VOM
LEBEN NACH DEM TODE
Linz, 26. Januar 1913
Wenn wir uns zu geisteswissenschaftlichen Betrachtungen
zusammenfinden, uns überhaupt zusammenschließen zu
geisteswissenschaftlicher Arbeit: was haben wir dann eigentlich
für Ziele?
Dies mag sich wohl manche Seele fragen, weil derjenige, der
innerhalb der geisteswissenschaftlichen Arbeit steht,
gewissermaßen einen Teil seines Seelenlebens auf
Betrachtungen von Dingen verwendet, die es eigentlich für
andere Menschen heute gar nicht gibt. Betrachten wir doch
wahrhaftig Welten, die für eine überwiegend
große Anzahl von Menschen gar nicht vorhanden sind. Nun
ist das Zusammenschließen zu solcher Arbeit, zu solchen
Betrachtungen wahrhaftig nicht bloß das Nachfolgen eines
Ideals, wie es andere Ideale in der Gegenwart gibt. Gewiß
ist es eine schöne, eine außerordentlich schöne
Sache, wenn eine Anzahl von Menschen diesem oder jenem hohen
Ideale folgt. Aber noch etwas ganz anderes ist es, dem
geisteswissenschaftlichen Ideale, jenem geistigen Rufe zu
folgen, der heute vielleicht noch recht schwach und für
wenige Menschen in der Seele hörbar durch die Welt geht,
der aber immer mehr und mehr sich vernehmbar machen wird in der
Welt. Diejenigen, die heute entweder schon ganz deutlich oder
auch nur aus unbestimmten Instinkten heraus sich sagen,
daß Geisteswissenschaft eine Notwendigkeit ist — aus
welchen Gründen ihrer Seele heraus tun sie das?
Gewiß, der eine folgt mehr oder weniger einem geistig zu
nennenden Instinkte, vielleicht einem gewissen Triebe, den er
sich nicht vollständig zum Bewußtsein bringen kann.
Aber auch solche Triebe entsprechen einem ganz richtigen
Wollen. Wenn wir das Seelenleben untersuchen, können wir
das bemerken.
Bei
diesem Zusammensein möchte ich Ihnen nicht allgemeine
Theorien entwickeln, sondern mehr auf das Konkrete eingehen,
wenn wir solche Fragen beantworten wollen wie die eben
aufgeworfene. Der Seher, der hineinschauen kann in die
geistigen Welten, gelangt auch allmählich dazu, jenes
Leben zu durchschauen, das der Mensch zwischen dem Tode und
einer neuen Geburt durchlebt. Dieses Leben zwischen dem Tode
und einer neuen Geburt verläuft ja in geistigen Reichen,
die fortwährend um uns herum sind, denen wir
fortwährend mit dem besten Teile unseres Seelenlebens
angehören. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes
geschritten ist und seine physische Leiblichkeit abgestreift
hat, dann lebt er einzig und allein in der geistigen Welt, lebt
in einer Welt, die ihm sonst, solange er sich der physischen
Sinne und des Verstandes bedient, verschlossen ist. Der Seher
kann das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt
verfolgen.
Die
Grundfragen, die zunächst für unsere Ideale
maßgebend sind, entspringen eigentlich aus der Betrachtung
dieses Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Man
kann nämlich leicht glauben, daß dieses Leben nichts
zu tun hat mit dem Leben hier im physischen Leibe; aber es hat
im tieferen Sinne sehr viel damit zu tun. Das werden wir
insbesondere gewahr, wenn wir die Seelen ins Auge fassen, die
schon durch die Pforte des Todes gegangen sind, und ihr
Verhältnis betrachten zu solchen Seelen, die noch hier
sind im physischen Leibe. Betrachten wir gleich einen
besonderen Fall.
Ein
Mann war gestorben, war durchgegangen durch die Pforte des
Todes und hatte zurückgelassen seine Frau und Kinder.
Einige Zeit war vergangen, seitdem der betreffende Mensch durch
die Pforte des Todes gegangen war, da war es einem Menschen
möglich, der in die geistigen Welten hineinschauen kann,
diese betreffende Seele zu finden. Es war sozusagen ein recht
qualvolles Dasein, das diese Seele darbot. Es bejammerte diese
Seele die Zurückgelassenen, Gattin und Kinder. Dies
drückte sich etwa in folgenden Worten aus — dabei
muß ich allerdings bemerken, daß man in irdische
Worte kleiden muß dasjenige, was die Seelen sagen; das ist
aber nur eine Einkleidung, die Sprache ist eine etwas andere,
man kann natürlich nicht mit physischen Worten die Sprache
der Toten wiedergeben, man muß sie übersetzen
—: Da habe ich gelebt mit den Zurückgelassenen, und
wenn ich früher des Abends, während ich im Leibe
lebte, ihnen gegenübertrat, nachdem ich tagsüber
meine Geschäfte besorgt hatte, dann war das, was von ihren
Seelen an mich herankam, mir eine Art von Sonnenschein. Alles,
was ich an ihrer Seite erlebt hatte, verschönte mir damals
das mühevolle physische Leben. Ich hätte mir damals
nicht vorstellen können, daß ich dieses physische
Leben leben könnte ohne Gattin und Kinder. An alles
dasjenige, was ich erlebte während des Daseins mit ihnen,
kann ich mich erinnern, das weiß ich auch heute noch. Aber
als ich wiederum nach dem Tode aufwachte in der geistigen Welt,
da konnte ich meine Gattin und die Kinder nicht wiederfinden.
Sie sind nicht da für mich, nur die Erinnerung an damals
ist da, jetzt sind sie für mich nicht mehr da. Ich
weiß, daß sie auf der Erde unten sind, aber ihr
wirkliches Seelenleben, das, was sie vom Morgen bis zum Abend
denken, fühlen und wollen, ist wie ausgelöscht. Ich
finde die nicht mehr, die mir teuer sind, wenn ich auch noch so
sehr suche!
Das
ist in der Tat ein reales Erlebnis; das ist aber auch ein
Erlebnis von nicht wenigen, sondern von sehr zahlreichen
Seelen, die gegenwärtig durch die Pforte des Todes gehen.
Das war nicht immer so in der Menschheitsentwickelung. In alten
Zeiten der Menschheitsentwickelung war das anders, da schritten
die Menschen nicht so durch den Tod und waren aber auch nicht
so auf der Erde im physischen Leibe, wie sie jetzt sind.
Der
Unterschied zwischen der gegenwärtigen Zeit und der
früheren Zeit ist der, daß die Seelen in
früheren Zeiten ein altes spirituelles Erbstück
hatten, wodurch sie mit der geistigen Welt zusammenhingen. Je
weiter wir zurückgehen in die Zeiten, in denen auch die
Seelen, die heute verkörpert sind, schon verkörpert
waren, finden wir immer mehr und mehr, daß die Seelen im
richtigen Zusammenhang mit den geistigen Welten sind. Dieses
alte spirituelle Erbgut ging den Menschen immer mehr und mehr
verloren. Und heute leben wir in dieser Beziehung
tatsächlich in einer Zeit, in der vieles anders wird in
der Menschheitsentwickelung. Vieles, vieles wird anders
gegenwärtig.
Wollen wir uns zunächst klarmachen, bevor wir die
schwerwiegenden Tatsachen, von denen eben gesprochen worden
ist, ins Auge fassen, wie die Dinge anders geworden sind in der
Menschheitsentwickelung. Heute gibt es Menschen, die wenig mehr
wissen, sagen wir auch nur von dem, was man heute wissen kann
vom gestirnten Himmel. Ganz gewiß, es gibt noch Menschen,
welche zuweilen hinausgehen in sternenhellen Nächten und
die ganze Pracht und Herrlichkeit des gestirnten Himmels
genießen, aber diese Menschen werden immer seltener, und
immer zahlreicher werden die Menschen, die nicht mehr
unterscheiden können einen Planeten von einem Fixstern.
Das ist aber nicht das Wichtigste; auch wenn der Mensch heute
hinausgeht in die sternenhelle Nacht und den Blick
hinaufrichtet nach dem" Himmel, sieht er nichts anderes als
äußere, physisch ihm erscheinende Sterne. So war es
nicht in älteren Zeiten, so war es nicht für die
Seelen, die jetzt hier sind und in alten Zeiten in anderen
Leibern verkörpert waren. Dieselben Seelen, die heute
nurmehr die physischen Sterne sehen, die schauten früher,
wenn sie hinaufsahen zum Sternenhimmel, weniger das physische
Licht der Sterne, sondern was mit den Sternen geistig verbunden
ist. Und geistige Wesenheiten sind mit allen Sternen verbunden.
Dasjenige, wovon wir heute in der Geisteswissenschaft sprechen
können als von den höheren Hierarchien, das
erblickten hellseherisch die Seelen in uralten Zeiten der
Menschheitsentwickelung, alle, die hier sitzen, und alle, die
außen verkörpert sind. Der Mensch lebte nicht nur im
Anschauen der physischen Welt, er lebte im Anschauen der
geistigen Welt. Und die geistige Welt zu leugnen wäre
damals in der alten Zeit eine Torheit gewesen, wie wenn heute
die Menschen leugnen würden, daß es Rosen und Lilien
gibt. Sie sahen dazumal die geistigen Welten, konnten sie also
nicht leugnen. Darin besteht nun in einer gewissen Beziehung
der Fortschritt, daß die Menschen verloren haben den
unmittelbaren Zusammenhang mit der geistigen Welt, dafür
aber einen höheren Grad der Selbständigkeit und
Freiheit erlangt haben.
In
einer geistigen Außenwelt lebte damals die Menschenseele:
die geistige Außenwelt ist allmählich
verlorengegangen. Das aber muß allmählich von innen
heraus ersetzt werden, was von der geistigen Außenwelt
verlorengegangen ist. Sonst bleibt die Seele, die heute
bloß angewiesen ist auf den Anblick der Außenwelt,
öde und leer; und wie viele Seelen gehen heute herum in
der Welt, die nichts mehr wissen davon, daß alle
Räume erfüllt sind von geistigen Wesen, geistigem
Weben und geistigem Sein! Und man kann auch nicht durch den
bloßen Anblick der Außenwelt eine Erkenntnis vom
Inhalt der geistigen Welt erlangen. Man kann es dadurch,
daß man Einkehr hält in das Innere der Seele. Viele
mögen das aber nicht; solche Seelen sind eben jene wie in
der Familie, von der ich eine Andeutung gemacht habe. Der
Familienvater lebte in der geistigen Welt, im Lande, wo wir
leben zwischen Tod und neuer Geburt. Er lechzte nach einem
Zusammenhang mit den Seelen, mit denen er so lange einen
Zusammenhang gehabt hatte; aber wie ausgelöscht waren ihm
diese Seelen. Warum? Weil diese Seelen keinen geistigen Inhalt
sich suchten, weil sie nur da waren, solange sie sich kundgeben
konnten durch die physische Leiblichkeit. Er sehnte sich also
danach, etwas zu wissen von diesen Seelen, die ihm früher
Sonnenschein waren. Und der Seher, der mit ihm bekannt war,
bevor er durch die Pforte des Todes geschritten war, konnte ihm
nicht einmal einen besonderen Trost geben. Dieser Trost
wäre im Grunde genommen eine Unwahrheit gewesen; denn der
Trost hätte lauten müssen: Jene Seelen, die für
dich ausgelöscht sind, werden dir nachkommen, wenn du
geduldig abwartest. Dann wirst du sie wieder haben, wie du sie
einst auf Erden gehabt hast. — Das aber wäre nicht
ganz wahr gewesen, denn diese Seelen waren durchaus fernstehend
jeglicher Vertiefung in geistiges Leben. Lechzen werden auch
sie, wenn sie durch die Pforte des Todes schreiten, nach dem
Zusammenhang mit jenen Seelen, mit denen sie zusammen waren im
physischen Leben; denn mannigfache Hindernisse sind da, wenn
nicht geistiges Leben in solchen Seelen drinnen ist.
Wir
stehen jetzt in einem solchen Entwickelungszyklus der
Menschheit, daß die Seelen hier im physischen Leibe die
Sprache des geistigen Lebens lernen müssen. Hier erringen
wir uns die Erkenntnis der höheren Welten, dasjenige, was
viele Seelen der Gegenwart verachten, was wir im wahren Sinne
des Wortes Theosophie nennen. In Wahrheit ist dies die Sprache,
die wir nach dem Tode sprechen müssen, wenn wir da sein
wollen für die geistige Welt im wahren Sinne des Wortes;
wie stumm treten wir ein in die geistige Welt, wenn wir diese
Sprache nicht hier sprechen lernen. Nach dem Tode können
wir nicht mehr nachholen, was wir hier hätten als Sprache
der Theosophie oder Geisteswissenschaft lernen sollen.
Hätte der betreffende Familienvater, so lange er auf Erden
war, sich mit seiner Familie zusammen mit Geisteswissenschaft
befaßt, so würde er nach dem Tode ganz andere
Empfindungen, ein ganz anderes Bewußtsein gehabt haben; er
würde nämlich gewußt haben: Die Seelen sind
erlebbar da; wenn ich auch durch eine Kluft von ihnen getrennt
bin, so werden sie doch einmal herüberkommen und wir
werden uns finden, weil wir eine gemeinsame geistige Sprache
sprechen. — Sonst aber wird er mit ihnen nicht so
zusammenkommen, wie man im richtigen Sinne zusammenkommen
muß nach dem Tode; er wird nur mit ihnen Zusammensein
können, wie man etwa mit Menschen auf der Erde
zusammenkommt, die stumm sind, die etwas mitteilen wollen und
nicht können, die gar keine Möglichkeit haben, sich
zu verständigen.
Gewiß, man kann ja zugeben, daß solche Wahrheiten
unangenehm sind zu hören, unsympathisch für manchen
Menschen der Gegenwart. Aber bei der Wahrheit handelt es sich
darum, daß sie wahr ist, nicht daß sie angenehm
klingt.
In
den alten Zeiten der Menschheitsentwickelung bekamen die
Menschenseelen so viel mit, weil sie noch in ihrer Kindheit
waren und in einer kindlichen Art die religiösen
Traditionen und Vorstellungen von den geistigen Welten
übernahmen. Dadurch hatten sie eine Sprache für das
geistige Leben und konnten in einer Gemeinschaft mit den
geistigen Wesen sein. Jetzt soll der Mensch, gerade von unserem
Zeitalter an, immer freier sein in bezug auf das geistige
Leben. Daher kommt Geisteswissenschaft nicht willkürlich
in die physische Welt, nicht wie etwas, das man
willkürlich verbreiten kann, so wie etwa Vereine dies oder
jenes verbreiten wollen. Diejenigen, die sich heute berufen
fühlen, spirituelle Gedanken hereinzutragen in unser
Geistesleben, die haben solche Erfahrungen gehabt wie die eben
charakterisierten, die kennen solche Seelen, die heute schon
leben in jenem Lande jenseits des Todes mit ihrem qualvollen
Schrei nach den Seelen, die sie hier verlassen haben und die
sie nicht finden können, weil jene Seelen geistig in sich
leer sind. Die Schreie der Toten sind die Rufe, aus denen das
geisteswissenschaftliche Ideal quillt.
Wer
heute eintritt in diese geistige Welt und die Qualen, die
Sehnsucht, die Entbehrung, aber auch die Hoffnungslosigkeit der
durch die Pforte des Todes gegangenen Seelen zu prüfen
vermag, der weiß, warum wir uns hier
zusammenschließen; der weiß auch, daß er nicht
anders kann, als dieses spirituelle Leben zu vertreten. Das ist
eine ernste, tiefe Sache, die aus den tiefsten Sehnsuchten der
Menschheit hervorgehen wird. Heute gibt es Seelen, welche
empfinden — wenn auch nur aus dem Dunkel des Instinktes:
Ich will etwas erfahren von den geistigen Welten! Das sind die
Pioniere jener Menschenzukunft, die da kommen muß, jene
Seelen, welche eine wichtige Angelegenheit sehen werden in der
Pflege des spirituellen Lebens, das aus der Erkenntnis der
Grundbedingungen des geistigen Lebens selber geholt ist. Weil
die Erdenmenschheit sonst immer mehr und mehr die
Möglichkeit verlieren würde, anders als geistig
stumm, ohne die Fähigkeit, sich geistig zu offenbaren, in
die andere Welt hinüberzutreten: deshalb muß hier auf
Erden geistiges Leben im Sinne der neueren Geisteswissenschaft
gepflogen werden.
Ganz unrecht haben auch diejenigen, welche etwa glauben, Zeit
zu haben, bis sie durch die Pforte des Todes gegangen sind, bis
sie drüben sind in der anderen Welt, um über die
geistigen Angelegenheiten dies oder jenes zu erfahren. Um
überhaupt etwas zu erfahren von diesen Dingen, muß
man die Organe haben, sie wahrzunehmen; man muß die
Fähigkeit haben, diese Dinge wahrzunehmen, und man kann
diese Fähigkeit nicht haben nach dem Durchgang durch die
Pforte des Todes, wenn man sie nicht hier erworben hat. Denn
wir leben nicht umsonst in der physischen Welt! Unsere Seelen
kommen nicht umsonst in die physische Welt herunter; sie kommen
herunter, weil tatsächlich in dieser Welt erworben werden
muß, was nur in ihr erworben werden kann: spirituelle
Erkenntnis. Wir können nicht die Erde einfach als ein
Jammertal ansehen, in das sozusagen unsere Seele hineinversetzt
wird, sondern wir haben die Erde anzusehen als etwas, durch das
wir uns eine Möglichkeit erwerben können,
Spiritualität zu erringen, und dies ergibt sich uns als
eine Wahrheit.
Wenn wir den Seher weiter fragen, wie sich das Leben ausnimmt,
wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, sagt er:
Ganz anders, als es sich hier ausnimmt auf der Erde. Hier gehen
wir durch die Welt, da sehen wir, es breitet sich aus das
Himmelsgewölbe, die Sonne scheint. Wir blicken hinaus zu
den Bergen, den Meeren, zu den Wesen der anderen Naturreiche.
Wir selbst gehen durch diese Welt, haben unsere Gedanken,
Empfindungen, Leidenschaften, Begierden in unserem Innern. Wir
schreiten dann durch die Pforte des Todes, da ist die Sache
anders: Für denjenigen, der nicht gewohnt ist,
geisteswissenschaftliche Betrachtungen anzustellen, erscheint
die Sache ganz paradox, und es ist wahr, was
Schopenhauer einst gesagt hat, daß die arme
Wahrheit dulden müsse, daß sie paradox ist.
Dasjenige, was wir hier als Gedanken, als Vorstellungen
ansehen, wovon wir glauben, daß wir es in uns tragen, das
erscheint nach dem Tode als Außenwelt. Wie ein großes
mächtiges Weltentableau erscheint dasjenige, was Gedanken,
Vorstellungen, was Innenleben hier ist, nach dem Tode.
Diejenigen Menschen, die hier gedankenlos durch die Welt
schreiten, die schreiten durch die Welt zwischen dem Tode und
einer neuen Geburt so hindurch, daß sie das, was erlebt
werden sollte mit Gedanken-, mit Weisheitsinhalt, leer und
öde finden. Diejenigen allein finden zwischen Tod und
einer neuen Geburt die Welt erfüllt mit einem Inhalte, die
sich die Möglichkeit erworben haben, die ausgebreiteten
Gedanken in den Gestirnen zu sehen. Diese Fähigkeit
erwirbt man sich dadurch, daß man zwischen Geburt und Tod
einen Gedankeninhalt von der Seele aus erarbeitet. Wie wenn wir
keine Ohren hätten und deshalb niemals einen Ton
hören könnten, wie wenn wir keine Augen hätten
und deshalb niemals eine Farbe wahrnehmen könnten, so
schreiten wir den Weg vom Tode zur neuen Geburt, wenn wir
unsere Seele nicht hier erfüllt haben mit dem, was ihr die
physischen Organe geben können. Und wie die Sonne jetzt am
Himmelsgewölbe steht und alles beleuchtet, und dies alles
unserem Auge verschwindet, wenn sie untergeht, so erscheint das
Leben, das hier in vieler Beziehung äußerlich ist,
nach dem Tode als Innenleben.
Sehen wir wieder auf ein anderes konkretes Erlebnis des Sehers
hin. Wenn wir Menschen betrachten, die da leben zwischen dem
Tode und einer neuen Geburt, und uns das, was sie quält,
in die gewöhnliche Sprache übersetzen, so sagen sie
etwa: In mir lebt etwas, was mir Schmerzen macht, die aus mir
selber aufsteigen. — Es ist wie beim physischen Menschen
der Kopfschmerz, nur ist es innerer Schmerz, was so
gefühlt wird. — Ich bin selber der Veranlassende,
ich mache mir den Schmerz selber. — Und es kann der
Mensch nach dem Tode viel zu klagen haben von inneren Schmerzen
und inneren Leiden. Geht man nun dem als Seher nach, woher
diese inneren Schmerzen kommen, so sind diese Schmerzen, die
nach dem Tode den Menschen treffen, zurückzuführen
auf die Art, wie er hier sein Leben zugebracht hat: Er hat
einen Menschen besonders gehaßt, den er nicht hätte
hassen sollen; das wird ihm innerer Schmerz nach dem Tode, und
was er dem Menschen angetan hat mit dem Haß, das tut ihm
jetzt weh als sein Inneres.
Während unsere Gedanken uns befähigen, eine
Außenwelt zu sehen, wird dasjenige, was wir hier als
unsere moralische Außenwelt erleben, was wir als unsere
Gefühlsund Gemütsbeziehungen zu anderen Menschen
erleben, nachher inneres Leben. Wahrhaftig, es ist grotesk
genug, wenn wir sagen: Wie einem hier weh tun kann die Lunge,
der Magen, wie einem hier der Kopf weh tun kann, so kann einem
drüben moralisches Unrecht weh tun. Was hier innerlich
ist, ist dort äußerlich, und was hier
äußerlich ist, ist dort innerlich. Und in unserer
Zeit ist eben der Menschheitszyklus gekommen, der vieles erst
nach dem Tode in einer möglichen Weise erlebbar macht.
Derjenige Mensch, der hier gar nichts wissen will davon,
daß es ein Karma gibt, wiederholte Erdenleben gibt, der
kann im Grunde genommen niemals darauf kommen, daß er zu
dem, was er sein Schicksal nennt, dazugehört. Wie geht der
Mensch durch die Welt? Der eine tut ihm das an, der andere
jenes; es gefällt ihm das eine, das andere
mißfällt ihm: daß er selber die Ursache davon
ist, daß ihm etwas zustößt, wenn ihm jemand
etwas Schmerzliches zufügt, das weiß er nicht,
darüber denkt er nicht nach; sonst würde er
fühlen: Du bist es selber, der es dir zufügt! Wenn
man diese Gedanken im Leben verfolgen kann, hat man nach dem
Tode wenigstens das Gefühl, woher es kommt, daß man
diese oder jene Schmerzen hat.
Dies ist schon eine Linderung: Wissen vom Karma hier im Leben
zwischen Tod und neuer Geburt; sonst aber bleibt die qualvolle
Frage, warum man dieses oder jenes zu leiden habe, für das
Leben nach dem Tode. Das sind Dinge, die man heute anfangen
muß zu wissen, ohne die sozusagen die Entwickelung der
Menschheit nicht weiter fortgehen kann.
Und
ein anderer Fall, der sich dem Seher darbietet, ist der,
daß es Menschen gibt zwischen Tod und neuer Geburt, die
recht wenig sie erfreuende, wenig sympathische Verrichtungen zu
tun haben. Wir dürfen uns nicht vorstellen, daß wir
zwischen dem Tode und einer neuen Geburt nichts zu tun haben.
Die mannigfaltigsten Tätigkeiten, je nach unseren
Fähigkeiten, haben wir zu verrichten. Da kann der Seher
finden, daß es Seelen gibt zwischen dem Tode und einer
neuen Geburt, welche dienen müssen zum Beispiel jenem
Geiste, den wir den Ahriman nennen. Ahriman wird uns ja
sogleich klar als eine besondere Wesenheit, wenn wir das Land
jenseits der physischen Welt betreten. Alles, was im Drama
«Der Hüter der Schwelle» dargestellt ist als die
Reiche des Ahriman und des Luzifer, sind wirkliche Welten.
Ahriman hat seine Aufgabe. Seelen findet der Seher, die da
drüben wie dem Reiche des Ahriman zugesellt sind: die
müssen dem Ahriman dienen. Warum? Man forscht dem nach als
Seher; wodurch sind sie dazu verurteilt, dem Ahriman zu dienen?
Man kommt zurück in das Leben, das sie geführt haben
zwischen der Geburt und dem Tode, man forscht nach den
hervorragendsten Eigenschaften dieser Seelen, und man findet,
daß sie an einem Übel gelitten haben und diesem
Übel unterworfen waren, und dieses Übel ist die
Bequemlichkeit. Die Bequemlichkeit gehört zu den
allerverbreitetsten Eigenschaften unserer gegenwärtigen
Menschheit. Fragen wir: Woher kommt es, daß die meisten
Menschen dies oder jenes unterlassen? Bequemlichkeit ist es!
Wir mögen zu den wichtigsten Dingen des menschlichen
Lebens oder zu den unwichtigsten gehen: Bequemlichkeit ist
dasjenige, was das ganze Menschenleben durchdringt. Hang am
alten und NichtHerauskommen aus dem alten ist Hängen an
der Bequemlichkeit. Die Menschen sind nicht so schlecht, wie
man annimmt; nicht aus Schlechtigkeit haben sie Giordano Bruno,
Savonarola verbrannt, Galilei so behandelt, wie es geschehen
ist. Auch lassen sie sich nicht aus Schlechtigkeit darauf ein,
große Geister während ihres Lebens nicht zu
würdigen, aber aus Bequemlichkeit! Bis solche Menschen
über etwas umdenken, umempfinden lernen, dauert es lange,
und zwar nur wegen der Bequemlichkeit. Bequemlichkeit ist eine
allgemeine, recht verbreitete Eigenschaft. Diese Bequemlichkeit
macht uns tauglich, nach dem Tode in das Heer des Ahriman
eingereiht zu werden; denn Ahriman ist neben seinen anderen
Ämtern der Geist der Hindernisse. Überall, wo
Hindernisse auftreten, ist Ahriman der Herr; er bremst das
Leben und die Menschen. Die hier der Bequemlichkeit unterworfen
sind, die werden zu Bremsern in der Welt in bezug auf alles,
was aus den übersinnlichen Welten hierher geleitet wird.
Bequemlichkeit kettet also den Menschen im Leben zwischen Tod
und neuer Geburt an die Geister, die unter Ahriman den
Widerständen, den Hindernissen dienen müssen.
Bei
vielen Menschen finden wir hier im Leben eine Eigenschaft
ausgebildet, die wir hier schon zu den unmoralischen
Eigenschaften zählen: die Gewissenlosigkeit. In der Stimme
des Gewissens haben wir ja etwas unser Seelenleben wunderbar
Regelndes. Gewissenlosigkeit, geringe Fähigkeit,
hinhorchen zu können auf die warnende Stimme des
Gewissens, liefert uns wieder ändern Mächten aus
für die Zeit zwischen dem Tode und der neuen Geburt. Da
findet der Seher gewisse Seelen, die, nachdem sie durch die
Pforte des Todes gegangen sind, Diener geworden sind sehr
böser Geister. Hier im Leben treten Krankheiten auf, sie
treten in der einen oder anderen Weise auf. Wir wissen,
daß zum Beispiel in früheren Zeiten epidemische
Pestkrankheiten, Cholerakrankheiten auch durch Europa gegangen
sind. Die äußeren Ursachen wird die materialistische
Wissenschaft aufweisen können, nicht aber die inneren
geistigen Ursachen. Und alles, was geschieht, hat seine
geistigen Gründe. Wenn jemand kommt und Euch sagt, die
Wissenschaft habe eben die Aufgabe, die physischen Ursachen zu
suchen für das, was geschieht, so kann man immer wieder
sagen: Geisteswissenschaft schließt die Wahrheit der
äußeren Ursachen nicht aus, wenn sie berechtigt sind;
aber sie fügt hinzu die geistigen Ursachen.
Ein
Mensch fragte einmal, als von diesen geistigen Ursachen die
Rede war: Wenn Napoleon auftritt mit der Leidenschaft,
Schlachten zu lenken, können wir das nicht daraus
erklären, daß seine Mutter, als sie ihn trug, gerne
auf Schlachtfelder gegangen ist und dies durch physische
Vererbung auf ihn übertragen hat? Das hat schon seine
Richtigkeit, aber Napoleon drängte eben zu ihr hin: er hat
ihr diese Eigenschaft, diese Neigung eingepflanzt.
Geisteswissenschaft schließt nie aus, daß das
Äußere auch tatsächlich wahr ist.
Wenn jemand sagt: Hier steht ein Mensch, warum lebt er?, so
kann der materialistische Mensch erwidern: Weil er atmet. Ein
anderer kann sagen: Das weiß ich besser, er könnte
dennoch nicht leben, wenn ich vor drei Monaten ihn nicht aus
dem Wasser gezogen hätte! Ja, ist dieser letztere
Zusammenhang nicht wahr trotz des ersteren? Man glaubt
nämlich immer, die naturwissenschaftlichen
Zusammenhänge würden durch den
geisteswissenschaftlichen Zusammenhang ausgelöscht. Wenn
auch jemand nachweisen kann, er habe diese oder jene
Eigenschaft von seinem Vater, Großvater und so weiter
geerbt, bleibt es doch wahr, daß auch er die Bedingungen
geschaffen hat.
So
kann man auch rein naturwissenschaftlich die Ursachen der
Krankheiten studieren, die sich verbreitet haben. Man kann auch
rein äußerlich fragen: Warum ist dieser oder jener
eines frühen Todes gestorben? Aber das alles hat auch
seine Gründe in der geistigen Welt. Während hier auf
Erden Krankheiten sich abspielen, müssen gewisse geistige
Wesenheiten arbeiten, um die Krankheiten hereinzubringen aus
der geistigen Welt in die physische Welt.
Wenn wir auf die Toten hinsehen, die eintreten in dieses Land,
während das Leben im natürlichen Verlaufe noch nicht
ganz abgelaufen ist, die vielleicht nicht nur im besten Alter,
in der Jugendzeit, durch Krankheit dahinstarben, sondern auch
noch durch Unglück und Ungemach verfolgt wurden in ihrem
Leben, so steht der Seher, wenn er diese Schicksale, die ja
wahrhaft zahlreich sind, hellseherisch beobachtet, vor einer
erschütternden Tatsache: Er hat ein Feld von Krankheit und
Tod vor sich, das ganz beherrscht ist von gewissen bösen
Geistern, die Krankheit und Tod auf die Erde hereintragen. Und
wenn man versucht, den Lebenslauf dieser Seelen, die
gewissenlose Menschen auf Erden waren, zu verfolgen, so findet
man, daß sie nun die Diener dieser bösen Geister von
Krankheit, Tod und Ungemach werden mußten, um solche
frühzeitigen Tode und schweren Schicksale
herbeizuführen. Das ist der Zusammenhang! Das Leben wird
erst verständlich, wenn man es in seiner Gesamtheit
betrachtet, nicht nur einen kurzen Zeitabschnitt
herausschneidet, der zwischen Geburt und Tod verläuft.
Denn dieser Zeitraum ist wieder innig abhängig von dem,
was vorangegangen ist in der Ungeborenheit, in der
vorgeburtlichen, der rein geistigen Welt. Mit unserem ganzen
Wesen sind wir abhängig von dem, was in der geistigen Welt
vorangegangen ist. So etwas versteht man am besten, wenn man
mit dem Blicke des Sehers eine solche Erscheinung zu studieren
vermag, von der viele glauben möchten, daß sie ein
Einwand sei gegen die Tatsachen der geistigen Forschung. Manche
Menschen sagen zum Beispiel: Ja, ihr wollt
zurückführen Befähigungen und Schicksale der
Menschen auf frühere Erdenleben, seht euch aber einmal
eine Familie Bernoulli an, die durch acht Mathematiker
vertreten ist! Da kann man doch ganz klar sehen, daß
bestimmte Eigenschaften von Generation zu Generation vererbt
sind! Wenn man aber eine solche Erscheinung wirklich studiert
mit dem Blick des Sehers, da stellt sich heraus: Alles
dasjenige, was in der einen oder anderen Kunstform in der Welt
auftritt und was schon die Menschen mit einer Ahnung der
übersinnlichen Welt erfüllen kann und das tut die
Kunst schon immer —, ist das Ergebnis des Daseins in der
übersinnlichen Welt. Und wer hereintritt in diese Welt mit
künstlerischen Fähigkeiten, der bringt diese
künstlerischen Fähigkeiten deshalb mit, weil er durch
frühere Erdenleben oder durch eine besondere Gnade in der
Zeit vor der Geburt, vor der Empfängnis, schon in ganz
besonderer Weise lebte in der Welt der Sphärenharmonie;
und weil er nun zeigt, wie er eine gewisse Hinneigung hat
gerade zu einem solchen physischen Menschenleibe, der ihm die
Fähigkeit geben kann, das, was er wahrgenommen hat, auch
in der physischen Welt zum Ausdruck zu bringen.
Keine menschliche Seele sucht sich zu verkörpern in einem
solchen Leibe, in einer solchen Generationenfolge, wo
musikalische Eigenschaften sich vererben, die nicht in einem
früheren Leben sich die Fähigkeit erworben hat,
gerade das, was zu dieser Kunst befähigt, durchzumachen
zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, um dann hineingeboren
zu werden in einen besonderen musikalischen Leib. Denn nur die
allerersten Anlagen sind vorhanden in der Vererbungslinie. Ein
gutes musikalisches Gehör wird vererbt; diese Organe
werden noch im vorgeburtlichen Keimesleben oder nach der Geburt
nach den besonderen Fähigkeiten der Seele umgewandelt. Das
erste Instrument, worauf der Mensch spielt, ist sein eigener
Organismus, und dieser ist wahrhaftig ein sehr, sehr
kompliziertes Instrument; denn göttlich-geistige
Wesenheiten haben die ganzen Zeiten der Saturn-, Sonnenund
Mondenentwickelung gebraucht, um dieses Instrument
vorzubereiten. Und wir kommen mit einer Weisheit auf die Welt,
die wahrhaftig größer ist als die, die wir
später erwerben können.
Der
Mensch glaubt, er sei sehr weise, wenn er anfängt denken
zu können; aber die Weisheit, die wir zustande bringen,
wenn wir anfangen denken zu können, ist eigentlich gering
gegenüber einer viel größeren Weisheit, die wir
uns angewöhnt haben, die wir aber in einem bestimmten
Zeitpunkte verlieren. Wenn wir geboren werden, ist unser Gehirn
noch weich; dann sind die Verbindungen, die vom Gehirn zu den
einzelnen Organen gehen, noch unausgebildet, und diese Weisheit
haben wir in den Zeiten unserer Kindheit, um die Organe, um das
Instrument einzuspielen. Später, in dem Momente, an den
wir uns zurückerinnern als an jenen, wo wir bewußt
werden unser selbst, haben wir die Fähigkeit schon
verloren, auf unserem Instrument zu spielen; viel besser ist
sie in der ersten Kindheit als später. Das ist eine
große Weisheit, die angewendet wird, um uns selber dahin
zu bringen, daß wir dieses komplizierte Instrument werden.
Das ist etwas, das uns mit großem Respekt vor dem
erfüllen kann, was wir sind, so lange wir noch im
Schöße der göttlich-geistigen Weisheit sind. Und
dann werden wir gewahr, wie wir eigentlich mit einer viel
größeren Weisheit hereinkommen ins Leben, als wir
bisher wissen konnten; dann können wir uns auch eine
Vorstellung machen, wie groß diese Weisheit vorher ist in
dem Leben, das vor dem Keimesleben liegt. Das ist nun
außerordentlich bedeutsam, denn der Seherblick erkennt: Je
weiter wir zurückgehen, um so größer ist die
Weisheit und Fähigkeit des Menschen.
Und
nun betrachten wir mit dem Blicke des Sehers die Seele eines
Menschen, der ein Diener der bösen Geister von Krankheit
und Tod geworden ist. An einer solchen Seele können wir
sehen, wie die Weisheit, deren der Mensch fähig ist, wie
ausgelöscht ist dadurch, daß er sich erniedrigt hat.
Einen furchtbaren Anblick bietet eine solche Seele dar: einst
bestimmt, die höchste Weisheit entfaltet zu haben, und
jetzt so tief erniedrigt zu sein, daß sie ein Diener wird
der ahrimanischen Mächte! Wenn dann der Mensch in die
physische Verkörperung hineingetreten ist, wenn er den
physischen Leib um sich geschlossen hat, dann kann er dadurch,
daß er am spirituellen Leben teilnimmt, daß er die
spirituelle Welt in sich hereinnimmt, seine Seele beleben und
fähig machen, beim Durchgehen durch das Leben zwischen Tod
und neuer Geburt um sich zu haben eine geistige Welt —
oder er kann sich stumpf machen. Stumpf hat sich eine solche
Seele gemacht, wenn sie nichts hat aufnehmen wollen hier
zwischen Geburt und Tod, was sie befähigt, eine geistige
Welt um sich zu sehen.
Da
sehen wir uns als einzelne Seele in Zusammenhang mit dem
gesamten spirituellen Leben der Welt; da sehen wir uns
herausgegliedert aus dem gesamten Leben der Welt; da
fühlen wir die Notwendigkeit, unsere angestammten
Geisteskräfte nicht verkümmern zu lassen, sondern zu
pflegen, damit wir uns nicht allmählich auslöschen
aus der Welt. Nun könnte ja jemand sagen: Ja, ich will
mich auslöschen aus der umgebenden Welt, denn mir liegt
nichts am Leben. — Aber dieses Auslöschen ist nicht
gleich der Vernichtung; dieses Auslöschen ist nur ein
Auslöschen für die Umwelt. Man ist dann nicht
für die Umwelt da, aber man ist für sich selber noch
da. Auslöschen ist Vereinsamung in der geistigen Welt,
heißt, nur wie auf einer Insel leben, einsam,
abgeschlossen, ohne Möglichkeit einer Verständigung.
— Das erreicht man, wenn man sich ausschließt aus
der geistigen Welt.
Man
kann da folgendes Bild gebrauchen. Prägen Sie sich dieses
Bild gut ein, betrachten Sie es als gute Grundlage der
Meditation: Indem der Mensch weiter und weiter schreitet in der
Weltenentwickelung, wird er freier und freier. Immer lebt er
sich so aus, daß er wie auf einer Insel lebt; von einer
Insel zur anderen müssen unsere Rufe, muß unser
Verständnis gehen. Derjenige Mensch, der in der Zukunft
teilnehmen wird an dem spirituellen Leben der Menschheit, wird
sich verständigen können von einer Insel zur anderen
mit allen, die frei leben auf den Inseln. Derjenige hingegen,
der flieht das spirituelle Leben, der wird auf seiner Insel
sein, und wenn er sich wird verständigen wollen mit denen,
die er schon früher kennengelernt hat, wird er sich nicht
verständigen können. Es wird ersterben der Ton in
ihm, er wird ahnen: Dort, dort drüben auf jenen Inseln
sind die, die ich kenne, die zu mir gehören. — Aber
nichts dringt zu ihm, er wird lauschen und nichts vernehmen.
Die spirituelle Wissenschaft gibt uns die Sprache, durch die
wir in der Zukunft die Möglichkeit gewinnen, über die
Einsamkeit hinüber zur Verständigung zu kommen.
Diejenigen Aussprüche, die aus okkulten Schriften uns
herübertönen, sind manchmal viel tiefer als man
denkt. Als das Mysterium von Golgatha geschah, war das die
erste Verkündigung desjenigen, was der Mensch braucht,
damit er die Verständigung findet von einer der
bezeichneten Inseln zur anderen.
Jetzt ist die zweite Verkündigung: die anthroposophische
Geisteswissenschaft, die das Christus-Geheimnis für die
Menschenseele klarer und klarer machen soll. Was Christus
gesprochen hat, ist in manchen Worten angedeutet. Zu den
tiefsten gehört auch dieses: «Wenn zwei in meinem
Namen vereinigt sind, so bin ich mitten unter ihnen.» Aber
diesen Namen wird man erst verstehen lernen, wenn man die
spirituelle Sprache lernt. Im Anfange der christlichen
Verkündigung konnte man das noch auf naive Weise finden;
in der Zukunft werden nur jene Menschen den Christus erkennen,
die ihn geisteswissenschaftlich erkennen. Es mag heute für
viele Menschen töricht erscheinen, daß
Geisteswissenschaft genannt wird die spirituelle Sprache,
welche die Menschen brauchen, damit sie sich nicht isolieren,
sich nicht trennen im Tode, im Sterben, damit sie die
Möglichkeit finden, von einer Insel zur anderen zu kommen.
Das, was ich heute zu Ihnen zu sprechen versuchte, wird Ihnen
die volle Idee davon geben, warum wir uns zur Pflege der
Geisteswissenschaft zusammenschließen. Jenen Rufen, jenen
Stimmen folgt derjenige, der bewußt heute für die
Geisteswissenschaft arbeitet, denen auch mehr oder weniger
derjenige folgt, der die Sehnsucht empfindet, etwas zu
hören über die geistige Welt. Diese Stimmen, diese
Rufe rühren von der geistigen Welt selber her und auch die
Notwendigkeit, die man fühlt aus der geistigen Welt
heraus, wenn sprechen die Menschenseelen, die zwischen Tod und
neuer Geburt leben; wenn sprechen auch die anderen geistigen
Wesenheiten der verschiedenen Hierarchien. Wenn alle diese
Stimmen zu uns tönen, werden sie in unseren Seelen
dasjenige wachrufen können, was die Menschheit immer mehr
und mehr zur Pflege jenes spirituellen Lebens führen wird,
das wir in unseren Zweigen hegen und das auch hier in diesem
Zweige in Zukunft getreulich gepflegt werden möge. Das sei
der Wunsch, den ich heute am Ende dieser Betrachtungen in Ihre
Seelen legen möchte und von dem ich sehnlich hoffe,
daß er in Ihren eigenen Seelen immer stärker und
stärker erglühen möge zum Gedeihen der
geisteswissenschaftlichen Arbeit, getragen von wahrer
geisteswissenschaftlicher Wärme.
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