DAS FÜNFTE EVANGELIUM
Stuttgart, 22. November 1913
Erster Vortrag
Wir haben öfter von der großen,
einschneidenden Bedeutung des Christus-Impulses für die Menschheitsentwickelung
der Erde gesprochen, und wir haben versucht, das ganze Wesen
dieses Christus-Impulses, das wir gewöhnlich
zusammenfassen in den Worten «das Mysterium von
Golgatha», von den verschiedensten Seiten her zu
charakterisieren. Nun war es in der letzten Zeit meine Aufgabe,
einiges wesentlich Konkreteres
über dieses Mysterium von Golgatha und das,
was damit zusammenhängt, zu
erforschen, und es haben gerade diese Forschungen sich mir so dargestellt, daß sie es
mir zur Pflicht machen, im Kreise
unserer Freunde gerade jetzt in dieser unserer Zeit von
den Ergebnissen dieser Forschungen
auch zu sprechen. Es ist mir gelungen, aus dem, was man die Akasha-Chronik nennt und wovon wir
ja öfter gesprochen haben,
einiges Wichtige herauszugewinnen in bezug auf
das Christus Jesus-Leben.
Welche Umschwünge der
Menschheitsentwickelung in unserer Zeit sich vorbereiten, darüber haben wir gerade hier
bei unseren letzten Zusammenkünften mancherlei gesprochen, und es
hängt wohl zusammen gerade mit diesen Umschwüngen,
daß es notwendig ist, im gegenwärtigen Zeitpunkt an
einzelne Menschenseelen, die sich zusammengefunden haben in der
anthroposophischen Bewegung, wie wir sie auffassen, an einzelne Menschenseelen
gewissermaßen neue Daten über das Christus Jesus-Leben heranzubringen. Nur
bitte ich Sie, das, was ich gerade
in dieser Beziehung zu sagen habe, besonders diskret
zu behandeln und es eine reine
Angelegenheit innerhalb unserer Zweige sein zu lassen. Denn schon das Wenige, was
bisher hat veröffentlicht werden müssen über das
Christus Jesus-Leben und was nicht
bekannt war aus den Evangelien oder der Überlieferung,
schon das hat — ich will nicht
einmal von den sonderbaren Kritikern sprechen, die unserer
Strömung übel wollen, sondern sogar bei denen,
die in einer gewissen Weise
wenigstens einmal dieser
Strömung Wohlwollen
entgegengebracht haben — , das hat eine gewisse Wildheit,
eine wilde Leidenschaftlichkeit
hervorgerufen, wie zum Beispiel die Geschichte der beiden
Jesusknaben. Nichts scheint nämlich unserer Zeit
so antipathisch, innerlich antipathisch zu
sein, als das Aufmerksammachen auf wirkliche Ergebnisse der
Geistesforschung, auf konkrete einzelne Ergebnisse der Geistesforschung. Man nimmt es
noch hin, wenn vom Geistigen im
allgemeinen gesprochen wird, wenn auch einzelne
merkwürdige abstrakte Theorien über das Geistesleben
vorgebracht werden. Aber man will es nicht mehr hinnehmen,
wenn Einzelheiten aus dem geistigen
Leben so vorgebracht werden, wie man
Einzelheiten aus dem Leben des physischen Planes
vorbringt. Mancherlei, was in
Verknüpfung gesagt werden muß mit dem, was
ich vorzubringen habe, wird noch gesagt
werden. Jetzt möchte ich zunächst von einem Punkte ab mit der
Erzählung selber beginnen, und
ich bitte Sie, diese Erzählung hinzunehmen wie eine Art
Fünftes Evangelium, das in
unsere Zeit so hereinfällt, wie die vier anderen
Evangelien in ihre Zeit hineingefallen
sind. Nur das sei in wenigen Worten
als Einleitung vorausgeschickt. Die weitere Motivierung wollen
wir dann morgen besprechen.
Ich möchte beginnen mit dem Zeitpunkt,
der im Lukas-Evangelium angegeben
ist als das Auftreten des zwölfjährigen Jesus in
Jerusalem unter den
Schriftgelehrten, wo er diesen Schriftgelehrten auffällt
durch die großen, gewaltigen
Antworten, die er ihnen zu geben in der Lage
war. So finden ihn, wie das
Lukas-Evangelium dies erzählt, seine Angehörigen, die
ihn verloren hatten. Wir wissen, daß dieses
Auftreten darauf beruht, daß
dazumal eine große, nur mit Hilfe der Geisteswissenschaft
zu verstehende Veränderung in dem Jesus-Leben vor
sich gegangen ist. Wir wissen
— das sei nur kurz wiederholt — , daß
ungefähr im Beginne unserer
Zeitrechnung zwei Jesusknaben geboren worden
sind, daß der eine abstammt aus der
sogenannten salomonischen Linie des
Hauses David, daß in diesem Jesusknaben inkarniert war der
Geist oder das Ich, können wir
sagen, des Zarathustra. Wir wissen, daß dieser Jesusknabe
heranwuchs mit einer großen Begabung, die begreiflich
erscheinen muß, wenn man eben die Tatsache kennt, daß
dieser Jesusknabe in sich trug das
Ich des Zarathustra. Wir wissen, daß ungefähr gleichzeitig der andere Jesusknabe
geboren wurde aus der nathanischen
Linie des Hauses David, daß dieser allerdings mit
wesentlich anderen Charakterzügen den physischen Plan
betreten hatte als der Jesusknabe
aus der salomonischen Linie. Während dieser aus
der salomonischen Linie besondere Begabung
zeigte für alles, was aus seiner Umgebung herein so wirkte, daß es seinen
Ursprung zeigte aus der
Menschheitskultur, bis zu dem Punkte, wohin diese
Menschheitskultur dazumal gekommen war, war eigentlich der
andere Jesusknabe in bezug auf alles
das, wozu es die Menschheit in ihrer Entwickelung
gebracht hatte, unbegabt. Er konnte nicht
recht sich hineinfinden in das, was
man ihn lehren wollte von all dem, was die Menschen im
Laufe der geschichtlichen Entwickelung sich
erobert hatten. Dafür zeigte
dieser Jesusknabe eine wunderbare Tiefe und Fülle des
Herzens, des Gemütes, eine
solche Fülle im Empfinden, daß sich ein
Vergleich mit irgendeinem anderen
Kinde bei demjenigen gewiß nicht finden
wird, der den Blick hinlenkt
Akasha-Chronik-mäßig auf die Stelle
unserer Menschheitsentwickelung, wo dieses
Kind zu finden und zu beobachten
ist.
Dann wuchsen die beiden Knaben heran und
eben in jenem Zeitpunkt, in dem sie beide ungefähr
zwölf Jahre alt waren, da ging das Ich des Zarathustra aus dem einen Jesusknaben in den
anderen hinüber, und jener Jesusknabe aus der nathanischen
Linie war es dann, mit dem Ich des
Zarathustra jetzt in sich, der die großen,
gewaltigen Antworten vor den
Schriftgelehrten in Jerusalem gab. Da hatten sich
vereinigt also jene eigentümliche
Natur — man kann nicht anders sagen — des nathanischen Jesusknaben und das Ich
des Zarathustra. Wir wissen dann
auch — das ist ja von mir dargestellt worden bei
früheren Anlässen — ,
daß die leibliche Mutter des nathanischen Jesusknaben bald
dahinstarb, ebenso der Vater des anderen, und daß
nun aus der Mutter des anderen
Jesusknaben — der salomonische Jesusknabe siechte auch
bald dahin, weil er eigentlich ichlos war, wie verdorrt
— , daß nun aus der Mutter des salomonischen
Jesusknaben und dem Vater des
nathanischen Jesusknaben eine Familie wurde. Die
Stiefgeschwister, die abstammten von der
Mutter und dem Vater der salomonischen Linie, die kamen auch herüber und
lebten nun in Nazareth, und
innerhalb dieser Familie, also mit seiner Stief- oder
Ziehmutter, wuchs nun der Jesusknabe mit
dem Zarathustra-Ich in sich heran,
ohne daß er selbstverständlich in diesem Alter
wußte, daß er das Ich des
Zarathustra in sich hatte. Er hatte die Fähigkeiten,
die das Ich des Zarathustra haben
mußte, in sich; aber er wußte nicht etwa
zu sagen: Ich habe das Ich des Zarathustra
in mir.
Dasjenige, was nun hervortrat, was sich
schon angekündigt hatte in den
großen Antworten, die er den Schriftgelehrten gegeben
hatte, was aber immer mehr und mehr
hervortrat, das war — so muß ich schildern das Leben dieses Jesusknaben, das Leben etwa
vom zwölften bis achtzehnten
Lebensjahre — , daß sich in seinem Inneren etwas
wie eine innere Inspiration geltend
machte, ein unmittelbares Wissen, das aufstieg in ihm, ein Wissen von ganz
eigentümlicher Art, ein Wissen, das unmittelbar wie naturgemäß bei ihm so
war, daß er in seiner eigenen
Seele etwas vernahm, wie die alten Propheten in der
Urzeit des Judentums ihre
göttlich-geistigen Offenbarungen empfangen hatten aus
göttlich-geistigen Höhen, aus geistigen Welten. Man
war gewohnt worden, in der Erinnerung jene Mitteilung, die
einstmals den alten Propheten aus
der geistigen Welt gekommen war, zu bezeichnen
als die große Bath-Kol, als die Stimme
aus der geistigen Welt, die große Bath-Kol. Wie wenn die große Bath-Kol
wiederum in ihm, aber jetzt in ihm
allein auferstanden wäre, so kam es dem
zwölf-, dreizehn-, vierzehn-,
achtzehnjährigen Jesusknaben vor, eine seltene,
wunderbare Reife der inneren Inspiration,
ein Aufleben jener inneren Erlebnisse, die nur die alten Propheten gehabt
hatten.
Was einem dabei besonders auffällt,
wenn man den Blick Akasha-Chronik-mäßig auf
diese Stelle der Menschheitsentwickelung hinrichtet, das ist
das, daß innerhalb der ganzen Familie und innerhalb
der ganzen Umgebung in Nazareth dieser
Knabe in verhältnismäßiger Jugend mit dieser seiner inneren Offenbarung, die
über alles hinausging, was dazumal andere wissen konnten,
allein und einsam war. Auch die
Stief- oder Ziehmutter verstand ihn in jener Zeit sehr
schlecht, die anderen erst recht nicht. Und
es kommt weniger darauf an bei der
Beurteilung dieses Jesusknaben, sich allerlei Theorien
zu bilden, sondern darauf, eine
Mitempfindung zu haben, was es heißt, ein reifer Knabe zu sein zwischen dem zwölften und
achtzehnten Lebensjahre, etwas
völlig Fremdes in sich aufsteigen zu fühlen
von Offenbarungen, die in der
damaligen Zeit unmöglich waren für irgend
jemand anderen, und ganz allein zu stehen
mit diesen Offenbarungen, zu
niemandem sprechen zu können, ja, was mehr war: das
Gefühl haben zu müssen,
daß einen niemand verstehen würde, wenn man zu
ihm sprechen würde. Solche Dinge als
Mann zu ertragen, ist schwierig; solche Dinge zwischen dem
zwölften und achtzehnten Jahre zu erleben, ist etwas Ungeheueres. Zu diesem Ungeheueren
kam ein anderes.
Er hatte einen offenen Blick, dieser
Jesusknabe, für das, was ein Mensch in seiner Zeit fähig war aufzunehmen. Er
sah schon dazumal mit offenen Augen
der Seele, was die Menschen durch ihre Natur in
sich aufnehmen und in sich verarbeiten
konnten geistig-seelisch, und was
sie gehabt hatten im Laufe der Jahrhunderte aus dem, was
den Juden geoffenbart worden war von
den alten Propheten. Tief schmerzlich, mit allertiefstem Leid
empfand er: Ja, so war es in Urzeiten, so hat die große Bath-Kol zu den Propheten
gesprochen; das war eine ursprüngliche Lehre, von der spärliche Reste
geblieben sind unter den Pharisäern und anderen Schriftgelehrten.
Würde jetzt die große Bath-Kol zu irgendeinem Menschen
sprechen wollen: kein Mensch wäre da, die Stimme aus der geistigen Welt zu verstehen. Anders
ist es in der Menschheit geworden
als zur Zeit der alten Propheten. Wenn auch jene großen, jene gloriosen Offenbarungen der
Urzeit heute ertönen würden: die Ohren fehlten, sie zu verstehen. Das
trat immer wieder und wiederum vor
die Seele dieses Jesusknaben und mit diesem Leid
war er allein.
Es ist unvergleichlich, das Gemüt
hinzuwenden zu dem, was sich an
Leiden, die so charakterisiert werden müssen, wie ich es
eben getan habe, in diesem Jesusknaben abspielte. Und man darf
durchaus sagen: Mögen wir
oftmals noch so Bedeutsames mehr theoretisch über
das Mysterium von Golgatha
geäußert haben, es wird wahrhaftig die
Größe der kosmischen oder
historischen Gesichtspunkte gar nicht in den Schatten gestellt, wenn man die einzelnen konkreten
Tatsachen immer mehr und mehr ins
Auge faßt, wie sie sich darbieten eben nur
in ihrer Tatsächlichkeit. Denn durch
nichts als durch die Beobachtung dieser Tatsachen kann man so
sehr ins Auge fassen, wie der Gang
der Menschheitsentwickelung war, wie eine Urweisheit vorhanden
war auch im jüdischen Volk und wie die Unmöglichkeit,
diese Urweisheit zu verstehen, da
war in der Zeit, als sie nur wie, man möchte sagen, probeweise in einer einzelnen Seele
zwischen deren zwölftem und
achtzehntem Lebensjahre neuerdings aufleuchtete, aber
nur dieser Seele zur Qual, weil sie niemand
hätte verständlich werden können, wie sich diese Bath-Kol geäußert
hatte, wie für diese Seele diese Offenbarung nur zur unendlichen Qual da war. Ganz
mit sich allein war der Knabe mit
diesen Erlebnissen, die sozusagen das Leid der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in einer
solchen Konzentration darstellten.
Nun entwickelte sich in dem Knaben etwas,
was man, ich möchte sagen, in
seinen Rudimenten da und dort im Leben schon beobachten
kann, was man sich nur unendlich
vergrößert denken muß in bezug
auf das Jesus-Leben. Schmerz, Leid, die aus
ähnlichen Quellen heraus erlebt
werden wie diejenigen, die jetzt geschildert worden sind,
verwandeln sich in der Seele, verwandeln sich so, daß der,
der solche Schmerzen, solches Leid
erfahren kann bei sich, diese Schmerzen und dieses Leid wie selbstverständlich verwandelt in
Wohlwollen, in Liebe, aber nicht
bloß in Gefühle des Wohlwollens und Gefühle
der Liebe, sondern in die Kraft, in
eine ungeheure Kraft der Liebe, in die Möglichkeit, diese Liebe geistig-seelisch
darzuleben. Und so entwickelte sich schon, indem der Jesus
heranwuchs, in ihm etwas ganz Eigentümliches.
Trotzdem seine Geschwister, seine
nächste Umgebung ihn anfeindeten, weil sie ihn nicht
verstehen konnten und ihn als einen betrachteten, der nicht
recht bei sich ist, so war doch das nicht abzuleugnen
— denn es zeigte sich dazumal
für das äußere physische Auge, es zeigt
sich jetzt für den
Akasha-Chronik-mäßigen Blick — , daß, wo
dieser junge Knabe hinkam, mit
irgend jemand sprach, wenn man ihn auch nicht verstehen konnte, man aber wenigstens einging auf
das, was er sagte, daß da etwas
wie ein tatsächliches Überfließen eines
gewissen Etwas von des Jesus Seele
in die andere Seele vorhanden war. Wie das Hinübergehen eines Fluidums des Wohlwollens, der
Liebe war es, was ausströmte.
Das war das verwandelte Leid, der verwandelte Schmerz.
Wie ein wohltuender Liebeshauch kam es
heran an diejenigen, die mit dem
Jesus in Berührung kamen, schon in der damaligen Zeit, so
daß man empfand, man habe etwas
Besonderes vor sich, indem man ihm in irgendeiner Weise gegenüberstand. Wie eine Art
Schreinerhandwerk oder Zimmermannshandwerk war es, das er
verrichtete im Hause des Vaters, in
dem Jesus emsig arbeitete. Aber in den Stunden, in
denen er zu sich kam, da spielte sich ab,
was ich eben charakterisiert habe.
Das waren — die innerlichen Erlebnisse sind dabei das
Wesentliche — die inneren Erlebnisse des Jesus von
Nazareth, sagen wir zwischen dem
zwölften und sechzehnten oder achtzehnten
Lebensjahre.
Dann fing für ihn an eine Art von
Wanderzeit zwischen dem achtzehnten und vierundzwanzigsten
Lebensjahre. Da wanderte er viel herum, arbeitete da und dort in dem Handwerk, das er
auch zuhause trieb, kam in
jüdische, kam aber auch in heidnische Gegenden.
Schon dazumal zeigte sich in
eigenartiger Weise etwas sehr Sonderbares als
Wirkung seiner Erlebnisse in den
früheren Jahren im Verkehr mit den Menschen, mit denen er zusammenkam. Und das ist
wichtig, daß man dieses auch
berücksichtigt, denn nur durch die Berücksichtigung
gerade dieses Zuges dringt man tiefer ein in das, was dazumal
eigentlich geschah in der Menschheitsentwickelung.
Er kam da arbeitend, ich möchte sagen,
von Stätte zu Stätte da- und dorthin in die Familien. Nach Feierabend, wie wir heute
sagen würden, saß er mit den Familien zusammen, und
da verspürte man überall jenen Zug des Wohlwollens, der Liebe, von dessen
Entwickelung ich gesprochen habe.
Das empfand man allüberall, aber man empfand es
sozusagen durch die Tat; denn überall,
wo er war, hatte man dazumal in den
Jahren, wo er herumreiste zwischen dem achtzehnten und
vierundzwanzigsten Jahre das Gefühl:
Da sitzt wirklich ein besonderes Wesen. — Man
drückte das nicht immer aus, aber man hatte das
Gefühl: Da sitzt ein besonderes Wesen
unter uns. — Und das äußerte
sich dadurch, daß, wenn er wiederum
fortgezogen war von dem Orte, so
wurde nicht etwa bloß wochenlang nur davon gesprochen,
was zwischen ihm und den anderen
geredet worden war, sondern häufig stellte es sich so heraus: Wenn die Leute, während
er fort war, dann abendlich
zusammensaßen, hatten sie das Gefühl, er komme
herein. Es war eine gemeinsame
Vision. Sie hatten das Gefühl: Er ist wiederum unter uns.
— Und das geschah an vielen, vielen Orten, daß er
weggegangen war und doch im Grunde genommen noch da war,
geistig den Leuten erschien, unter
den Leuten geistig lebte, so daß sie wußten:
Wir sitzen mit ihm zusammen.
Wie gesagt, es war eine Vision in bezug auf
das Subjektive; in bezug auf das Objektive war es die ungeheure
Wirkung der Liebe, die er in der
geschilderten Weise geäußert hatte, und die sich so
äußerte, daß der Ort
seiner Erscheinung in gewisser Weise nicht mehr an den
äußeren physischen Raum gebunden
war, an die äußeren physischen Raumverhältnisse des menschlichen physischen
Leibes gebunden war. Es wirkt
ungeheuer stark zum Verständnis der Jesus-Gestalt,
dieses immer wieder und wiederum zu
sehen, wie er unauslöschlich bei denjenigen ist, bei denen
er einmal eingekehrt war, wie er gewissermaßen
geistig bei ihnen blieb und wiederum zu
ihnen zurückkehrte. Unter denen
er einmal war, die verloren ihn nicht wiederum aus ihren Herzen
heraus.
Nun kam er bei dieser Wanderung auch in
heidnische Gegenden, sagte ich, und
in einer heidnischen Gegend machte er nun eine ganz
besondere Erfahrung. Diese Erfahrung macht
beim Akasha-Chronik-mäßigen Hinblick
auf diese Stelle der Menschheitsentwickelung einen
ganz besonders tiefen Eindruck. Er kam in
eine heidnische Gegend. Ich bemerke
an dieser Stelle ausdrücklich: Wenn Sie mich fragen,
wo das war, wo er da hinkam, so
muß ich Ihnen heute noch sagen: Das weiß ich nicht. Vielleicht werden spätere
Erforschungen ergeben, wo das war,
aber den geographischen Ort aufzufinden ist mir noch
nicht gelungen. Aber die Tatsache
ist absolut klar. Es kann Gründe geben,
warum man nicht auf den geographischen Ort
kommen kann, warum aber die Tatsache
selbst absolut klar sein kann. Ich möchte Ihnen
nämlich, gerade indem ich diese Dinge
erzähle, in keinem Augenblick vorenthalten auch das Eingeständnis dessen, was in
dieser Sache noch nicht erforscht
ist, damit Sie sehen, daß es mir wirklich bei
dieser Sache darum zu tun ist, in
exakter Weise nur das mitzuteilen, wofür
ich durchaus einzustehen in der Lage
bin.
Er kam also an einen heidnischen Ort. Da
war eine verfallene Kultstätte. Die Priester dieses Ortes
hatten längst den Ort verlassen; aber das Volk ringsumher war im tiefen Elend, von
Krankheiten heimgesucht. Gerade weil eine böse Krankheit
dort wütete, haben die heidnischen Priester aus diesen und anderen
Gründen die Kultstätte verlassen. Das Volk fühlte sich nicht nur krank,
elend, mühselig und beladen,
sondern auch verlassen von den Priestern, die die
heidnischen Opfer vollbracht hatten,
und litt furchtbare Qualen. Nun kam er her in diese Gegend. Es war das gegen sein
vierundzwanzigstes Lebensjahr. Es war damals schon in hohem
Grade in ihm das der Fall, daß er durch sein bloßes Erscheinen einen ganz
besonderen, einen gewaltigen Eindruck machte, auch wenn er gar
nicht einmal sprach, sondern wenn man ihn nur herankommen sah.
Es ist wirklich mit dieser Jesus-Erscheinung etwas ganz Besonderes für die
damaligen Menschen, unter denen er
auftrat. Man fühlte bei seinem Herannahen ganz
Unglaubliches. Man muß damit rechnen, daß man es ja
mit Menschen eines ganz anderen
Zeitalters und einer anderen Gegend zu tun hat.
Wenn er herankam, so sieht man die Menschen
fühlen: Das ist etwas ganz
Besonderes, da strömt aus von dieser Wesenheit etwas, was
von keinem anderen Menschen
ausströmt. — Das fühlte sozusagen fast
jeder; der eine fühlte es sympathisch,
der andere unsympathisch. Nun ist es
nicht zu verwundern, daß sich da zeigte, daß
gewissermaßen wie ein Lauffeuer
sich verbreitete: Da kommt ein besonderes Wesen
heran! — Und jene Menschen um den
Opferaltar herum glaubten, irgendein
alter Heidenpriester würde wiederum kommen oder er
hätte einen anderen geschickt,
damit der Opferdienst wieder verrichtet würde. Und immer zahlreicher wurde die Menge, die
sich ansammelte; denn wie ein
Lauffeuer verbreitete sich, daß da eine ganz
besondere Wesenheit angekommen sei.
Jesus hatte, als er die Menge sah, mit ihr ein unendliches Erbarmen, aber er hatte nicht den
Willen, obwohl man es stürmisch
verlangte, das Opfer wieder zu verrichten, nicht den
Willen, dieses heidnische Opfer zu
verrichten. Aber dafür, als er diese Menge sah, da lud sich auf seine Seele ebenso der
Schmerz über das verfallene
Heidentum, wie sich in den Jahren vom zwölften bis
zum sechzehnten, achtzehnten
Lebensjahre der Schmerz über das verfallene
Judentum abgeladen hatte. Und als er hinsah
über die Menge, da sah er unter
der Menge überall, und endlich auch an dem Opferaltar,
an dem er stand, dämonische
elementarische Wesenheiten. Wie tot fiel er hin; aber dieses Hinfallen geschah nur aus dem Grunde,
weil er in einen weltentrückten
Zustand verfiel durch diesen schauervollen Anblick, den er gehabt hatte.
Während er so da lag, wie tot, ergriff
das Volk Furcht. Die Menschen fingen an zu fliehen. Er aber
hatte, während er in einem anderen Zustande da lag, die
Erscheinung des Entrücktseins in jene geistige Welt, die
ihm veranschaulichte, wie das uralte Heidentum war,
als in den alten Mysterien in ihrer
ursprünglichen heiligen Art die Urweisheit des Heidentums in den Opferhandlungen der
Heiden noch vorhanden war. Ihm
offenbarte sich, wie das Heidentum in der Urzeit
war, wie es sich ihm früher auf die
andere Art geoffenbart hatte, wie das Judentum war. Aber wie das auf geistig-seelische,
unsichtbare Art geschah, wie da
aufstieg das, was an Inspiration, wie sie zu den alten
Propheten gekommen war, zu ihm sprechen
wollte, so mußte er auf andere
Art die Größe des Heidentums erfahren, mußte
schauen das, was man nur so
bezeichnen kann, daß man sagt: Er sah, wie er da
lag, die heidnischen
Opferstätten, die in ihrer Kulteinrichtung so
waren, daß sie ein Ergebnis
waren der ursprünglichen Mysterienoffenbarungen,
eigentlich waren wie die äußere Darstellung der
Mysterienhandlung. An diesen Opferstätten ergossen sich,
wenn die Opfer verrichtet wurden, in
die Gebete der Menschen hinein während der alten
Zeiten, wo das noch in richtiger
Gestalt vorhanden war, da ergossen sich hinein die Mächte
jener geistigen Wesenheiten aus der Reihe der
höheren Hierarchien, zu denen
die Heiden sich erheben konnten. Gleichsam stand visionär vor seiner Seele: Ja, wenn
einstmals an einem solchen Altar, in
den Zeiten, in denen das Heidentum in seiner alten
Blüte stand, Opfer verrichtet
wurden, dann strömten herab in die Opferhandlungen hinein
die Kräfte der guten heidnischen Götter. Aber
jetzt — jetzt nicht durch eine
Inspiration, sondern durch eine unmittelbare Imagination
— mußte er in großer Lebendigkeit den Verfall
des Heidentums erleben. Das
mußte er nun erleben, auch des Heidentums
Verfall! Und statt wie früher in die
Opferhandlungen hineinströmten die guten Mächte, lebten jetzt dämonische
elementarische Wesenheiten auf, allerlei elementarische
Sendlinge von Luzifer und Ahriman. Die schaute er jetzt, und das war die Art, wie ihm der
Herabstieg des Heidentums vor das
geistig-seelische Auge trat.
Das war die zweite Art des großen
Schmerzes, daß er sich sagen konnte: Einstmals hatten die Heiden Kulthandlungen,
welche die Menschheit verbanden mit
den guten Wesenheiten gewisser Hierarchien. Das ist so in die
Dekadenz, in die Korruption gekommen, daß es schon Stätten gibt wie diese, wo alle
guten Kräfte sich in dämonische Kräfte
verwandelt haben, daß es so weit gekommen ist, daß
das Volk ringsherum verlassen war
von den alten heidnischen Göttern. Also auf andere Art trat ihm der Verfall des Heidentums
vor die Seele als beim Judentum, in
innerlicher, viel anschaulicherer Weise.
Man muß in der Tat ein wenig den
Unterschied kennen im Fühlen und Empfinden zwischen dem, wenn dieses Fühlen und
Empfinden der Ausfluß ist eines
solchen unmittelbaren imaginativen Erlebens oder eines theoretischen Erkennens. Man bekommt in der
Tat durch das Hinrichten des Blickes
an diesen Punkt der Akasha-Chronik den Eindruck eines unendlich bedeutungsvollen, aber
unendlich schmerzlichen Erlebens der Entwickelungsgeschichte
der Menschheit, die sich wiederum in
diesen imaginativen Augenblick zusammendrängt.
Er wußte jetzt: So lebten
göttlich-geistige Kräfte einstmals unter
den Heiden; aber wenn sie auch jetzt
lebten, es wären keine Menschen und keine Möglichkeiten da, daß die Menschen
wirklich jenes alte Verhältnis
wiederum herstellten. Diesen Jammer der Menschheit, in
eine kurze Erfahrung konzentriert,
zusammengedrängt, das erlebte er jetzt. Und als er sich so erhob zum Wahrnehmen
dessen, was einstmals in den guten, in den besten alten
Blütezeiten des Heidentums geoffenbart worden war, da hörte er Worte —
so kann man es sagen — , welche
ihm sich erfühlten wie das Geheimnis des ganzen
Menschenlebens auf Erden und seines Zusammenhanges mit den
göttlichgeistigen Wesenheiten. Ich konnte nicht anders,
als das, was da in die Seele
hereinsprach des hingefallenen, wie toten Jesus, der
anfing, gerade in diesem Moment
wiederum zu sich zu kommen, ich konnte nicht anders, als das in der folgenden Weise in Worte
unserer deutschen Sprache zu bringen. Und ich mußte aus
gewissen Gründen heraus diese
Worte zuerst unseren damals versammelten Freunden
mitteilen, als wir den Grundstein für
unseren Dornacher Bau legten. Das,
was dazumal gehört wurde, wie Urweisheit wird es sich in
deutschen Worten so ausdrücken:
Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender
Ichheit
Von ändern erschuldete
Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel
Wille
Indem der Mensch sich schied von Eurem
Reiche
Und vergaß Eure Namen
Ihr Väter in den Himmeln.
Sie sehen, meine lieben Freunde, es ist
etwas Ähnliches wie ein umgekehrtes Vaterunser, aber so
muß man es haben:
Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender
Ichheit
Von ändern erschuldete
Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel
Wille
Indem der Mensch sich schied von Eurem
Reiche
Und vergaß Eure Namen
Ihr Väter in den Himmeln.
Nachdem ihm dies erschienen war wie das
Geheimnis des Menschenseins auf Erden und seines Zusammenhanges
mit dem göttlich-geistigen Sein, kam er wieder zurück
zu sich und sah noch die fliehenden Dämonen und die fliehenden Menschen. Er hatte
jetzt hinter sich einen großen
Lebensaugenblick. Er wußte jetzt auch, wie es stand mit
der Entwickelung der Menschheit in
Beziehung auf das Heidentum. Er konnte sich sagen: Auch in den weiten Gebieten des
Heidentums ist absteigende
Entwickelung. — Er hatte diese Erkenntnis nicht
durch äußere Beobachtung,
sondern durch Beobachtung der Seele gewonnen, diese Erkenntnis,
die ihm zeigte: Heidentum wie Judentum bedürfen etwas ganz Neuem, eines ganz neuen
Impulses!
Wir müssen festhalten, daß er
diese Erfahrungen machte. Er hatte zwar das Zarathustra-Ich in sich; aber er wußte
nicht, daß er es in sich hatte,
auch dazumal noch nicht. So daß er Erfahrungen machte
als Erfahrung, da nicht ein Lehrer
da war, der es ihm theoretisch hätte erklären können; er machte diese Erfahrungen
als Erfahrung.
Bald nachdem er diese Erfahrung in bezug
auf das Heidentum gemacht hatte, trat er seine
Heimreise an. Es war so um das
vierundzwanzigste Lebensjahr. Als er
nach Hause kam, da war ungefähr die Zeit, in der sein Vater starb, und jetzt lebte er mit
der Familie und mit der Stief- oder
Ziehmutter wiederum in Nazareth. Das Eigentümliche stellte
sich heraus, daß ihn ja die anderen alle immer
weniger und weniger verstanden. Nur
seine Stief- oder Ziehmutter hatte sich doch immer mehr und mehr heranerzogen zu einem gewissen
Gemütsoder Liebesverständnis für das Ungeheure
— wenn es auch nicht besonders vollständig war in
der damaligen Zeit — , das in dieser Seele
vorging. Und so konnte zuweilen, wenn auch
die Mutter noch weit davon entfernt
war, ihn intimer zu verstehen, doch immerhin manches
Wort zwischen ihnen gewechselt werden, auch
wenn es in bezug auf das, was der
Jesus fühlte, noch oberflächlich war, so daß die
Mutter immer mehr und mehr
heranwuchs zu dem, was in der Jesus-Seele lebte.
Während dieser Zeit machte er aber
noch eine besondere Erfahrung, die ihm das dritte große
Leid brachte. In der Zeit zwischen seinem vierundzwanzigsten und so gegen das
dreißigste Jahr hin kam er
immer mehr in Zusammenhang mit einer Gemeinschaft, die
sich seit längerer Zeit schon
gebildet hatte, mit der Essäergemeinschaft.
Diese Essäergemeinschaft bestand aus
Leuten, die erkannten, daß eine
gewisse Krisis in der Menschheitsgeschichte da war, daß
Judentum und Heidentum in ihrer absteigenden Entwickelung
angekommen waren auf einem Punkt, wo die Menschen einen neuen
Weg suchen müssen, um wiederum
die Vereinigung zu finden mit der göttlich-geistigen Welt. Und es war im
Verhältnis zu den alten Mysterienmethoden im Grunde
genommen doch etwas Neues, was in der Lebensweise lag, die die Essäer suchten, um
wiederum hinaufzukommen zur Vereinigung mit der
göttlich-geistigen Welt. Besonders strenge Lebensregeln hatten diese Essäer, um nach
einem entsagungsvollen, hingebungsvollen Leben, nach einem
Leben, das weit hinausging über bloße seelische und
intellektuelle Vervollkommnung, die Vereinigung mit dem Göttlich-Geistigen wiederum zu
suchen.
Diese Essäer waren im Grunde genommen
sogar ziemlich zahlreich in jener
Zeit. Ihren Hauptsitz hatten sie am Toten Meere. Aber
sie hatten überall einzelne
Niederlassungen in den Gegenden Vorderasiens, und ihre Zahl
vermehrte sich so, daß da und dort irgend jemand
durch Verhältnisse, die ja auf solchem
Gebiete immer kommen, ergriffen wurde von der Essäeridee,
von dem Essäerideale sich gedrängt
fühlte, sich zu den Essäern zu
schlagen. Ein solcher mußte dann alles das, was sein Eigen war, hingeben an den Orden, und der
Orden hatte für seine
Mitglieder strenge Regeln. Ein Einzeleigentum konnte derjenige
nicht behalten, der in dem Orden war. Nun hatte der eine
da oder dort diese oder jene kleine
Besitzung. Wenn er Essäer wurde, fiel diese Besitzung, die vielleicht weit weg war, den
Essäern zu, so daß die
Essäer solche Besitzungen überall hatten. Da
schickten sie gewöhnlich
jüngere Brüder hin, nicht denjenigen, von dem der
Besitz stammte. Aus dem gemeinsamen
Besitz konnte jeder jeden, der für würdig erachtet werden mußte,
unterstützen, eine Maßregel, der man
am allerbesten ansieht, daß zu
verschiedenen Zeiten Verschiedenes der Menschheit frommt, weil eine solche Maßregel in
unserer Zeit eine unendliche
Härte wäre. Eine solche gab es aber für die
Essäer. Die bestand darin,
daß jeder befugt war, zu unterstützen aus dem
gemeinsamen Gut Menschen, die er für würdig hielt,
niemals aber solche, die mit ihm
verwandt waren. Das war streng ausgeschlossen, nicht
nächste und nicht ferne Verwandte. In
dem Orden selbst gab es verschiedene Grade. Der höchste
Grad war ein sehr geheimer Grad. Man konnte sehr schwer zu ihm zugelassen werden.
Es ist nun wirklich so, daß in dieser
Zeit in bezug auf das Jesusleben Jesus schon so war, daß
in ungeheurem Grade das bei ihm
vorhanden war, was ich geschildert
habe als ein Fluidum, das von ihm ausging, das auf die Menschen wirkte wie die
verkörperte Liebe selber, möchte man sagen. Das
wirkte auch auf die Essäer, und so kam es, daß er, ohne eigentlich formell Essäer zu
sein, an die Essäergemeinschaft herangezogen wurde.
Zwischen dem vierundzwanzigsten und dreißigsten
Lebensjahre wurde er so sehr mit den Essäern
bekannt, daß wir sagen können:
Manches, was er mit ihnen erlebt und besprochen hat, was ihre tiefsten Geheimnisse waren,
hatte er gelernt.
Was einstmals das Gloriose des Judentums
war, von dem erfuhr er zwischen dem
zwölften und achtzehnten Lebensjahre; was das Geheimnis
der Heiden war, das lernte er kennen zwischen dem achtzehnten
und vierundzwanzigsten Lebensjahr. So lernte er jetzt,
indem er mit den Essäern
unmittelbar umging, indem sie ihn teilnehmen
ließen an ihren Geheimnissen, das
Geheimnis des Essäers kennen, wie er sich hinaufentwickelte zu einer gewissen Vereinigung
mit der göttlich-geistigen Welt. Da konnte er sich sagen:
Ja, da ist etwas wie ein Weg, um
wiederum zurückzufinden zu dem, was der
Zusammenhang mit dem
Göttlich-Geistigen ist. — Und man sieht wirklich,
nachdem er zwiefach geplagt war, in
bezug auf das Judentum und das Heidentum zwiefach geplagt war, wie ihm manchmal
aufdämmerte, während er so
unter den Essäern weilte, etwas wie die fröhliche
Zuversicht, man könne doch
wiederum einen Weg finden da hinauf. Aber von dieser
fröhlichen Zuversicht sollte ihn die
Erfahrung bald abbringen.
Da erfuhr er etwas, was wiederum nicht
theoretisch erfahren wurde, wiederum
nicht als Lehre erfahren wurde, sondern in unmittelbarem
Leben. Als er einstmals ging, nachdem er
eben mit den Essäern vereint war, durch das Tor der
Essäer, hatte er eine gewaltige, eine tief
in seine Seele eingreifende Vision. In
unmittelbarer Gegenwart sah er, wie
vom Tore der Essäer wie fluchtartig weggingen zwei
Gestalten, von denen ihm damals
schon in gewisser Weise klar war: Luzifer und
Ahriman sind es; sie rannten gleichsam weg
vom Tore der Essäer. Diese
Vision hatte er dann öfter, wenn er durch Essäertore
ging. Essäer waren damals ja
schon ziemlich zahlreich, und man mußte auf
sie Rücksicht nehmen. Nun durften die
Essäer — es hing das zusammen mit der Art, wie sie
ihre Seele prägen mußten — nicht durch
die gebräuchlichen Tore gehen,
die bemalt waren. Der Essäer durfte durch kein Tor gehen, das in der damaligen Weise bemalt
war. Er durfte nur durch unbemalte
Tore gehen. Ein solches Tor hatte man in Jerusalem, in anderen Städten auch. Durch ein
bemaltes Tor durfte der Essäer
nicht gehen. Es ist das ein Beweis, daß die Essäer
damals ziemlich zahlreich waren. Der
Jesus kam an einzelne dieser Tore, und da wiederholte sich ihm sehr häufig die
Erscheinung. Bilder sind nicht da,
sagte er sich; aber statt der Bilder sah er Luzifer und
Ahriman am Tore stehen. Da bildete
sich in seiner Seele — was man eben nur
unter dem Aspekt des geistig-seelischen
Erlebens nehmen muß, um es voll
zu würdigen; indem ich es so sage, es theoretisch
schildere, ist es natürlich
leicht hinzunehmen, aber man muß eben bedenken, wie
das Gemütserleben sich gestaltet, wenn
man diese Dinge in unmittelbarer geistiger Wirklichkeit erlebt
— , es bildete sich durch dieses Erleben in ihm heraus,
lassen Sie mich das Wort wiederholen, das ich
schon gebraucht habe: die
Erlebnisüberzeugung, die nur so ausgesprochen werden kann,
daß er sich sagen konnte: Es scheint, als ob der
Essäerweg derjenige wäre, das hat
sich mir verschiedentlich gezeigt, auf welchem man durch eine Vervollkommnung der
individuellen Seele den Weg wiederum
zurückfinden könnte in die göttlich-geistigen
Welten; aber das wird auf Kosten dessen erlangt, daß die
Essäer ihre Lebensweise so
einrichten, daß sie sich ferne halten von allem,
was in irgendeiner Weise Luzifer und
Ahriman an sie herankommen lassen
würde. — Sie richteten alles so ein, daß
Luzifer und Ahriman nicht an sie
herankommen konnten. So mußten Luzifer und Ahriman
vor dem Tore stehen. Und jetzt wußte
er auch, indem er das Ganze geistig
verfolgte, wohin Luzifer und Ahriman immer gingen. Zu
den anderen Menschen draußen
gingen sie, die nicht den Essäerweg machen konnten! Das
schlug furchtbar in sein Gemüt ein, ein
stärkeres Leid noch gebend als
die anderen Erlebnisse. Es schlug furchtbar ein,
daß er sich erlebend sagen mußte:
Ja, der Essäerweg konnte Einzelne hinaufführen, und zwar nur dann, wenn sich diese
Einzelnen einem Leben widmen, das
der ganzen Menschheit nicht zuteil werden kann,
das nur möglich ist, wenn einzelne
sich aussondern und Luzifer und Ahriman fliehen, die gerade dann zur großen Menge
hingehen.
So lag es auf seiner Seele, wie wieder
erleben konnten einzelne wenige, was
die alten Propheten erlebt hatten aus der großen
Bath-Kol,
das, was den Heiden erschienen ist beim alten Opfer. Wenn
das, was die Nachkommen der Heiden
und Juden nicht mehr erleben können, wenn das einzelne auf dem Essäerweg
erlangen würden, dann wäre
die notwendige Folge diese, daß die große übrige
Masse um so mehr von Luzifer und
Ahriman und ihren Dämonen befallen würde. Denn die Essäer erkaufen sich ihre
Vervollkommnung dadurch, daß sie Luzifer und Ahriman, die
so fliehen, den anderen Menschen
zuschicken. Auf Kosten der anderen erlangen sie ihre
Vollkommenheit, denn ihr Weg ist so, daß er nur von einem
kleinen Häuflein eingeschlagen
werden kann. Das war das, was Jesus jetzt erfuhr. Das war der dritte große Schmerz, der sich
ihm noch besonders dadurch
befestigte, daß er wie heraus aus seinen
Essäererfahrungen, in der
Lebensgemeinschaft der Essäer selber drinnen, etwas wie
ein visionäres Gespräch
mit dem Buddha hatte, dessen Gemeinschaft, engere Gemeinschaft ja viel Ähnliches hatte mit
dem Essäertum, nur um
Jahrhunderte älter war — , daß ihm der Buddha
damals offenbarte aus der geistigen
Welt heraus: Eine solche Gemeinschaft kann doch
eben nur da sein, wenn nicht alle Menschen,
sondern nur ein kleines Häuflein an ihr teilnehmen. — Es nimmt sich
wiederum fast primitiv aus, wenn man
sagt: Der Buddha eröffnete dem Jesus, daß mit
der Opferschale nur dann die
Buddhamönche herumgehen können, wenn
nur wenige solche Mönche da sind und
die anderen es gewissermaßen büßen mit einem
anderen Leben. Das nimmt sich primitiv aus, wenn man es so sagt. Aber etwas anderes ist es,
wenn die verantwortliche geistige Macht, wie hier der Buddha,
dieses in einer Lage offenbart, in
der jetzt der Jesus von Nazareth war.
Und so hatte in dem Leben zwischen dem
zwölften und dem dreißigsten Lebensjahre dreifach im
Leiden erlebt der Jesus von Nazareth die Entwickelung der Menschheit bis ins einzelne
herein. Was jetzt in seiner Seele
lebte, was sich zusammengedrängt hatte in dieser
Seele, das konnte er so nach dem
neunundzwanzigsten Jahre, nachdem die Stief- oder Ziehmutter nach und nach sich zum
Verständnis seines Wesens
emporgerungen hatte, ihm nahegekommen war, in einem
Gespräch mit dieser Mutter entwickeln.
Und wichtig, unendlich wichtig wurde nun ein Gespräch des
Jesus von Nazareth so gegen sein dreißigstes Lebensjahr mit seiner Stief- oder
Ziehmutter, ein Gespräch, das geführt worden war, in
dem zum Ausdruck kam wirklich wie in
wenige Stunden zusammengegossen alles das, was die Erlebnisse
dieser Jahre des Jesus von Nazareth waren, und das
bedeutsam wurde dadurch, daß es
so war. Unter den geistigen Erfahrungen gibt
es wenige, die so bedeutsam sind,
wenigstens für eine gewisse Stufe des geistigen Erlebens, als diese, die man hat, wenn
man den Blick hinrichtet auf das,
was nun der Jesus von Nazareth mit seiner Stiefoder Ziehmutter
zu sprechen hatte.
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