EINE VORREDE
Nachträglich
geschrieben zu diesen vor mehr als sieben fahren
gehaltenen Vorträgen
In diesen
Vorträgen, die im Juni 1910 in Christiania gehalten worden sind,
habe ich den Versuch gewagt, die Psychologie der
Völkerentwikkelung zu zeichnen. Als Grundlage der
Betrachtung hat gedient, was ich über anthroposophisch
orientierte Geisteswissenschaft (in meinen Büchern
«Theosophie,» «Geheimwissenschaft,» «Vom
Menschenrätsel,» «Von Seelenrätseln»
und anderen) dargestellt habe. Ich durfte auf dieser Grundlage
aufbauen, weil meine Zuhörer bekannt waren mit der
wissenschaftlichen Anschauung, die in meinen Büchern
gekennzeichnet wird. Es kommt aber zu diesem äußeren Grund
für die Wahl des Gesichtspunktes noch ein innerer. Für eine
wirkliche Psychologie der Völkercharaktere kann die
anthropologische, ethnographische, selbst die historische Betrachtung
der gewöhnlichen Wissenschaft keine ausreichende
Grundlegung geben. Man kommt mit dem von dieser Wissenschaft
Gebotenen nicht weiter als man mit der Anatomie und Physiologie kommt
für eine Erkenntnis des Seelenlebens des Menschen. Wie man bei
dem einzelnen Menschen vom Leibe zur Seele fortschreiten muß,
wenn man sein inneres Leben kennen lernen will, so muß man
für die Völkercharaktere zu dem ihnen zugrunde liegenden
Seelisch-Geistigen vordringen, wenn man eine wirkliche
Erkenntnis derselben anstrebt. Dieses Seelisch-Geistige ist
aber nicht ein bloßes Zusammenwirken der Einzel-Seelen der
Menschen, sondern es ist ein diesen übergeordnetes
Seelisch-Geistiges. Ein solches zu betrachten, ist der
gegenwärtigen Wissenschaft ganz ungewohnt. Vor ihrem Forum
ist es paradox von Volksseelen als von wirklichen Wesenheiten zu
sprechen, wie man vom wirklichen Denken, Fühlen und Wollen des
einzelnen Menschen spricht. Und ebenso paradox ist es vor diesem
Forum, die Völker-Entwickelung auf der Erde in Zusammenhang zu
bringen mit den Kräften der Himmelskörper des Weltraumes.
Man braucht aber, um die Sache nicht mehr paradox zu finden, sich nur
zu erinnern, daß niemand die Kräfte, welche eine
Magnetnadel in der Nord-Süd-Rich tung einstellen, innerhalb
der Magnetnadel selbst suchen wird. Er schreibt sie der Wirkung des
Erdmagnetisrnus zu. Er sucht die Gründe für die Richtung
der Nadel im Kosmos. Wird man also nicht die Gründe für die
Entwickelung von Volkscharakteren, Volkswanderungen usw.
außerhalb der Volkszusammenhänge im Kosmos suchen
dürfen? Von der anthroposophischen Anschauung ganz abgesehen,
für die höhere geistige Wesenheiten eine Wirklichkeit sind,
kommt für den Inhalt dieser Vorträge noch ein ganz anderes
in Betracht. Dieser Inhalt legt allerdings eine höhere
geistige Wirklichkeit der Völker-Entwickelung zugrunde,
und er sucht die Kräfte, welche dieser Entwickelung die
Richtungen geben, in einer solchen Wirklichkeit. Allein die
Betrachtung steigt dann herab zu den Tatsachen, die im Leben der
Völker zutage treten. Und da zeigt es sich, daß diese
Tatsachen durch diese Grundlegung verständlich werden. Man
kann dadurch die Lebensverhältnisse der einzelnen Völker
sowohl, wie auch ihre gegenseitigen Beziehungen durchschauen,
während es ohne eine solche Grundlegung ein wahres Erkennen auf
diesem Gebiete nicht gibt. Man muß entweder auf eine
Völkerpsychologie verzichten, oder man muß für sie
eine Grundlegung in einer geistigen Wirklichkeit suchen.
Ich habe mich
nicht gescheut, für die höheren geistigen Wesenheiten die Namen
anzuwenden, welche in den ersten christlichen Jahrhunderten
üblich waren. Der Orientale würde andere Namen wählen.
Doch wenn man auch heute das Anwenden solcher Namen wenig
«wissenschaftlich» finden kann, so scheint es mir
doch richtig, vor solcher Anwendung nicht zurückzuschrecken;
erstens wird dadurch dem christlichen Grundcharakter unserer
abendländischen Kultur Rechnung getragen, zweitens ist dadurch
doch noch eher eine Verständigung möglich, als wenn
völlig neue Namen gewählt würden, oder wenn
orientalische Bezeichnungen übernommen würden, deren
wahrer Inhalt doch nur demjenigen gegenwärtig sein kann, der in
dem entsprechenden Kulturzusammenhang seelisch darinnen steht. Mir
schwebt doch die Möglichkeit vor, daß derjenige, welcher in
diese geistigen Zusammenhänge eindringen will, sich, wenn
er die Sache als solche nicht ablehnt, an Namen wie Engel, Erzengel,
Throne usw. ebensowenig stoßen wird, wie er dies in der
physischen Wissenschaft gegenüber Benennungen wie positive und
negative Elektrizität, Magnetismus, polarisiertes Licht usw.
tut.
Wer den Inhalt
dieser Vorträge zusammenhält mit den schmerzlichen Prüfungen
der Kulturmenschheit in diesen Tagen, der wird finden
können, daß das damals Gesagte manches Licht
verbreitet über jetzt Geschehendes. Hielte ich diese
Vorträge jetzt, so könnte man glauben, daß der
augenblickliche Stand der Weltereignisse solche Betrachtungen
herausforderte. So steht zum Beispiel auf Seite 3 [In
dieser Ausgabe auf Seite 17.] des ersten Vortrages: «Es
ist ... von einer ganz besonderen Wichtigkeit ... daß gerade in
unserer Zeit in unbefangenster Weise auch gesprochen wird über
dasjenige, was wir die Mission der einzelnen Volksseelen der
Menschheit nennen ..., weil die nächsten Schicksale der
Menschheit in einem viel höheren Grade als das bisher der
Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission
zusammenführen werden. Zu dieser gemeinsamen Mission werden aber
die einzelnen Volksangehörigen nur dann ihren entsprechenden
freien, konkreten Beitrag liefern können, wenn sie vor allen
Dingen ein Verständnis haben für ihr Volkstum, ein
Verständnis für dasjenige, was man nennen kann
‹Selbsterkenntnis des Volkstums›.» Die Zeiten sind
wohl nun da, in denen die Schicksale der Menschheit selber lehren,
daß in einer solchen Anschauung Wahrheit ist.
Vielleicht ist
gerade das Thema von den «Volksseelen» ein solches, das zeigt,
wie geistige Betrachtung, die auf die wirkliche übersinnliche
Wesenheit des Daseins geht, zugleich die wahrhaft praktische
Lebensanschauung gibt, die Licht wirft auch auf die einzelnsten
Fragen des Lebens. Eine Lebensbetrachtung, die für die
Entwickelung und das Wesen der Völker nur solche Vorstellungen
gebraucht, die für die Naturwissenschaft mit Recht geltend
gemacht werden, kann das nicht. Diese mechanistisch-physische
Wissenschaft hat ihr Großes geleistet in der Hervorbringung
mechanisch-physikalisch-chemischer Kulturmittel; für die
Kulturmittel des geistigen Lebens der Menschheit bedarf es einer auf
das Geistige hingeordneten Wissenschaft. Unsere Zeit bedarf einer
solchen Wissenschaft.
Berlin, 8. Februar 1918.
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Rudolf Steiner
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