NEUNTER VORTRAG
Bern, 9. September 1910
Aus
aUedem, was wir in den Vorträgen dieses Zyklus bereits
gehört haben, hat sich uns herausgestellt, daß das
Wesentliche des ChristusEreignisses in folgendem
bestejit. Jene menschliche Entwickelung, welche wir bezeichnet
haben als das Hinaufleben der Seele zu den Reichen des
Geistes, die in vorchristlichen Zeiten nur innerhalb der
Mysterien erreicht werden konnte, und zwar nur dadurch,
daß das Ich in einer gewissen Weise, soweit es entwickelt
war im normalen Menschenbewußtsein, herabgestimmt
wurde, jene menschliche Entwickelung sollte einen solchen
Impuls erhalten, daß sie - was ja allerdings noch der
Zukunft der Menschen zum größten Teil angehört -
für den Menschen so erreicht werden kann, daß er beim
Eintritt in diese geistige Welt voll erhalten kann dasjenige
Ich-Bewußtsein, welches ihm für unsere Zeiten
normalerweise nur für den äußeren
physisch-sinnlichen Plan zukommt. Dieser Fortschritt in
der Menschheitsevolution, der so durch das Christus-Ereignis
gegeben war, ist zugleich der größte Fortschritt, der
in der Erdenentwickelung und Menschheitsevolution jemals hat
gemacht werden können und jemals wird gemacht werden
können. Das heißt, alles, was in bezug auf eine
solche Tatsache noch kommen soll in der Erdenentwickelung, ist
eine Ausgestaltung, eine Ausführung des großen
Impulses, der mit dem Christus-Ereignis gegeben worden ist.
Nun
fragen wir uns einmal: Was mußte denn eigentlich da
eintreten? Es mußte in einer gewissen Weise das sich
wiederholen, im einzelnen sich wiederholen, was zu den
Geheimnissen der alten Mysterien gehörte. Zu den
Geheimnissen der alten Mysterien hat es ja zum Beispiel
gehört, wie es auch heute noch in einer gewissen Weise zu
denselben gehört, daß der Mensch beim Hineinsteigen
in den eigenen physischen Leib und Ätherleib im
Astralleibe jene Versuchungen erlebt, von denen wir gestern
gesprochenhaben.Und in den griechischenMysterien mußte der
Mensch wieder erleben alle die Schwierigkeiten und Gefahren,
die an uns herantreten, wenn wir uns ergießen, uns
ausbreiten in den Makrokosmos. Auch das haben wir genauer
beschrieben. Diese Ereignisse, die der Mensch da nach der
einen oder der anderen Richtung der Einweihung erlebt, wurden
mustergültig als einmaliger Impuls einer großen,
überragenden Individualität von dem Christus Jesus
erlebt, auf daß der Anstoß gegeben sei, daß nach
und nach in der künftigen Evolution die Menschen eine
solche Entwickelung, ausgehend von der Initiation, durchmachen
können. Betrachten wir also zuerst einmal, was sich
vollzogen hatte in den Mysterien.
Schildern wir es, so werden wir sagen: Zwar wurde alles, was
von der menschlichen Seele vollzogen wurde, so vollzogen,
daß das Ich abgedämpft, mehr in eine Art halb
traumhaften Zustandes versetzt war, aber es machte das Innere,
das Seelenhafte des Menschen gewisse Tatsachen durch, die in
folgender Weise geschildert werden können. Es machte der
Mensch das durch, daß der Egoismus erwacht; er will
unabhängig sein von der Außenwelt. Aber - wie wir es
gestern zeigten - weil jeder Mensch abhängig ist von
der Außenwelt, da er sich nicht die Nahrungsmittel zaubern
kann, und weil er abhängig ist von dem, was sich durch
seine physische Körperlichkeit ergibt, so ist er der
Illusion ausgesetzt, daß er das, was sich bloß aus
der physischen Körperlichkeit ergibt, für die Welt
und ihre innere Herrlichkeit hält. Das machte jeder
Schüler, jeder zu Initiierende in den Mysterien durch, nur
eben in einem anderen Zustande, als es der Christus Jesus
durchmachte auf einer höchsten Stufe. Beschreibt
also jemand, was da durchgemacht werden kann, einzig und
allein den Tatsachen entsprechend für den Schüler der
alten Mysterien, beschreibt er es bei dem Leben des Christus
Jesus, so ist die Beschreibung der Tatsachen in einer
gewissen Weise ähnlich. Denn das ist ja geschehen,
daß das, was sich im Dunkel der Mysterien abgespielt hat,
herausgetreten ist auf den Plan der Weltgeschichte und
einmaliges historisches Ereignis geworden ist.
Nehmen wir nun einmal folgenden Fall an - was ja immer
geschehen ist im Altertum, namendich in den letzten
Jahrhunderten vor dem Erscheinen des Christus -: Irgendein
Maler oder Schriftsteller habe Kunde erhalten, diese oder jene
Prozeduren werden vorgenommen, wenn jemand eingeweiht werden
soll, und er habe das gemalt oder habe es beschrieben. So wird
ein solches Gemälde, eine solche Beschreibung
ähnlich sein können demjenigen, was uns die
Evangelien schildern von dem Christus-Ereignis. So können
wir uns vorstellen, wie in manchen alten Mysterien der
Einzuweihende, nachdem er gewisse Vorbereitungen
durchgemacht hatte, dann, um frei zu werden in seinem
Seelischen, mit seinem Leiblichen an eine Art Kreuz
gebunden worden ist mit ausgebreiteten Händen. In
diesem Zustande blieb er eine Zeit, um das Seelische
herauszuheben, damit er das durchmachen konnte, was wir
dargestellt haben. Das alles also sei gemalt oder
schriftstellerisch geschildert worden. Dann könnte das
heute jemand finden und sagen: Es ist von diesem Schriftsteller
aus einer alten Überlieferung hingeschrieben,
beziehungsweise von einem Maler gemalt worden, was in den
Mysterien durchgemacht wurde. Und er kann dann sagen, in den
Evangelien finde sich nur wiederum aufgezeichnet,
mitgeteilt, was schon früher vorhanden war!
Das
kann man in zahlreichen Fällen finden. In welchem
großen Umfange das gilt, habe ich umfassend gezeigt
in meinem Buche «Das Christentum als mystische
Tatsache», in dem ich geschildert habe, wie alles, was
Geheimnis der alten Mysterien ist, wieder auflebt in den
Evangelien, wie die Evangelien im Grunde nichts anderes sind
als Wiederholungen der alten Beschreibungen der Einweihung in
den Mysterien. Und warum konnte man denn einfach den alten
Mysterienvorgang beschreiben, indem man mitteilte, was
mit dem Christus Jesus vorging? Man konnte es, weil man eben
alles, was in den alten Mysterien vorging, was als ein
innerer Seelenvorgang vorging, als eine historische Tatsache
sich abspielen sah, weil das Christus Jesus-Ereignis,
erhöht zur Ich-Wesenheit, dasjenige wiedergab, was
symbolische oder auch realsymbolische Handlungen der alten
Initiation waren. Diese Tatsache müssen wir uns
gegenwärtig halten. Gerade der, der fest auf dem Boden
steht, daß das Christus-Ereignis ein historisches ist,
daß sich als historische Tatsache abgespielt hat, was
früher Mysterienvorgänge waren, nur für
andere menschliche Zustände, der mag verzeichnen die
Gleichheit der Christus-Biographie in den Evangelien mit den
Vorgängen in den Mysterien.
Man
könnte, um ganz genau zu schildern, es auch so sagen: Da
nahmen wahr, die berufen waren es wahrzunehmen, das
ChristusEreignis in Palästina, nahmen wahr das
Erfüllen der Essäerweis- sagung, die Johannes-Taufe
im Jordan, die Versuchung, dann, was darauf folgt, das
Gekreuzigtwerden und so weiter. Da konnten sie sich sagen: Nun
haben wir ein Leben vor uns, ein Leben einer Wesenheit in einem
Menschenleibe. Wenn wir dieses Leben überschauen in seinen
allerwichtigsten, wesentlichsten Punkten, auf die es ankommt,
was sind dann diese Punkte? Merkwürdig, wir finden da
gewisse Punkte, die sich vollziehen im äußeren
historischen Leben, und dieselben Punkte sind es, die sich
abspielen in den Mysterien bei dem, der die Einweihung sucht.
Wir brauchten also nur den Kanon eines Mysteriums zu
nehmen und hätten in diesem Kanon das Vorbild eines
Vorganges, den wir hier als historische Tatsache
beschreiben dürfen!
Das
ist ja gerade das große Geheimnis, daß dasjenige, was
im Tempeldunkel früher begraben war, sich dort
abspielte und dann nur in seinen Resultaten hinausgetragen
wurde in die Welt, für diejenigen, welche der geistigen
Anschauung teilhaftig waren, sich abspielte auf dem großen
Plan der Weltgeschichte mit dem Christus-Ereignis.
Allerdings muß man sich dabei klar sein, daß
man in der Zeit, als die Evangelisten schrieben, keine
solchen Biographien verfaßte, wie es heute vorkommt, wenn
man eine Biographie über Goethe, Schiller oder Lessing
schreibt, wo man in alle Winkel hineinkriecht, jeden kleinen
Zettel zusammenträgt, um dann das als das Wichtigste zu
einer Biographie zusammenzufassen, was wirklich das
Unwesentlichste ist. Während man über dieser
Zettelkasten-Sammlung nicht dazu kommt, die wesentlichsten
Punkte ins Auge zu fassen, auf die es ankommt,
begnügten sich die Evangelisten damit, das
Wesentliche im Leben des Christus Jesus zu beschreiben. Und
dies Wesentliche ist, daß das Christus-Leben im
großen Plan der Weltgeschichte eine Wiederholung der
Einweihung war. Dürfen wir uns wundern, daß die
Tatsache so ist, daß in unserer Zeit etwas eintreten
konnte, was ungeheuer viele Menschen wirklich
verblüfft? Und dieses, was die Menschen da verblüfft,
wird sich uns noch krasser ergeben, wenn wir auf folgendes
aufmerksam machen.
Wir
haben Mythen und Sagen aus alten Zeiten. Was sind sie? Wer
Mythen und Sagen kennt, wer weiß, was sie sind, wird in
vielen von ihnen die Wiedererzählung von Vorgängen
finden, die das alte hellseherische Bewußtsein in
den geistigen Welten gesehen hat, gekleidet in sinnliche
Vorgänge; oder er wird andere Mythen und Sagen
kennenlernen, die im wesentlichen nichts anderes sind als
die Wiedergaben der Mysterienvorgänge. So ist zum Beispiel
der Prometheus-Mythus zu einem Teil Wiedergabe von Handlungen
in den Mysterien, und so viele andere Mythen auch. So zum
Beispiel finden wir wiederholt jene Darstellung, wo uns Zeus
erscheint, neben ihm eine niedere Gottheit, die - wie man es im
griechischen Sinne durchaus ausdrücken konnte - dazu
bestimmt ist, Zeus zu versuchen. «Pan, den Zeus
versuchend.» Auf einer Anhöhe Zeus, Pan neben ihm und
Zeus versuchend, das finden Sie in der verschiedensten
Weise dargestellt. Wozu wurden solche Darstellungen gegeben?
Weil sie ausdrücken sollten den Vorgang des
Hinuntersteigens des Menschen in das Innere, da, wo er antrifft
seine eigene niedere Natur, die egoistische Pan-Natur, wenn er
in den physischen Leib und Ätherleib hinuntersteigt.
- Und so ist die ganze alte Welt voll vonDarstellungen solcher
Vorgänge, die sich abspielten, wenn die Einzuweihenden den
Weg in die geistige Welt durchmachten, und die in den Mythen
und Symbolen künstlerisch wiedergegeben werden.
Heute finden sich - und das ist es, was viele Leute
verblüfft, die die Tatsachen nicht kennenlernen
können oder nicht wollen -, heute finden sich viele
leichtfertige Menschen, welche die großartige
Entdeckung machen, daß so etwas vorhanden ist wie
ein Bild: «Pan neben dem Zeus auf einem Berge, den Zeus
versuchend», und da sagen sie dann: Daran sehen wir ja
klar - die Szene der Versuchung Christi ist also schon
dagewesen. Die Evangelisten haben also nichts anderes
getan, als eine alte bildliche Darstellung aufgegriffen,
und die Evangelien sind kombiniert aus diesen alten
Darstellungen! - Wenn sie aber daraus kombiniert sind,
dann schließen solche Leute daraus, daß sie
überhaupt nichts Besonderes erzählen, sondern
nur zusammengestellt sind aus den Mythen, um von einem
erdichteten Christus Jesus zu sprechen. Und eine große
Bewegung hat es in Deutschland gegeben, wo man in
leichtfertiger Weise über das Thema sprach, ob der
Christus Jesus je gelebt habe. Und immer wieder werden mit
einer geradezu grotesken Sach-Unkenntnis - aber mit tiefer
Gelehrsamkeit - all die verschiedenen Sagen und Mythen
aufgezählt, welche zeigen sollen, daß da oder dort
die Szenen schon da waren, die uns in den Evangelien wieder
entgegentreten. Nichts nützt es in unserer Zeit, den
Menschen irgend etwas von dem wahren Sachverhalt beizubringen,
obwohl dieser charakterisierte Tatbestand durchaus denen,
die diese Dinge kennen, bekannt ist. So aber entwickeln
sich geistige Bewegungen in unserer Zeit. Sie entwickeln sich
wahrhaftig in grotesker Weise!
Ich
würde hier wirklich nicht episodenhaft davon sprechen,
wenn man nicht doch immer wieder in die Lage käme,
Stellung nehmen zu müssen gegen Einwendungen, welche von
da oder dort her scheinbar aus einer recht tiefen Gelehrsamkeit
hervorgebracht werden gegen die Aufstellungen und Tatsachen,
welche von der Geisteswissenschaft gegeben werden.
Was
ich hier dargestellt habe, ist der wahre Sachverhalt. Und es
müssen uns die Darstellungen, die aus den Mysterien
kommen, wiederbegegnen in den Evangelien, da sie das
Geheimnis der Einweihung anwenden auf eine ganz andere
Individualität und gerade zeigen wollen: Was sich
früher in den Mysterien vollzogen hat durch
Herabdämpfung des Bewußtseins, das hat sich
hier vollzogen als etwas Besonderes, weil ein Ich-Wesen
ohne Herabdämpfung des Ich-Bewußtseins diese
Prozeduren durchmachen sollte, die früher in den
Mysterien durchgemacht wurden! - So darf man sich nicht
verwundern, wenn gesagt wird: Es gibt kaum etwas in den
Evangelien, was nicht vorher schon da war. Nur war es so da,
daß man in bezug auf alles dieses Vorhergehende hätte
sagen können: Ja, der Mensch mußte
hinaufsteigen in die Reiche der Himmel; es ist nicht so,
daß zum Ich schon heruntergekommen wäre, was man die
Reiche der Himmel nennt. Das ist aber das wesentlich Neue,
daß das, was früher nur durch Abdämpfung
des Ich in anderen Regionen erlebt werden konnte, jetzt mit
Aufrechterhaltung des Ich in Malchuth, im Reiche, erlebt
werden konnte.
Deshalb wird der Christus Jesus, nachdem er erlebt hat, was uns
im Matthäus-Evangelium als Versuchung geschildert wird,
der Prediger von dem «Reich». Was hatte er da im
Grunde zu sagen? Er hatte zu sagen: Was früher dadurch
erreicht wurde, daß der Mensch sein Ich herabdämpfte
und sich mit anderen Wesenheiten erfüllte, das wird jetzt
mit Aufrechterhaltung dieses Ich erreicht werden! Also gerade
das ist das Wesentliche, daß er betont: Was früher in
anderer Weise erreicht wurde, das wird jetzt erreicht
werden bei voller Aufrechterhaltung des Ich. Daher
durften nicht nur die Ereignisse, welche
Einweihungsereignisse sind, im Christus-Leben wiederholt
werden, sondern auch in der «Predigt vom
Reiche» wird es das Wesentliche sein, daß betont
wird: Alles, was denjenigen versprochen worden ist, die
früher in die Mysterien kamen oder die Lehren der
Mysterien annahmen, das kommt jetzt denen zu, die in sich
erleben die Ich-Wesenheit und sie so erleben, wie es uns durch
den Christus vorgelebt worden ist.
Also es muß uns alles, selbst in bezug auf die Lehre,
wiederkehren. Wir dürfen uns aber nicht verwundern,
daß gerade der Unterschied auftritt gegenüber den
alten Lehren, daß betont wird: Was früher nicht mit
dem Ich erreicht werden konnte, das kann jetzt innerhalb des
Ich erreicht werden! Nehmen wir an, Christus wollte die, welche
er auf diese große Wahrheit hinweisen wollte, darauf
aufmerksam machen, daß früher die Menschen nach
dem, was an Lehren der Mysterien zu ihnen herausgedrungen
war, immer hinaufgeschaut haben zum Reiche der Himmel und
gesagt haben: Von dort herunter - aber nicht hineintauchend in
unser Ich - kann kommen, was uns selig macht. Dann wäre es
notwendig gewesen, daß der Christus dasjenige, was
früher gesagt wurde über den göttlichen
Vaterquell des Daseins, beibehalten hätte, denn der
war ja erreichbar im Hinaufleben mit herabgedämpftem
Ich, und nur die Nuancen, auf die es ankam, geändert
hätte. So müßte er zum Beispiel gesprochen
haben: Wenn man früher gesagt hat, ihr müßt
hinaufschauen zu den Reichen, wo der göttliche Vaterquell
des Daseins ist, und ihr müßt warten, daß er aus
den Reichen der Himmel herunterleuchtet, so wird man
jetzt sagen können: Nicht nur leuchtet er zu euch
herunter, sondern was da oben gewollt wird, das muß
eindringen in die tiefste Ich-Natur des Menschen und dort auch
gewollt werden.
Nehmen wir an, alle die einzelnen Sätze des Vaterunsers
wären auch früher dagewesen, und es hätte nur
dieser einen Veränderung bedurft: Früher schaute man
auf zu dem alten göttlichen Vatergeist so, daß alles,
was dort ist, erhalten bleibt und in euer irdisches Reich
herunterschaut. Jetzt aber - hätte der Christus sagen
müssen - muß dieses Reich herunterkommen auf
die Erde selber, wo das Ich ist; und der Wille, der oben
geschieht, muß auch auf der Erde geschehen. - Was wird die
Folge solcher Tatsache sein? Die Folge wird die sein, daß
der Tieferblickende, der einen Sinn hat für die
feinen Nuancen, auf die es ankommt, sich gar nicht
verwundert, daß die Sätze des Vaterunsers in alten
Zeiten auch dagewesen sein könnten. Der
Oberflächliche aber wird diese feinen Nuancen nicht
bemerken; denn darauf kommt es ihm nicht an. Auf den Sinn des
Christentums kommt es ihm nicht an, denn den versteht er nicht!
Und wenn er diese Sätze in alten Zeiten finden wird, dann
wird er daher sagen: Da habt ihr es, die Evangelisten schreiben
vom Vaterunser. Aber das war ja früher schon da! - Da er
die Nuancen, auf die es ankommt, nicht bemerkt, wird er sagen:
Das Vaterunser war früher schon da! - Aber jetzt bemerken
Sie den gewaltigen Unterschied zwischen wahrer
Schriftauffassung und oberflächlicher Betrachtung.
Darauf kommt es an, daß derjenige, der die neuen Nuancen
merkt, sie anwendet auf das Alte. Der Oberflächliche aber,
der diese Nuancen nicht bemerkt, wird nur konstatieren,
daß das Vaterunser schon früher da war.
Diese Tatsachen müssen episodenhaft erlebt werden und
müssen einmal hier erwähnt werden, weil die
Anthroposophen in die Lage versetzt werden sollen, demjenigen
ein wenig zu begegnen, was sich heute auftut als dilettantische
Gelehrsamkeit, was aber durch hundert und Hunderte von
Zeitungskanälen geht und dann von den Leuten als
«Wissenschaft» genommen wird. - Ich möchte in
bezug auf das Vaterunser eines sagen: Es hat
tatsächlich einem Manne gefallen, aus allen möglichen
Überlieferungen der alten Zeiten, aus allen möglichen
Talmudstellen Sätze zusammenzusuchen, die etwas
Ähnliches wie das Vaterunser ergeben. Wohl gemerkt: Es ist
nicht etwa so, daß das, was der betreffende Gelehrte
zusammengestellt hat, sich auch irgendwo in dieser
Zusammenstellung außerhalb der Evangelien fände;
sondern die einzelnen Sätze sind es, die sich da oder dort
finden. Wenn man das ins Groteske übertragen wollte,
könnte man auch sagen: Die ersten Sätze des
Goetheschen «Faust» sind von Goethe auch nur in
dieser Weise zusammengestellt worden! Und man würde jetzt
vielleicht nachweisen können: Da gab es im 17.
Jahrhundert einen Studenten, der im
Examen durchgefallen war, und der dann hinterher zu seinem
Vater gesagt hat: Habe nun, ach, Juristerei durchaus studiert
mit heißem Bern üh'n ! - Und ein anderer, der
in der Medizin durchgefallen war, sagte in ähnlicher
Weise: Habe nun, ach, Medizin durchaus studiert mit heißem
Bemüh'n! - Und daraus hätte dann Goethe die ersten
«Faust »Sätze zusammengesetzt. Das ist
paradox! Aber im Prinzip und in der Methode ist es ganz
dasselbe, was uns in der Evangelienkritik
entgegentritt.
So
zusammengestoppelt finden Sie folgende Sätze, die, wie
oben charakterisiert, das Vaterunser ergeben sollen:
«Vater unser, der du bist im Himmel, sei uns gnädig;
o Herr unser Gott, geheiligt werde dein Name, und lasse das
Gedächtnis deiner im Himmel oben verherrlicht sein wie
hienieden auf Erden. Lasse dein Reich über uns herrschen
jetzt und immerdar. Die heiligen Männer alter Zeiten
sagten: Lasse allen Menschen nach und vergib ihnen, was immer
sie mir angetan haben. Und führe uns nicht in Versuchung.
Sondern erlöse uns vom Bösen. Denn dein ist das
Himmelreich, und du sollst herrschen in Herrlichkeit immer und
ewig.»
Das
sind Sätze, zusammengestellt auf die Weise, wie ich es
eben geschildert habe - das heißt, das Vaterunser
ist zusammen; es fehlt nur die Nuance, auf die es ankommt, und
die hineinkommen mußte, wenn auf die große
Bedeutsamkeit des Christus-Ereignisses hingewiesen werden
sollte. Und diese Nuance besteht darin, daß in keinem Satz
gesagt ist, daß das Reich herniederkommen solle. Es ist
gesagt: «Lasse dein Reich über uns herrschen jetzt
und immerdar», aber nicht: «Dein Reich komme zu
unsl» Das ist das Wesentliche. Aber der
Oberflächliche bemerkt es nicht. Und trotzdem diese
Sätze zusammengeholt sind, nicht aus einer, sondern aus
vielen Bibliotheken, ist auch das nicht aufzufinden gewesen,
worauf es im Vaterunser ankommt: «Dein Wille geschehe im
Himmel, also auch auf Erden.» Das heißt, er greift
ein in das Ich. Hier haben Sie, wenn Sie es nur rein
äußerlich wissenschaftlich nehmen, den
Unterschied zwischen einer scheinbaren Forschung und
einer wirklich gewissenhaften Forschung, die auf alle
Einzelheiten Rücksicht nimmt. Und diese wirklich
gewissenhafte Forschung ist da, wenn man nur auf sie
eingehen will.
Ich
habe Ihnen diese Sätze aus einem Buche vorgelesen,
absichtlich aus einem gedruckten Buche - John M.
Robertson, «Die EvangelienMythen» -, weil
es ein Buch ist, das als eine Art modernes Evangelium jetzt
auch ins Deutsche übersetzt worden ist, damit es allen
zugänglich sein kann; denn derjenige, der die vielen
Vorträge gehalten hat über die Frage, ob Jesus gelebt
habe, der hat es noch im Englischen lesen müssen. Rasch
ist es berühmt geworden und nun auch ins Deutsche
übersetzt worden, damit es die Leute nicht mehr englisch
zu lesen brauchen. - Es ist möglich geworden, daß ein
Professor an einer deutschen Hochschule herumzieht,
überall Vorträge hält über die Frage:
«Hat Jesus gelebt?» und auf Grund der Tatsachen, die
ich jetzt charakterisiert habe, die Antwort gibt: Aus
keinem der Dokumente brauche man anzunehmen, daß das, was
in den Urkunden gesagt ist, wahr ist, daß eine solche
Persönlichkeit wie der Jesus gelebt habe. - Unter den
vorzüglichsten Büchern, auf die man sich dabei
berufen muß, ist auch dieses Buch von Robertson
angeführt. Aber das sei zum eigenen Schutze der
Anthroposophen gesagt: Aus diesem Buche, von dieser
Geschichtsforschung der neutestamentlichen Urkunden werden Sie
auch noch manches andere lernen können. Etwas besonders
Charakteristisches möchte ich noch daraus
mitteilen.
Es
soll darin gezeigt werden, daß nicht nur aus den
Talmudstellen sozusagen Vorläufer des Vaterunsers
nachgewiesen werden können, sondern daß man um
Jahrtausende zurückgehen könne und in
Aufzeichnungen urältester Art überall
Vorläufer des Vaterunsers finden könne. So wird
gleich auf der nächsten Seite gezeigt - weil es sich ja
darum handelt, daß das Vaterunser eine Zusammenstellung
sein solle von etwas, was schon früher da war, und
daß es keines Christus gebraucht habe, der es den
Leuten erst vorgebetet hat -, es wird gezeigt, daß es ein
Gebet in chaldäischer Sprache gibt, das man auf
Täfelchen entdeckt hat, in welchem der altbabylonische
Gott Merodach angerufen wird; und daraus werden nun
einige Stellen angeführt. Und jetzt bitte ich Sie, recht
aufmerksam zuzuhören. Die Stelle lautet:
«(Anmerkung.) Im Journal of the Royal Artistic Society,
Oktober 1891, veröffentlichte Herr T.G.Pinches zum ersten
Male die Übersetzung eines zu Sippara im Jahre 1882
gefundenen Täfelchens, wo bei Anrufung des Merodach auch
folgende Zeilen vorkommen: <Möge die Fülle der
Welt in deine Mitte (deiner Stadt) herabkommen; möge dein
Gebot erfüllt werden in aller Zukunft... Möge der
böse Geist außerhalb deiner wohnen.>»
Und
der Gelehrte, auf den diese Stelle so großen Eindruck
gemacht hat, fügt hinzu:
«Hier haben wir also Gebets-Normen, die in einer Linie mit
dem <Vaterunser> stehen und vielleicht auf 4000 v.Chr.
zurückgehen.»
Suchen Sie sich vernünftigerweise etwas, wo Sie eine
Ähnlichkeit finden zwischen dem Vaterunser und diesen
Sätzen! Dennoch aber gelten diese Sätze dem Manne als
Gebetsnormen, denen das Vaterunser einfach nachgebildet
ist. Aber diese Dinge gelten heute als wirkliche
Forschung auf diesem Gebiete.
Es
gibt noch einen anderen Grund, warum man das unter Anthro-
posophen sagen kann. Denn die Anthroposophen müssen auch
ihr Gewissen beruhigen können; und ihr Gewissen
könnte sich beschwert fühlen, wenn sie immer wieder
hören müssen, die äußere Forschung habe
dies und das festgestellt, oder wenn sie in Zeitungen oder
Journalen lesen: Es ist jetzt in Asien ein Täfelchen
gefunden worden, und aus der Lesung dieses Täfelchens hat
sich herausgestellt, daß das Vaterunser schon
viertausend Jahre vor Christus dagewesen ist. Wenn so etwas
festgestellt wird, wäre es doch notwendig, zu fragen,
woraufhin es denn festgestellt ist? Das wollte ich zeigen,
worauf diese Dinge heute beruhen, wenn gesagt wird, daß
sie «wissenschaftlich festgestellt sind». Solche
Dinge gibt es auf Schritt und Tritt, und es ist nützlich,
wenn sich die Anthroposophen kümmern um das Wurmstichige
dessen, was hinter dem steht, was so oft der
Anthroposophie entgegengehalten wird. - Aber gehen wir
weiter.
Worauf es ankommt, ist, daß der Christus Jesus eine
Menschheitsevolution inauguriert hat, die auf das Ich,
auf das Volierhaltensein des Ich begründet ist. Die
Initiation des Ich hat er begründet, hat er
inauguriert. Dann werden wir uns sagen können,
daß dieses Ich das Wesentliche, das Zentrum ist der
gesamten menschlichen Wesenheit, daß gleichsam in das Ich
alles zusammenläuft, was heute Menschennatur ist,
und daß alles, was für dieses Ich durch das
Christus-Ereignis in die Welt gekommen ist, auch ergreifen kann
alle übrigen Teile, alle übrigen Glieder der
Menschennatur. Das aber wird natürlich in einer ganz
besonderen Weise sein müssen und der Menschheitsevolution
entsprechend.
Was
wir entwickeln können, das geht insbesondere mit Klarheit
aus diesen Vorträgen hervor. Des Menschen Erkennen der
physisch-sinnlichen Umwelt, nicht nur durch die Sinne,
sondern auch durch den Verstand, der an das Gehirn gebunden
ist, ist ja erst in vollem Umfange vorhanden seit der
Zeit, die kurz vor dem Christus-Ereignis liegt. Früher gab
es immer für das, was der Mensch mit dem an das Gehirn
gebundenen Intellekt erkennt, eine gewisse Art von Hellsehen,
das heißt, die Menschen waren teilhaftig des Hellsehens.
Daß dies der Fall war, wissen Sie ja aus meinen
Vorträgen von den ersten Zeiten der atlantischen
Entwickelung hinlänglich. Aber was noch im vollen
Umfange in den ersten Zeiten der nachatlantischen
Entwickelung vorhanden war als die allgemeine Verbreitung
eines gewissen Grades von Hellsehen, das nahm langsam und
allmählich ab. Bis in die Zeiten des Christus-Ereignisses
herein gab es noch immer viele Menschen, die hineinschauen
konnten in den Zwischenzuständen zwischen Wachen und
Schlafen in die geistige Welt, die in besonderen
Zwischenzuständen teilhaftig sein konnten der
geistigen Welt. Ein solches Teilhaftigsein der geistigen
Welt war aber für die allgemeine Menschheit nicht nur
damit verknüpft, daß ein solcher Mensch, der im
niederen Grade hellsehend war, sich sagen konnte: Ich weiß
ja, daß hinter allem Physisch-Sinnlichen ein
Geistiges ist, denn ich sehe es ja. Nein. Es war noch etwas
anderes damit verknüpft. Die Natur des Menschen der alten
Zeit war so, daß er noch leicht teilhaftig gemacht werden
konnte der geistigen Welt. Heute ist es
verhältnismäßig sehr schwierig, eine esoterische
Entwickelung im richtigen Sinne durchzumachen, so daß der
Mensch zum Hellsehen kommen kann. Als ein letzter Rest, als
Erbschaft von alten Zeiten kommt Hellsehen heute als
Somnambulismus und so weiter vor. Diese Zustände
können aber nicht als etwas Reguläres heute gelten.
In alten Zeiten aber waren sie etwas Normales und konnten
erhöht werden, indem man gewisse Prozesse mit der
menschlichen Natur vornahm. Wenn man die menschliche Natur zum
Hineinleben in die geistige Welt erhöhte, waren damit noch
andere Dinge verknüpft.
Heute, wo man sich nicht richtet nach dem, was historisch ist,
ist es ja so, daß über das, was historisch sein soll,
dasjenige entscheidet, was man glaubt. Aber wie sehr es auch
heute angezweifelt werden mag, so war es doch - selbst noch bis
in die Zeiten des Christus hinein - so, daß zum Beispiel
Heilungsprozesse vollzogen werden konnten, indem man den
Menschen hellseherisch machte. Für die heutige Zeit, wo
die Menschen tiefer hinuntergestiegen sind auf den physischen
Plan, ist das ja nicht mehr möglich. Damals aber war die
Seele noch leicht anzugreifen, so daß sie durch
bestimmte Prozeduren hellseherisch gemacht werden konnte
und sich hineinlebte in die geistige Welt. Und da die geistige
Welt ein gesundendes Element ist und gesundende Kräfte bis
in die physische Welt schickt, so war damit eine
Möglichkeit gegeben, Heilungen einzuleiten. Nehmen
wir also an, es war jemand krank, so unternahm man solche
Prozesse, daß er hineinschaute in die geistige Welt. Und
wenn dann die Ströme der geistigen Welt
herunterflössen, dann waren es gesundende Ströme, die
in seine Wesenheit herunterflössen. Solche Prozesse
waren gewöhnlich die Heilungen. Was heute
geschildert wird als «Tempelheilung», ist ein
ziemlicher Dilettantismus. Alles ist in Entwickelung, und die
Seelen sind seit jenen alten Zeiten fortgeschritten von einem
Hellsehen zu einem Nichtmehrhellsehen. Früher aber konnte
der hellseherische Zustand des Menschen so erhöht
werden, daß gesundende Kräfte vom Geistigen aus
hereinströmten in die physische Welt, so daß der
Mensch für gewisse Krankheiten vom Geiste aus geheilt
werden konnte. Daher werden wir uns nicht zu verwundern
brauchen, wenn von den Evangelisten erzählt wird, daß
jetzt durch das Christus-Ereignis die Zeiten herangekommen
sind, wo nicht allein diejenigen in die geistige Welt
hineinwachsen können, die das alte Hellsehen haben,
sondern auch die, welche vermöge der Evolution der
Menschheit das alte Hellsehen verloren haben.
Man
könnte sagen: Schauen wir zurück in alte Zeiten. Da
waren die Menschen teilhaftig eines Hineinschauens in die
geistige Welt. Da bot sich ihnen der Reichtum der geistigen
Welt im alten Hellsehen dar. Jetzt sind aber arm an Geist,
Bettler um Geist diejenigen geworden, die mit dem Fortschreiten
der Entwickelung nicht mehr hineinschauen können in die
geistige Welt. Aber dadurch, daß der Christus das
Geheimnis in die Welt gebracht hat, daß in das Ich -
auch in das Ich für den physisch-sinnlichen Plan - die
Kräfte der Reiche der Himmel hineinfließen
können, dadurch können auch diejenigen in sich den
Geist erleben und selig, beseligt werden, die das alte
Hellsehen und damit den Reichtum der geistigen Welt verloren
haben. - Daher konnte das große Wort ausgesprochen werden:
Selig sind von jetzt ab nicht mehr bloß die, welche reich
sind an Geist durch das alte Hellsehen, sondern auch die,
welche arm oder Bettler sind um Geist; denn es fließt in
ihr Ich hinein, wenn ihnen der Weg durch den Christus
eröffnet worden ist, dasjenige, was wir die Reiche der
Himmel nennen können.
Es
war also in alten Zeiten der physische Organismus bei den
Menschen so, daß er ein teilweises Heraustreten der
Seele selbst im normalen Zustande gestattete, so daß
der Mensch durch dieses Heraustreten aus seinem physischen
Leibe hellsehend wurde und ein Reicher des Geistes wurde. Mit
der Verdichtung des physischen Leibes, die allerdings
anatomisch nicht nachzuweisen ist, war verbunden, daß der
Mensch kein Reicher im Reiche der Himmel mehr werden konnte.
Wenn man den Zustand jetzt beschreiben wollte, müßte
man sagen: Der Mensch ist ein Armer, ein Bettler um Geist
geworden; aber in sich kann er durch das, was der Christus
heruntergebracht hat, die Reiche der Himmel erleben. Das ist
es, was man beschreiben könnte in bezug auf die
Vorgänge des physischen Leibes.
Wollte man nun das, was vorging, in sachgemäßer Weise
in bezug auf den Ich-Menschen beschreiben, so müßte
man für jedes Glied der Menschennatur zeigen, wie es in
sich beseligt werden könnte in einer neuen Art. In dem
Satz: «Selig sind die Bettler um Geist; denn sie werden in
sich finden die Reiche der Himmel!» ist die neue Wahrheit
für den physischen Leib ausgesprochen. Für den
Ätherleib könnte man sie so aussprechen: Im
Ätherleib ist das Prinzip des Leides. Ein Lebewesen
allein kann durch die Beschädigung seines
Ätherleibes, wenn es noch einen astralischen Leib hat,
leiden; aber es muß der Sitz des Leidens im
Ätherleibe gesucht werden. Das werden Sie aus den
verschiedenen Vorträgen entnehmen können. -
Wollte man das, was früher an Heilungen herausfloß
aus der geistigen Welt, was für den Ätherleib in
Betracht kommt, ausdrücken in bezug auf die neue Wahrheit,
so mußte man sagen: Diejenigen, die da leiden, können
jetzt nicht nur dadurch getröstet werden, daß sie aus
sich heraustreten und mit der geistigen Welt in Verbindung
treten, sondern wenn sie jetzt in eine neue Verbindung mit der
Welt eintreten, können sie getröstet werden in sich
selber, weil eine neue Kraft durch den Christus in den
Ätherleib hineingebracht worden ist. Für den
Ätherleib ausgesprochen, mußte also die neue Wahrheit
so lauten: Die Leidtragenden können jetzt nicht mehr
bloß dadurch beseligt werden, daß sie sich
hineinleben in eine geistige Welt und die Ströme der
geistigen Welt im hellseherischen Zustande auf sich
zukommen lassen; sondern wenn sie jetzt, sich hinlebend zu dem
Christus, sich mit der neuen Wahrheit erfüllen, erleben
sie in sich den Trost für alles Leid.
Was
mußte nun in bezug auf den Astralleib gesagt werden? Wenn
früher der Mensch die Emotionen, Leidenschaften und
Egoismen seines astralischen Leibes niederhalten wollte,
hat er hinaufgeschaut in die oberen Regionen und Kraft verlangt
aus den Reichen der Himmel; da wurden mit ihm Prozeduren
vorgenommen, welche abtöteten die schädigenden
Instinkte seines astralischen Leibes. Jetzt aber war die Zeit
gekommen, wo der Mensch durch die Tat des Christus in seinem
Ich selbst die Macht erhalten sollte, zu zügeln und zu
zähmen die Leidenschaften und Emotionen seines
astralischen Leibes. Daher mußte jetzt die neue Wahrheit
in bezug auf den astralischen Leib so lauten: Selig sind die,
die sanftmütig sind durch sich selber, durch die Kraft des
Ich; denn sie werden diejenigen sein, die das Erdreich erben! -
Tiefsinnig ist dieser dritte Satz der Seligpreisungen.
Prüfen Sie ihn einmal an dem, was wir aus der
Geisteswissenschaft gewonnen haben. Der Astralleib des Menschen
ist während des alten Mondendaseins in die menschliche
Wesenheit eingefügt worden. Die Wesenheiten, welche auf
den Menschen Einfluß gewonnen haben, nämlich die
luziferischen Wesenheiten, sie haben sich auch besonders im
astralischen Leibe festgesetzt. Dadurch kann der Mensch
nicht von Anfang an sein höchstes Erdenziel erreichen. Die
luziferischen Wesenheiten sind, wie wir wisseil, auf der
Mondenstufe zurückgeblieben und hielten den Menschen davon
fern, sich auf der Erde in der richtigen Weise weiter zu
entwickeln. Jetzt aber, wo der Christus heruntergestiegen
war auf die Erde, wo das Ich imprägniert werden konnte von
der Christus-Kraft, konnte der Mensch wirklich das Prinzip der
Erde erfüllen, indem er in sich selber die Macht fand, den
astralischen Leib zu zügeln und die luziferischen
Einflüsse herauszutreiben. Daher konnte jetzt gesagt
werden: Wer da zügelt seinen astralischen Leib, wer
da stark wird, so daß er nicht in Zorn geraten kann, ohne
daß sein Ich dabei ist, wer da « gleichmütig
»ist und stark in seinem Inneren, um den astralischen Leib
zu zügeln, der wird wirklich das Prinzip der
Erdentwickelung erringen. - So haben Sie in dem dritten
Satz der Seligpreisungen eine Formulierung, die durch
Geisteswissenschaft begriffen werden kann.
Wie
wird der Mensch nun dahin gelangen, die weiteren Glieder seiner
Wesenheit durch die in ihm wohnende Christus-Wesenheit zu
erhöhen, zu beseligen? Dadurch, daß das Seelische im
ernsten und würdigen Sinne von der Ich-Kraft ergriffen
wird wie das Physische. Steigen wir auf zur Empfindungsseele,
dann können wir sagen: Der Mensch muß so werden, wenn
er nach und nach den Christus in sich erleben will, daß er
in dem, was seine Empfindungsseele ist, einen solchen Drang
empfindet, wie er unwissentlich in seinem Leibe sonst den Drang
empfindet, den man als Hunger und Durst bezeichnet. Er
muß nach dem Seelischen so dürsten können, wie
der Leib hungert und dürstet nach Nahrung und Trank. Was
der Mensch so durch die Innewohnung der Christus-Kraft
erreichen kann, das ist das, was man im alten Stil im
umfassendsten Sinne als Durst nach der Gerechtigkeit
bezeichnet hat. Und wenn er sich in seiner Empfindungsseele mit
der Christus-Kraft erfüllt, kann er erreichen, daß er
in sich selbst die Möglichkeit finden wird, sich zu
sättigen seinen Durst nach Gerechtigkeit.
Besonders merkwürdig ist der fünfte Satz der
Seligpreisungen. Und das dürfen wir erwarten. Er muß
uns etwas ganz Besonderes darbieten: er muß sich beziehen
auf die menschliche Verstandesseele oder
Gemütsseele. Nun weiß jeder, der studiert hat,
was in meinem Buche «Geheimwissenschaft im
Umriß» oder in meiner «Theosophie» gesagt
ist und was auch sonst seit Jahren in den verschiedensten
Vorträgen verfolgt worden ist, daß die drei Glieder
der Menschenseele - Empfindungsseele, Verstandes- oder
Gemütsseele und Bewußtseinsseele - durch das Ich
zusammengehalten werden. Es weiß jeder, daß in der
Empfindungsseele das Ich noch in einem dumpfen Zustande
vorhanden ist, in der Verstandes- oder Gemütsseele
aber herausspringt, und daß dadurch der Mensch erst ganz
Mensch wird. Während er für die niederen Glieder,
selbst noch für die Empfindungsseele, von
göttlichgeistigen Mächten beherrscht wird, wird
er ein Eigenwesen in der Verstandesseele. Da leuchtet das
Ich auf. Man muß also gewissermaßen für die
Verstandes- oder Gemütsseele anders sprechen, wenn sie die
Christus-Kraft erlangt hat, als für die niederen
Glieder. In den niederen Gliedern setzt sich der Mensch
in Beziehung zu gewissen göttlichen Wesenheiten, die
hineinwirken in die untergeordneten Glieder, in den
physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und auch in
die Empfindungsseele; und was der Mensch da als Tugenden und so
weiter entwickelt, das wird auch wieder zu diesen
göttlichen Wesenheiten heraufgenommen. Was sich aber in
der Verstandes- oder Gemütsseele entwickelt, das wird,
wenn sie die Christus-Eigenschaft entwickelt, vor allen Dingen
eine menschliche Eigenschaft sein müssen. Wenn der Mensch
selbst die Verstandesseele aufzufinden beginnt, wird er
dadurch immer weniger abhängig von den
göttlich-geistigen Kräften der Umgebung. Hier haben
wir also etwas, was sich auf den Menschen selbst bezieht. Daher
kann der Mensch, wenn er die Christus-Kraft aufnimmt, in der
Verstandesseele jene Tugenden entwickeln, die von
Gleichem zu Gleichem gehen, die nicht vom Himmel als Lohn
erfleht werden, sondern die nun wieder zurückkommen
zu der gleichen Wesenheit, wie es der Mensch ist. Wir
müssen also sozusagen spüren, daß von den
Tugenden der Verstandesseele so etwas herausströmt,
daß wieder etwas Gleiches zu uns zurückströmt. -
Merkwürdig: Der fünfte Satz der Seligpreisungen zeigt
uns wirklich diese Eigenschaft. Er unterscheidet sich von allen
anderen dadurch, daß gesagt wird - und wenn die
Übersetzungen auch nicht besonders gut sind, so konnten
sie doch diese Tatsache nicht verhüllen -:
«Selig sind die Barmherzigen, denn sie können
Barmherzigkeit erlangen!» Was herausströmt,
strömt wieder zurück - wie es sein muß, wenn es
im Sinne der Geisteswissenschaft genommen wird.
Dagegen kommen wir mit dem nächsten Satz, der sich auf die
Bewußtseinsseele bezieht, zu etwas im Menschen, wo
das Ich schon voll ausgeprägt ist und wo der Mensch wieder
hinaufsteigt auf eine neue Art. Wir wissen, daß gerade in
der Zeit, in der der Christus erschienen war, die Verstandes-
oder Gemütsseele zum Ausdruck gekommen ist. Jetzt stehen
wir in der Zeit, wo die Bewußtseinsseele zum Ausdruck
kommen soll und wo der Mensch wieder hinaufsteigt in die
geistige Welt. Während der Mensch sich selbst zuerst
bewußt wird, sich seiner selbst bewußt aufleuchtet in
der Verstandes- oder Gemütsseele, entwickelt er in
der Bewußtseinsseele voll sein Ich, das jetzt wieder
hinaufsteigt in die geistige Welt. Der Mensch, der die
Christus-Kraft in sich aufnimmt, wird, indem er sein Ich in die
Bewußtseinsseele hineinergießt und dort erst
rein erlebt, auf diesem Wege zu seinem Gott gelangen. Er
wird, indem er den Christus in seinem Ich erlebt und
heraufnimmt bis zur Bewußtseinsseele, dort zu seinem
Gott kommen. - Nun ist gesagt worden, daß der Ausdruck des
Ich im physischen Leibe das Blut ist, das sein Zentrum im
Herzen hat. Daher müßte im sechsten Satze in
sachgemäßer Weise ausgedrückt werden, daß
das Ich durch die Eigenschaft, welche es dem Blute und dem
Herzen verleiht, des Gottes teilhaftig werden kann. Wie
heißt der Satz? «Selig sind die, welche reinen
Herzens sind; denn sie werden Gott schauen!» Es ist dies
zwar keine besonders gute Übersetzung; aber sie
genügt für unsere Zwecke. - So leuchtet hinein
Geisteswissenschaft in das ganze Gefüge dieser wunderbaren
Sätze, die der Christus Jesus seinen intimen
Schülern verkündet, nachdem er die Versuchung
bestanden hat.
Die
nächsten Sätze beziehen sich darauf, daß der
Mensch sich hinauflebt in die höheren Glieder seiner
Wesenheit, indem er Geistselbst, Lebensgeist und den
Geistesmenschen entwickelt. Daher schildern sie nur
andeutungsweise, was der Mensch in der Zukunft erlebt, und was
jetzt nur einige Auserlesene erleben können. Der
nächste Satz bezieht sich daher auf das Geistselbst:
«Selig sind die, die das Geistselbst als erstes geistiges
Glied zu sich herunterholen; denn sie werden Gottes Kinder
heißen.» Es ist schon das erste Glied der oberen
Dreiheit in sie eingezogen. Sie haben den Gott aufgenommen,
sind äußerer Ausdruck der Gottheit geworden. -
Besonders aber ist nun ausgedrückt, daß nur
die
Auserwählten dazu kommen können, den Lebensgeist zu
entwik- keln, diejenigen, die voll verstehen, was für die
Gesamtheit die Zukunft bringen soll. Was die Menschen der
Zukunft «volle Aufnahme des Christus in ihr Inneres»,
den Lebensgeist nennen können, ist für einzelne
Auserwählte da. Aber weil sie einzelne Auserwählte
sind, können die anderen sie nicht verstehen, und die
Folge ist, daß sie als Auserwählte auch verfolgt
werden. Deshalb wird mit Bezug auf diejenigen, die man in
der Gegenwart als einzelne Vertreter eines
Zukünftigen verfolgt, der Satz ausgesprochen:
«Selig sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt
werden; denn in sich finden sie die Reiche der Himmel.» -
Und das letzte wird nur ganz besonders für die intimsten
Schüler angedeutet, es ist das, was sich auf das neunte
Glied des Menschen bezieht, auf den Geistesmenschen: «
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen
schmähen und verfolgen.»
So
wird in diesen wunderbaren Sätzen, die sich beziehen auf
die neun Glieder der Menschennatur, gezeigt, wie das Ich sich
gestaltet, wenn es ein Christus-Ich wird, für die
verschiedenen Glieder der Menschennatur und sie beseligt.
In grandioser, in majestätischer Weise ist im
Matthäus-Evangelium (Matth. 5, 3-11) in den Sätzen
nach der Versuchungsszene ausgedrückt, wie die
Christus-Kraft für die Neunglied- rigkeit des Menschen
wirkt, zunächst in der Gegenwart, und dann, wie sie wirkt
in der nächsten Zukunft, wo diejenigen noch Kinder Gottes
genannt werden, in die hineinleuchtet das Geistselbst schon
jetzt, wo aber doch solche Kinder Gottes nur in einzelnen
begnadeten Exemplaren vorhanden sind. Gerade das ist das
Wunderbare: das bestimmte Sprechen für die ersten Glieder,
die schon da sind, und das Auslaufen in das Unbestimmte in den
letzten Sätzen, die für fernere Zukünfte
gelten.
Da
ist nun aber wieder das Oberflächliche: Denken Sie sich,
es würde jemand nachsuchen, ob sich ähnliche
Sätze vielleicht auch sonstwo finden und ob die
Evangelisten diese Sätze vielleicht aus etwas
anderem kombiniert, zusammengeleimt haben könnten.
Und denken Sie, der Betreffende habe keine Ahnung, um was es
sich handelt; denn das ist es ja, wovon man da sprechen
müßte: daß es angewendet wurde auf die
durchchristete Ich-Natur! Dann könnte er, wenn er die
wunderbare Steigerung des Wesentlichen nicht bemerkt, auf
folgendes hinweisen. Sie brauchen in dem schon
angeführten Buche nur ein paar Seiten
weiterzublättern, dann finden Sie in einem Kapitel
«Die Seligkeiten» einen Hinweis auf einen
Henoch, der ein anderer ist als der gewöhnliche, und
darin werden neun «Seligkeiten» angeführt.
Besonders tut sich der Betreffende darauf etwas zugute,
daß er sagt, dieses Dokument sei in der ersten Zeit der
christlichen Ära entstanden, und er meint, daß dies,
was wir eben als ein so tiefes Dokument charakterisiert
haben, abgeschrieben sein könnte aus folgenden neun
Seligkeiten des « Slawischen Henoch»:
«1. Selig ist, der den Namen des Herrn fürchtet und
unausgesetzt vor seinem Angesicht dient» und so
weiter.
«2. Selig ist, der ein gerechtes Urteil fällt nicht
um des Lohnes willen, sondern um der Gerechtigkeit willen,
nichts dafür erwartend; ein lauteres Urteil wird ihm
später zuteil werden.
-
Selig ist, der die Nackten mit einem
Gewand bekleidet und sein Brot den Hungrigen gibt.
-
Selig ist, der ein gerechtes Urteil
fällt für die Waise und Witwe und jedermann
beisteht, dem Unbill widerfährt.
-
Selig ist, der sich vom unsteten Pfad
dieser eitlen Welt abwendet und auf dem gerechten Wege
wandelt, der zum ewigen Leben führt.
-
Selig ist, der gerechten Samen
säet; er wird siebenfach ernten.
-
Selig ist, in dem Wahrheit ist, auf
daß er seinem Nächsten die Wahrheit
sage.
-
Selig ist, der Liebe auf seinen
Lippen hat und Sanftmut im Herzen.
-
Selig ist, der jedes Wort des Herrn
versteht und den Herrn-Gott preist» und so weiter.
Schön sind gewiß diese Sätze. Aber wenn Sie sie
betrachten im ganzen Aufbau und in bezug auf das, worauf
es bei ihnen ankommt, nämlich auf die Aufzählung
einiger guter Grundsätze, die man in jeder Zeit sagen
kann, nur nicht gerade für eine Zeit des Umschwunges, die
dadurch charakterisiert ist, daß die Ich-Kraft
eingeführt wird, dann stehen Sie, wenn Sie diese
vergleichen wollten mit den « Seligpreisungen»
des Matthäus-Evangeliums, auf dem äußerlichen
Punkte derjenigen, die in äußerlicher Weise die
Religionen der Menschheit vergleichen und, wenn sie etwas
Ähnliches finden, immer sofort eine Gleichheit
konstatieren und nicht auf das achten, worauf es ankommt.
Wenn man weiß, worauf es ankommt, merkt man erst, daß
es in der Menschheitsevolution einen Fortschritt gibt, daß
die Menschheit aufrückt von Stufe zu Stufe und
daß der Mensch nicht geboren wird in einem späteren
Jahrtausend in einem physischen Leibe neuerdings, um dasselbe
zu erleben, was er schon erlebt hat, sondern um das zu
erleben, um was die Menschheit in der Zwischenzeit
hinaufgestiegen ist. Das ist der Sinn der Geschichte. Und das
ist der Sinn der Menschheitsevolution. Von diesem Sinne
der Geschichte und der Menschheitsevolution redet gerade
das Matthäus-Evangelium auf jeder seiner Seiten!
|