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VIERTER VORTRAG
ANTHROPOSOPHIE UND
ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT
Berlin, 8. März 1922
Meine sehr verehrten
Anwesenden! Es wird anthroposophischer Weltanschauung in
begreiflicher Weise immer der Vorwurf gemacht, daß sie ihre Ideen,
ihre Ergebnisse verkündet auf der Grundlage von Forschungen, zu
denen die Fähigkeiten im Menschen erst herangebildet werden müssen,
daß also Forschungsergebnisse der Anthroposophie nicht von
vornherein von jedem nachgeprüft werden können, und daß sie dennoch
diese Anschauungen vor den hierauf unvorbereiteten Menschen
verkünde.
Doch gerade dieser
Vorwurf, so scheinbar berechtigt er ist, gehört zu den aller
unberechtigsten, welche der anthroposophischen Bewegung gemacht
werden können. Denn es handelt sich bei ihr nicht darum, jeden
einzelnen sofort dazu anzuleiten, ein Forscher im übersinnlichen
Gebiet zu werden, sondern es handelt sich bei ihr darum, ihre
Forschungsergebnisse auf eine Weise darzulegen, die von jedem
einzelnen Menschen nachgeprüft werden kann, einfach durch den
gewöhnlichen gesunden Menschenverstand und die gewöhnliche gesunde
Logik. Dies macht allerdings nicht unnötig, daß danach gestrebt
wird, wenigstens die ersten Schritte zu übersinnlicher Forschung zu
machen, und dafür gibt es ja Anleitungen in den verschiedenen
Schriften, die auch hier schon genannt worden sind. Jeder kann also
bis zu einem gewissen Grade ein anthroposophischer Forscher werden
— einfach aus den Zivilisationsbedingungen der Gegenwart heraus —,
aber zum Prüfen der Ergebnisse anthroposophischer Forschung ist
dies nicht nötig, denn diese Prüfung kann einfach aus dem gesunden
Menschenverstand heraus erfolgen. Und eines der Gebiete, auf denen
diese Prüfung wirklich praktisch erfolgen kann, ist das
pädagogische Gebiet.
Sehr verehrte Anwesende!
Anthroposophische Weltanschauung mußte lange rein in dem Sinne
wirken, die dem Menschen nahegehenden Ideen über das Übersinnliche
vorzubringen, bevor es ihr aus den Kulturbedingungen der Gegenwart
heraus möglich war, in das praktische Leben, wozu sie sich so
besonders veranlagt fühlt, wirklich einzugreifen. Dies wurde nun
auf einem eingeschränkten Gebiete — und auch da wieder nur in einem
sehr geringen Maße — möglich, als Emil Molt in Stuttgart die
Waldorfschule begründete, deren Leitung mir obliegt. Zwar war schon
früher, wie das kleine Schriftchen «Die Erziehung des Kindes vom
Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» zeigt, der Versuch
unternommen worden, aus anthroposophischen Untergründen heraus
bestimmte Erziehungsprinzipien zu vertreten. Allein erst durch die
Gründung der Waldorfschule ist es möglich geworden, diese Dinge in
die Lebenspraxis einzuführen, und seit jener Zeit ist es auch
möglich, die pädagogisch-didaktische Seite der Anthroposophie im
einzelnen durchzuführen. Es wird mir natürlich nicht möglich sein,
hier in diesem einleitenden Vortrag mehr als einige Andeutungen zu
geben, allein ich denke, daß durch die anderen Vorträge des
heutigen Tages das Angedeutete weiter ausgeführt werden
kann.
Was durch
anthroposophische Ideen aufgenommen wird, wenn man sie einfach mit
dem gesunden Menschenverstand für sich selber verifiziert, ist
nicht bloß eine theoretische Anschauung, das sind nicht bloß Ideen
abstrakter Art, die man nun haben kann, um irgend-welche
Erkenntnisbedürfnisse in theoretischer Weise zu befriedigen.
Sondern das, was in den Ideen zum Ausdruck kommt, die aus
anthroposophischen Quellen geschöpft sind, das ist wirkliche
menschliche Kraft, das ist etwas, was übergeht in den ganzen
Menschen, was die Liebe intensiver macht, was in die Tatkraft des
Menschen sich umsetzen kann. Während die Ideen und Gedanken der
üblichen Wissenschaftlichkeit, die sich nur auf die Sinneswelt
beziehen, gerade darin ihr Eigentümliches haben, daß sie sich in
den Dienst theoretischer und auch wiederum nur für die Sinneswelt
in Betracht kommender praktischer Interessen stellen, ist es das
Charakteristische derjenigen Ideen, in welche anthroposophische
Forschungsergebnisse hineingelegt sind, daß sie auf den ganzen
Menschen, auf seine Erkraftung, auf seine — wenn ich es so
ausdrücken darf — Lebensgeschicklichkeit, auf sein
Lebensverständnis wirken, und zwar auf jenes Lebensverständnis, das
ihm möglich macht, durch seinen Willen bei den verschiedensten
Gelegenheiten des Lebens wirklich einzugreifen. Und wenn man an
irgendeinem Ende einfach dieses Leben anfaßt und es befruchtet
durch anthroposophische Ideen, so kann man sehen, wie das Handeln
des Menschen, wenn es sich dirigieren läßt von diesen Ideen, dann
größere Kraft, größere Eindringlichkeit und so weiter erhält. Das
ist etwas, was sich insbesondere auf pädagogisch-didaktischem
Gebiete bewähren muß.
Wir hatten ja, als die
Waldorfschule begründet worden ist, nicht Gelegenheit, die äußeren
Bedingungen für die Erziehung und den Unterricht der uns
übergebenen Kinder auszuwählen. Es wird in der Gegenwart vielfach
geltend gemacht, wenn ein befriedigender Unterricht, eine
befriedigende Erziehung Zustandekommen soll, dann müsse der oder
jener Ort für die Schule, für das Erziehungsinstitut oder
dergleichen ausgesucht werden. Gewiß, für alle diese Behauptungen
spricht außerordentlich vieles, und sie bewähren sich ja auch in
der Praxis bis zu einem gewissen Grade. Aber wir hatten das alles
nicht. Zunächst mußten wir den Versuch aus den gegebenen
Bedingungen heraus mit den Kindern der Stuttgarter
Waldorf-Astoria-Zigaretten-Fabrik beginnen. Wir hatten also ein
ganz bestimmtes Kindermaterial zunächst, wir mußten in einem Hause,
das selbstverständlich sehr wenig dazu geeignet war — es war ein
früheres Wirtshaus —, mit unserem Unterricht und unserer Erziehung
beginnen. Wir konnten uns also auf nichts verlassen als auf das,
was rein aus geistigen Untergründen heraus für die pädagogischen
und didaktischen Gesichtspunkte selbst begonnen werden
kann.
Und da muß immer wieder
betont werden: Weil Anthroposophie nicht eine abstrakte
Kopf-Erkenntnis — wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf — anstrebt,
sondern eine Einsicht in die Welt und ihre Geheimnisse, die den
ganzen Menschen ergreift, so kann sie gerade dadurch zu einer
Menschenerkenntnis, zu einem Menschenverständnis führen, wie man es
sonst nicht auf irgendeinem theoretischen Gebiete erreichen kann.
Und letzten Endes beruht ja alle Erziehung, aller Unterricht auf
jenem Menschenverständnis, das sich bewährt in dem Verhältnis des
Lehrenden, des Erziehenden zum werdenden, heranwachsenden Menschen,
zum Kinde. Daher ist unsere Waldorf-Pädagogik aufgebaut auf einer
intimen Erkenntnis des werdenden Menschen, des Kindes. Ich brauche
nur eine Einzelheit anzudeuten, an der ersichtlich werden kann, wie
sich wirkliche Einsicht in den ganzen Menschen in der Praxis
bewähren muß.
Wir haben ja heute auch
eine Psychologie, die mehr oder weniger von der anerkannten
Wissenschaft gelten gelassen wird. Aber diese Psychologie
theoretisiert herum an mancherlei Fragen, die eben immer einen
unbefriedigenden Rest lassen müssen. Sie legt sich zum Beispiel die
Frage vor: Welches Verhältnis besteht zwischen dem
Geistig-Seelischen und dem Leiblich-Physischen des Menschen? — und
sie hat alle möglichen Theorien darüber ausgebildet. Wir haben da
drei Typen von Theorien: Die eine sucht von dem Geistig-Seelischen
auszugehen, dieses zunächst in irgendeiner Weise zu definieren,
sich einen abstrakten Begriff davon zu machen und dann zu
untersuchen, inwiefern das Geistig-Seelische auf das
Physisch-Leibliche wirken kann. Eine andere, mehr materialistisch
gefärbte Theorie geht davon aus, daß das Leiblich-Physische die
Grundlage sei, und daß dieses Leiblich-Physische dann das
Geistig-Seelische nur als eine Funktion hervorbringe. Eine dritte
Theorie ist die des psycho-physischen Parallelismus, die davon
ausgeht, in gleicher Weise nebeneinander gelten zu lassen das
Geistig-Seelische und das Leiblich-Physische und nur zu verfolgen,
wie die Funktionen des einen parallel neben denen des ändern
verlaufen, ohne daß man auf ein inneres Wechselverhältnis zwischen
beiden eingeht. Das alles sind psychologische Spekulationen. Sie
werden erst in dem Augenblick zu Angelegenheiten der Lebenspraxis,
wo man durch diese Psychologie, durch diese Seelenerkenntnis, zu
pädagogisch-didaktischen Triebkräften kommt.
Man kann sagen: Auf diesem
Gebiet ist einfach unsere Anschauung des Geistig-Seelischen des
Menschen noch nicht denjenigen Prinzipien nachgekommen, die wir
gewohnt sind, in der Naturwissenschaft wie selbstverständlich zu
verfolgen. In der Naturwissenschaft verfolgen wir, wenn zum
Beispiel irgendwo Wärme auftritt, ohne daß zunächst auf die
gewöhnliche Art Wärme zugeführt worden ist, wie diese Wärme in
einem anderen Zustande, also als sogenannte latente Wärme vorhanden
war und wie sie sich aus diesem latenten Zustande entwickelt hat,
und nun als Wärme offenbar wird. Solche Prinzipien, wie sie in der
Naturwissenschaft gang und gäbe sind, müssen — selbstverständlich
in der entsprechenden Weise metamorphosiert — auch aufgenommen
werden in die Betrachtung des Vollmenschlichen des Menschen,
welches das Geistig-Seelische in sich schließt.
Und man kommt zu einer
solchen Anschauungsweise, die sich vor der Naturwissenschaft voll
rechtfertigen läßt — wenn das auch heute noch nicht eingesehen wird
—, wenn man etwa seinen Blick hinwendet auf die erste
bedeutungsvolle Umwandlung, die mit der ganzen menschlichen
Organisation vor sich geht mit dem Zahnwechsel um das siebente
Lebensjahr herum. Man beobachtet solche Umwandlungen des Menschen
in der Regel recht äußerlich. Allein, der Zahnwechsel ist etwas,
was in das ganze menschliche Leben tief eingreift. Wer sein
Anschauungsvermögen dafür schult, der lernt erkennen, wie mit dem
Eintritt des Zahnwechsels das ganze seelische Leben des Kindes ein
anderes wird. Er lernt erkennen, wie das Kind vorher im vollsten
Sinne des Wortes eigentlich nicht «in sich» lebte, sondern ganz mit
seinem Seelenleben in seiner Umgebung aufging. Er lernt erkennen,
wie das Wesentlichste der Triebkräfte im kindlichen Organismus vor
dem Zahnwechsel die Nachahmung ist. Durch Nachahmung lernt das Kind
seine Bewegungen.
Man kann durch eine
unbefangene Beobachtung genau feststellen, wie die Bewegungen von
Vater und Mutter oder von der anderen Umgebung des Kindes
hineingehen in den kindlichen Organismus selbst. Man kann
verfolgen, wie unter gesunden Verhältnissen die Sprache gelernt
wird unter dem Einfluß der Nachahmung. Man kann sehen, wie das Kind
im vollsten Sinne des Wortes mit seinem ganzen Wesen an seine
Umgebung hingegeben ist. Das aber wird völlig anders im Verlaufe
des Zahnwechsels. Da sehen wir, wie sich im Kinde Kräfte ausbilden,
die bewirken, daß das Kind nun selbständig Vorstellungen
hervorbringen kann. Diese Fähigkeit zu selbständigen Vorstellungen,
die das Innere des Kindes bis zu einem gewissen Grade von der
Umwelt befreien, ist vor dem siebenten Lebensjahr gar nicht
vorhanden. Mit dem Zahnwechsel erlangt das Kind eine gewisse
Innerlichkeit und es wird dann nach und nach auch für Abstraktes
zugänglich.
Nun ist aber durch die
kindliche Natur wiederum bedingt, daß alles, was innerlich m den
das Kind umgebenden Menschen lebt, von dem Kind aufgenommen wird.
Daher muß es in der zweiten Lebensepoche; die mit dem Zahnwechsel
beginnt und bis zur Geschlechtsreife geht, so angesehen werden, daß
es alles, was sich in ihm nun innerlich ausbildet, in Anpassung an
die menschliche Umgebung ausbildet. Nicht das, was die Menschen
seiner Umgebung tun, denn das wird nachgeahmt, sondern das,
was in diesen Menschen lebt, also was zum Ausdruck kommt
durch das Wort, durch die Gesinnung, durch die Gedankenrichtung,
das überträgt sich auf das Kind und zwar jetzt nicht durch
Nachahmung, sondern durch eine Kraft, die aufzunehmen das Kind
ebenso veranlagt ist wie in ihm die Wachstums- und Ernährungskräfte
veranlagt sind: die Kraft der Autorität. Man wird wohl nicht
mißverstehen, was ich hier mit der Kraft der Autorität meine, denn
derjenige, der «Die Philosophie der Freiheit» geschrieben hat, will
hier nur darauf hinweisen, wie das Autoritätsprinzip für eine
bestimmte Lebensphase des Menschen in Betracht kommt. Es soll also
nicht die gesamte Erziehung abgestellt werden auf das, was man
heute vielfach als das Autoritätsprinzip bezeichnet. Wenn man nun
auf solche Beobachtungen den entsprechenden Wert legt, dann
differenzieren sich die Dinge immer deutlicher und man erwirbt sich
immer mehr die Fähigkeit, die Metamorphosen im Menschen nicht nur
von Jahr zu Jahr, sondern von Monat zu Monat beobachten zu können.
Was aber ist es denn, was da zwischen Zahnwechsel und
Geschlechtsreife im Kinde zutage tritt?
Wenn man sich einen Blick
aneignet für das, was da tatsächlich vorliegt, dann findet man, daß
zwischen dem siebten und vierzehnten Jahr — das sind natürlich nur
approximative Zahlen — beim Kind innerlich seelisch das zum
Ausdruck kommt, was vorher verborgen in ihm als Kraft wirkte.
Dieses steckte unten in der Leiblichkeit und bewirkte die
Ausgestaltung des menschlichen Organismus, wirkte auch in der
Umbildung des Gehirns in den ersten Lebensjahren und in der
Zubereitung der Sprachorgane, wirkte also in allem, was das Kind
überhaupt in seinem Körperlichen ausbildete. Und so kann man sagen:
So wie zum Beispiel die Wärme in einem Körper verborgen sein und
dann durch gewisse Umstände frei werden kann, so wird das
Geistig-Seelische, das in den ersten sieben Lebensjahren latent im
Physisch-Organischen wirkt, was in jeder einzelnen Bewegung, in
jedem körperlichen Vorgang zum Ausdruck kommt, erst später frei.
Nach dem siebten Lebensjahr wird das Körperliche mehr sich selbst
überlassen; es zieht sich das Geistig-Seelische allerdings nicht
vollständig aus dem Körperlichen heraus, aber doch in einem hohen
Maße. Der Zahnwechsel ist dann eine Art Schlußpunkt der ersten
Entwicklungsphase, in der das Geistig-Seelische des Menschen noch
deckungsgleich war mit dem Physisch-Leiblichen.
Sie sehen, daß man durch
eine solche Betrachtungsweise in die Lage kommt, nun eine wirkliche
Beziehung zu erkennen zwischen dem Geistig-Seelischen und dem
Physisch-Leiblichen. Man theoretisiert nicht mehr nur herum über
die Frage, wie denn die beiden aufeinander wirken und so weiter.
Man sieht einfach das Geistig-Seelische während der einen
Lebensepoche ganz im Körperlichen drin — man hat es in der
kindlichen Entwicklung anschaulich vor sich —, und man sieht es
später, nach seiner Befreiung, in seiner eigenen Gestalt. Man
vergleicht also nicht erst, was man zuvor in abstrakte Begriffe
gefaßt hat, sondern man verfolgt die Wirksamkeit des
Geistig-Seelischen im Körperlichen in den verschiedenen
Lebensepochen. Das heißt aber, daß das, was m der Naturwissenschaft
als das den äußeren Sinnen Zugängliche erforscht wird,
herausgehoben wird m das geistige Gebiet. Würde man viel mehr auf
die Einzelheiten dessen, was Anthroposophie will, eingehen und
nicht bei oberflächlichen Definitionen stehenbleiben, so würde man
schon sehen, welch eine treue Fortsetzerin der so berechtigten
naturwissenschaftlichen Denkweise die
geisteswissenschaftlich-anthroposophische Weltanschauung eigentlich
ist. Dann aber, wenn man sich in dieser Weise bis herein in die
Begriffs- und Ideenwelt Menschenerkenntnis erwirbt, dann löst sich
der Vorwurf von der Lebensfremdheit der Ideenwelt von selber
auf.
Sehr verehrte Anwesende!
Anthroposophie will am wenigsten auf pädagogischem Gebiete
irgendwie oppositionell sein zu dem, was an Großem und Bedeutsamem
im Laufe besonders des 19. Jahrhunderts durch die großen Pädagogen
der Menschheit an pädagogischen Prinzipien gegeben worden ist.
Anthroposophie erkennt völlig an, daß große, bedeutungsvolle
Erziehungsprinzipien da sind und sie steht nicht zurück vor irgend
jemandem in der Anerkennung der großen Pädagogen. Allein, dennoch
muß man sagen: Bei allen großen Erziehungsprinzipien, die da sind,
herrscht heute vielfach eine gewisse Unbefriedigung gegenüber der
Erziehungspraxis, und Erziehungsmethoden der verschiedensten Art
treten auf zum Zeugnis dafür, daß es so ist. Warum ist das
so?
Es ist dies oft lediglich
eine Folge des Intellektualismus in unserem Zeitalter. Dieser
Intellektualismus bewirkt ja — mehr als man gewöhnlich glaubt —
eine gewisse Lebensfeindlichkeit, namentlich für die sozialen
Gebiete des Daseins. Er erzeugt in bezug auf das Ideenhafte
eigentlich nur das Abstrakte. Das Abstrakte aber hat keine
Lebenskraft in sich; es ist in gewisser Beziehung der Leichnam des
Geistigen und wird auch als solcher erlebt. Und hat man die
schönsten Grundsätze, für die man geradezu in Begeisterung erglühen
kann — solange diese Grundsätze abstrakt bleiben, können sie im
Leben nicht einen irgendwie günstigen Einfluß gewinnen. Erst wenn
diese Grundsätze durchzogen werden von wirklicher Geistigkeit, von
lebendiger Geistigkeit, die sich mit dem Wesen des Menschen
verbindet, können diese Grundsätze praktisch werden. Und so möchte
Anthroposophie nicht neue Erziehungsgrundsätze wiederum in
abstrakter Art aufstellen; sie will nur eine Anleitung sein für die
pädagogischen und didaktischen Geschicklichkeiten, für die
Handhabung der Erziehungskunst und der Unterrichtskunst, und sie
möchte gerade das geben, was auch die schönsten
Erziehungsgrundsätze nicht geben können: geistige Untergründe für
die praktische Handhabung, für die innere Befähigung des Lehrers,
in der Schule und in der Erziehung zu wirken.
Daher ist ja auch die
Waldorfschule nicht so eingerichtet, daß — wie leider oft geglaubt
wird — durch sie Weltanschauung, wie wir sie vor Erwachsenen
vortragen, in die Kinder hineingepfropft werden sollte. Wir haben
daher ganz besonders zu betonen, daß sogar der Religionsunterricht
für die katholischen Kinder den katholischen Pfarrern, und für die
evangelischen Kinder den evangelischen Pfarrern überlassen wird.
Wir haben nur einen freien Religionsunterricht eingerichtet für
diejenigen Kinder, die Dissidentenkinder sind, und die, wenn dieser
Unterricht nicht eingerichtet worden wäre, gar keinen
Religionsunterricht hätten. Gerade dadurch konnte wieder etwas zur
Belebung des religiösen Gefühles geleistet werden; denn gerade
diejenigen Eltern, die sonst ihre Kinder dem Religionsunterricht
ganz entzogen hätten, schicken ihre Kinder jetzt in diesen
Religionsunterricht, in welchem wir uns Mühe geben, nicht etwa
Anthroposophie vorzutragen, sondern das auszugestalten, was für das
kindliche Alter in dieser Beziehung ausgestaltet werden muß. Also
nicht darum handelt es sich, Anthroposophie in das kindliche Gemüt
hineinzutragen, sondern darum, daß die Lehrerschaft durch
Anthroposophie dazu kommt, die pädagogisch-didaktischen
Handlungsweisen so einzurichten, daß sie nun wirklich wahrer
Menschenerziehung entsprechen.
Hieraus folgt, daß
zunächst einfach durch die praktische Handhabung eine solche
Erziehung und ein solcher Unterricht Zustandekommen, die nicht bloß
auf das Kind sehen, sondern die auf den ganzen Menschen sehen. Denn
es wäre höchst töricht, etwa die Füße oder Hände eines Kindes, wie
sie im kindlichen Alter sind, als etwas Fertiges zu betrachten und
sie etwa zu nötigen, so zu bleiben, wie sie im kindlichen Alter
sind. Es ist selbstverständlich, daß wir im kindlichen Alter den
kindlichen Organismus als etwas Werdendes betrachten, das später im
Leben anders zu sein hat. Aber in bezug auf das Geistig-Seelische
tun wir im Leben nicht immer das Gleiche. Wir sehen oftmals sogar,
daß dem Kinde starre Begriffe beigebracht werden und das Kind
häufig schon im kindlichen Alter etwas in seine Seele
hereinbekommt, was scharfe Konturen hat. Das ist falsch! Es muß
sich darum handeln, daß wir alles, was wir dem kindlichen
Organismus einverleiben wollen, so an ihn heranbringen, daß es
wachsen, daß es sich nach und nach umwandeln kann; so daß der
Mensch später, im dreißigsten Jahre zum Beispiel, nicht nur eine
Erinnerung an das hat, was er im kindlichen Alter aufgenommen hat,
sondern daß er das damals Aufgenommene so umgestaltet hat, wie er
auch seine Glieder umgestaltet hat. Wir müssen dem Kinde in allem,
was wir ihm geistig-seelisch geben, auch etwas geben, was
Wachstumskräfte, was Umwandlungskräfte in sich hat; das heißt, wir
müssen den Unterricht lebendiger und immer lebendiger
machen.
Gewiß, das kann als
abstraktes Prinzip ausgesprochen werden; aber praktisch erreicht
kann es nur werden, wenn eine wirklich intime Menschenerkenntnis
vorhanden ist. Eine solche intime Menschenerkenntnis macht es
möglich, daß man einfach von der kindlichen Natur selbst alles
abliest, was man gewöhnlich unter Lehrplan und unter Lernziel
versteht. Daher herrscht in der Waldorfschule ein solcher Lehrplan
und sind solche Lernziele in Aussicht genommen, die aus einer
wirklichen Menschenkenntnis heraus von Monat zu Monat aus der
Entwicklung der kindlichen Natur selbst abgelesen werden. Es ist
der Versuch gemacht worden, wirklich alles in lebendigem Sinne zu
gestalten.
Ich will nur eines
erwähnen. Es ist ja heute in verschiedener Beziehung auch im
heutigen öffentlichen Unterricht manches besser geworden. Allein,
Sie wissen alle, daß während des ganzen Schuljahres das Kind
eigentlich mehr als es einem gewöhnlich bewußt wird, unter dem
System leidet, das die Fortschritte des Kindes beurteilt. Da gibt
es auf der einen Seite die kindlichen Leistungen, auf der anderen
Seite die Beurteilungen dieser Leistungen durch den Lehrer; die
werden so ausgedrückt: «befriedigend», «fast befriedigend», «fast
kaum befriedigend», «minder befriedigend» und so weiter. Ich muß
Ihnen offen gestehen: Ich war eigentlich nie fähig, einen
Unterschied einzusehen zwischen «fast befriedigend», «fast nicht
befriedigend» und dergleichen. Bei uns in der Waldorfschule handelt
es sich darum, daß aus der Gesamtheit der Fortschritte heraus am
Ende des Schuljahres dem Kinde eine Art Zeugnis übergeben wird, in
dem der Lehrer individuell das Kind charakterisiert, indem er
einfach das, was er an dem Kinde erlebt hat, auf ein Stück Papier
schreibt. Das Kind sieht so eine Art Spiegelbild seiner selbst, und
die Praxis hat gezeigt, daß es dieses Spiegelbild — worauf nicht
«befriedigend», «minder befriedigend» und so weiter für die
einzelnen Gegenstände steht — mit einer gewissen inneren
Befriedigung und Freude aufnimmt, selbst wenn darin Tadel stehen.
Und dann bekommt das Kind eine Art Kraftspruch mit, der gerade aus
seiner Natur geholt ist, den es sich dann aneignet, und der ihm ein
Leitspruch für das nächste Jahr sein kann. — So kann man, wenn man
die Liebe dazu hat, auf das Lebendige einzugehen, den Unterricht
selbst unter ungünstigen Verhältnissen lebendig
gestalten.
Dadurch aber kommen wir
auch dazu, etwas zu überwinden, was in unserem Zeitalter gerade in
der Pädagogik und Didaktik überwunden werden muß. Man wird ja heute
in der äußeren Geschichtsschreibung wenig Anhaltspunkte dafür
finden, wie sich die Seelenverfassungen der Menschen in den
einzelnen Entwicklungsepochen der Menschheit geändert haben. Wer
aber Unbefangenheit genug hat, wird schon verstehen können, wie
das, was man als geistige Äußerungen zum Beispiel des 10., 11., 12.
Jahrhunderts sich vor die Seele stellen kann, einen ganz anderen
Charakter trägt als das, was etwa seit der Mitte des 15.
Jahrhunderts die Seelenverfassung der zivilisierten Menschheit
geworden ist. Ja, bis zum 20. Jahrhundert herauf hat sich der
Intellektualismus m der Menschheit bis zu einem Kulminationspunkt
entwickelt. Dieser Intellektualismus hat aber die Eigentümlichkeit,
daß er — geradeso wie das Nachahmungsprinzip oder das
Autoritätsprinzip — erst in einem bestimmten Lebensalter des
Menschen aus einem latenten in einen freien Zustand versetzt wird,
und das ist beim Intellektualismus in einem verhältnismäßig späten
Lebensalter der Fall. Wir sehen, wie der Mensch eigentlich erst,
wenn er die Geschlechtsreife überwunden hat,
eigentlich sogar noch
später, aus seiner elementaren Natur heraus geeignet wird, zum
Intellektualistischen fortzuschreiten. Vorher wirkt das
Intellektualistische auf seine Seelentätigkeit durchaus Ablähmen,
abtötend.
Daher können wir sagen:
Wir leben in einem Zeitalter, das eigentlich nur für den
erwachsenen Menschen da ist, das als den wichtigsten Kulturimpuls
etwas hat, was erst im erwachsenen Menschen voll zum Ausdruck
kommen sollte. Das aber hat zur Folge, daß wir heute mit dem, was
in bezug auf die ganze Kultur für die erwachsenen Menschen gerade
tonangebend ist, eigentlich das Kind und selbst den jungen Menschen
nicht mehr verstehen!
Das ist das wichtigste,
was in unserer Zivilisation zu berücksichtigen ist. Wir müssen uns
darüber klar sein, daß wir gerade durch diejenigen Kräfte, durch
die wir unsere Wissenschaften und unsere Technik zu so großen
Triumphen und so großer Blüte gebracht haben, uns die Möglichkeit
nehmen, das Kind voll zu verstehen und auf die volle Menschennatur
des Kindes einzugehen. Es bedarf eben wieder eigener Mittel, um die
Brücke zu dem jungen Menschen und dem Kinde herüber zu schlagen.
Das, was jetzt in mannigfacher Gestalt als Jugendbewegung auftritt
— man mag sich dazu verhalten, wie man will —, hat seine tiefste
Berechtigung; sie ist nichts anderes als der Schrei der Jugend: Ihr
Erwachsenen habt eine Zivilisation, die wir einfach nicht
verstehen, wenn wir uns unserer elementarsten Natur hingeben! —
Aber diese Brücke vom Erwachsenen zur Kindeswelt muß wieder
gefunden werden, und dazu möchte Anthroposophie das ihrige
beitragen.
Und wenn man dann vom
allgemeinen Kulturstandpunkt zum einzelnen heruntersteigt, wird man
wieder finden, wie dieser Erziehungsplan, der abgelesen ist vom
Wesen des Kindes selbst, uns erkennen läßt, was man im
Erziehungsplan für die einzelnen Lebensphasen der Kindheit
entwickeln muß. Schreiben und Lesen waren in früheren Zeitaltern
etwas ganz anderes, als sie es heute sind. Nehmen Sie unsere
heutigen Buchstaben: sie sind etwas ganz Abstraktes, Lebensfremdes
im Verhältnis zum eigentlichen Leben. Gehen wir zu früheren Zeiten
zurück: Wir finden in der Bilderschrift etwas, was sich unmittelbar
an das Leben anlehnt. Wir machen uns heute oft gar keine Gedanken
darüber, wie innig mit dem Leben [diese Bilderschrift] verbunden
war, und wie heute dem Leben so fremd ist: Lesen und Schreiben. Ja,
wir stehen in einer Zivilisation drinnen, der es natürlich ist, daß
das Lebensfremdeste zu Zwecken der Zivilisation ausgebildet wird.
Wer heute mit unbefangenem Sinn zum Beispiel einen Stenographen
oder einen alten Menschen an der Schreibmaschine sitzen sieht, der
weiß, daß mit einer solchen Betätigung gerade das menschlich
Fremdeste in die Zivilisation eingezogen ist. Sehr verehrte
Anwesende, man wird nicht kulturfeindlich oder zum Reaktionär, wenn
man dies ausspricht. Es wird auch nichts gesagt gegenüber dem, was
mit diesen Mitteln in die neuere Zeit eingezogen ist; sie mußten da
sein. Aber es müssen auch die Gegenkräfte entwickelt werden, die
das wieder heilen, was, wenn es einzig und allein wirksam gelassen
wird, nur zu einem gewissen Niedergang der Kultur, zu einer
Dekadenz führen könnte. Und das wichtigste Moment, was in dieser
Beziehung als Heilmittel eingeführt werden kann, liegt in der
Erziehung, im Unterricht, der aber stets erzieherisch gestaltet
werden muß.
Wenn wir das Kind m die
Volksschule hereinbekommen, ist es ja so, daß sein Intellekt
zunächst noch schlummert. Die Fähigkeit zu abstraktem Denken, die
erst von anderem belebt werden muß, diese Fähigkeit tritt erst
später auf. Daher können wir mit den abstrakten Schreibe- und
Leseformen an das Kind, wenn es in die Schule kommt, noch nicht
herankommen. Da können wir nur das nehmen, womit wir lebendig an
das Kind herankommen können, denn im Kinde selbst wirkt ja ein
künstlerisches seelisches Prinzip, das vollkommener und großartiger
ist als jede andere Kunst. Das wirkt auf unbewußte Art. Diese
müssen wir fortsetzen und müssen versuchen, für das kindliche Alter
besondere Formen zu erfinden, wodurch das Kind auf künstlerische
Art in das Schreiben, das heißt in die Betätigung seines gesamten
Menschen hereinkommt und dann zum Lesen übergeht. Man muß in bezug
auf die Pädagogik, wenn die Kinder heute im achten oder neunten
Jahre noch nicht lesen oder schreiben können, den Mut haben, sagen
zu können: Gott sei Dank, daß die Kinder in diesen Jahren noch
nicht lesen oder schreiben können! — denn es kommt nicht darauf an,
daß der Mensch dieses oder jenes [früh] lernt, sondern daß er es im
richtigen Lebensalter und auf eine richtige Art lernt.
So ist in der
Waldorfschule der Unterricht auf künstlerische Gestaltung hin
eingerichtet. Aus pädagogisch künstlerischen Prinzipien heraus wird
zunächst vorgegangen und erst allmählich zum Intellektuahstischen
übergeleitet. Wir tragen auch dem Rechnung, daß das Musikalische
möglichst früh im Unterricht auftritt, weil es zur Willensbildung
des Menschen in Beziehung steht. Wir tragen dem dadurch Rechnung,
daß wir zu dem gewöhnlichen Turnunterricht den
Eurythmie-Unterricht, das beseelte Turnen, m den Unterricht
eingefügt haben. Es muß noch metamorphosiert werden, muß ins
Pädagogisch-Didaktische umgesetzt werden, dann aber findet man, daß
durch diese Bewegungskunst, die das wahrzunehmen hat, was Geist und
Seele des Menschen ist, etwas vermittelt wird, was sinnvoll ist.
Man findet, daß das Kind sich während der schulpflichtigen
Erziehung in diese Bewegungskunst so hineinfindet, wie es sich als
ganz kleines Kind eben in die Sprache hineinfindet, mit innerem
Wohlgefallen und mit innerer Selbstverständlichkeit. — Dieses
Herausarbeiten aus dem Künstlerischen führt dann auch dahin, daß
man das Kind von sehr früh an mit Farben hantieren läßt. Wenn das
auch zuweilen unbequem ist, und —wenn dann auch schärfere
Reinlichkeitsgrundsätze als sonst dabei eingreifen müssen, so wird
sich doch herausstellen, daß man dadurch das Kind tiefer in das
Leben einführt als sonst. Man bringt es dazu, daß es einen Sinn
bekommt für das Leben, daß es nicht am Leben vorbeigeht, sondern
daß es mit der äußeren Welt lebt, daß es empfänglich wird für alles
Schöne, für alles, was ihm sinnvoll in Natur und Menschenleben
entgegentritt. Und dies ist wichtiger als die Übertragung einzelner
Einzelheiten aus diesem oder jenem Gebiete auf das Kind.
Zu alle dem aber, was ich
hier nur in seinen Richtlinien andeuten kann, kommt das, was aus
anthroposophischen Untergründen heraus in die Gesinnung des Lehrers
einfließt, was der Lehrer einfach durch sein ganzes Wesen mitbringt
an pädagogisch-didaktischen Imponderabilien, wenn er die Tür des
Schulzimmers hinter sich schließt nach der Klasse zu, wenn er vor
die Kinder tritt. Wer mit lebendigem Sinn — nicht mit abstrakten
Ideen — anschaut, wie das Kind nachahmend sich anpaßt an die
Umgebung, der weiß, was in diesem Kinde als Geistig-Seelisches
wirkt. Er lernt das Kind kennen und bekommt dadurch die
Voraussetzungen, es in ganz anderer Weise zu beurteilen, als man es
gewöhnlich tut. Ich will dafür nur ein Beispiel
anführen.
Man lernt ja so manches,
wenn man in diesem Sinne das Leben ansieht. Zu mir kam einmal ein
Elternpaar und sagte, der junge Sohn, der bisher ganz brav und
ordentlich gewesen sei, habe jetzt plötzlich gestohlen. Ich fragte:
«Wie alt ist das Kind?» —, die Eltern antworteten: «Fünf Jahre».
Ich sagte: «Dann muß man erst untersuchen, was das Kind eigentlich
getan hat, denn vielleicht hat es gar nicht gestohlen.» — Was hatte
es denn getan? Es hatte einiges Geld aus der Schublade genommen,
aus der die Mutter jeden Morgen Geld nahm, wenn sie einkaufen
wollte. Für dieses Geld hatte sich der Knabe einige Naschereien
gekauft, die er nicht einmal für sich selbst verwendet hat, sondern
die er anderen Kindern gegeben hat. In diesem Fall muß man sagen:
Da ist gar keine Rede von Stehlen; das Kind hat einfach gesehen,
was die Mutter jeden Morgen getan hat, und es fühlte sich befugt,
dies selbst auch zu machen. Das Kind ist ein Nachahmer. Jenes
Verhältnis des Kindes zu den Normen der Erwachsenen, die ihren
Ausdruck finden in «gut» und «böse», tritt ja erst ein, wenn der
Zahnwechsel überwunden ist. Wir müssen deshalb eine ganz andere
Beurteilungsmöglichkeit gewinnen und wissen lernen: alles, was wir
in der Umgebung des Kindes tun, muß so eingerichtet werden, daß das
Kind es nachahmen kann, es nachahmen kann bis in die
Imponderabilien der Gedanken hinein. Da erweist sich eben die
Realität der Gedanken. Nicht bloß das, was wir tun, sondern auch
die Art und Weise unserer Gedanken ist maßgebend dafür. Wir sollen
uns in der Umgebung des Kindes nicht jedem Gedanken hingeben, denn
er wirkt auf das Kind. Also bis auf die Imponderabilien hin müssen
die Gedanken berücksichtigt werden.
Schaut man darauf hin, wie
das Kind bis zum siebenten Jahre mit seiner Umgebung lebt, dann hat
man dann einen Abdruck dafür, was das Kind war, bevor der Mensch in
die physisch-sinnliche Welt heruntersteigt. Bis dahin — das zeigt
anthroposophische Forschung — ist der Mensch ganz umgeben von einer
geistig-seelischen Welt, die so mit ihm zusammenhängt im Universum,
wie hier in der physischen Welt sein Leib mit dieser. Und wir
kommen dazu, in dem kindlichen Leben bis zum siebenten Jahre eine
rechte Fortsetzung des Lebens vor der Geburt oder vor der
Konzeption zu sehen. Das aber muß sich verwandeln in
pädagogisch-didaktische Empfindung, so daß der Lehrer so vor dem
Kinde steht, daß er sich sagt: Mir ist aus übersinnlichen Welten
etwas übergeben, das ich enträtseln muß, dem ich die Lebensbahn
ebnen muß.
Unterricht und Erziehung
wird so wirklich ein Opferdienst gegenüber der ganzen Welt. Es wird
über Unterricht und Erziehung etwas ausgegossen von jener
Gesinnung, die eine Kraft ist, und ohne die wirklicher Unterricht
und wirkliche Erziehung nichts sein können. Diese Gesinnung, die
sich nicht aus äußerlich angenommener, sondern aus innerlich
erarbeiteter anthroposophischer Weltanschauung ergibt, sie ist
gerade das Allerwichtigste im pädagogisch-didaktischen Wirken. Man
steht dann mit religiöser scheuer Ehrfurcht vor dem, was der
kindliche Leib in sich birgt; man schaut hin, wie ein aus den
ewigen Weltengründen Erstandenes nach und nach sich offenbart in
den kindlichen Bewegungen, Gesten und so weiter, und man weiß, daß
man ein Lebensrätsel in praktischer Art zu lösen hat. Die ganze
Erziehungs- und Unterrichtsgesinnung wird dadurch überhaupt erst in
die richtigen Wege geleitet. Diese Atmosphäre, die sich ausbreitet
bei allen Handlungen, die im schulgemäßen Leben getan werden
müssen, ist das, was Anthroposophie vor allem hinein haben möchte
in das Unterrichts- und Erziehungswesen, und von dem sie alle
Einzelheiten beherrscht haben möchte. Aber um sie beherrschen zu
können, ist nötig, daß man mit wirklicher innerer Anschauung dazu
komme, in der kleinsten Lebensregung des Kindes zu sehen, wie der
Geist fortwirkt bis in die Fingerspitzen hinein. Der Lehrer wird
sich dazu eine innere Gesamtanschauung aneignen, so daß er aus
einer Fähigkeit, die wiederum zum Instinkt werden muß, seiner
Klasse gegenübertritt mit der Gesinnung und der Geschicklichkeit,
die gerade aus dieser innerlichen Verarbeitung der
anthroposophischen Weltanschauung kommen.
Das sind einige
Andeutungen, die ich geben konnte; sie werden in den folgenden
Vorträgen weiter ausgeführt werden können. Diese Andeutungen
sollten zeigen, daß die Anthroposophie nicht radikal sein will
gegen das Große, was auf pädagogischem Gebiete geleistet worden
ist, sondern daß sie sein will eine Helferin für das Große, sonst
nur abstrakt Bleibende, so daß es in der Lebenspraxis lebendig
durchgeführt werden kann, damit die Erziehungskunst ein wirklicher
Impuls, ein wirksamer Faktor in unserem sozialen Leben werden
kann!
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