jetzt eben die Situation
vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dargestellt habe, wenn man
die Wirklichkeit treffen will. Heute sind vor unserem Blick
philosophische Gesichtspunkte aufgetaucht, welche, ich möchte
sagen, aus ganz anderen Untergründen emporgestiegen sind, und die
notwendig machen, daß wir heute die philosophische Situation in
einer ganz anderen Weise charakterisieren. Heute tritt, wenn wir
die philosophische Situation charakterisieren wollen, scharf vor
unser Seelenauge dasjenige, wofür ja unser Blick im zweiten
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts so sehr geschärft werden konnte,
nämlich die voneinander so stark differierenden philosophischen
Weltanschauungen des Westens, der europäischen Mitte und des
europäischen Ostens. Heute steht in einer anderen Weise als noch
vor kurzer Zeit vor unserem gefühlsmäßigen Erleben des
Philosophischen das, was sich etwa aussprechen kann in den drei
Namen: Herbert Spencer — Hegel — Wladimir Solowjew. Indem wir diese
drei Persönlichkeiten vor uns hinstellen, haben wir in ihnen die
Repräsentanten dessen, was heute die philosophische Situation
charakterisieren kann. Innerlich war das gewissermaßen schon immer
oder seit langer Zeit der Fall, aber es tritt erst heute die
philosophische Situation so charakteristisch vor unser
Seelenauge.
Sehen wir uns einmal den
Westen an: Herbert Spencer. Ich müßte natürlich, wenn ich
vollständig sein wollte, den ganzen Hergang der philosophischen
Entwicklung schildern, wie er von Bacon, Locke über Mill zu Spencer
geführt hat; doch das kann heute nicht meine Aufgabe sein. In
Herbert Spencer tritt uns eine Persönlichkeit entgegen, welche
Philosophie begründen will, aber Philosophie begründen will rein
aus Begriffssystemen heraus, die an der Naturwissenschaft gewonnen
sind. Wir finden in Spencer eine Persönlichkeit, die zu dem
Naturwissenschaftlichen restlos Ja sagt, und die aus diesem Jasagen
heraus die Konsequenz zieht: Also muß alles philosophische Denken
über die Welt aus diesem Naturwissenschaftlichen gewonnen werden.
So sehen wir, wie Spencer sucht, in der Naturwissenschaft gewisse
Vorgänge in Begriffe zu fassen, zum Beispiel wie ein fortwährendes
Sich zusammenziehen und Sich ausbreiten der Stoffe stattfindet, ein
Differenzieren und Konsolidieren. Er beobachtet das zum Beispiel an
der Pflanze, die in den Blättern sich ausbreitet und sich im Keime
zusammenzieht, und er versucht, solche Begriffe dann m klare
naturwissenschaftliche Formen zu bringen und damit eine
Weltanschauung aufzubauen. Und er versucht sogar, die menschliche
Gesellschaft selber, den sozialen Organismus, nur so zu denken, daß
dieses Denken eine Analogie bietet zu dem natürlichen Organismus.
Da kommt er aber sogleich in die Enge. Der natürliche Organismus
des Menschen ist gebunden an den Zusammenfluß alles dessen, wodurch
dieser Organismus mit der Außenwelt in ein Verhältnis tritt, durch
Wahrnehmungen, durch Vorstellungen und so weiter. Der einzelne
natürliche Organismus ist gebunden an das, was sich unter dem
Einfluß des Sensoriums entwickeln kann. In dem gesellschaftlichen
Organismus findet Herbert Spencer ein solches Sensorium nicht, kein
irgendwie zentral zusammenlaufendes Nervensystem. Dennoch
konstruiert er einen solchen gesellschaftlichen Organismus und
findet darin gewissermaßen die Krönung seines philosophischen
Gebäudes, das ganz auf Naturwissenschaft aufgebaut ist.
Was liegt damit eigentlich
in diesem Westen vor? Da liegt vor, daß dort gerade der
naturwissenschaftliche Gedanke in seiner vollen, seiner
berechtigten Einseitigkeit sich entwickelt hat. Da liegt vor, daß
aus den ursprünglichen Völkeranlagen heraus feinste
Beobachtungsgabe und Experimentiertalent sich entwickelt haben. Da
liegt vor, daß ein Interesse vorhanden ist, die Welt des äußerlich
Sinnlich-Wirklichen in den kleinsten Einzelheiten zu beobachten,
ohne dabei etwa ungeduldig zu werden und aufsteigen zu wollen zu
irgendwelchen zusammenfassenden Begriffen. Da liegt aber auch vor
ein Hang, mit der Wissenschaft stehenzubleiben innerhalb dieser
äußeren sinnlichen Tatsachenwelt. Da liegt das vor, was ich nennen
möchte: eine Art Furcht davor, von der Sinneswelt irgendwie zu
einem Zusammenfassenden aufzusteigen. Da aber der Mensch doch nicht
anders kann, als zu leben in etwas, was auch über die Sinneswelt
hinausgeht, was dem Menschen nicht einfach durch die Sinne gegeben
wird, so tritt hier im Westen die Erscheinung hervor, daß die
gesamte geistige Welt restlos übergeben sein soll dem individuellen
Glauben des einzelnen, und daß dieser Glaube frei von allem
wissenschaftlichen Einfluß sich entwickeln soll. Was Inhalt des
Religiösen ist, das will sich der Mensch nicht antasten lassen von
dem, was er wissenschaftlich erkundet. So sehen wir, daß bei
Herbert Spencer, der in seiner Art ganz konsequent die
naturwissenschaftliche Denkweise heraufführt bis in die Soziologie
hinein, streng [getrennt] vorhanden ist, auf der einen Seite die
Wissenschaft, die ganz naturwissenschaftlich verlaufen soll, und
auf der anderen Seite für den Menschen ein geistiger Inhalt, mit
dem Wissenschaft sich nichts zu schaffen machen soll.
Gehen wir nun von Herbert
Spencer zu dem, was uns bei Hegel entgegentritt. Es verschlägt
nichts, daß Hegel, der dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
angehörte, im zweiten Drittel für das mitteleuropäische
Philosophieren mehr oder weniger als überwunden galt, denn was für
Mitteleuropa charakteristisch ist, das ist doch am bedeutsamsten
gerade bei Hegel zum Vorschein gekommen. Sehen wir uns Hegel an:
Schon in seiner, ich möchte sagen, gefühlsmäßigen Veranlagung liegt
eine gewisse Abneigung gegen diese universalistische
naturwissenschaftliche Art, mit der Weltanschauung so zu verfahren,
wie sie im Westen ausgestaltet wird durch Herbert Spencer, aber
sich selbstverständlich vorbereitet hat durch dessen Vorgänger,
sowohl die Naturforscher wie auch die Philosophen. Wir sehen bei
Hegel, wie er zum Beispiel Newton nicht leiden kann, wie ihm die
besondere Art, das Weltall nur mechanistisch zu denken,
unsympathisch ist, wie er Newton ablehnt nicht etwa bloß in bezug
auf die Farbenlehre, sondern auch als Interpreten des Kosmos. Hegel
gibt sich Mühe, zu den Keplerschen Formeln über die
Planetenbewegungen zurückzukehren; er analysiert die Keplerschen
Formeln über die Planetenbewegungen und findet für sich, daß Newton
eigentlich gar nichts hinzugefügt hat, sondern daß in den
Keplerschen Formeln schon das ganze Gravitationsgesetz
drinnenliegt. Und das übernimmt er aus dem Grunde, weil er aus dem,
was bei Kepler mehr aus geistigem Erleben kommt, ein
wissenschaftliches Denken hervorgehen sieht, das umfassend ist und
das das äußere Naturwissenschaftliche vom Geiste aus begreiflich zu
machen versucht. Kepler ist für Hegel einfach die Persönlichkeit,
die imstande ist, in den Geist auch mit dem Denken einzudringen und
eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was wissenschaftlich erkannt
wird, und dem, was nach der Meinung des Westens bloß geglaubt
werden soll, der also imstande ist, die Wissenschaft heraufzutragen
in das Gebiet, das für den Westen vermeintliches Gebiet des
Glaubens ist.
Aus diesem Grunde lehnt
Hegel, ganz im Einklang mit Goethe, die Newtonsche Farbenlehre
streng ab. Überall sehen wir in der Hegeischen Anlage eine Art
Antipathie gegen das, was bei Newton aus dessen Anlagen heraus ganz
natürlich ist. Dafür ist bei Hegel ein entschiedenes Talent
vorhanden, ganz in dem Gedanklichen selber zu leben. Für Hegel war
das einfach selbstverständlich, was Goethe gegenüber Schiller
sagte: «Ich sehe meine Ideen mit Augen». Das ist scheinbar eine
Naivität, allein, solche Nativitäten nehmen sich oftmals, richtig
betrachtet, als die tiefste philosophische Weisheit aus. Hegel
würde einfach nicht verstanden haben, wie man behaupten könne, die
Idee des Dreiecks sei nicht zu fassen, denn Hegels Leben verlief
eigentlich ganz — wenn ich mich so ausdrücken darf — auf dem Plan
des Gedankens. Für ihn war auch eine höhere Offenbarungswelt, eine
Welt höherer Geistigkeit dadurch vorhanden, daß sie gewissermaßen
ihre Schattenbilder auf eine Fläche wirft, die von Gedanken
ausgefüllt ist. Von oben her wirft die geistige Welt ihre
Schattenbilder auf die Fläche der menschlichen Seele, auf der der
menschliche Gedanke sich entwickelt. Dadurch kommt für Hegel der
Begriff des höheren Geistigen zustande, daß es auf der Fläche der
Seele sich abschattet als Gedanken. Hegel ist dazu veranlagt, diese
Gedanken voll als Geistiges zu erleben, und er erlebt auch das
natürliche Geschehen nicht in seiner elementaren Gegenwart, sondern
sieht es in den Gedankenbildern, die es auf die Fläche der Seele
geworfen hat.
So wird es in Hegels
Philosophie zur Unmöglichkeit, in jener äußerlichen Weise Wissen
und Glauben voneinander zu trennen, wie es dem Westen ganz
natürlich ist. Für Hegel wird zur Lebensaufgabe die Vereinigung der
geistigen Welt, die der Westen einfach aus seinen Anlagen heraus in
das bloße Glaubensgebiet verweisen will, mit der
sinnlich-physischen Welt, zu einer solchen Welt, von der man wissen
kann. Hier ist nicht mehr Wissen auf der einen Seite, Glauben auf
der anderen Seite; hier ist der Menschenseele das große, bedeutsame
Problem gestellt: Wie findet man im inneren Erleben selbst die
Brücke zwischen Glauben und Wissen, zwischen Geist und Natur? Aber
es war gewissermaßen das Tragische in Hegel, daß er das, was er in
so grandioser Weise als ein Problem aufzuwerfen verstand,
eigentlich nur sah sozusagen in bezug auf die Fläche des Gedankens,
daß er zwar die innere Kraft, die innere Lebendigkeit des Gedankens
zu erleben verstand, aber vom Inhalte des Gedankens nichts
Lebendiges erfassen konnte. Nehmen Sie die Hegeische Logik:
Wiederum zurückgehen will er zum alten Begriff des Logos! Er fühlt:
Wenn wir überhaupt einen realen Begriff vom Logos haben wollen,
dann muß der Logos etwas sein, was nicht bloß als ein Gedachtes,
sondern als ein real Wirkendes die Welt durchflutet und durchlebt.
Für ihn ist der Logos nicht nur abstrakt logischer Inhalt, sondern
für ihn wird er realer Weltinhalt. Sehen wir uns seine «Logik» an,
den einen der drei Teile von Hegels Philosophie: Sie enthält nur
abstrakte Begriffe! Und so steht, so furchtbar ergreifend für den,
der mit seinem ganzen Menschen auf die Hegeische Philosophie
einzugehen weiß, auf der einen Seite Hegels so grundrichtige
Empfindung: Durch das, was in dem Logos erfaßt werden kann, muß
eingedrungen werden in das schöpferische Prinzip der Welt. Der
Logos muß sein «Gott vor der Erschaffung der Welt» — ein Hegelscher
Ausdruck!
Dies auf der einen Seite.
Und wie wird auf der anderen Seite dieser Logos von Hegel selbst
entwickelt? Er beginnt beim «Sein», kommt zu dem «Nichts», zu dem
«Werden», zu dem «Dasein». Er kommt zu der Kausalität, dem Zweck,
zu der Teleologie. Man sehe sich die ganzen Begriffe in der
Hegeischen Logik an und frage sich: Ist das dasjenige, was «vor dem
Beginn der Schöpfung als der Inhalt des Göttlichen» da sein konnte?
Es ist abstrakte Logik, Forderung des Schöpferischen, der Logos als
Postulat, aber als rein menschliches Gedankenpostulat! Man empfinde
diese Tragik, die darin liegt! Und man empfinde dann weiter die
Tragik, die darin liegt, daß die Hegeische Philosophie als
überwunden galt! Sie enthält aber Momente, aus denen in der Tat
neues Leben sprießen kann. Sie enthält Keime. Hegel hat sein Heil
gesehen in dem: Sein — Nichts — Werden — Dasein. Wenn aber heute
die Leute Hegel zugeführt bekommen, dann sagen sie: Das ist eine
alte Schwarte, darauf brauchen wir uns nicht einzulassen. — Wenn
man es aber unternimmt, sich durch einen inneren Seelenprozeß
darauf einzulassen, den Begriff innerlich zu erleben, wie ihn Hegel
zu erleben suchte, dann schwinden alle Begriffe von Empirie und
Rationalismus, dann wird der Gedanke erfahren und das Erfahrene
unmittelbar gedacht. Da wird der Gedanke zum Erlebnis und das
Erlebnis zum reinen Gedanken. Wer das mitmacht, der empfindet das
Bestreben, den Gedanken aus der Abstraktheit zu erlösen, und die
Hegeische Logik als den Keim dazu, daß aus dem Gedanken etwas ganz
anderes werden kann, wenn er sich lebendig ausgestaltet. Mir
erscheint oft Hegels Logik als der Keim einer Pflanze, dem man kaum
ansieht, was er werden kann, der aber doch die mannigfaltigsten
Anlagen in sich trägt. Und mir scheint, wenn dieser Keim wächst,
wenn ihn der Mensch liebevoll pflegt und in den seelischen Boden
einsetzt durch anthroposophische Forschung, dann entsteht gerade
das, daß der Gedanke nicht nur gedacht, sondern als Realität erlebt
werden kann. Da haben wir das Mitteleuropäische.
Gehen wir nun zum Osten,
so haben wir in Wladimir Solowjew einen Mann vor uns, der wie kein
anderer Philosoph dazu berufen ist, immer mehr nun auch ein Inhalt
unseres eigenen philosophischen Strebens zu werden, der uns so
wichtig werden muß, indem wir seine besondere
Charaktereigentümlichkeit auf uns wirken lassen. Wir sehen in
Solowjew zugleich den Repräsentanten dessen, was
europäisch-östliche Denkweise ist, die aber nicht die
orientalisch-asiatische ist. Solowieff hat ja alles Europäische
aufgenommen, er hat es nur in seiner besonderen östlichen Art
entwickelt. Aber was sehen wir da sich entwickeln in bezug auf
menschliches wissenschaftliches Streben? Da sehen wir, wie
eigentlich gerade jene Denkweise, auf die der Westen bei Herbert
Spencer das meiste gibt, etwas ist, auf das Solowjew im Grunde
genommen hinunterschaut, an dem er höchstens die Wahrheiten und
Erkenntnisse, die er sucht, sozusagen illustriert. Dagegen ist das,
was er auseinandersetzt, ein volles Erleben in der Geistigkeit
selbst. Es tritt bei ihm nicht mit dem vollen Bewußtsein hervor; es
tritt mehr atavistisch, unbewußt hervor, aber es ist ein Erleben in
der Geistigkeit selbst. Es ist der mehr oder weniger traumhafte
Versuch, wissentlich das zu erleben, was der Westen — wiederum ganz
bewußt — in das Gebiet des Glaubens versetzt. Und so finden wir im
Osten eine Auseinandersetzung mit dem, was in unbestimmter Weise
erlebt werden kann, was sich etwa ausnimmt wie ein einseitiges
Erleben dessen, zu dem Hegel als der Geistigkeit der Welt von dem
natürlichen Dasein aus die Brücke hinüberschlagen
wollte.
Vertieft sich heute
jemand, der aus mitteleuropäischer Geistesbildung hervorgegangen
ist, in Solowjew, so hat er zunächst ein außerordentlich
unbehagliches Gefühl. Er empfindet etwas, was ihn erinnert an
manches nebelhaft Mystische, an Überhitztes im menschlichen
Seelenleben, das nicht zu solchen Begriffen kommt, die sich
äußerlich durch irgend etwas restlos belegen lassen, sondern die
nur innerlich erlebt werden können. Er empfindet das vollständig
Unbestimmte des mystischen Erlebens, aber er findet auch, daß
Solowjew sich durchaus derjenigen Begriffsformen und
Ausdrucksmittel bedient, die wir kennen, Hegelscher, Humescher,
Millscher, sogar solcher, die spencerisch sind — aber nur als
Illustration. So kann man durchaus sagen, daß er nicht im Nebulosen
stehenbleibt, sondern daß er durch die Art, wie er das Religiöse
als Wissenschaft behandelt, wie er es in allem sucht und als
Philosophie entfaltet, durchaus an den philosophischen
Begriffsentwicklungen des Westens gemessen und kritisiert werden
kann.
So sehen wir uns heute vor
der Situation: Im Westen das Bestreben, aus der Naturwissenschaft
heraus eine Weltanschauung zu gewinnen, das Naturwissenschaftliche
auf die eine Seite zu stellen, das Geistige auf die andere Seite,
und in der Mitte zu ringen mit dem Problem, die Brücke zwischen
beiden zu schlagen und das in den unbestimmten Ausdrücken, die
Hegel gebraucht hat: «Die Natur ist der Geist in seinem
Anderssein», «Der Geist ist der Begriff, wenn er wieder zu sich
zurückgekehrt ist». In allen diesen stammelnden Ausdrükken liegt
die Tragik, daß Hegel nur an der Pflege des abstrakten Gedankens
das erleben konnte, nach dem er eigentlich strebte. Und dann sehen
wir im Osten, bei Solowjew, etwa die Art noch bewahrt, wie wohl die
Kirchenväter in bezug auf Philosophie geredet haben mochten vor dem
Konzil zu Nicäa. Er versetzt uns vollständig zurück in die drei
ersten nachchristlichen Jahrhunderte des Abendlandes. So haben wir
im Osten ein Erleben der geistigen Welt, das sich noch nicht
aufschwingen kann zu selbsteigenen begrifflichen Formulierungen,
das die westlichen Formulierungen, die westlichen Begriffe
gebraucht, um sich auszusprechen, und dem daher die Formulierungen
etwas Unbestimmtes, sogar etwas Aufgedrängtes, Fremdes
bleiben.
So sehen wir also, wie in
dreifacher Art das philosophische Weltbild sich entfaltet hat. Und
indem wir verfolgen, wie diese dreifache Art eines philosophischen
Weltbildes aus den Charakteren und Anlagen der Menschheit des
Westens, der Mitte und des Ostens hervorgeht, können wir sehen, daß
es uns heute obliegen muß — da doch Wissenschaft als etwas
Einheitliches sich über die ganze Menschheit ausbreiten muß —,
etwas zu finden, was sich erheben kann über diese verschiedenen
philosophischen Aspekte, die im Grunde genommen doch noch aus
denjenigen Elementen hervorgehen, wo die Philosophie noch eine
menschlich-persönliche Angelegenheit war. Wir sehen heute: Auf
verschiedene Art lieben der Westen, die Mitte von Europa und der
Osten die Weisheit. Wir begreifen, daß in älteren Zeiten die
Philosophie noch da sein konnte als eine innere Seelenverfassung.
Jetzt aber, in der neueren Zeit, wo sich die Menschen so stark
differenziert haben, kommt diese Art, die Weisheit zu lieben, in
mannigfaltigen Weisen zum Ausdruck. Und vielleicht können wir
gerade daran erkennen, was wir selber zu tun haben, insbesondere,
was wir in der Mitte zu tun haben, wo ja das Problem am
tragischsten und intensivsten aufgeworfen ist, wenn dies auch heute
noch nicht in der gleichen Art vor allen philosophischen Gemütern
steht.
Wenn ich das bildlich
zusammenfassen soll, was ich ausgeführt habe, so möchte ich sagen:
In Solowjew spricht philosophisch gesehen der alte Priester, der in
höheren Welten lebte und eine Art innerer Fähigkeiten zu entwickeln
hatte, in diesen höheren Welten zu leben; priesterliche Sprache,
nur ins Philosophische umgesetzt, fühlt man überall bei Solowjew.
Im Westen, bei Herbert Spencer, spricht der Weltmann, der sich in
die Lebenspraxis hineinschicken will, der — wie es ja aus der
darwinistischen Theorie hervorgehen kann — die Wissenschaft so
ausbilden will, daß sie die praktische Lebensgrundlage ergeben
kann. In der Mitte haben wir weder den Weltmann noch den Priester;
Fichte, Schelling, Hegel, sie sind keine priesterlichen Naturen wie
etwa Solowjew. In der Mitte haben wir den Lehrer, den
Volkspädagogen, und zwar auch da, wo die deutsche Philosophie etwa
hervorgegangen ist aus der religiösen Vertiefung; da ist der Pastor
wiederum zum Lehrer geworden. Das Lehrhafte haftet auch der
Hegeischen Philosophie an. Und wir sehen in der neuesten Zeit —
etwa bei Oswald Külpe —, wie die Sache so geworden ist, daß nun die
Philosophie, als man sie eigentlich schon verloren hatte, nichts
mehr ist als eine Zusammenfassung dessen, was die einzelnen
Wissenschaften geben. Man fragt bei der unorganischen
Naturwissenschaft: was kommen da für Begriffe hervor?, man fragt
bei der organischen Naturwissenschaft: was kommen da für Begriffe
hervor?, bei der Geschichte, bei der Religionswissenschaft ebenso,
und so weiter. Man sammelt diese Begriffe und bildet damit
äußerlich abstrakt eine Einheit. Ich möchte sagen, was Gegenstand
der Lehre in den einzelnen Wissenschaften ist, soll eine
Gesamtlehre bilden. Das ist es, wozu im Grunde genommen die
Wissenschaft in der Mitte nach der ganzen Veranlagung der Menschen
gelangen mußte.
Blicken wir zurück auf
das, was da geworden ist, so sehen wir: Bei Herbert Spencer der
unbedingte Glaube an die Naturwissenschaft, der Glaube, festhalten
zu müssen an dem, was Beobachtung, Experiment und der
reflektierende Verstand, der sich über Beobachtung und Experiment
hermacht, erleben können; und man täuscht sich darüber hinweg,
welcher Widerspruch darin liegt, wenn man die so gewonnenen
Begriffe hinauftragen will bis in den sozialen Organismus, und —
obwohl dieser das allerwichtigste Charakteristikon des natürlichen
Organismus, das Sensorium, nicht hat — ihn dennoch erfassen will
mit denselben Begriffen, die im natürlichen Dasein sich ergeben.
Wir sehen die Hinneigung zu dem Naturwissenschaftlichen so stark,
daß Charaktere möglich geworden sind, die — wie Newton — einseitig
festhalten an dem Mechanistischen und ihre Seelenbedürfnisse
abseits davon befriedigen. Newton hat ja bekanntlich in ganz
einseitig mystischer Weise die Apokalypse zu erklären versucht;
also neben seiner wissenschaftlichen Weltauffassung hatte er seine
eigenen mystischen Bedürfnisse.
Sehen wir uns zum Beispiel
an, was da als Naturwissenschaft aufgetreten und nach und nach im
Laufe des 19. Jahrhunderts unbewußt in der europäischen Mitte
übernommen worden ist; denn man hat in der europäischen Mitte die
Wissenschaft einfach nach dem Muster dessen ausgebildet, was
westliches naturwissenschaftliches Denken war. Man merkte das
nicht, aber man bildete dennoch alles Weltanschauungsdenken nach
dem Muster des Westens aus. Wie wild wurden die Leute, wenn irgend
jemand einmal versuchte, die Goethesche Denkweise in der Physik
gegenüber der Newtonschen in Schutz zu nehmen! — Und wie verlief
die Entwicklung in der Biologie? Goethe hat eine Organik begründet,
zu der ein Einleben in Begriffe in mathematischer Art notwendig
ist. Die Zeit drängt, eine Biologie zu gewinnen, die dem modernen
Denken angemessener ist als das, was aus alten Zeiten
heraufgekommen ist. Aber der weitere Fortschritt im 19. Jahrhundert
hat einmal für Mitteleuropa nicht die Goethesche Biologie
angenommen, sondern die des Darwinismus, der von Begriffen
durchsetzt ist, die gegenüber den Goetheschen sich so ausnehmen wie
die Begriffe des 16. Jahrhunderts gegenüber denen des 18.
Jahrhunderts. Einzig und allein in Mitteleuropa hatten sich einmal
die Begriffe fortgebildet; im Westen ist man bei denjenigen
Begriffen geblieben, die ausreichten für das Naturbegreifen. So
kommt es, daß gewisse Begriffe im Westen einfach nicht vorhanden
sind und daß sie, als man in Mitteleuropa das westliche Denken
übernommen hat, einfach verlorengingen. Zum Beispiel der Gedanke,
der lebendige Gedanke, der Begriff des Erfassens einer
Wirklichkeit, abgesondert von einem Empirischen, wie er bei Hegel
zum Vorschein gekommen ist, ist einfach in Mitteleuropa heute nicht
vorhanden; er ging deshalb verloren, weil das mitteleuropäische
Denken vom westlichen Denken überflutet worden ist.
So haben wir in
Mitteleuropa die Aufgabe, hinzuschauen auf das, was
naturwissenschaftliche Denkweise sein kann. Dem Anthroposophen wird
es übel genommen, wenn er diese naturwissenschaftliche Denkweise
mit ebensolcher Liebe pflegt wie der Naturforscher selber. Nichts,
gar nichts soll gegen die naturwissenschaftliche Denkweise von mir
gesagt werden; es ist nur ein Mißverständnis, wenn man dies glaubt.
Aber ich muß naturwissenschaftliche Denkweise eben in ihrer
Reinheit sehen und dann auch versuchen, sie in ihrer Reinheit zu
charakterisieren. Und da stellen sich für den, der unbefangen der
naturwissenschaftlichen Denkweise gegenübersteht, die Dinge, die
diese selbst darstellt — so wie etwa die westlichen Forscher sie
dargestellt haben, wie es Haeckel in einer genialen Weise getan hat
—, da stellen sich diese Ergebnisse westlicher Forschungsart, wenn
man sie so läßt und nicht philosophisch umdeutet, nicht als
Lösungen, nicht als Antworten dar, sondern sie stellen sich überall
als Fragen dar. Die ganze Naturwissenschaft wird nach und nach für
den Unbefangenen nicht zu einer Antwort auf Fragen, sondern sie
wird zur großen Weltenfrage selbst. Überall empfindet man: Was
gerade in der schönsten Weise durch diese Naturwissenschaft
erforscht wird — meinetwillen bis zur Atomtheorie, die ich auch
nicht negiere, sondern nur an ihren richtigen Platz stellen will —,
das alles wird zu Fragen, und aus dem Westen spricht eine große
Fragestellung zu uns. Woher rührt diese Fragestellung?
Wenn wir den Blick in die
Außenwelt lenken und uns bloß der Wahrnehmung des Gegebenen
zuwenden, so haben wir darin keine volle Wirklichkeit. Wir werden
als Menschen hineingeboren in die Welt, sind so konstituiert, wie
wir es schon einmal sind, nehmen einen Teil der Wirklichkeit für
unsere Anschauung in unser eigenes Innere herein, schauen dann die
Außenwelt, das Sinnlich-Gegebene an — und es fehlt uns in unserer
Anschauung derjenige Teil der Wirklichkeit, der in uns lebt, den
wir nur durch menschliches Ringen verbinden können mit der ändern
halben Wirklichkeit, die uns von außen entgegenschaut. Blicken wir
nach dem Westen, so sehen wir dort die halbe Wirklichkeit mit
besonderer Hingebung erforscht; aber sie liefert nur eine Summe von
Fragen, weil sie halbe Wirklichkeit ist. So tritt uns auf der einen
Seite die eine Hälfte der Wirklichkeit, das Gegebene entgegen;
schaut man es richtig an, so wird es zur Frage. In Mitteleuropa
empfand man das Fragenhafte, das die westliche Denkweise geben
kann, und man versuchte durchzustoßen bis zum Gedanken. Das ist die
Hegeische Philosophie.
Im Osten empfand man das,
was über dem Gedanken lebt, was zum Gedanken hinunterwirkt; aber
man kam nicht dazu, es selbst so weit zum Leben zu erwecken, daß
sozusagen das Fleisch auch ein Knochensystem erhielt. Solowjew war
fähig, in seiner Philosophie Fleisch, Muskeln, auch Blut zu
entwickeln — aber das Knochengerüst fehlt. Und daher nahm er die
Hegeischen Begriffe, die Humeschen und andere und bildete damit
dem, was er zu sagen hatte, ein fremdes Knochensystem ein. Erst
wenn man in der Lage ist, nicht mehr ein fremdes Knochensystem zu
gebrauchen, dann verwandelt sich das, was im Geistigen erlebt
werden kann. So aber, wie es etwa bei Solowjew auftritt, führt es
ein schattenhaftes Dasein, weil es sich nicht zum Knochensystem
durchbilden und dadurch anschaulich werden kann. Wenn man dabei
nicht stehenbleiben will, sich nur äußerlich ein Knochensystem zu
entwickeln, sondern in der Geistigkeit lebt und sich vorbereitet
durch starke geistige Arbeit, dann entwickelt man für das geistige
Erleben selbst das innere Knochensystem, man entwickelt die
Begriffe, die man dazu braucht. Dazu sollen jene Übungen sein, die
zum Beispiel in meinen Schriften «Geheimwissenschaft», «Wie erlangt
man Erkenntnisse der höheren Welten?» und anderen gegeben sind. Da
entwickelt man das, was nun wirklich zu einem inneren
Begriffsorganismus werden kann. Das ist dann die andere Seite der
Wirklichkeit, und diese Seite der Wirklichkeit hat ihre Keime in
der östlichen Philosophie Solowjews.
In Mitteleuropa gab es
immer nur das große Problem: zwischen Natur und Geist die Brücke zu
schlagen. Es ist für uns zu gleicher Zeit ein bedeutsames
historisches Problem geworden: die Brücke zu schlagen zwischen West
und Ost, und diese Aufgabe muß heute vor uns stehen in der
Philosophie. Diese Aufgabe führt aber zugleich hinein in die
Anthroposophie. Wird die Anthroposophie innerlich fähig, sich
selber in dem Gedankenerleben lebendige Gestalt zu geben, dann darf
sie auch auf der anderen Seite ganz materialistisch die natürliche
Wirklichkeit erleben, wie man sie im Westen erlebt; denn dann wird
nicht durch abstrakte Begriffe, sondern im lebendigen
Wissenschaftsringen die Brücke gebaut zwischen dem bloßen Glauben
und dem Wissen, zwischen dem Erkennen und der subjektiven
Gewißheit. Dann wird aus der Philosophie eine wirkliche
Anthroposophie entwickelt, und die Philosophie kann jederzeit von
dieser lebendigen Wissenschaft befruchtet werden. Das wird die
Hegeische Philosophie erst wieder zum Leben erwecken können, wenn
ihr durch das anthroposophische Erleben Lebensblut geistiger Art
zugeführt wird. Dann wird nicht mehr eine Logik dastehen, die so
abstrakt ist, daß sie nicht der «Geist jenseits der Natur» sein
kann, wie Hegel wollte, sondern daß sie das wirklich sein kann,
indem dann nicht der abstrakte, sondern der lebendige Geist von der
Philosophie erfaßt wird.
Das gab der Anthroposophie
zunächst die Aufgabe, zu untersuchen: Wie muß gemäß unserem
heutigen Standpunkte, der nun wiederum Jahrzehnte hinter Hegel
liegt, die Brücke geschlagen werden zwischen dem, was wir Wahrheit
nennen auf der einen Seite, die die volle Wirklichkeit umfassen
muß, und dem, was wir Wissenschaft nennen auf der anderen Seite,
die nun auch die volle Wirklichkeit umfassen muß. Kurz, es mußte
das Problem gestellt werden — und das ist das wichtigste aus der
Anthroposophie hervorgehende philosophische Problem: Welches ist
die Beziehung zwischen Wahrheit und Wissenschaft?
Dieses Problem möchte ich
in der Einleitung heute an die Spitze derjenigen Betrachtung
gestellt haben, von der ich glaube, daß sie nun folgen
wird.
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