DAS FÜNFTE EVANGELIUM
Hamburg, 16. November 1913
Es obliegt mir jetzt, zu sprechen von
Dingen, die sich im Verlaufe unseres
anthroposophischen Lebens ergeben haben, von den
geisteswissenschaftlichen Forschungen, die aus der
Akasha-Chronik gewonnen sind und sich beziehen auf das
Jesus-Leben. In Kristiania habe ich
schon einiges zusammengestellt über das Christus
Jesus-Leben. Auch in anderen
Städten habe ich verschiedenes mitgeteilt, und zu
Ihnen will ich auch einiges sprechen, und
zwar aus bestimmten Gesichtspunkten. Im allgemeinen betone ich,
daß es nicht leicht wird, darüber zu sprechen, denn direkte Ergebnisse
werden in der Gegenwart noch recht übel vermerkt, wenn
auch allgemein zugegeben wird, daß es einen Geist gibt, von dem man abstrakt
spricht. Wenn man aber konkrete
Mitteilungen aus dem Gebiete der geistigen Entwickelung der
Welt gibt, findet man nicht nur gutmütige Kritiker,
sondern wildgewordene, so wie es war
bei der Mitteilung über die zwei Jesusknaben, die für
den objektiv Denkenden sehr einleuchtend ist. Deshalb bitte
ich, die heutigen Mitteilungen pietätvoll zu behandeln,
weil sie, wenn außerhalb
unserer Zusammenhänge dargestellt, mißverstanden
werden und üble Gegnerschaft erfahren
könnten.
Aber es gibt auch Gesichtspunkte, nach
denen man sich verpflichtet fühlt, diese Dinge mitzuteilen. Der eine
Gesichtspunkt ist der, daß wahrhaftig in unserer Zeit notwendig ist eine
Erneuerung des Christus Jesus-Verständnisses, ein
erneuertes Hineinblicken in das, was eigentlich in Palästina geschehen ist, was als
Mysterium auf Golgatha sich vollzog.
Aber noch einen anderen Gesichtspunkt gibt es. Dieser
ist der, daß gerade okkulte Einsicht
verwoben sei mit der ganzen Gesinnung, die aus der
Geisteswissenschaft fließt, und die uns die Erkenntnis
bringt, wie unendlich gesundende und kräftigende
Nahrung für die Menschenseelen
es ist, wenn sie öfter denken können an das,
was sie als zu den größten
Ereignissen zugehörig betrachten können.
Es kann diesen Seelen eine Hilfe sein, sich
zu erinnern an das
Mysterium von Golgatha, an die
konkreten Dinge, an das, was man im einzelnen heute noch
erforschen kann. Und man kann heute mit okkultem
Blicke die Dinge noch erforschen. So
möchte ich den seelischen Wert der Erinnerung an solche Ereignisse betonen und
möchte auf einiges eingehen,
was sich aus der Akasha-Chronik ergibt als eine Art Evangelium,
als Fünftes Evangelium. Die vier anderen sind auch
nicht gleichzeitig geschrieben; sie
sind geschrieben aus Inspiration durch die Akasha-Chronik. Wir leben heute in einem Zeitalter,
wo sich das Christus Jesus-Wort
erfüllt: «Ich bin bei euch alle Tage.» In
besonderen Zeiten steht er uns ganz besonders nahe, spricht
Neues aus, was sich vollzogen hat
zur Zeit des Mysteriums von Golgatha.
Heute will ich von dem sprechen, was man
das Pfingstereignis nennt. Es war
für mich selber der Ausgangspunkt des Fünften
Evangeliums. Den Blick wendete ich zuerst in die Seelen der
Apostel und Jünger, die nicht
nur nach der Tradition, sondern wirklich versammelt
waren zu dem Zeitpunkte des Pfingstfestes.
Da sah man, daß etwas in ihren
Seelen war, was sie empfanden wie ein merkwürdiges
Zusichkommen. Denn sie wußten etwas, was mit ihnen
vorgegangen war. Sie sagten sich:
Wir haben etwas erlebt auf eine merkwürdige Weise.
— Denn sie sahen zurück
auf Erlebnisse, die sie wie in einem höheren
Traume, in einem anderen
Bewußtseinszustand durchgemacht hatten.
In höherem Sinne war es so, wie es in
niedrigem Sinne ist für den einzelnen Menschen, wenn er
träumend etwas erlebt hat und sich daran
erinnert und sich sagt: Ich habe diesen
Traum durchgemacht und jetzt hinterher wird er mir vor dem Wachbewußtsein klar.
— So war es auch auf dem
Pfingstfeste, daß sie sich sagten: Es war ja, als wenn das
gewöhnliche Bewußtsein eingeschläfert gewesen
wäre. — Es tauchten die Ereignisse wie in der Erinnerung auf, von denen sie
wußten, sie hatten sie erlebt,
aber sie hatten sie nicht mit dem gewöhnlichen
Tagesbewußtsein erlebt. Das wußten sie jetzt. So
erinnerten sie sich jetzt: Wir sind
einstmals herumgewandelt mit dem, der uns so teuer, so lieb
und wertvoll war. Dann, zu einem
bestimmten Zeitpunkte war es, wie wenn er uns entrückt worden wäre. Es kam ihnen
vor, als ob die Erinnerung abriß an das Herumgehen mit Jesus auf dem
physischen Plane, und wie wenn sie
das Folgende wie traumwandelnd erlebt hätten.
Sie erlebten zurückgehend das, was man
in der evangelischen Lehre als die
Himmelfahrt beschreibt, und weiter zurückgehend erlebten
sie, wie sie zusammen waren mit
Christus Jesus in einer bestimmten Weise. Sie wußten jetzt: Wir waren zusammen, wir waren
damals aber wie träumwandelnd;
jetzt erst können wir voll wissen, wie wir mit ihm
zusammen waren. — Sie erlebten die
Zeit, die sie nach der Auferstehung mit ihm wie traumwandelnd
durchgemacht hatten. Das erlebten sie jetzt in der Erinnerung. Dann ging es zurück
und sie erlebten selber das, was die
Auferstehung und der Tod am Kreuz war. Da darf
ich sagen: Es gibt einen ungeheuren,
tiefgehenden Eindruck, wenn man so
zuerst sieht, wie am Pfingstfeste die Seelen der Apostel
zurückschauend hinblicken auf das Ereignis von Golgatha.
Und ich gestehe, daß ich zuerst
den Eindruck hatte, nicht direkt hinblickend auf das
Mysterium von Golgatha, sondern schauend in
den Seelen der Apostel, wie sie es gesehen hatten, vom
Pfingstfeste hin schauend: sie hatten es ja tatsächlich nicht mit dem physischen
Auge durchgemacht, nicht im
physischen Bewußtsein miterlebt, sondern sie kamen
erst hinterher darauf, daß das
Mysterium von Golgatha da war, denn ihr physisches Bewußtseinserlebnis hörte auf
schon eine Zeitlang, bevor der
Christus Jesus all das, was als Geißelung,
Dornenkrönung und Kreuzigung
beschrieben wird, durchzumachen hatte. Wenn der Ausdruck nicht
mißverstanden wird, weil er im Verhältnis trivial
ist, so möchte ich ihn doch
gebrauchen: verschlafen, verträumt hatten die
Jünger das, was geschehen
war.
Es war ergreifend, zu sehen, wie zum
Beispiel Petrus das vollbringt, was
als Verleugnung geschildert wird. Er verleugnet Christus,
aber nicht aus einem moralischen
Defekt heraus, sondern wie traumwandelnd ist er. Vor seinem
gewöhnlichen Bewußtsein steht tatsächlich
der Zusammenhang mit Christus nicht da. Er
wird gefragt: Gehörst du zu
Christus Jesus? — Er weiß es in diesem Momente
nicht, denn sein ätherischer
Leib hatte eine solche Verwandlung durchgemacht,
daß er den Zusammenhang in diesem
Moment nicht kennt. Er macht die
ganze Zeit durch und wandelt mit dem Auferstandenen
herum. Das, was der Auferstandene in
seiner Seele bewirkt, dringt tief in seine Seele ein, aber bewußt wird es erst am
Pfingstfeste in der Rückschau. Jetzt tönen einem die bedeutungsvollen Worte, die
Christus Jesus spricht, anders in
der Seele, die Worte, die er zu Petrus und Jakobus
spricht, wie er sie mitnimmt auf den Berg:
«Wachet und betet!» Und tatsächlich verfielen sie in eine Art von anderem
Bewußtseinszustand, in eine Art
von Traum-Trance.
Wenn sie unter sich beisammen waren und
berieten, war auch Christus Jesus, ohne daß sie es
wußten, im ätherischen Leibe unter ihnen,
und er redete mit ihnen und sie mit ihm,
aber bei ihnen geschah das alles wie
im Traumwandel. Zum bewußten Ereignis wurde es erst
am Pfingstfeste in der
Rückschau. Zuerst wanderten sie mit, dann entschwindet das
Bewußtsein und nachher wachen sie wieder auf. Sie
dachten: Zuerst ging er zum Kreuzestod und
starb am Kreuze, dann vollzog sich
das, was die Auferstehung ist, und er kam wieder in
seinem Geistleibe, verhandelte mit uns und
ließ in unsere Seelen träufeln die Geheimnisse der Welt. Jetzt wird uns
das alles Vorstellung, was wir in dem anderen
Bewußtseinszustand erlebt haben.
Vor allem sind zwei Eindrücke tief
bedeutsam. Da sind die Stunden vor
dem Tode. Selbstverständlich liegt es nahe, allerlei
naturwissenschaftliche Einwände zu machen; aber wenn Sie
sich vorstellen, daß, indem man
auf die Akasha-Chronik den Blick hinrichtet, die Ereignisse
objektive Wirklichkeit sind, so darf man sie erzählen.
Zunächst stellt sich eines dar.
Vor dem Tode schaut man ein stundenlanges Sich-Ausbreiten einer Verfinsterung über die Erde,
die für den hellseherischen Blick den Eindruck einer
Sonnenfinsternis macht; es kann aber
auch eine Wolkenverfinsterung gewesen sein. Dann kann
man wahrnehmen, wie beim Sterben am
Kreuze der Christus-Impuls, durch diese Finsternis hindurchgehend, sich mit der Erdenaura
verbindet. Die Verbindung des
kosmischen Christus-Impulses mit der Erdenaura
schaut man bei dieser Verfinsterung vor
seinem Tode. Dann hat man jenen
großen, gewaltigen Eindruck, wie diese Wesenheit, die im
Leibe des Jesus gelebt hat, jetzt
sich ausgießt über die geistig-seelische
Erdenaura, so daß die Seelen der
Menschen nun fortan wie in sie eingezogen sind. So im Geiste zu schauen das Kreuz auf
Golgatha, und den Christus durch die
verfinsterte Erde sich ausgießen sehen über das Erdenleben, ist ein ungeheuer
überwältigender Eindruck; denn man sieht im Bilde das wirklich sich vollziehen,
was für die Entwickelung der Erdenmenschheit sich
vollziehen mußte.
Und nun die Grablegung: Da kann man
natürlich verfolgen — ich habe das schon im Karlsruher Zyklus erwähnt
— , wie sich ein Naturereignis als äußerer
Ausdruck des geistigen Ereignisses darstellt. Als
Christus im Grabe lag, kam ein gewaltiges
Erdbeben mit einem Wirbelwinde über die Erde. Da war es
ganz besonders bedeutsam, daß sich herausstellte auch durch Betrachtung der
Akasha-Chronik, was wir heute das
Fünfte Evangelium nennen: daß nach dem
Wirbelwind die Tücher im Grabe
lagen, wie es im Johannes-Evangelium treu geschildert ist. Was
ich jetzt geschildert habe, das haben die Apostel,
rückwärtsschauend, in ihren
eigenen Begegnungen mit Christus nach der Auferstehung, als Mysterium von Golgatha erlebt. Am
Pfingstfeste haben sie das, was sie wie traumwandelnd
durchgemacht hatten, 2uerst erlebt
für ihr Bewußtsein.
Christus Jesus war, als er das Mysterium
von Golgatha vollbracht hat,
wirklich allein, denn seine Jünger waren nicht nur
weggeflohen; es war ihnen auch das
Bewußtsein entflohen. Sie waren in einer Art
Traumzustand und erlebten die Ereignisse
so, daß sie erst am Pfingstfeste im vollen Bewußtsein
eine Rückschau hatten. Auf eine eigentümliche Weise
erlebten sie diese Zusammenkunft mit Christus nach
der Auferstehung, so daß sie folgendes
in Bildern sahen: Da und dort waren
wir mit ihm, er hat gesprochen; das wird uns jetzt erst klar.
— Nun erlebten sie aber etwas
Merkwürdiges. Sie sahen die Bilder ihrer
Erlebnisse mit Christus so wieder, wie es
ihrem Zusammensein nach der
Auferstehung entsprach. Aber so war es ihnen, wie wenn
sich immer in Abwechslung ein
anderes zeigte: Immer zeigte sich ein Bild, das ihnen eine Erinnerung gab an ein physisches
Zusammensein, das sie wie in
Traum-Trance erlebt hatten. Aber immer zwei Ereignisse
stellten sich ihnen dar: ein Zusammensein
nach der Auferstehung und ein
Zusammensein, bevor sie in Trance verfallen waren, da sie
noch im physischen Leibe mit
Christus zusammen waren, für das physische
Bewußtsein erkennbar. Wie zwei
übereinandergelagerte Bilder erschienen ihnen die
Ereignisse. Das eine zeigte eine Erinnerung an ein
physisches Ereignis, das andere ein
Wiedererwachen dessen, was sie in
einem anderen Bewußtseinszustande mit Christus
durchgemacht hatten. Durch dieses
Übereinanderfallen zweier Bilder wurde ihnen
klar, was eigentlich in der Zeit sich
vollzogen hatte. Was für die Erdenentwickelung sich vollzogen hatte, das stand am
Pfingstfeste für sie deutlich
da. Wenn man schildern will, was sie durchmachten, so
wird man vor zwei grandiose und tiefe
Ereignisse gestellt. Was sich zugetragen hatte, das stand vor ihrer Empfindung,
ausgelöst durch das
Pfingstereignis. Daß aber dasjenige, was früher im
Kosmos war, jetzt auf Erden ist, das
stellte sich ihnen dar. Es wird uns das alles
erst klar, wenn man es in der
Akasha-Chronik vor Augen hat.
Gehen wir aus von den Erlebnissen, die der
Mensch hat. Der Mensch erlebt
zunächst, bevor er zu einer neuen irdischen Inkarnation
herabsteigt, geistige Tatsachen. Er macht dann den Keimzustand
und die Geburt durch, geht durch den materiellen Leib in
das physische Erdenleben über
und kehrt endlich in die geistige Welt zurück. So ist seine Seelenentwickelung. Für
jedes Wesen sind diese Stufen
andere. Wir wollen versuchen, sie auf das Christus-Wesen
zu übertragen.
Christus macht in anderer Weise seine
Zustände durch. Von der Taufe
bis zum Mysterium von Golgatha ist eine Art Keimzustand
da. Das Sterben am Kreuz ist die
Geburt, das Leben mit den Aposteln nach der Auferstehung ist ein Wandern auf der Erde. Der
Übergang in die Erdenaura
hinein ist das, was für die Menschenseele der
Übergang in die geistige Welt ist. Genau das Umgekehrte
tritt für Christus auf. Das
Umgekehrte sucht er sich für sein Schicksal. Die
Menschenseele geht von der Erde in die geistige Welt, der
Christus geht aus der Geisteswelt in
die Erdensphäre hinein, vereinigt sich mit der Erde,
um in die Erdenaura überzugehen
durch das große Opfer. Das ist der Übergang des Christus zum Devachan. Und jetzt in
der Erdenaura lebt der Christus sein
selbsterwähltes Devachan. Der Mensch steigt
von der Erde in den Himmel; der Christus
steigt umgekehrt vom Himmel zu der
Erde nieder, um mit den Menschen zu leben. Das ist
sein Devachan.
Daß der Gott also in sein irdisches
Dasein eingezogen ist, das trat im
Bilde der Himmelfahrt, eigentlich der Erdenfahrt, den
Aposteln und Jüngern beim
Pfingstfeste vor den Geist als eines der letzten
Ereignisse. Damit war ihren Empfindungen
klar, was geschehen war, was
für ein Los der Erdenentwickelung gefallen war. Es
fühlten sich beim Pfingstfeste
die Apostel verwandelt und mit einem neuen Bewußtsein
erfüllt: das war das Herabkommen des Geistes, das
innere Aufleuchten einer
geisterfüllten Erkenntnis.
Man kann selbstverständlich den
Menschen erscheinen wie ein Schwärmer oder Träumer, wenn man diese
Ereignisse erzählt, aber es ist
ja auf der anderen Seite begreiflich, daß nichts
Gewöhnliches ausdrücken
können die großen Ereignisse, die im Erdenleben
geschehen sind. Dann erblickten die Jünger
rückwärtsschauend, jetzt erst verstehend, das dreijährige Leben des Christus
Jesus von der Johannestaufe bis zum Mysterium von Golgatha.
Über dieses Leben möchte ich einige Andeutungen machen.
Ausgehen möchte ich von einer
Schilderung der Ereignisse, wie sie sich dem die Akasha-Chronik Beobachtenden darstellen.
Vor der Johannestaufe im Jordan, da fällt der Geistesblick
auf ein Ereignis ganz besonderer Art
in das Leben des Jesus hinein, in welches der Christus
sich noch nicht ergossen hatte. Da hatte
Jesus in seinem dreißigsten Jahre ein Gespräch mit seiner Stief- oder
Ziehmutter. Von seinem zwölften
Jahre an war er nicht bei seiner leiblichen Mutter, aber
es hatte sich ein immer tieferes
Band des Jesus zu der Stiefmutter herausgebildet. Die
Erlebnisse des Jesus von seinem zwölften bis achtzehnten,
bis vierundzwanzigsten, bis dreißigsten Jahre habe ich
auch schon erzählt. Es waren
tiefgehende Ereignisse. Hier möchte ich anknüpfen an
ein Ereignis, welches stattfand vor der Johannestaufe.
Es ist ein Gespräch mit der
Ziehmutter. Es war ein Gespräch, in welchem
Jesus von Nazareth der Mutter
gegenüber alles durch seine Seele ziehen ließ, was er
vom zwölften Jahre an erlebt hatte. Da konnte er
jetzt, so daß seine Worte
durchdrungen waren von tiefen, gewaltigen Empfindungen,
erzählen, was er, eigentlich im Grunde genommen
mehr oder weniger einsam, in seiner
Seele erlebt hatte. Er erzählte es anschaulich und
eindringlich. Er sprach davon, wie in diesen Jahren,
von seinem zwölften bis zum
achtzehnten, wie eine Erleuchtung in seine Seele die hohen Gotteslehren eingezogen seien,
die einstmals den hebräischen
Propheten geoffenbart worden waren. Denn das war es,
was in der Zeit von seinem zwölften
bis achtzehnten Jahre wie eine Inspiration über Jesus gekommen war. Angefangen
hatte es, als er sich im Tempel
unter den Schriftgelehrten befunden hatte. Es war eine
Inspiration, wie sie in den großen
alten Urzeiten den Propheten einstmals geoffenbart wurde. Es
hatte sich ereignet, daß er Schmerzen leiden mußte unter dem Eindruck dieser inneren
Erkenntnisse. Tief hatte es sich in
seiner Seele abgelagert: die alten Wahrheiten wurden
dem hebräischen Volke gegeben zu einer
Zeit, da ihre Leiber so geartet
waren, daß sie es verstehen konnten. Nun aber waren
ihre Leiber nicht mehr wie zur Zeit
der alten Propheten geeignet, das aufzunehmen.
Ein Wort muß ausgesprochen werden,
welches das ungeheuer schmerzliche
Erlebnis im Leben Jesu charakterisiert; abstrakt trokken
muß man es sagen, obgleich es ein ungeheuer
einschneidendes Wort ist. Es gab in
der hebräischen Zeit eine Sprache, die aus dem
geistig-göttlichen Reiche herunter
kam. Jetzt stieg, aus der Seele aufleuchtend, die alte Sprache
wieder auf, aber es war niemand da, der sie verstand. Tauben Ohren würde man predigen,
wenn man von den größten
Lehren sprach. Das war das größte Leid für
Jesus; das schilderte er seiner Stiefmutter.
Dann schilderte er ein zweites Ereignis,
das er erlebt hatte auf den Wanderzügen während seines achtzehnten bis
vierundzwanzigsten Jahres in den
Gegenden Palästinas, wo Heiden wohnten. Er zog
herum und arbeitete im Schreinerhandwerk.
Des Abends setzte er sich zu den
Leuten. Es war ein Zusammensein, wie es die Leute mit keinem
anderen erlebten. Durch den großen Schmerz hatte sich bei
ihm etwas ausgebildet, das sich
zuletzt verwandelte in die Zauberkraft der Liebe, die jedes Wort durchströmte. Diese
Zauberkraft der Worte wirkte im
Gespräch mit den Leuten. Was als Großes so wirkte,
war, daß zwischen seinen Worten
etwas wie eine geheimnisvolle Kraft sich ausgoß. Sie wirkte so bedeutsam, daß lange
Zeit, nachdem er schon fort war, die
Leute des Abends wieder zusammensaßen und es ihnen
war, als ob er noch da sei, mehr da sei als
bloß im Physischen. Die Leute
saßen zusammen und hatten den
Eindruck, hatten die gemeinsame
Vision, als ob er wiedererschiene. So blieb er an
zahlreichen Orten wie lebendig unter
den Leuten, er war geistig da.
Einmal war er an einem Orte angekommen, wo
ein alter heidnischer Kultaltar
stand. Verfallen war der Opferaltar. Die Priester waren
weggegangen, denn eine schlimme Krankheit
hatte sich der Menschen dort bemächtigt. Als Jesus dahin
kam, liefen die Menschen zusammen. Jesus kündigte sich
durch den von ihm hervorgerufenen Eindruck schon an als etwas
Besonderes. Die heidnischen Menschen waren herbeigeeilt, versammelten sich um den Altar und
erwarteten, daß nun ein
Priester wieder Opfer darbringen würde. — Das
erzählte Jesus seiner
Stiefmutter. Er sah klar, was aus dem heidnischen
Opferdienst geworden war. Er sah,
indem er die Menschen überblickte, was aus
den heidnischen Göttern
allmählich geworden war: böse, dämonenartige
Wesenheiten, die sah er damals. Dann fiel er hin und
erlebte jetzt in einem anderen
Bewußtseinszustand, was bei den heidnischen
Opfern vorging. Nicht mehr waren, wie in
früheren Zeiten, die alten Götter da, sondern dämonische Wesenheiten
traten in Erscheinung, die an den
Leuten zehrten und sie krank machten.
Das hatte er erlebt in einem anderen
Bewußtseinszustand, nachdem er
hingefallen war. Jetzt erzählte er das alles,
erzählte auch, wie die Menschen
geflohen waren, wie er aber auch die Dämonen
abziehen sah. Theoretisch kann man
feststellen, daß das alte Heidentum verfallen war und
nicht mehr die großen Weistümer der einstigen
Zeit enthielt. Jesus aber erlebte
dieses in unmittelbarer Anschauung. Jetzt konnte er der Mutter sagen: Käme auch die
Himmelsstimme wieder herunter zu den
Hebräern, wie sie einstmals zu den Propheten gekommen war,
kein Mensch wäre da, sie zu verstehen; aber auch
die heidnischen Götter kommen
nicht mehr. An ihre Stelle sind Dämonen
getreten. Auch die heidnischen
Offenbarungen finden heute keinen Menschen, der sie aufnehmen könnte. — Das
war der zweite große Schmerz.
In bewegten Worten schilderte er der Mutter
den dritten großen Schmerz, den
er erlebt hatte, als er zugelassen worden war zu der
Essäergemeinde. Diese wollte durch
Vervollkommnung der einzelnen Menschenseelen sich zum Schauen hinaufarbeiten und so aus den göttliehen Welten heraus das erfahren, was sonst
wahrzunehmen unmöglich war für den Juden und Heiden.
Aber nur einzelne Menschen konnten
dieses erfahren, und das war zu erringen durch jene
Lebensweise, welche unter den Essäern Platz gegriffen
hatte. Doch hatte sich Jesus eine
Zeitlang mit der okkulten Gemeinschaft der Essäer
vereint. Als er sie verließ,
sah er Luzifer und Ahriman vom Essäertor in die
übrige Welt hinausfliehen. Auch hatte
er in der Umfriedung der Essäer ein visionäres Gespräch mit Buddha gehabt.
Und jetzt wußte er: eine Möglichkeit gibt es, hinaufzusteigen dahin, wo man
sich vereinigt mit dem
Göttlich-Geistigen, aber nur einzelne können es
erreichen. Wollten es alle erringen, müßten alle
verzichten. Auf Kosten der großen Menge können es nur einige erringen, indem sie
sich frei machen von Luzifer und
Ahriman; aber dann gehen Luzifer und Ahriman zu der
anderen Menschheit. Weder nach der Juden-
noch nach der Heidennoch Essäerweise war es möglich,
der allgemeinen Menschheit den wesenhaften Zusammenhang mit der
göttlich-geistigen Welt zu eröffnen.
Während dieses Gespräch
stattfand, war mit all dem Schmerze vereint die ganze Seele des
Jesus. Die ganze Kraft seines Ichs lag in diesen
Worten. Es ging etwas von ihm hinweg und
zur Adoptivmutter hinüber, so stark war er verbunden mit
dem, was er erzählte. Es ging mit dem Wort sein Wesen zur Mutter hinüber, so
daß er wie außerhalb seines Ichs war, aus seinem Ich herausgetreten war. Die
Mutter wurde dadurch etwas ganz
anderes. Während aus ihm etwas hinausgegangen
war, hatte die Mutter ein neues Ich
erhalten, das sich in sie hineingesenkt hatte, sie war eine
neue Persönlichkeit geworden.
Forscht man nun nach und sucht
herauszubekommen, worin der Vorgang
bestand, so stellt sich ein Merkwürdiges heraus: die
leibliche Mutter dieses Jesus, die
seit seinem zwölften Jahre in der geistigen
Welt weilte, war nun mit ihrer Seele
heruntergestiegen und durchgeistigte und erfüllte ganz die
Seele der Adoptivmutter so, daß diese eine andere wurde. Ihm aber war, als ob sein Ich ihn
verlassen hätte: das
Zarathustra-Ich war in die geistige Welt hinübergegangen.
Unter dem Drange, etwas zu tun, ging
Jesus, durch die innere Notwendigkeit getrieben, nun nach dem
Jordan zu Johannes dem Täufer, dem Essäer. Und Johannes vollzog die Taufe im Jordan.
Das Zarathustra-Ich war hinausgegangen und das Christus-Wesen senkte
sich hernieder: Er war durchdrungen worden mit der Christus-Wesenheit.
Die Adoptivmutter war durchdrungen
worden von der Seele jener Mutter, die in der geistigen Welt geweilt hatte. Er aber
wandelte nun herum auf Erden, in den
Leibern des Jesus, er, der Christus. Diese Verbindung war nicht
gleich vollständig da, beides geschah nach und
nach.
Ich werde die einzelnen Ereignisse
erzählen, aus denen gezeigt werden kann, wie der Christus
anfangs nur lose verbunden war mit dem Jesusleibe und allmählich immer fester mit ihm
verbunden wurde. Hat man
kennengelernt die Leiden und Schmerzen des Jesus von dem
zwölften bis zum dreißigsten
Jahre, so lernt man erst jetzt die ungeheure Steigerung dieser
Schmerzen des Jesus kennen, jetzt, da sich in den folgenden drei Jahren immer mehr mit dem
Menschen der Gott verband. Diese
fortdauernde, immer intensiver werdende Verbindung
des Gottes mit dem Menschen war eine ebenso
intensive Steigerung der Schmerzen.
Das Unsagbare, das hat geschehen müssen, um der
Menschheit den Aufstieg zu den geistigen
Ursprungsmächten möglich zu machen, das zeigt sich an den Leiden des Gottes
während der drei Jahre, die er
auf Erden weilte.
Es ist nicht vorauszusehen, daß man in
der Gegenwart viel Verständnis für diese
Begebenheiten haben wird. Es gibt ein Buch, das
wegen seiner Paradoxie gelesen werden
müßte: «Vom Tode», von Maurice Maeterlinck. In diesem Buche wird gesagt, der Geist
könne nicht leiden, nur der
Körper kann leiden. In der Tat kann der physische Leib
ebensowenig leiden wie ein Stein. Physische Schmerzen
sind seelische Schmerzen. Leiden kann nur
das, was seelisch ist, was einen
Astralleib hat. Deshalb kann ein Gott viel mehr leiden als
ein Mensch. Der Christus hat bis zum
Tode Leiden erfahren, die intensivsten bei der Verbindung des
Christus mit der Jesuswesenheit. Den Tod hat er überwunden, indem er in die Erdenaura
überging.
Ich habe früher in mehr abstrakter
Weise geschildert, wie das Christus-Ereignis im Mittelpunkt der
Erdenentwickelung steht. Dieses wichtigste Ereignis verliert nichts, wenn man es in
seiner konkreten Tatsächlichkeit betrachtet. Alles tritt lebensvoll
hervor, wenn alle Tat-Sachen geschildert werden, nur muß
es richtig geschaut werden. Wenn einmal das Fünfte Evangelium da sein wird —
die Menschheit wird es brauchen,
vielleicht erst nach langer Zeit — , da wird man in
veränderter Weise dieses wichtigste Ereignis betrachten.
Das Fünfte Evangelium wird ein Trost- und
Gesundheitsbronnen, ein Kraftbuch sein. Am Schlüsse des vierten Evangeliums stehen Worte,
die darauf hinweisen, daß noch weiteres kommen wird: Es
würde die Welt die Bücher
nicht fassen, die zu schreiben wären. — Das ist ein
wahres Wort. Da kann man auf andere
Weise Mut bekommen, dann, wenn sich
neue Tatsachen über Palästina ergeben, denn auch die
vier Evangelien sind eigentlich auf dieselbe Weise entstanden
wie das fünfte, nur daß
dieses fünfte zweitausend Jahre später
erscheint.
Wenn einmal das Fünfte Evangelium da
sein wird, dann wird es sich in
bezug auf die Entstehungsweise von den anderen nicht
unterscheiden. Es werden aber Menschen da sein, die es nicht
anerkennen werden, weil die Menschenseele egoistisch ist.
Nehmen wir an, Shakespeares Werk «Hamlet» wäre
unbekannt und es träte heute «Hamlet»
auf: heute würden die Menschen
über ihn schimpfen. So wird sich das Fünfte Evangelium durchzukämpfen haben. Die
Menschen brauchen etwas, was jene,
die verstehen wollen, wirklich verstehen werden.
Man wird nur anerkennen müssen,
daß, wie früher, die Offenbarungen
allein aus dem Geiste kommen können.
Die Mittel und Wege dazu sind aber
andere. In dieser Beziehung hat unsere Zeit besondere
Aufgaben.
In welche Zeit fiel das herein, was ich
geschildert habe?
Es konnte in
keine andere Zeit hereinfallen, als in diejenige, in die es
gefallen ist: in die vierte
nachatlantische Periode. Wäre es zum Beispiel in
die dritte oder in die zweite
gefallen, dann wären zahlreiche Menschen
dagewesen, die unterrichtet waren in der
Urweisheit der Inder, für die die Weisheit ganz selbstverständlich da gelegen
hätte. Man hätte Christus weniger verstanden in der
persischen, noch weniger in der ägyptischen Zeit. Aber
ganz vorbei war das Verständnis in der vierten
Periode. Daher konnte die Lehre in die
Gemüter eindringen nur als Glaubenstatsache. Es war die schlechteste Zeit für
das Verständnis, von welchem
die Menschen am meisten entfernt
waren. Aber die Wirkungen des
Christus hängen nicht ab von dem, was die Menschen
verstehen können. Denn Christus ist
nicht ein Weltenlehrer gewesen, sondern derjenige, der als geistige Wesenheit etwas
verrichtet hat, der in die Erdenaura
eingeflossen ist, um unter den Menschen zu leben.
Sinnbildlich kann einem das vor die Seele
treten, als die Frauen an das Grab
kamen und ihnen von dem Geistwesen gesagt wurde: Der,
den ihr suchet, ist nicht
da!
Dieses wiederholte sich, als eine
große Schar von Europäern in den Kreuzzügen hinüberzog nach dem Heiligen
Grabe. Da zogen die Menschen in die physischen Stätten von
Golgatha hinüber. Ihnen wurde auch gesagt: Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier!
— denn er war ja nach Europa
gezogen. Während es die Pilger aus dem Herzen heraus nach
Asien trieb, begann Europa verstandesmäßig wach zu
werden, aber das Christus-Verständnis kam ins Schwinden.
Erst im 12. Jahrhundert trat das Verlangen nach Gottesbeweisen
auf. Was bezeugt uns das für
die neuere Zeit? Haben Sie je nötig, zu beweisen, wer
der Dieb ist, wenn Sie diesen Dieb
in Ihrem Garten erwischt haben? Sie brauchen Beweise nur dann, wenn Sie ihn nicht kennen.
Gottesbeweise suchte man, als man das Verständnis verloren
hatte; denn was man weiß,
braucht man sich nicht zu beweisen.
Christus war da, durchzog die Seelen.
Alles, was geschichtlich geschehen ist, ist unter dem
Einfluß des Christus geschehen, weil die
Seelen im Christus-Impulse lebten. Jetzt
muß die Menschheit eintreten in ein bewußtes
Ergreifen der Zeitereignisse. Darum muß die
Menschheit den Christus noch besser
kennenlernen. Damit verbunden ist
die Erkenntnis des Menschen Jesus von Nazareth. Das wird immer
mehr notwendig werden. Es ist nicht leicht, hierüber zu
sprechen, aber es ist in gewisser Beziehung etwas, was sich in
der Gegenwart als höhere Pflicht darstellt: gerade
über den Menschen Jesus von Nazareth zu einigen Seelen zu sprechen, darüber zu
sprechen, was wir das Fünfte
Evangelium nennen können.
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