UNTERSUCHUNGEN ÜBER DAS LEBEN ZWISCHEN TOD UND NEUER
GEBURT
Mailand, 27. Oktober 1912
Zweiter Vortrag
Unsere Besprechung hat uns bis zu dem Zeitpunkt geführt,
wo das Bewußtsein der Gestorbenen nur noch durch die
Erinnerung an das Mysterium von Golgatha aufrechterhalten wird.
Alles Leben war bis zu diesem Momente Erinnerungsleben an die
Erdenzeit, nicht durch die Sinne, sondern durch Visionen
vermittelt. Auch die Realitäten der geistigen Welt
können in diesem Zeitpunkt nur durch Visionen wahrgenommen
werden.
Allmählich wird es für die Seelen immer schwieriger,
die Erinnerungen an die Erdenzeit zu bewahren; ein Vergessen
alles Erlebten breitet sich immer mehr aus. Begegnet man zum
Beispiel in dieser Zeit zwischen dem Tode und der neuen Geburt
einem früher bekannten Menschen, so erkennt man ihn
zunächst leicht, allmählich aber immer schwerer;
später kann man sich nur noch an die Beziehung zu ihm
erinnern, wenn man an das Mysterium von Golgatha anknüpft.
Je mehr man von diesem durchdrungen ist, desto leichter erkennt
man seine Umgebung wieder. Ist aber dieser Zeitpunkt erreicht,
in welchem wir die Erinnerung an das Mysterium von Golgatha
nötig haben, um unser Gedächtnis bewahren zu
können, dann setzt wiederum eine große
Veränderung ein. Wir sind dann nämlich nicht mehr
imstande, die Visionen von vorher in uns zu erhalten. Wir
können bis dahin zum Beispiel von astralen
Farberscheinungen sprechen, wir können in der Welt, in der
wir bis zu diesem Zeitpunkt leben, davon sprechen, daß wir
astralische Farben sehen; wir können davon sprechen,
daß wir auch in visionären Nachbildungen die Wesen um
uns sehen. In diesem Zeitpunkt aber, der, wie gesagt, in der
Mitte liegt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, fallen
die Visionen und die Erinnerungen gleichsam wie Schuppen von
uns ab; wir verlieren das Verhältnis zu ihnen, sie
lösen sich vollständig von unserem Wesen. Um diesen
Zeitpunkt nun genauer zu charakterisieren, ist es gut, etwas
heranzuziehen, was sich vielleicht für das erste
Verständnis schockierend ausnimmt.
Man
fühlt in diesem Zeitpunkt sich der Erde entrückt, die
Erde gewissermaßen unter sich, weit fort, und fühlt,
daß man in dem Hineinleben in die Geisteswelt in der Sonne
angekommen ist. Denn so, wie man sich im Erdenleben mit der
Erde vereinigt gefühlt hat, so fühlt man sich nun mit
der Sonne und ihrem ganzen Planetensystem vereinigt. Und
deshalb wird in unserem modernen Okkultismus ein so großer
Wert darauf gelegt, daß verstanden werde, wie Christus als
Sonnenwesen zu uns gekommen ist, weil notwendig ist, zu
verstehen, wie er uns durch das Mysterium von Golgatha zur
Sonne geleitet. Es wird uns durch den Okkultismus gezeigt,
daß der Christus ein Sonnenwesen ist, das uns wieder
zurück zur Sonne führt. Und nun kommt das
Schockierende: Wie es notwendig ist, unser Verhältnis zum
Christus zu verstehen, so muß nun aber auch ein anderes
verstanden werden. Jetzt beginnt die Zeit, wo man, als ein
reales Wesen sich gegenüberstehend, dasjenige kennenlernt,
was man immer bezeichnet hat als Luzifer. Wenn man sich jetzt
in der Sonne fühlt, dann fühlt man sich nicht in
strömendem physischem Lichte, sondern man fühlt sich
in rein geistigem Lichte. Und von diesem Zeitpunkt an empfindet
man Luzifer wie ein Wesen, das jetzt nicht mehr gegnerisch ist
wie früher, sondern man empfindet ihn immer mehr als ein
in der Welt durchaus berechtigtes Wesen. Man fühlt jetzt
die Notwendigkeit, im weiteren Verlauf des Lebens nach dem Tode
Luzifer und das Christuswesen wie zwei nebeneinander
gleichberechtigte Mächte anzusehen. So sonderbar diese
Gleichbedeutendheit von Christus und Luzifer klingen mag, man
gelangt eben dazu, von dem bezeichneten Zeitpunkte an sie
einzusehen; wie eine Art von Brüdern beide Mächte
anzusehen. Wie das zu erklären ist, das geht aus dem
hervor, was man noch im weiteren Verlauf des Lebens nach dem
Tode durchmacht.
Wenn Sie die Schilderung nehmen, die von mir oftmals gegeben
worden ist als Schilderung des Lebens von Saturn, Sonne und
Mond, dann haben Sie darin den Verlauf des Weges, den man
tatsächlich nach dem Tode geistig durchlebt.
Merkwürdig ist nur, daß man nicht in der Reihenfolge
des kosmischen Entstehens die Sache erlebt: Saturn, Sonne,
Mond, sondern zuerst das Mondensein erlebt, dann das Sonnenund
zuletzt das Saturndasein. Wenn Sie alles das, was von mir als
solche Schilderung in der «Akasha-Chronik» gegeben
worden ist, durchlesen und vom Monde weiter zurückgehen,
so haben Sie die Welt, welche die Seele erlebt auf dem Wege,
den sie zurücklegt nach dem Tode. Und es fällt einem
dann auf, daß, wenn man diese Dinge gleichsam aus der
geistigen Welt heraus schaut, man etwas hat wie eine Erinnerung
an das Leben im vorgeburtlichen Dasein. Noch viel bedeutsamer
aber ist sozusagen das moralische Element des weiteren Lebens
in dieser Welt, die eben jetzt charakterisiert worden ist. Wie
in der «Akasha-Chronik» geschildert worden ist,
verliert man allmählich das Interesse, das man
früher, bis zu diesem Zeitpunkt hin, sehr stark gehabt hat
für das auf Erden zu Erlebende. Es schwindet das Interesse
für die einzelnen Menschen, mit denen man
Zusammenhänge gehabt hat; es schwinden die Interessen
für die einzelnen Dinge. Man weiß, daß die
Erinnerungen, die man jetzt behält, niemand anders
weiterträgt als der Christus: der Christus begleitet
einen, und infolgedessen kann man die Erinnerung haben.
Würde einen der Christus nicht begleiten, so würde
die Erinnerung an das Erdenleben schwinden; denn dasjenige, was
uns über den geschilderten Zeitpunkt hinaus mit der Erde
verbindet, ist tatsächlich das Erlebnis, daß wir uns
dem Christus verbunden haben. Durch unser neues Leben dann in
der geistigen Welt gewinnen wir ein ganz neues Interesse
für Luzifer und seine Welt. Wir finden dann nämlich,
daß jetzt, wo wir frei geworden sind von den
Erdeninteressen, wir ganz ohne Schaden Luzifer
gegenübertreten können. Und wir machen die
merkwürdige Entdeckung, daß Luzifer auf uns nur dann
schädlich wirkt, wenn wir selber im Irdischen befangen
sind. Jetzt erscheint er uns geradezu als das Wesen, welches
uns dasjenige erklären kann, was wir weiter in der Welt
des Geistes zu durchleben haben, und eine längere Zeit
verweilen wir in dem Erlebnis, uns das zu erobern, was uns
Luzifer in diesen Weiten der geistigen Welt dann geben kann.
Vielleicht ist es jetzt wieder schockierend, das zu sagen, was
wir nur subjektiv fühlen; aber wenn auch etwas
zunächst Schockierendes ausgesprochen wird, so ist es
vielleicht doch in diesem Falle auch das Verständlichste:
Wir fühlen uns jetzt nämlich nach einiger Zeit als
Marsbewohner. Nachdem wir uns als Sonnenbewohner gefühlt
haben, merken wir allmählich, daß so, wie wir
früher die Erde hinter uns gelassen haben, wir nun die
Sonne hinter uns lassen, und wir fühlen uns in bezug auf
unsere kosmische Wirklichkeit als Bewohner des Mars. Und
für das Leben, das wir jetzt durchmachen, scheint es uns
in der Tat so, daß Christus uns alles Vergangene gegeben
hat, das hinter uns liegt, und Luzifer uns vorbereitet für
die künftige Reinkarnation. Wenn wir dieses Marsleben
bewußt durchmachen und uns später auf Erden durch
Initiation daran erinnern können, so erfahren wir,
daß alles, was wir nicht als Erlebnisse aus dem
Erdendasein in uns tragen durch den großen Weltenraum,
daß alles, was wir nicht von der Erde aus haben, uns
Luzifer gibt. Unser früheres menschliches Interesse wird
jetzt immer kosmischer. Während wir auf Erden das, was uns
das Mineral, die Pflanze, das Tier, was uns Luft und Wasser,
Berg und Tal gibt, aufnahmen, nehmen wir von diesem Zeitpunkte
an die Erfahrungen des Kosmos auf, dasjenige, was von der Welt
des Kosmos auf uns eindringt. Es beginnt jene Form des
Wahrnehmens, die man immer bezeichnet hat die man aber wenig
versteht — als die Sphärenmusik. Alles was ist, wird
wahrgenommen, indem es uns aus dem Umkreis des Kosmos
entgegentönt. Doch so, wie wenn man lauter Harmonien
vernehmen würde, tönt es heraus aus dem Kosmos, nicht
wie die Klänge aus der physischen Welt. Man gelangt zu
einem Punkte des Erlebens, wo man sich selbst wie im
Mittelpunkte des Kosmos fühlt, und von allen Seiten
hereinklingend nimmt man die Weltentatsachen durch diese
Sphärenmusik wahr.
Jetzt haben wir auch das Marsdasein hinter uns gelassen, und
der Okkultist spricht davon, daß wir angekommen sind im
Jupiterdasein. Wenn wir nun weiterleben, so steigert sich zwar
immer die Sphärenmusik; sie wird aber zuletzt so stark,
daß sie uns betäubt. Wir leben uns wie in einer
Betäubung in die Sphärenmusik hinein.
Das
weitergehende Leben verläuft so, daß, nachdem wir
durch das Jupiterdasein gegangen sind, wir auch dieses hinter
uns lassen und uns nun tatsächlich dann an der
äußersten Grenze unseres Sonnensystems befinden: im
Saturn. Hier angekommen, machen wir eine sehr wichtige
moralische Erfahrung: Hat uns bis zu diesem Zeitpunkt der
Christus die Erinnerung an unsere früheren
Erdenzustände erhalten und dadurch vor den
Angstzuständen des schwindenden Bewußtseins bewahrt,
so merken wir gerade in diesem unserem jetzigen Seelenzustande
nach dem Tode, wie wenig angemessen den höheren
moralischen Forderungen dasjenige war, was wir auf der Erde
durchgemacht haben, wie wenig angemessen es war der
Majestät des ganzen kosmischen Seins. Wie ein Vorwurf
berührt uns das Leben, das wir hinter uns gelassen haben.
Und etwas außerordentlich Bedeutsames stellt sich jetzt
ein. Wie aus einem unbestimmten nächtlichen Dunkel heraus
tritt die ganze Summe unseres Lebens, wie sie sich karmisch in
der letzten Erdeninkarnation geformt hat, vor die Seele. Wenn
Sie Ihr jetziges Erdendasein, Ihre jetzige Inkarnation ins Auge
fassen, so haben Sie sie in der Tat wieder so, wie sie sich in
jenem Zeitpunkt nach dem Tode, der eben gekennzeichnet worden
ist, vor die Seele stellt; aber in sich fühlen Sie scharf
alles dasjenige, was Sie einzuwenden haben gegen jene
Inkarnation. Sie sehen diese letzte Inkarnation vom kosmischen
Standpunkte aus.
Von
diesem Zeitpunkt an kann nun nichts mehr, weder das
Christus-Prinzip noch das Luzifer-Prinzip, unser
Bewußtsein aufrechterhalten, sondern es tritt unter allen
Umständen — wenn nicht im Leben vorher eine
Initiation eingetreten ist — eine Herabdämmerung des
Bewußtseins ein. Ein gewisser geistiger Schlaf beginnt,
der notwendig ist für das menschliche Leben, nachdem bis
zu diesem Zeitpunkt eine Art Bewußtsein vorhanden war, das
aufrechterhalten wurde durch die geschilderten
Verhältnisse. Dieser geistige Schlaf ist aber nun mit
etwas anderem verbunden. Dadurch, daß der Mensch nichts
mehr fühlen kann, nichts mehr sich vorstellen kann,
können alle kosmischen Einflüsse unmittelbar auf ihn
wirken, mit Ausnahme desjenigen des Sonnensystems. Denken Sie
sich das ganze Sonnensystem ausgeschaltet und nur das
allein vorhanden, was außer ihm da ist, dann haben Sie die
Wirkungen, die jetzt eintreten. Und da kommen wir an den Punkt,
von welchem gestern die Ausführungen ausgegangen sind.
Was
jetzt zu untersuchen wichtig ist, das ist nämlich der
Zusammenhang zwischen diesem zweiten Teil des Lebens zwischen
Tod und neuer Geburt und dem Embryonalleben des Menschen. Sie
wissen ja, daß das Embryonalleben des Menschen mit dem
kugelrunden kleinen Keim beginnt. Nun ist das Merkwürdige
für die okkulte Betrachtung, daß dieser Menschenkeim
ganz im Anfang sich als ein Spiegelbild dessen darstellt, was
der Mensch in der eben geschilderten Weise aus dem Kosmos
heraus erlebt. Im Beginne des Embryonallebens ist
tatsächlich der Keimling des Menschen ein kosmisches
Produkt, ein Spiegelbild des kosmischen Lebens, in welchem
nicht das Leben innerhalb des Sonnensystems zum Ausdruck
kommt. Und das Merkwürdige ist, daß alles das, was
jetzt mit dem Keime während des Embryonallebens geschieht,
sich erweist als ein Ausscheiden des kosmischen Einschlags und
ein Hineinnehmen der Einflüsse des Sonnensystems. Erst in
einer verhältnismäßig späteren Zeit, wenn
die Vorgänge während des Lebens nach dem Tode
wiederum zurückgegangen sind den Weg durch die Saturn-,
Jupiterund Marszustände, beginnen jene Einflüsse in
dem Keim zu wirken, welche die sogenannten vererbten sind. So
dürfen wir sagen, daß der Mensch sein Keimleben schon
in einem kosmischen Sein vor dem Embryonalleben vorbereitet, in
einer Art auch ihn umfangenden Weltenschlafs. Wenn man dann die
Vorgänge nehmen würde, die so im Embryonalleben
stattfinden während dieser Art von kosmischem Sein, von
Weltenschlaf, wenn man nacheinander nehmen würde die
Zustände des vorgeburtlichen Menschen, des Keimes, und sie
zeichnerisch jetzt so betrachten würde, daß man hier
ein Spiegelbild machte, also so:
[Textvariante Seite 366]
S p i e g e l
|
Empfängnis
Keim
|
|
Geburt
|
früh spät
|
früh spät
|
dann müßte man alle die Zustände, die im Keime
sich am spätesten zeigen, im Bilde später haben, und
was früher im Embryonalleben ist, hier im Spiegelbilde
früher sehen. So würde man ein geistiges Spiegelbild
des Embryonallebens nach rückwärts hin bekommen. Wenn
ich Ihnen aufzeichnen würde das Keimleben in der einen
Richtung und für jeden Zustand ein anderes Spiegelbild in
der anderen Richtung, so würde sich dieses auf der Tafel
tatsächlich ausnehmen wie Bild und Spiegelbild, und der
Punkt, worin gespiegelt wird, ist die Empfängnis.
Würde ich nun zeichnen, dann müßte ich die
Zeichnung so machen, daß das eine, das Embryonalleben,
klein gezeichnet wird und das andere Spiegelbild nach hinten
furchtbar vergrößert wird; denn was der Mensch in
zehn Mondenmonaten vor der Geburt erlebt, das wird
tatsächlich in seiner Spiegelung in vielen Jahren erlebt.
Nehmen Sie nur all dasjenige, was der Mensch nach den
geschilderten Andeutungen bis zu seiner Wiederverkörperung
in der geistigen Welt erlebt. Im ersten Teil seines Lebens nach
dem Tode hat er die Nachklänge an sein früheres
Erdendasein in sich aufgenommen. Im zweiten Teil dieses Lebens
zwischen Tod und neuer Geburt hat er Erfahrungen aus dem Kosmos
gesucht. In diesem Erleben zwischen dem Tode und der neuen
Geburt ist vieles darinnen, nur eines ist nicht darinnen: Wir
erleben tatsächlich alles wieder, was wir seit der vorigen
Inkarnation bis zur jetzigen erlebt haben; wir erfühlen
das kosmische Sein, wir erleben aber während des ersten
Teiles unseres Lebens zwischen Tod und neuer Geburt nicht
dasjenige, was sich auf der Erde zwischen den zwei
Inkarnationen schon zugetragen hat. Bis zum Sonnensein sind wir
mit den Erinnerungen an das, was vor dem Tode war, so
beschäftigt, daß unser Interesse völlig
abgezogen ist von dem, was auf der Erde geschieht. Wir leben
mit denjenigen Menschen, die ebenso wie wir im Leben nach dem
Tode in der geistigen Welt sind; wir leben uns in alle
Verhältnisse hinein, die wir zu diesen Menschen auf Erden
schon gehabt haben, und leben in diesen Verhältnissen
weiter, gestalten sie in ihren Konsequenzen aus. Und weniger
Interesse können wir — weil wir fortwährend
abgelenkt sind — in dieser Zeit uns erhalten für die
Mensehen, die wir auf der Erde noch haben. Nur wenn uns diese
Menschen mit ihrer ganzen Seele suchen, ist ein Verbindungsband
mit ihnen geschaffen. Dieses ist als ein sehr wichtiges
moralisches Element zu betrachten. Denn es wirft Licht auf das
Verhältnis zwischen den Gestorbenen und den
Zurückgebliebenen. Jemand, der vor uns hinweggestorben ist
und den wir vollständig vergessen, hat es
außerordentlich schwierig, zu uns ins Erdenleben
zurückzudringen. Unsere Liebe, unsere fortdauernde
Sympathie, die wir dem Verstorbenen bewahren, die liefert einen
Weg dazu, weil sie eben eine Verbindung mit dem Erdendasein
herstellt. Und aus dieser Verbindung heraus müssen in
diesen ersten Zeiten nach dem Tode die Hingeschiedenen mit uns
leben. Und es ist wirklich eine überraschende Tatsache,
wie sehr der instinktive Gedächtniskultus für die
Toten durch den Okkultismus in seinem tiefen Sinne
bestätigt wird. Unsere Hingestorbenen erreichen uns am
leichtesten, wenn sie auf Erden hier an sie gerichtete
Gedanken, Gefühle, Empfindungen finden können.
Für den zweiten Teil des Lebens zwischen Tod und neuer
Geburt stellt sich allerdings wiederum etwas anderes dar. Wir
sind so sehr dann eingesponnen in unsere kosmischen Interessen,
daß wir überhaupt nur äußerst schwierig in
diesem zweiten Zeitraum einen Zusammenhang mit der Erde finden.
Dasjenige, was uns außer den kosmischen Interessen
beschäftigt, ist: mitzuarbeiten an der richtigen
Herstellung unseres weiteren Karma. Neben unseren kosmischen
Eindrücken bewahren wir uns am allerbesten dasjenige, was
wir gewissermaßen karmisch zu korrigieren haben, und wir
arbeiten mit an der Herstellung eines solchen nächsten
Lebens, das dazu beitragen kann, unsere karmischen Schulden
auszugleichen.
Mancher Mensch sagt, er könne nicht an die Reinkarnation
glauben, weil er nicht wiederum in das irdische Leben
zurückkommen möchte. Dies ist zum Beispiel ein
Einwand, der oftmals gemacht worden ist: Ich wünsche mir
durchaus nicht mehr das Zurückkommen in das Irdische. Das
sagen manche. Die Betrachtung des eben angeführten
Zeitpunktes zwischen Tod und neuer Geburt korrigiert diese
Ansicht beträchtlich. In diesem Zeitraum wollen wir eben
mit aller Gewalt wieder ins Leben hinein, um unser Karma zu
korrigieren, und wir vergessen nur, wenn wir aus dem
geschilderten kosmischen Schlaf wieder erwachen in der
Gegenwart, daß wir das gewollt haben, dieses
Wiedergeborenwerden. Ob wir während des Lebens zwischen
Geburt und Tod nochmals auf Erden wiedererscheinen wollen,
darauf kommt es nicht an, sondern ob wir es wollen zwischen Tod
und neuer Geburt. Und da wollen wir es. Wir müssen uns
eben vorstellen, daß in vielfacher Beziehung, wie wir es
eben gesehen haben, das Leben zwischen Tod und neuer Geburt
geradezu das Entgegengesetzte ist von dem, was wir hier auf
Erden erleben zwischen Geburt und Tod. Geradeso, wie wir in
diesem physischen Leben durch den Schlaf gestärkt und mit
neuen Kräften ausgerüstet werden, so werden wir durch
den angedeuteten Weltenschlaf mit neuen Kräften für
die neue Inkarnation ausgerüstet.
Noch eine andere wichtige Frage wird sich uns durch die
geschilderten Tatsachen beantworten lassen. Es wird oftmals
gefragt: Warum muß der Mensch, wenn er sich so oft
reinkarniert, immer wieder von Kindheit an lernen und kommt
nicht schon mit alledem zur Welt, was er von Kindheit an lernen
muß? Diese Frage beantwortet sich dann, wenn man eines
berücksichtigt: daß man ja nicht miterlebt —
mit Ausnahme dessen, was angedeutet ist: des Zusammenhanges mit
dem Leben, den Menschen und dem ganzen Karma —, daß
man nicht erlebt dasjenige, was sich zwischen unseren
Inkarnationen auf dieser Erde abgespielt hat. War also jemand
zum Beispiel vor der Erfindung der Buchdruckerkunst auf der
Erde inkarniert, und er inkarniert sich heute wieder, so hat er
alles das nicht miterlebt, was sich in der Zeit zwischen der
Erfindung der Buchdruckerkunst und jetzt entwickelt hat. Und in
der Tat, wenn man kulturhistorisch genauer untersucht, so sieht
man, daß man in jeder Inkarnation als Kind dasjenige
lernt, was sich auf der Erde inzwischen abgespielt hat. Man
braucht nur zu betrachten, was eben ein altrömischer Knabe
von sechs Jahren gelernt hat: das war etwas ganz anderes, als
was ein Kind von sechs Jahren heute lernt. Es vergeht zwischen
zwei Inkarnationen ein so langer Zeitraum, daß in der Tat
das Kulturbild der Erde dann vollständig verändert
ist. Wir kommen nicht herunter zu einer Inkarnation, bevor sich
die Verhältnisse auf der Erde so weit verändert
haben, daß sie fast keine Ähnlichkeit zeigen mit dem
Leben in der vorherigen Inkarnation.
Was
ich eben geschildert habe, bezieht sich auf das
Durchschnittsleben der Menschen. Aber es ist eben ein
Durchschnitt, und es kann zum Beispiel das Bewußtsein bei
einem Menschen nach dem Tode schon früher erlöschen,
der Schlaf kann schon früher eintreten, wie Sie ja aus
einigen Tatsachen, die gestern angeführt worden sind,
ersehen können.
Nun
besteht aber das kosmische Gesetz, daß dieser Weltenschlaf
die Zeit kürzt, die wir im Kosmos nach dem Tode
verbringen: derjenige, der früher in den Zustand der
Unbewußtheit hineinkommt, der durchlebt sie schneller, die
Zeit vergeht für ihn in schnellerem Tempo, sie ist
kürzer als für den, der sein Bewußtsein weiter
hinaus erweitert. Ja wir können, wenn wir das
Menschenleben untersuchen zwischen Tod und neuer Geburt, die
Bemerkung machen, daß ungeistige Menschen
verhältnismäßig am schnellsten wiederkommen.
Wenn jemand nur seinen sinnlichen Genüssen, seinen
sinnlichen Leidenschaften, also demjenigen lebt, was man das
Tierische im Menschen nennen kann, so vergeht ein
verhältnismäßig kurzer Zeitraum zwischen zwei
Inkarnationen. Es geschieht dieses aus dem Grunde, weil bei ihm
eine verhältnismäßig frühe
Bewußtlosigkeit eintritt, ein Schlafzustand, und er dann
schnell durch dieses Leben zwischen Tod und neuer Geburt
hindurchgeht.
Außerdem habe ich nur von einer durchschnittlichen
Erscheinung erzählt, weil ich Rücksicht genommen habe
vorzugsweise auf diejenigen Menschen, welche sozusagen ein
normales Lebensalter erreichen.
Es
ist im Grunde ein großer Unterschied zwischen
Verstorbenen, die nach dem 35. Jahr gestorben sind, und jenen,
die vorher aus diesem Leben geschieden sind. Es lebt eigentlich
nur der, welcher das 35. Jahr in seinem Erdenleben
überschritten hat, alle die Zustände mehr oder
weniger bewußt durch, die wir beschrieben haben. Bei einem
früheren Tode tritt tatsächlich eine Art
früheren Schlafzustandes zwischen Tod und neuer Geburt
ein.
Wenn jemand einwenden wollte, daß man für einen
frühen Tod doch nichts kann und daher unverschuldet einem
früheren Weltenschlaf anheimfällt, so wäre
dieser Einwand doch nicht richtig. Er wäre aus dem Grunde
nicht richtig, weil ein früher Tod durch frühere
karmische Ursachen schon vorbereitet worden ist und durch
früheres Wiedereintreten in die kosmischen Welten die
Weiterentwickelung nun gefördert werden kann. Wie
sonderbar und ebenfalls schockierend dies auch klingen mag, wir
wissen aus ganz objektiven Untersuchungen des kosmischen
Lebens: Von einem gewissen Zeitpunkt an ist der Mensch ein
Wesen, das in weite Weltensphären hinein ausgedehnt ist
und ausgesetzt den Wahrnehmungen des Kosmos, des Makrokosmos.
Wie der Mensch in der Mitte seines physischen Erdenlebens
gleichsam am meisten verstrickt ist mit der Erde, so ist er in
der Mitte des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt am meisten
verstrickt in das kosmische Sein. Nehmen Sie das Kind: es lebt
sozusagen noch nicht völlig auf der Erde, es lebt mit all
den Erbstücken, die es von früher her erhalten hat,
und es muß sich erst das Erdenleben erobern. Nehmen Sie
jetzt das Leben des Menschen nach dem Tode: er lebt in einer
gewissen Weise mit dem, was er aus der Erde herausgetragen hat,
und muß sich erst die Wahrnehmungsfähigkeit in dem
Leben des Kosmos erringen. In der Mitte des Erdenlebens sind
wir ja am meisten in irdische Verhältnisse hinein
versponnen; in der Mitte zwischen Tod und neuer Geburt sind wir
am meisten in kosmische Verhältnisse hineingesponnen. Je
mehr es dem Ende unseres Lebens auf Erden zugeht, desto mehr
ziehen wir uns aus den Erdenverhältnissen im physischen
Sinne heraus. Je mehr wir die Mitte des Lebens zwischen Tod und
neuer Geburt überschreiten, desto mehr ziehen wir uns aus
dem Kosmos heraus und neigen uns wieder hin zum Erdenleben.
Das, was ich Ihnen zuletzt als eine Art Analogie gesagt habe,
betrachten Sie aber nicht so, als wenn es zugrunde gelegen
hätte der geisteswissenschaftlichen Untersuchung. Dem
Okkultisten fällt eine solche Analogie erst auf, wenn er
die okkulten Untersuchungen gemacht hat und mit den vorhandenen
Tatsachen vergleicht.
Eine solche Analogie hat auch insofern noch einen Fehler:
Sollten wir das Leben in der ersten Periode nach dem Tode das
kindliche Leben nennen und die zweite Periode zwischen Tod und
neuer Geburt das Greisenleben, so würden wir einen Fehler
machen. Im geistigen Dasein zwischen Tod und neuer Geburt sind
wir nämlich zuerst Greise und werden dann in der zweiten
Hälfte eben Kinder in bezug auf das geistige Leben. Das
geistige Leben verfließt umgekehrt. Zuerst tragen wir die
Fehler und Gebrechen des physischen Lebens da hinein; dann
werden sie während des kosmischen Lebens allmählich
herausgeworfen.
Ich
war sehr überrascht, in alten Traditionen einen Ausdruck
zu finden wie eine Art — ich will nicht sagen
Bestätigung, aber wie eine Art Hinweis auf diese
Erfahrungen. Wenn wir auf der Erde im physischen Leben sind, so
sagen wir: Wir werden alt. Im geistigen Leben zwischen Tod und
neuer Geburt müssen wir ganz sinngemäß sagen:
Wir werden jung. So daß man also sagen könnte, wenn
jemand geboren wird da oder dort und man sein geistiges Dasein
betrachtet: Er ist da und dort jung geworden.
Nun
finden sich merkwürdigerweise im zweiten Teil des
«Faust» die Worte: Er ist «im Nebelalter jung
geworden». Warum braucht Goethe für Geborenwerden den
Ausdruck: «Jung werden»? Wenn wir weiter
zurückgehen würden, dann würden wir finden,
daß dies eine Tradition ist der Menschheit, die empfand,
daß man mit der geistigen Geburt jung wird. Wir finden
überhaupt — was in unserem Okkultismus immer betont
wird —, daß, je weiter wir zurückgehen in der
Entwickelung, wir immer mehr auf hellseherische Zustände
treffen. Wir finden sie überall bestätigt.
Nehmen Sie zum Beispiel dasjenige, worauf gestern hingedeutet
worden ist. Von dem Tode an lösen wir uns allmählich
aus den irdischen Verhältnissen heraus, aber wir erleben
mitten drinnen in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt die
kosmischen Zustände. Wir erleben sie in Visionen, die an
die Stelle der Sinneswahrnehmung treten; dann, habe ich gesagt,
fällt auf das, was wir erleben, das Licht der Hierarchien.
Es tritt da tatsächlich nach dem Tode eine Art von Zustand
ein, den wir in folgender Weise charakterisieren können:
Denken Sie, Ihr Bewußtsein wäre nicht in Ihnen,
sondern außerhalb in der Umgebung, und Sie würden
nicht das Gefühl haben, daß das Leben in Ihrem
Körper, sondern daß das Leben außerhalb Ihres
Körpers sei, und würden von außen fühlen:
dies ist mein Auge, dies meine Nase, dies mein Bein. Dann
müßten wir dasjenige, was wir außen im Geistigen
erleben, auf uns hin beziehen, müßten auch das Leben
Gottes auf uns hin beziehen und es in uns reflektieren lassen.
Ein solcher Zeitpunkt tritt auf, wenn nach dem Tode, indem wir
— gleichsam zurückblickend auf den Menschen —
alles das, was in der Umgebung ist, sich in ihm
zurückspiegeln sehen: so daß selbst die Gottheit sich
im Menschen reflektiert.
Wäre es deshalb gar zu gewagt, es als eine Erkenntnis
hinzunehmen, wenn ein Dichter sagt, daß das Leben nach dem
Tode eine Spiegelung des Göttlichen ist? Das wissen wohl
alle, daß Dante diesen Ausspruch gebraucht hat,
daß im geistigen Leben der Zeitpunkt eintritt, wo man Gott
als Menschen sieht.
Es
mag gewiß zuweilen solch ein Hinweis wie unberechtigt
erscheinen, vielleicht als eine Spielerei einem vorkommen.
Derjenige aber, der in die tiefen Zusammenhänge der
Menschheit hineinblickt, wird diese Dinge nicht mehr als
Spielerei ansehen. Bei den großen Dichtern leben eben
Nachklänge alter hellseherischer Erkenntnis der Menschheit
immer wieder auf, und durch Initiation werden solche
Nachklänge aufgefrischt und zu menschlicher Erkenntnis
erhoben.
Damit, meine lieben Freunde, habe ich Ihnen einige Tatsachen
angeführt, die zu den zuletzt gemachten Untersuchungen
über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt gehören,
und ich hoffe, daß wir in nicht zu ferner Zeit
weitersprechen können über solche Erkenntnisse
über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt.
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