DAS FÜNFTE EVANGELIUM
Berlin, 21. Oktober 1913
Erster Vortrag
Nach einer längeren Pause haben wir
uns wieder in dieser unserer Berliner Arbeitsgruppe zusammengefunden und wollen
dasjenige beginnen, was wir in diesem Winter wie eine Art
Fortsetzung unserer geisteswissenschaftlichen Arbeit, wie wir sie die Jahre
her gepflogen haben, betrachten
können. Für Berlin war ja eine längere Pause
eingetreten; aber diese Pause war diesmal ja nicht nur mit den
üblichen Vorstellungen und dem
Vortragszyklus in München ausgefüllt, sondern auch
mit der Grundsteinlegung unseres Baues in Dornach und
mit mannigfaltigen Arbeiten, die mit dem
Beginne dieses unseres Baues
zusammenhängen. Und so darf ich an diesem Abend, an
dem wir uns zum erstenmal seit
längerer Zeit wieder hier in diesem Räume
zusammenfinden, zuallererst Ihren Blick auf
dasjenige hinlenken, was sich
für uns ausdrückt in diesem Dornacher Bau. Es ist ja
zu hoffen, daß mit diesem Bau
dasjenige, was unsere anthroposophische Anschauung der Welt
sein will, auch ein äußeres Symbolum der
Zusammengehörigkeit für alle jene Herzen und Seelen
bilden kann, die sich innerlich
verbunden fühlen mit dem geisteswissenschaftlichen
Streben, wie wir es mit dieser
anthroposophischen Weltanschauungsströmung
pflegen.
Im Grunde genommen — das werden Ihnen
mancherlei Bemerkungen der verflossenen Jahre ergeben haben,
die auch hier gemacht worden sind — weist alles im
geistigen Leben der Gegenwart darauf hin, wie die Menschheit unserer Tage unbewußt
dürstet nach dem, was mit einer
wahren spirituellen Weltanschauung gegeben werden soll.
Und nicht nur jene Seelen, die heute etwa
in positiver Weise das Bedürfnis nach einer solchen Weltanschauung zum
Ausdruck bringen, streben nach einer
solchen Weltanschauung, sondern auch zahlreiche
Menschen, welche nichts von einer solchen
Weltanschauung wissen. Ja sogar auch
solche, die nichts von ihr wissen wollen, vielleicht ihr
sogar heute noch feindlich
gegenüberstehen, sie streben
doch unbewußt — man
möchte sagen aus den Bedürfnissen ihres Herzens
heraus, die sich in bewußten
Begriffen und Ideen noch gar nicht ankündigen,
die sich vielleicht sogar in gegnerischen
Begriffen und Ideen ankündigen — , sie streben, ohne
es selbst zu wissen, nach dem, was gerade mit unserer Weltanschauung gegeben werden
soll.
So war es wirklich eine ganz besondere
Empfindung, als wir mit den wenigen
unserer anthroposophischen Freunde, die gerade —
weil alles, durch die
Verhältnisse geboten, schnell gemacht werden mußte
— nahe am Orte waren und
anwesend sein konnten, den Grundstein dieses Dornacher Baues legten. Es war eine erhebende
Empfindung, zu fühlen, daß
man damit gewissermaßen stehe am Beginne des
Baues, der sozusagen unser vorläufiges
äußeres Symbolum für unser gemeinsames Streben bilden soll.
Wenn man da oben auf dem Hügel stand,
auf dem unser Bau errichtet werden soll — und das war ja
bei unserer Eröffnungszeremonie geschehen — , von dem
man weit hinaussieht auf die umliegenden Berge und Flächen
des Landes und den Blick hinauslenken kann auf viel weitere Weiten, da mußte man gleichsam
gedenken der Schreie der Menschheit
in einer weiteren Weltenumgebung nach geistigen Wahrheiten, nach den Verkündigungen
einer spirituellen Weltanschauung,
die innerhalb unserer geistigen Strömung gegeben
werden können. Und man mußte
daran denken, wie noch mehr als das
Ausgesprochene oder das Empfundene, manches andere
Symptomatische in unserer Gegenwart ankündigt, daß es
eine spirituelle Notwendigkeit ist, daß sich eine solche
spirituelle Weltanschauung dem Seelenleben der Menschheit wirklich fruchtbar
einpflanze. Das war also die
hauptsächlichste Empfindung, die uns beseelte, als wir
den Stein, über dem sich unser
Bau erheben soll, in die Erde legten. Und dieser Bau, er soll ja auch in seinen Formen
ausdrücken, was wir wollen; so
daß diejenigen, die den Bau von außen oder von
innen einstmals betrachten werden,
wenn er fertig sein wird, seine Formen als eine Art Schriftzeichen empfinden können, in
denen sich ausdrückt, ausspricht dasjenige, was wir in der Welt verwirklicht
sehen wollen.
Wenn man über eine solche
Begründung nachdenken und sie nachempfinden muß, ist
es ja dann so naheliegend, daran zu denken, wie
nicht nur im einzelnen menschlichen Leben,
sondern in der ganzen menschlichen
Erdenentwickelung Karma wirkt. Im einzelnen Menschenleben wirkt
sozusagen das kleine Karma; im Ganzen der Erdenund
Menschheitsentwickelung wirkt das große Karma. Und das ist
der große erhebende Gedanke,
den man fühlen darf: Indem gerade auf spirituellem Boden so etwas geschieht, ist man in einer
gewissen Weise —
und sind es alle anthroposophisch
Strebenden, die an der Sache beteiligt sind — das Werkzeug, wenn auch nur das
geringe, so doch das Werkzeug des
Geistes, der durch das Weltenkarma wirkt und
seine Taten schafft. Dieses
Sich-Verbundenfühlen mit dem Geiste des
Weltenkarmas, das ist ja die bedeutsame
große Empfindung, das Gefühl, in das sich immer wieder und wieder alles
zusammenschließen soll, was wir an anthroposophischen
Betrachtungen pflegen können. Dieses Gefühl ist das,
was der Seele Ruhe geben kann dann, wenn sie Ruhe braucht, was der Seele Harmonie geben
kann, wenn sie der Harmonie bedarf,
was ihr aber auch Kraft, Wirkensfähigkeit,
Ausdauer und Energie geben kann, wenn sie
Kraft, Wirkensfähigkeit, Ausdauer und Energie
braucht.
Wenn die spirituellen Weltbegriffe in ihrer
Wahrheit in unsere Seele einfließen, dann werden sie in uns auch zu so
etwas wie einem innerlich pulsierenden Leben, das sich in Kraft
umsetzt, das wir fühlen und
empfinden können, das in uns rege ist sowohl bei dem
Höchsten, zu dem wir unsere
Gedanken aufschwingen können, als auch bei dem
Kleinsten im alltäglichen Leben, zu
dem uns unsere Arbeit zwingt; sie
werden etwas, zu dem wir immer greifen können, wenn wir
einen Kraftanreger brauchen, zu dem
wir immer wieder hinblicken können, wenn wir Trost im Leben brauchen. Auch echte
Moralität, echte sittliche
Kraft wird der Menschheit hervorsprießen nur aus
diesem Hinlenken des Seelenblickes
nach der wahren Spiritualität, nach dem
echten spirituellen Leben.
Denn in anderer Art stehen wir
gegenwärtig im Weltenkarma darinnen, als die Menschheit im
Weltenkarma stand in der Zeit, in welcher sich abgespielt hat,
was wir oftmals als den Mittelpunkt, den Schwerpunkt der menschlichen Erdenentwickelung
bezeichnet haben: das Mysterium von
Golgatha. Und wie ich an anderen Orten in den
letzten Zeiten — gerade im
Zusammenhang mit dem Zeitpunkt unserer eigenen geisteswissenschaftlichen Entwickelung, in dem
wir jetzt stehen — auf ganz
merkwürdige Verhältnisse aufmerksam machte in
bezug auf das Mysterium von Golgatha, so
möchte ich es gerade heute, wo
wir uns nach langer Zeit in diesem Räume wieder treffen,
auch vor Ihre Herzen, Ihre Seelen bringen.
Das Mysterium von Golgatha, das Einleben
des Christus-Impulses kam in die
Welt. Zu welcher Zeit kam es in die Welt? Wir wissen
heute durch unsere spirituelle Vertiefung,
was dazumal in einen Menschenleib
eingeflossen ist, um Eigentum der Erdenentwickelung,
der Erden-Menschheitsentwickelung zu
werden. Dasjenige, was wir gleichsam
an vorbereitenden Studien unternommen haben, hat uns in
die Lage versetzt, einigermaßen die
Bedeutung des Mysteriums von Golgatha zu begreifen. Künftige Zeiträume,
das haben wir oft betont, werden es
noch deutlicher begreifen. Wie steht es denn aber, so
kann man fragen, mit dem Begreifen
des Mysteriums von Golgatha gerade in jener Zeit, in welcher es sich abgespielt hat? Es
handelt sich ja darum, daß wir
dieses Mysterium von Golgatha seiner Tatsächlichkeit nach
auffassen, daß wir begreifen, um was es sich dabei
wirklich handelt. Handelt es sich
denn darum, was damals der Menschheit gelehrt worden ist? Käme es darauf an, dann
könnten diejenigen vielleicht einen Schein des Rechtes
beanspruchen, die da sagen, daß die meisten Lehren des Christus Jesus schon in
früheren Zeiträumen vorhanden gewesen seien; obwohl
es, wie wir wissen, auch nicht vollständig wahr ist. Aber
darauf kommt es gar nicht in erster Linie an,
sondern es handelt sich um etwas ganz
anderes, nämlich darum: was auf
Golgatha und damit zusammenhängend geschehen ist, was
geschehen wäre, auch wenn keine menschliche Seele im
weiten Erdenumkreis es verstanden hätte. Denn es handelt
sich nicht darum, daß eine Tatsache gleich verstanden werde, sondern darum,
daß sie geschieht. Die
Bedeutung der Golgatha-Tatsache beruht zunächst nicht auf
dem, was die Menschen davon
verstanden haben, sondern darauf, was für
die Menschheit so geschehen ist, daß
der Strom dieses Geschehens in den
spirituellen Weltentatsachen zum Ausdruck gekommen
ist.
In welche Zeit fiel denn das
Mysterium von Golgatha? Es fiel
wirklich in eine merkwürdige
Zeit. Betrachten wir nur, um das Merkwürdige dieses
Zeitraumes ins Auge zu
fassen, die nachatlantische
Entwickelung. Wir haben oft darauf
hingewiesen, daß sich die Menschheit in dieser nachatlantischen Zeit zuerst in
der sogenannten urindischen
Kulturepoche entwickelt hat. Wir haben auf das Hohe,
auf das Bedeutsame der urindischen Kultur
hingewiesen, haben darauf hingewiesen, wie ganz andersgeartet die Seelen in
dieser Epoche waren, wie sie viel
intimer zugänglich waren für das spirituelle
Leben, und wie diese
Zugänglichkeit dann von Epoche zu Epoche abgenommen hat.
Wir haben ferner darauf hingewiesen, wie in der urpersischen
Zeit, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit die
unmittelbare Anteilnahme des Menschen an den spirituellen
Welten geringer wurde. Denn in der
urindischen Epoche hatte der Mensch hereingenommen
in seinen Ätherleib alles, was ihm die
Welt mitteilen konnte, und er hatte
es erlebt in seinem Ätherleib; wenigstens diejenigen haben
es erlebt, die diese indische
Kulturepoche in jenen alten Zeiten im wahren Sinne mitmachten.
Was man da im Ätherleib erlebt, trägt in
hohem Grade den Charakter der
Hellsichtigkeit. In der urpersischen Zeit hat man das Seelische erlebt im Empfindungsleibe;
das war schon erlebt mit einem
geringeren Grade von Hellsichtigkeit. In der
ägyptisch-chaldäischen Epoche
erlebte man das Seelische in der Empfindungsseele; da war schon
wieder ein geringerer Grad von Hellsichtigkeit vorhanden. Dann
kam die vierte, die griechisch-lateinische Kulturepoche: in diese fiel hinein das Mysterium von
Golgatha. Es ist die Kulturepoche,
in welcher die Menschenseele bereits herausgegangen war zu dem
Wahrnehmen nur auf dem äußeren physischen
Plan. Die Kultur des Verstandes, die sich
auf die äußeren Dinge bezieht, beginnt. Die Seele entwickelt die Kräfte,
die sich auf die äußere
Welt beziehen.
In unserer Zeitepoche, im fünften
nachatlantischen Kulturzeitraum, hat
sich bisher das Erleben der Menschheit auf die Beobachtung
der Außenwelt, auf das Erleben
der Sinneseindrücke beschränkt. Aber dieser
fünfte nachatlantische Kulturzeitraum wird wieder
hinführen müssen zu einer neuen, erneuerten
Empfänglichkeit für das spirituelle Leben,
denn er muß voll ausleben das Leben in
der Bewußtseinsseele.
Wenn man sich nun fragt, hinblickend nur
auf die vier ersten Zeiträume der nachatlantischen
Entwickelung, welcher von diesen Zeiträumen denn am
wenigsten geeignet war, das Mysterium von Golgatha, das
Herabsteigen des Christus zu verstehen, wirklich mit
spirituellem Verständnis zu verfolgen, so könnte man
sich sagen: Hätte — wie
es ja nach dem Weltenkarma nicht hat geschehen können,
aber wie man hypothetisch einmal
annehmen kann — das Mysterium von Golgatha stattgefunden,
wäre der Christus herabgekommen in einen
menschlichen Leib in der Zeit der
urindischen Kultur, so wären unzählige Seelen
dagewesen, um dieses Ereignis zu verstehen; denn sie
hatten noch dieses spirituelle
Verständnis. Auch noch in der urpersischen, selbst noch in
der ägyptisch-chaldäischen Epoche wäre in
gewissem Sinne ein Verständnis
für das Mysterium von Golgatha den Seelen noch leicht gewesen, wenn es sich hätte
nach dem Weltenkarma damals
abspielen können. Im vierten nachatlantischen
Zeiträume war die Menschenseele
in einer Entwickelung, in welcher ihr dieses
Verständnis für das Mysterium von
Golgatha, dieses unmittelbare spirituelle Verständnis, gerade durch ihren
Entwickelungszustand verschlossen war.
Wir werden noch oft sprechen müssen
von der eigenartigen Tatsache, daß das Mysterium von
Golgatha in der nachatlantischen Zeit auf denjenigen Kulturzeitraum wartete, in welchem das
spirituelle Verständnis
für die zu geschehende Tatsache schon geschwunden,
schon nicht mehr da war. Die Verstandes-
oder Gemütsseele war im griechisch-lateinischen Zeitraum daran, sich besonders
zu entwickeln. Sie richtete vor
allem den Blick liebevoll hin auf die äußere
Welt, wie an der ganzen griechischen
Kultur zu sehen ist. Dem Mysterium von Golgatha, das nur mit dem inneren Blick zu
verfolgen war, stand im Grunde
genommen die ganze zeitgenössische Kultur so
gegenüber wie jene Frauen, die an das
Grab des Christus Jesus kamen und
den Leichnam suchten, aber das Grab geöffnet fanden und
den Leichnam nicht mehr darinnen,
und die auf ihre Frage, wo der Leib des Herrn geblieben wäre, die Antwort vernehmen
mußten: Der, den ihr suchet,
der ist nicht mehr hier!
So wie sie in der äußeren Welt
den Christus suchten, aber ihnendie Antwort kam: Der, den ihr
suchet, der ist nicht mehr hier! — , so
ging es im Grunde genommen dem ganzen
Zeitalter in bezug auf das Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Die
Menschen des vierten nachatlantischen Kulturzeitraumes suchten etwas, was
dort nicht war, wo sie suchten. Und
sie suchten auch noch, als dieser vierte nachatlantische
Zeitraum zu Ende ging — er endete mit dem 15. Jahrhundert
— , sie suchten auch da noch in derselben Weise. Denn
wie die Umsetzung ins Große,
das heißt nur ins räumlich Große, dessen,
was den Frauen am Grabe des Christus Jesus
geschehen war, erscheinen uns die Kreuzzüge. Durch
zahlreiche europäische Gemüter geht
zur Zeit der Kreuzzüge die Sehnsucht:
Wir müssen suchen, was uns teuer ist, am Grabe des Christus Jesus! — Und
ganze Scharen von Menschen bewegten
sich nach dem Orient hinüber, um auf diesem
Wege zu finden, was sie finden wollten,
weil es so ihren Empfindungen entsprach. Und wie kann man
charakterisieren, was gerade diejenigen empfunden haben, welche
nach dem Oriente in den Kreuzzügen gezogen waren? Es war,
wie wenn ihnen der ganze Orient geantwortet hätte: Der, den ihr suchet, der ist
nicht mehr hier! — Drückt
sich darin nicht symbolisch tief aus, daß während des
ganzen vierten nachatlantischen
Zeitraumes die Menschheit suchen mußte auf
dem äußeren physisch-sinnlichen
Plane, daß aber der Christus gesucht werden muß auf dem geistigen Plan, auch insofern
er in der Erdenwelt ist.
Wo war denn der Christus, als die Frauen
ihn am Grabe suchten? Er war im
Geistigen, dort, wo er den Aposteln erscheinen konnte,
als sie ihre Herzen, ihre Seelen
aufschlossen, um durch die nicht bloß sinnlichen Kräfte den im ätherischen Leibe
eine Zeitlang nach dem Mysterium von
Golgatha herumwandelnden Christus zu schauen.
Wo war denn der Christus, als die
Kreuzfahrer ihn äußerlich auf dem physischen Plane im Osten suchten? Auf die Art, wie
er als Tatsache in die
Menschenseelen einziehen kann, sehen wir ihn zu gleicher Zeit,
als ihn die Kreuzfahrer im Osten suchten, einziehen in
die Mystiker des Abendlandes. Da ist
diese Christus-Kraft, da ist der Christus-Impuls! Während die Kreuzfahrer nach dem
Osten ziehen, um den Christus auf
ihre Art zu suchen, lebt der lebendige Impuls des
Christus — so, wie er in Europa nach
den Zeitverhältnissen aufleben konnte — auf in den Seelen eines
Johannes Tauler, eines Meister
Eckhart und anderer, die ihn
nach den Verhältnissen der damaligen Zeit aufnehmen
konnten, lebte auf im Geistigen. Er war mittlerweile
herübergezogen in die abendländische Kultur und
hinweggezogen von dem Orte, wo er
gewesen war und wo denjenigen, die ihn suchten, die
Antwort gegeben werden mußte: Der, den
ihr suchet, der ist nicht mehr
hier!
Der fünfte nachatlantische
Kulturzeitraum ist die Zeit der Ausbildung des Ich, das
heißt, eigentlich der Bewußtseinsseele
gewidmet. Aber der Mensch geht ja
durch die Bewußtseinsseele hindurch, damit
er sich seines Ichs vollständig
bewußt werden kann. Von diesen geisteswissenschaftlichen Wahrheiten haben wir ja
oftmals gesprochen. Ich spreche gerade in dieser Stunde
über diese Wahrheiten noch mit
einer ganz besonderen Empfindung.
Es ist begreiflich, daß die
Verkündigung dieser Anschauungen in der Gegenwart noch Gegnerschaft über Gegnerschaft
hervorruft. Aber bedeutsam für
dieses Gefühl, das ich meine, bleibt es doch,
wenn man zum Beispiel sagen muß: Sehen
Sie, es ist jetzt notwendig geworden, daß ich die zweite Auflage meines Buches
«Welt- und Lebensanschauungen
im 19. Jahrhundert» fertigstelle. Nun war dieses
Buch, als es seinerzeit erschien, ein
«Jahrhundertbuch», ein Rückblick auf das
verflossene Jahrhundert. Eine zweite Auflage kann
natürlich nicht dasselbe sein, denn es
hat keinen Sinn, im Jahre 1913 einen
Rückblick auf das vorherige Jahrhundert zu schreiben. So
mußte denn dieses Buch vielfach
in seiner äußeren Fassung umgestaltet werden. Unter
anderem sah ich mich auch veranlaßt, eine lange
Ausführung als Einleitung zu geben, die einen
Überblick von den ältesten griechischen Zeiten bis eben zum 19. Jahrhundert
vermitteln soll. So war ich gerade
in dieser letzten Zeit genötigt, auch in dieser
mehr philosophischen Weise, an
meinem Blick vorüberziehen zu lassen die
Weltanschauungen von Thaies, von Pherekydes
aus Syros und so weiter — eben mehr vom philosophischen
Standpunkte aus — bis herein in unsere Zeit. Da hat man nicht nur das Spirituelle vor
sich, sondern das, was
geschichtliche Überlieferung ist; und ich habe mir
geradezu die Aufgabe gestellt, nur
das zu schildern, was sich auf den philosophischen Fortschritt
bezieht und alle religiösen Impulse auszuschließen.
Gerade dabei stellte sich mit einer tiefgehenden Klarheit
die Wahrheit jenes merkwürdigen
Umschwunges heraus, der sich beim Aufgange des griechisch-lateinischen Zeitraumes
vollzogen hat, wo aus dem alten
bildhaften Auffassen der Welt, das noch im
ägyptischchaldäischen Zeiträume da war, sich das
gedankliche Auffassen der Welt
entwickelte, und wie sich dann vom 14., 15. Jahrhundert
an das Bewußtsein vom
Ich-Impuls — nicht der Ich-Impuls selbst, der
zieht ja schon früher in die
Menschheit ein — herausentwickelt hat.
Da wird es gleichsam, wenn man die
einzelnen Philosophen auf ihren
Wahrheitsgehalt hin durchnimmt, greifbar, geschichtlich
greifbar, wie wahr diese Dinge sind. Deshalb rede ich heute
über diese Dinge von einem ganz
anderen Gesichtspunkte aus als es in jenem Buche geschehen kann und mit einer ganz besonderen
Empfindung. Aber auch an der
äußeren Geschichte kann man betrachten, wie
das Ich-Bewußtsein, das
Ich-Gefühl sich hereindrängt in die
menschliche Seele ungefähr um
das 15. Jahrhundert herum.
Diese neuere Epoche seit jener Zeit ist
also vorzüglich dafür bestimmt, daß der Mensch
gezwungen werde, die Energien, die Kräfte
seines Ichs an die Oberfläche zu
bringen, sich seines Ichs immer mehr und mehr bewußt zu werden. Dazu ist besonders
geeignet die Beschränkung des Blickes auf die nur
äußeren Sinneserscheinungen, eine solche Beschränkung, wie sie die moderne
naturwissenschaftliche Entwickelung
zeigt. Wenn der Mensch in seiner Umwelt nicht mehr
dasjenige findet, was ihm in mächtigen
Imaginationen, in Bildern erschien
im ägyptisch-chaldäischen Zeiträume, oder was
sich im griechisch-lateinischen in großen Gedankentableaus
auslebt wie bei Plato und
Aristoteles und den zu ihnen gehörigen Denkern noch,
sondern wenn der Mensch — ohne
das Tableau der Imaginationen, ohne das Tableau des Gedankens, wie er noch bei Aristoteles im
griechischlateinischen Zeitalter wahrgenommen worden ist
— darauf angewiesen ist, nur
das im Umkreise seiner Anschauung zu erblicken, was die
Sinne bieten, dann muß das Ich, weil
es das einzige Geistige nur in sich
selber erahnen kann, sich selber ergreifen in seiner
Wesenheit und suchen nach der Kraft
seines Selbstbewußtseins. Und alle ernstzunehmenden
Philosophen seit dem 15. Jahrhundert, wenn man sie in
ihrem Nerv betrachtet, sieht man darnach
ringen, eine Weltanschauung aufzubauen, die ein solches
Weltbild ergibt, daß darin das Ich des Menschen, die selbstbewußte Seele möglich ist
und bestehen kann. Der vierte
nachatlantische Kulturzeitraum, der die Verstandes- oder
Gemütsseele entwickelte, hatte aber,
wenn auch seinem Verständnis die Auffassung des Mysteriums von Golgatha ferne, ganze
ferne lag, noch etwas, was ihm
dieses Mysterium von Golgatha nahebringen konnte. Wir nennen die Verstandesseele ja auch
Gemütsseele, weil diese Seele
wirklich eine Zweiheit ist, weil in der menschlichen
Natur in dem Zeiträume, den wir
den vierten nachatlantischen nennen, ebenso wie der Verstand auch das Gemüt, das
Gefühl, die Empfindung wirkte. Weil auch das Gemüt
wirkte, so konnte, was dem Verstande verschlossen war, das Herz
fühlen, und es entstand jenes
Gefühlsverständnis, das man auch nennen kann den
Glauben, für das Mysterium von
Golgatha, das heißt, die Menschenseele hatte
innerlich ein Gefühl für
den Christus-Impuls. Die Menschen fühlten den
Christus-Impuls sich einwohnend; sie
fühlten sich innerlich, seelisch mit dem Christus-Impuls verbunden, auch wenn sie seine
Bedeutung, sein Wesen nicht
verstehen konnten. Es war der Christus für sie da.
Dieses Da-Sein mußte aber im Zeitalter
der Ich-Kultur, in der wir jetzt
stehen, noch weiter dahinschwinden; denn das Ich muß
gerade, damit es sich in seiner
Vereinzelung voll erfassen kann, sich abschließen von
allem, was an spirituellen Impulsen unmittelbar zur
Seele dringt. So sehen wir denn ein sehr
merkwürdiges Schauspiel. Wir
sehen mit dem Heraufkommen des neuen Zeitraumes, schon
als er sich ankündigt, so recht
klar, wie zu dem alten Nichtverstehen ein neues Nichtverstehen kommt, ja, ein Nichtverstehen,
das noch weiter geht als das alte. Wer die Tatsachen des
spirituellen Lebens prüft, muß es begreiflich finden, daß der vierte
nachatlantische Kulturzeitraum nur mit dem Gemüt den
Christus-Impuls aufnehmen konnte, ihn aber nicht geistig wirklich erfassen konnte. Aber
man wußte durch das, was man
aufnehmen konnte, daß der Christus da ist, daß
er wirksam ist in der
Menschheitsentwickelung. Man fühlte es.
Mit dem neuen, dem fünften Zeitraum,
kündigte sich noch etwas ganz
anderes an. Nicht nur, daß man jetzt Unverständnis
gegenüber dem Christus-Wesen
entwickelte, sondern auch Unverständnis überhaupt
gegenüber allem Göttlich-Geistigen. Und was ist der
Beweis dafür — man
könnte viele Beweise finden, aber einer spricht
besonders klar und deutlich
dafür — , wie man vorrückte in dem
Unverständnis, das heißt,
daß die Menschen nicht mehr unmittelbar aufnehmen
konnten nicht nur das Christus-Prinzip,
sondern auch das göttlichgeistige Prinzip überhaupt?
Im 12. Jahrhundert, wie vorausverkündend die Ich-Kultur,
erfindet Anseimus, der Erzbischof von Canterbury, den sogenannten Gottesbeweis; das
heißt, dieser Mann findet sich
genötigt, die Gottheit zu «beweisen». Was
beweist man denn in solcher Art?
Das, was man weiß oder das, was man nicht
weiß? Wenn beispielsweise in meinem
Garten gestohlen worden ist, und ich
kann vom Fenster aus den Dieb beobachten, wie er die Tatsache
des Diebstahls vollzieht, dann habe ich nicht nötig zu
beweisen, daß dieser Mensch es war, der gestohlen hat. Ich
suche es nur dann zu beweisen, wenn
ich ihn nicht kenne. Die Tatsache, daß man Gott zu beweisen sucht, ist ein Beweis dafür,
daß man ihn nicht mehr kennt,
nicht mehr erlebt. Denn was man erlebt, beweist man
nicht, sondern was man nicht erlebt, das
beweist man. Und dann ging es mit
dem Nichtverstehen eigentlich immer weiter und weiter,
und heute stehen wir in dieser Beziehung an
einem merkwürdigen Punkt.
Öfter ist auch von dieser Stelle aus berührt worden,
welche unendlichen
Mißverständnisse sich in den letzten Jahrhunderten,
insbesondere im letzten, aufgetürmt haben gegenüber
dem Verständnisse dessen, was das Mysterium von Golgatha,
was der Christus Jesus ist, bis zum
jetzigen Zeitpunkt, wo selbst von theologischer
Seite der Christus Jesus nicht nur
herabgewürdigt, herabgewertet worden ist zu einem wenn auch hervorragenden
menschlichen Lehrer, sondern, sogar
auch von theologischer Seite, in seiner Existenz
vollständig geleugnet wird.
Aber alles dieses hängt ja zusammen
mit viel, viel tieferen, charakteristischen Eigenschaften
unseres Zeitalters. Nur ist die schnellebige
Art unserer Zeit eigentlich nicht dazu
bereit, auf das besonders Charakteristische unserer Zeit zu achten; aber die
Tatsachen sprechen für den, der
beobachten will, eine deutliche, eine nur allzudeutliche
Sprache.
Nehmen wir eine Tatsache; ich führe
Kleinigkeiten an, aber solche Kleinigkeiten sind eben Symptome. In einer sehr
bekannten Wochenschrift fand sich vor kurzer Zeit ein
höchst merkwürdiger Aufsatz, der gegenwärtig öfter genannt wird, mit
Respekt genannt wird. Er lief auf
etwas Sonderbares hinaus, nämlich darauf: Wenn man so
die Weltanschauungen, die in den
letzten Jahrhunderten aufgetreten sind, betrachte, so habe man eigentlich zu sehr
«Begriffe» vor sich; diese Begriffe seien zu unanschaulich. In unsere Sprache
übersetzt, heißt es: Sie
sind nicht in der Sinneswelt, auf die man sich beschränken
will, begreifbar. So findet dieser
betreffende Schriftsteller sonderbarerweise, daß der
Philosoph Spinoza
schwer verständlich sei, wie er
aus einem einzigen Begriff heraus,
dem Begriff der göttlichen Substanz, die Welt zu begreifen sucht. Da macht denn dieser
Schriftsteller zur Reform des
philosophischen Verständnisses unserer Zeit einen gewissen
Vorschlag, der darauf hinausläuft, anschaulich
darzustellen, wie ein Begriff oben
die Spitze bildet, und wie dann die Begriffe auseinandergehen,
sich spalten; kurz, er macht den Vorschlag, Spinozas
Gedankengebäude so zu «veranschaulichen», wie
man oft ein Schema hinstellt, damit
man nicht mehr zu verfolgen brauche, wie sich die
Gedanken in der Seele des Spinoza
darstellen, sondern es sinnlich im Film vor sich haben könne. — So wird man
vielleicht, wenn sich solche
«Ideale» erfüllen, nächstens in die
Kinematographentheater gehen, um so
die kinematographischen — nicht Aufnahmen, sondern
«Übersetzungen», die
Gedanken- und Ideengebäude bedeutender Männer zu sehen, zu verfolgen!
Es ist das ein bedeutsames Symptom
dafür, wozu es die Menschenseele in unserer Zeit gebracht
hat, ein Symptom, das man wohl erwähnen muß aus einem
ganz bestimmten Grunde: Weil man nicht wahrgenommen hat, was man hätte wahrnehmen
müssen, wenn in gesunder Weise
ein solches Symptom betrachtet worden wäre:
daß ein Hohngelächter sich
hätte entwickeln müssen über diese
Narretei, über den Wahnsinn,
der in einer solchen Philosophiereform liegt!
Denn der Eifer, der sich in einem solchen
Hohngelächter ausdrücken würde, der ist wohl schon eine heilige
Notwendigkeit zu
nennen.
Das ist ein Symptom —
denn es ist eben als ein Symptom zu betrachten —
dafür, wie notwendig unserem Zeitalter die spirituelle
Vertiefung ist, aber die wahre spirituelle Vertiefung. Denn
nicht nur spirituelle Vertiefung
überhaupt ist notwendig, sondern jene spirituelle
Vertiefung, die, wenn sie die echte ist, in die Wahrheit
führen muß; die ist es,
die den Seelen der Gegenwart not tut. Unsere Zeit
ist gerade dort, wo Bildung und gar
Weltanschauungsbildung zu Hause sein
will, nur zu sehr geneigt, sich mit dem zu
begnügen, was von wirklicher
Spiritualität weit, weit wegführt. Denn unsere
Zeit begnügt sich leicht mit
dem Schein; aber der Schein führt auf irgendeinem Wege
doch, wenn er für die Strömung auftritt, für die
er hier gemeint ist, zur inneren
Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit. Dafür ein
anderes Symptom.
Man kann heute vielfach eine Weltanschauung
rühmen hören, die viel
Aufsehen gemacht hat: die des Philosophen Eucken. Nicht
nur, daß Eucken einen
weltberühmten Preis, den Nobel-Preis erhalten hat
für seine Weltanschauung, sondern er
wird auch gerühmt als derjenige, der den Menschen wieder
vom Geist zu reden wagt. Dieses Rühmen geschieht aber nicht, weil dieser Eucken so
schön vom Geist spricht,
sondern weil sich die Menschen, wenn es sich um den
Geist handelt, sich heute so leicht
begnügen mit dem Allergeringsten, wenn ihnen nur etwas von dem Geiste vorgepredigt wird und
weil Eucken immerzu, in
unzähligen Umwandelungen, von dem Satze redet, den
man in seinen Büchern immer wieder
lesen kann, nur merken die Menschen
nicht, daß es ewige Wiederholungen sind: Es genüge
nicht, zu begreifen, daß die
Welt sinnlich ist, sondern der Mensch müsse
sich innerlich erfassen und sich so —
innerlich — mit dem Geiste zusammenschließen.
— Nun haben wir es: Der Mensch muß sich innerlich
erfassen und muß sich innerlich mit dem Geiste
zusammenschließen! Immer wieder tritt einem dieser Satz in
den Büchern Euckens entgegen,
und nicht bloß drei- oder viermal, sondern gleich
fünf- oder sechsmal: also ist das eine
«geistige» Weltanschauung! —
Gerade solche Symptome sind bedeutsam, weil
wir an ihnen sehen, was heute
für «groß» gehalten werden kann bei denen,
die sich zu den besten Verstehern
rechnen müssen. Aber könnte man doch nur
lesen! Denn wenn man das letzte Buch
von Eucken, «Können wir noch Christen sein?», aufschlägt, dann findet man
dort einen merkwürdigen Satz, der ungefähr so
heißt: Heute sei der Mensch darüber
hinaus, noch an Dämonen zu glauben,
wie man unmittelbar in dem Zeitalter
des Christus an Dämonen geglaubt habe; man brauche
heute eine andere
Christus-Darstellung, die nicht mehr die Dämonen darstelle
und als Wahrheit hinnehme. — Sehr schmeichelhaft ist es
für jeden Menschen der heutigen
aufgeklärten Zeit, daß ihm der große
Lehrer Eucken vorhält, daß er
darüber hinaus sei, heute noch an Dämonen zu glauben. Liest man aber das Buch
weiter, so findet man einen
merkwürdigen Satz: «Die Berührung von
Göttlichem und Menschlichem
erzeugt dämonische Mächte.»
Ich möchte einmal fragen, ob wirklich
alle Leute, die das Euckensche Buch gelesen haben, gelacht
haben über diese Euckensche Naivität, will sagen
«Weisheit», die es zustande bringt, auf der einen
Seite zu sagen, man sei über
den Glauben an Dämonen hinaus und auf der
anderen Seite über ein
«Dämonisches» redet. Selbstverständlich
werden die Eucken-Leute sagen: Da ist das Dämonische in
übertragenem Sinne gemeint, da
ist es nicht so ernst gemeint. — Aber darum handelt es
sich gerade, daß die Leute Worte und Ideen gebrauchen
und sie nicht ernst nehmen. Ja,
darin liegt die tiefe innere Unwahrhaftigkeit! Zu der
wirklichen geisteswissenschaftlichen Weltanschauung
aber gehört es, sich bewußt zu
werden, daß man die Worte ernst zu nehmen hat und nicht von einem Dämonischen
spricht, wenn man nicht die Absicht
hat, das Wort ernst zu nehmen.
Es könnte sonst den Leuten immer
wieder so gehen, wie es dem Vorsitzenden eines Weltanschauungsvereins gegangen ist,
in dem ich einen Vortrag zu halten
hatte. Ich machte in dem Vortrag darauf aufmerksam, daß in dem Buche von
Adolf von Harnack
«Das Wesen des Christentums» steht, daß es nicht das
Wesentliche sei, zu erfahren, was auf Golgatha
geschehen sei, das könne man dahingestellt sein
lassen; aber nicht dürfe man
dahingestellt sein lassen, daß von jener
Zeit ausgegangen sei der
Glaube an
das Mysterium von Golgatha — gleichgültig, ob der Glaube sich auf etwas
Wirkliches bezieht oder nicht. Der
Betreffende — er war Vorsitzender eines Berliner
Weltanschauungsvereins und selbstverständlich Protestant
— sagte zu mir: Ich habe das
Buch gelesen, aber das nicht darin gefunden; das kann
Harnack nicht gesagt haben, denn das
wäre ja eine katholische Idee. Die Katholiken sagen zum Beispiel: Was auch hinter dem
Heiligen Rock zu Trier steht, das
ist nicht das Wichtige, der Glaube daran ist
das Wichtige. — Ich mußte ihm
dann die Seite aufschreiben, wo der Satz steht. Vielleicht geht es vielen Leuten so,
daß sie ein Buch lesen, aber
gerade das Wichtige, das symptomatisch ist, nicht gelesen
haben.
So haben wir ein Streiflicht auf unsere
Zeit geworfen. Hier entdecken wir eine Notwendigkeit, die
besonders für unsere Zeit vorliegt, aus den Symptomen der Gegenwart heraus: die
Notwendigkeit, daß sich
wirklich geistige Gewissenhaftigkeit in unserem Zeitalter
entwickeln möge, daß wir lernen mögen, so etwas
nicht mit Gleichgültigkeit hinzunehmen, wenn der Vertreter
einer geistigen Weltanschauung einmal sagt, man sei über
die Dämonen hinaus und nachher das Wort
«dämonisch» in einem sonderbaren Sinne
gebraucht. Wenn man aber bedenkt,
daß wir im Zeitalter der «Zeitungskultur»
leben, dann darf man nicht etwa sagen, man
habe wenig Hoffnung, daß eine
solche Kultur der Gewissenhaftigkeit sich schon
entwickeln könne; sondern man
muß sagen, daß es um so notwendiger ist, alles
zu tun, was zu einer solchen Kultur der
Gewissenhaftigkeit führen könne. Es wird das ja intensiv durch die
Geisteswissenschaft vorbereitet; aber man muß die Augen
aufmachen, um die Symptome unserer
Zeit zu sehen.
Auf noch eine Tatsache will ich hinweisen.
Von den sechziger Jahren des 19.
Jahrhunderts an hat das Buch von Ernest Renan «Das Leben Jesu»
einen ungeheuren Eindruck gemacht. Ich erwähne besonders
diese Tatsache, um zu zeigen, wie es in unserer Zeit um
das Verständnis des Mysteriums
von Golgatha steht. Wenn man das Buch von Ernest Renan liest, so sagt man sich: Nun, da
schreibt erstens ein Mensch in einem
wunderschönen Stile, ein Mensch, der alle die Stätten des Heiligen Landes durchwandert
hat und daher schönstes
Lokalkolorit zu geben vermag; und dann schreibt darin
ein Mensch, der nicht an die
Gottheit Christi glaubt, der aber mit unendlicher Verehrung von
der erhabenen Gestalt des Jesus spricht. Aber
nun gehe man auf die Darstellung genauer
ein. Da schildert sonderbarerweise Ernest Renan den Fortgang in
dem Leben Jesu so, daß er eigentlich zeigt, daß es dem Jesus geht, wie es so
jedem geht — manchem in größerem, manchem in
kleinerem Maßstabe — , der irgendeine
Weltanschauung vor irgendeiner
größeren oder geringeren Anzahl von
Menschen zu vertreten hat. Und so
ungefähr geht es einem solchen Menschen: Zuerst tritt er mit dem auf, was er nur
allein glaubt und tritt damit vor
die Menge hin; dann kommen die Menschen heran;
der eine hat dies Bedürfnis, der
andere jenes, der eine versteht die Sache so, der andere so, der eine hat diese
Schwäche, der andere jene, und
dann kommt der, welcher zuerst aus einer inneren Wahrheit
heraus gesprochen hat, dazu, sozusagen klein beizugeben.
Kurz, Renan meint, mancher, der
Bedeutendes zu sagen habe, zeige, daß ihm dies im Grunde genommen die Anhänger verdorben
haben. Und er hat die Ansicht, auch
der Christus Jesus sei von seinen Anhängern
verdorben worden. Man nehme zum Beispiel
das Lazarus-Wunder. So wie es
dargestellt ist, sei ja doch das darin enthalten, daß
man sagen müsse: Das Ganze
wäre doch so etwas wie ein Schwindel, ließ sich aber gut gebrauchen, damit die Sache
sich ausbreite; darum habe Jesus es
geschehen lassen. Und so sind andere Dinge dargestellt. Dann
aber, nachdem dargestellt worden ist, wie nach und
nach das Leben des Christus Jesus ein
Niedergang ist, folgt wieder am
Schlüsse ein Hymnus, der nur wie an das Allerhöchste
gerichtet werden kann. — Nun
nehmen wir einmal diese innere Unwahrheit! In dem Buch von Renan ist Tatsache eine Mischung von
zwei Dingen: etwas außerordentlich Schönes, eine
glänzende, in manchen Partien
erhabene Darstellung durchmischt sich mit einem
Hintertreppenroman — aber zum Schlüsse ein
ungeheurer Hymnus auf das erhabene
Bild des Jesus. Auf was richtet sich dieser Hymnus? Auf
den Jesus? Auf den, den Renan selbst
schildert, kann er sich eigentlich nicht recht richten, wenn
man eine gesunde Seele hat; denn diese Lobeserhebungen würde man nicht sprechen auf
den Christus Jesus, den Renan
darstellt. Also ist das Ganze doch innerlich unwahr!
Was habe ich Ihnen denn eigentlich mit
diesen Betrachtungen andeuten
wollen? Ich möchte es zum Schluß in wenige Worte
zusammenfassen. Ich habe andeuten wollen, daß das
Mysterium von Golgatha gefallen ist in ein Zeitalter der
Menschheitsentwickelung, in welchem
die Menschheit nicht vorbereitet war, es zu verstehen,
daß aber auch in unserem
Zeitalter die Menschheit noch immer nicht dazu vorbereitet ist.
Aber seine Wirkung besteht seit zweitausend
Jahren! Diese Wirkung ist da. Wie ist sie da? So, daß sie
unabhängig ist von dem Verständnis, das ihr die Menschheit bis heute
entgegengebracht hat. Hätte der
Christus in der Menschheit nur in dem Maße wirken
können, als er «verstanden» worden ist, so
hätte er nur wenig wirken können. Aber auch das werden wir in
zukünftigen Betrachtungen sehen, daß wir im gegenwärtigen Zeitraum in
einem Entwickelungspunkte leben, wo es eben notwendig ist,
jenes Verständnis zu entwickeln, das bisher nicht da war.
Denn wir leben in dem Zeitraum, in
welchem eine gewisse Notwendigkeit entstehen wird, den
Christus nicht mehr dort zu suchen,
wo er nicht ist, sondern da, wo er wirklich ist. Denn er wird
im Geistigen erscheinen und nicht im Leibe, und die ihn im Leibe suchen werden, werden immer wieder
die Antwort bekommen: Der, den ihr im Leibe suchet, der ist
nicht im Leibe! — Ein neues
Verständnis, das vielleicht in vieler Beziehung
sogar ein erstes Verständnis des
Mysteriums von Golgatha sein wird, brauchen wir. Die Zeit des Nichtverstehens muß der
Zeit des ersten Verstehens weichen.
Das ist es, was ich mit den heutigen Betrachtungen andeuten
wollte und was wir bei den nächsten Betrachtungen
fortsetzen werden.
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