DAS FÜNFTE EVANGELIUM
München, 8. Dezember 1913
Erster Vortrag
Es hat sich durch gewisse Pflichten, die
einem aus der geistigen Welt heraus
auferlegt werden, für mich die Notwendigkeit ergeben, in
der letzten Zeit einiges
zu erforschen in bezug auf das Leben des Christus
Jesus. Sie wissen, daß es möglich
ist, durch die sogenannte Akasha-Chronik-Forschung zu
Ereignissen, die sich in der Vergangenheit vollzogen haben, Zugang zu gewinnen. So wurde denn
versucht, einen Zugang zu gewinnen
zu dem wichtigsten Ereignis der Erdenentwickelung, dem
Ereignis, das zusammenhängt mit dem Mysterium
von Golgatha. Mancherlei hat sich da
ergeben, was ergänzend wirken kann zu den mehr geisteswissenschaftlichen
Ausführungen, die Ihnen bei
verschiedenen Gelegenheiten über das Mysterium von
Golgatha gegeben wurden. Von anderer
Art ist das, was jetzt aus der Akasha-Chronik-Forschung sich
ergeben hat; es ist gewissermaßen mehr konkreter Art, eine
Summe von Tatsachen, die sich auf das Leben des
Christus Jesus beziehen. Es werden sich,
wie zu hoffen ist, diese Tatsachen
im Laufe der Zeit zusammenschließen zu einer Art
von Fünftem Evangelium, und wir
werden am nächsten Zweigabend darüber sprechen, warum
es gerade in unserer Zeit notwendig ist, aus
den okkulten Quellen heraus das zu holen,
was man in gewisser Beziehung als
ein Fünftes Evangelium bezeichnen kann.
Heute will ich zunächst einzelne
Erzählungen geben, welche sich beziehen auf die Jugend des Jesus von Nazareth und
welche gipfeln sollen in einem
wichtigen Gespräch, das er mit seiner Stief- oder
Ziehmutter geführt hat. Einiges von
dem, was so als Fünftes Evangelium nunmehr zu besprechen
sein wird, hat ja Fräulein Stinde einigen
von Ihnen schon mitgeteilt; aber ich werde
des Zusammenhanges wegen auch die
Dinge kurz erwähnen müssen, welche so schon einigen
von Ihnen vorgetragen worden sind.
Beginnen möchte ich heute in meiner
Erzählung mit jenem Ereignis, das ich Ihnen schon
öfter charakterisieren durfte, mit dem Hinübergehen des Zarathustra-Ichs in die
leiblichen Hüllen jenes Jesusknaben, der abstammt aus der nathanischen Linie
des Hauses David. Kurz erwähnen
will ich, daß nach der Akasha-Chronik-Forschung zwei
Jesusknaben ungefähr zu gleicher Zeit geboren
worden sind. Der eine ist geboren
worden aus dem, was wir nennen können die salomonische Linie des Hauses David, der andere aus
der nathanischen Linie des Hauses David. Sehr verschieden waren
die beiden in bezug auf ihr ganzes
Knabenleben. In dem Leibe, der abstammte aus der salomonischen Linie des Hauses David, war
enthalten dasselbe Ich, das einstmals als Zarathustra über
die Erde gegangen ist, und das war
vorgerückt zu einem Geiste, der allerdings, wie es
in solchen Fällen vorkommt, in
den ersten zwölf Jahren kindlich wirkte,
aber mit den allerhöchsten Gaben
ausgestattet sich zeigte, der mit großer Schnelligkeit alles lernte, was die
menschliche Kulturentwickelung bis in jenes Zeitalter
hervorgebracht hatte. Einen Knaben von höchster Begabung würden wir — nach
dem, was sich ergibt aus der Akasha-Chronik — diesen Knaben aus der
salomonischen Linie des Hauses David
nennen können. Den anderen Jesusknaben aus der
nathanischen Linie können wir nicht
mit solchen Prädikaten ansprechen. Er war im Grunde
genommen das, was man unbegabt nennen möchte für alles das, was man durch
die Errungenschaften der
Erdenwissenschaften und Künste des Menschen erlernen
kann. Er erwies sich sogar ziemlich
abgeneigt, irgend etwas von dem zu erlernen, was sich die Menschheit errungen hat. Dagegen
zeigte dieser Jesusknabe im
höchsten Maße tiefe Genialität des Herzens; er
strahlte schon im frühesten
Knabenalter die wärmste Liebe aus, die sich
denken läßt, nahm alles das auf
an menschlich-irdischen Begriffen, was dazu führen kann, ein Leben in Liebe zu
entfalten.
Wir wissen nun auch schon, daß,
nachdem die beiden Knaben ungefähr zwölf Jahre alt geworden waren, das
Ich des Zarathustra herausging, wie
das ja in okkulten Vorgängen der irdischen
Menschheitsentwickelung zuweilen vorkommt. Es ging heraus aus
dem darnach absterbenden Leib des Jesusknaben aus der
salomonischen Linie und ging
hinüber in die leiblichen Hüllen des anderen
Jesusknaben. Das Lukas-Evangelium
deutet das dadurch an, daß es erzählt, wie
dieser Jesusknabe dann unter den
Schriftgelehrten saß und seine staunenswerten Antworten gab und von seinen eigenen
Eltern kaum wiedererkannt wurde. So
haben wir fortan heranwachsend vom zwölften Lebensjahre an
jenen Jesusknaben mit dem Genie des Herzens,
der gleichsam die Summe aller menschlichen
Gaben, die sich auf Gefühl und
Gemüt beziehen, in sich vereinigt hatte; wir haben
die Vereinigung des Ich des
Zarathustra mit diesem Jesusknaben, der aber in dieser Zeit ja noch nicht wußte, was sich
mit ihm vollzog: daß es das Ich
des Zarathustra war, das den Leib des salomonischen
Jesusknaben verließ und in ihn einzog
und in seinen leiblichen Hüllen schon wirkte, so daß beide Elemente sich in
höchster Vollkommenheit nach
und nach durchdrangen.
Wir wissen auch, daß die leibliche
Mutter des nathanischen Jesusknaben bald starb, ebenso der
Vater des salomonischen Jesusknaben, und wir wissen, daß eine Familie wurde
aus den beiden Familien, denen die
zwei Jesusknaben entsprossen waren, so daß der
nathanische Jesus aus der anderen
Familie herüber Stiefgeschwister bekam und
ihm die leibliche Mutter des salomonischen
Jesusknaben zur Stiefoder Ziehmutter wurde. In dieser Familie
wuchs er nun in Nazareth heran. Die
außerordentliche Begabung, die er gezeigt hatte, als
er im Tempel unter den
Schriftgelehrten jene großen, gewaltigen Antworten gab,
die alle in Erstaunen versetzte, das steigerte sich des
weiteren. Es war etwas Wunderbares, was in
der Seele dieses nathanischen Jesusknaben, in dem das Ich des
Zarathustra enthalten war, vorging
vom zwölften bis etwa zum achtzehnten Lebensjahre:
Wie aus den untergründigen
Tiefen seines Seelenlebens heraufkam etwas, was ein anderer Mensch in der damaligen Zeit nicht hat
erleben können; eine ungeheure Reife des geistigen Urteils
neben einer tiefen Ursprünglichkeit seiner seelischen
Fähigkeiten machte sich geltend. Zum Staunen seiner Umgebung sprach zu seiner Seele
immer deutlicher und deutlicher jene gewaltige göttliche
Stimme aus den geistigen Regionen, welche man in den
hebräischen Geheimlehren die große Bath-Kol nannte. Aber anders als zu den
Schriftgelehrten, in erhabener Weise
sprach zu diesem heranwachsenden Knaben die große
Bath-Kol. Wie eine innere, wundersame
Erleuchtung kam es herauf. So kam es
herauf, daß schon in dieser Jugend der Jesus von
Nazareth sich in trauriger Stimmung
sagen konnte: Was ist aus der hebräischen
Menschheit geworden seit jenen
Zeiten, seit diese Menschheit die alten Propheten vernommen hat, jene alten Propheten,
welche noch selber durch ihre
Inspirationen und Intuitionen die geistigen Geheimnisse aus
höheren Welten herabbekommen haben? — Da ging
diesem Jesus von Nazareth durch
innere Erleuchtung auf, daß einstmals eine
innige Kommunikation zwischen den alten
hebräischen Propheten und den
göttlich-geistigen Mächten da war; daß die
größten Geheimnisse sich den alten Propheten
offenbarten durch die heilig-ernste Stimme der großen Bath-Kol. Aber anders waren die
Zeiten geworden bis zu der Gegenwart, in der damals Jesus von
Nazareth lebte. Gelehrte,
Schriftgelehrte waren da, auch einige Propheten, die nur
Nachklänge, schwache Nachklänge
erfassen konnten von dem, was einstmals die großen Propheten als Offenbarung
erhalten hatten. Aber alles das, was
in der Gegenwart erreicht werden konnte, war nur ein
Schatten der alten Lehren. Was aber in den
Schriften aufbewahrt war als
Tradition, von dem fühlte und spürte Jesus —
der es nun erhielt durch seine
unmittelbare innere Inspiration, durch Lichter,
die in ihm von Tag zu Tag immer mehr und
mehr aufglänzten, daß es
zwar da war, aber daß die Gegenwart nicht mehr geeignet
war, es zu verstehen. Gewaltig war
sein Leben in diesen Inspirationen.
Es ist ein ungeheuer starker Eindruck, den
man bekommt, wenn man den geistigen
Blick hinlenkt auf diese Stelle der Erdenentwickelung, wenn man
das, was in uralten Zeiten gleichsam den urväterlichen
Propheten geoffenbart war, wiederum aufleuchten sieht in
der Seele des Jesus von Nazareth und
sieht, wie einsam er dastand in der Menschheit, die ohne Verständnis war für das,
was er erlebte. Er mußte sich
sagen: Selbst wenn laut und vernehmlich die große
Bath-Kol
vom Himmel spräche, es sind keine Menschen da, die sie
verstehen könnten. Was ist aus der Menschheit geworden?
— Das legte sich als
gewaltiger Schmerz auf seine Seele. So sehen wir den
Knaben heranwachsen ins
Jünglingsalter hinein. Von Woche zu Woche stiegen
ihm neue Erkenntnisse auf, aber jede neue
Erkenntnis verknüpfte sich
für ihn mit einem immer mehr und mehr sich
vergrößernden Leid, mit
tiefem, tiefem Schmerz über das, was die Menschheit
verlernt, vergessen hat, was sie jetzt nicht mehr verstehen
kann. Der ganze Niederstieg der
Menschheit lud sich ab auf die Seele des Jesus
von Nazareth. Man lernt mancherlei von
Schmerz und Leid kennen, das
Menschen auf der Welt zu erdulden haben, wenn man den geistigen
Blick hinrichtet auf die Menschheitsevolution; aber
ungeheuer ist der Eindruck, den man
bekommt aus jener Seele heraus, die aus reinem Mitgefühl mit der Menschheit den
höchstgesteigerten Schmerz, den
konzentriertesten Schmerz empfand über den Niederstieg
der Menschheit, über das, was
die Menschheit nicht mehr fähig war aufzunehmen von dem,
was für sie aus geistigen Welten bereitet war.
Dieser Schmerz steigerte sich um so mehr,
als in der ganzen Umgebung des Jesus von Nazareth zwischen
seinem zwölften und achtzehnten Lebensjahr niemand war,
mit dem er irgendwie darüber hätte
sprechen können. Selbst die besten
Schüler der großen Gelehrten wie Hillel
verstanden das Große nicht, das sich
in der Seele des Jesus von Nazareth
offenbarte. Er war allein mit seinen Offenbarungen und
allein mit seinem unendlichen, die
Menschheit in grenzenlosem Mitgefühl umfassenden Schmerz.
Diese Seelenstimmung möchte ich Ihnen vor allen Dingen charakterisieren in Jesus von
Nazareth. Während er das alles
innerlich durchlebte, während Welten sich abspielten
in seinem Inneren, arbeitete er
äußerlich anspruchslos im Geschäfte
seines Vaters, das eine Art
Schreinerhandwerk, Zimmermannshandwerk war. Und so reifte er
heran bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre. Dann sollte er
nach dem Willen der Familie eine Art Wanderung
durch die Welt machen, von Ort zu Ort
ziehen, um da und dort eine Zeitlang
zu arbeiten. So tat er es auch. Und damit kommen wir zu
einer zweiten Epoche in der Jugend des
Jesus von Nazareth, die etwa vom
achtzehnten bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahre
dauerte. Er zog herum an mancherlei
Orten, Orten inner- und außerhalb Palästinas. In allerlei Gegenden der Heiden kam
er; Juden und Heiden suchte er schon
dazumal auf. Ein Eigenartiges konnte man bemerken
in dieser Persönlichkeit, das immer
zum Lehrreichsten gehören wird, wenn man versucht, die Geheimnisse der menschlichen
Tiefen zu erforschen: Man konnte bemerken, daß der
ungeheure Schmerz, den er in seiner
Seele durchlebt hatte, sich verwandelte in ungeheure
Liebe, wie er so oft es tut, wenn er
selbstlos ist, in eine Liebe, die nicht nur durch Worte, sondern schon durch die bloße
Gegenwart wirkt. Wenn er in die
Familien eintrat, in deren Mitte er arbeiten sollte, so
wußte man durch die Art, wie er
sich gab, durch die Art, wie er eben war, daß die Liebe, die überhaupt nur aus einem
Menschen kommen kann, aus dieser
Seele herausstrahlte; eine Liebe, die allen wohl tat, in
deren Atmosphäre alle leben
wollten, die sie gewahrten. Und diese Liebe war verwandelter Schmerz, war die Metamorphose des
Schmerzes. Vieles trug sich zu, was
bei den Leuten, in deren Mitte er lebte, den
Eindruck hervorrief, daß man es mit
einem Menschen zu tun habe, wie er
noch niemals über die Erde gewandelt war. Bei Tag
arbeitete er; abends versammelten
sich die Familien an den Orten, wo er arbeitete und da war er
unter ihnen. Alles was von seiner Liebe ausstrahlen konnte,
lebte in solchen Familien. Man glaubte mehr als
einen bloßen Menschen vor sich zu
haben, wenn er seine einfachen Worte
sprach, die aber durchtränkt waren von dem, was er
vom zwölften bis zum
achtzehnten Lebensjahre durchlebt hatte. Und dann,
wenn er wiederum weggezogen war von dem
Orte, dann war es in diesen
Familien, wenn sie sich zusammensetzten, so als ob sie
ihn noch unter sich fühlten,
wie wenn er gar nicht weg wäre. Man fühlte
seine Gegenwart noch immer. Ja, es kam
immer wieder und wiederum vor,
daß alle zusammen eine reale Vision hatten: Während
sie von dem sprachen, was er gesagt
hatte, während sie innerlich frohlockten
in dem, was sie nachfühlten von seiner
Gegenwart, sahen sie, wie er zur
Türe hereinkam, sich unter ihnen niedersetzte,
fühlten seine liebe Gegenwart,
hörten ihn sprechen. Er war nicht da in physischer
Gegenwart, aber eine allen gemeinsame
Vision war da.
So bildete sich allmählich in vielen
Gegenden eine Gemeinsamkeit heraus
zwischen Jesus von Nazareth und den Leuten, mit denen er
in Berührung kam im Laufe der Jahre.
Und überall erzählte man von dem Manne der großen Liebe. Mancherlei bezog man
auf ihn, was in den heiligen
Schriften stand. Die Schriften verstand man zwar
nicht, auch ihn verstand man wenig mit dem
Verstand; aber mit dem Herzen
erfühlte man um so inniger seine Liebe, das
Außerordentliche seines Daseins
und seiner Wirkung. Er kam nicht nur in hebräische,
sondern auch in heidnische Gegenden, auch
außerhalb Palästinas. Sein Weg führte ihn merkwürdigerweise auch in
solche heidnische Gegenden, wo die heidnischen Lehren in den
Niedergang gekommen waren. Manche
heidnische Orte lernte er kennen, deren alte Kultstätten
verfallen waren.
Und da kam er eines Tages in einen Ort, der
besonders unter dem Verfall der
alten heidnischen Kultstätten, der alten heidnischen
Priesterschaft gelitten hatte. Die heidnischen Kultstätten
waren ja ein äußerer
Abdruck dessen, was da oder dort in den Mysterien
gepflegt worden war. Die Zeremonien
in den Kultstätten waren Abbilder der Mysteriengeheimnisse. Aber das alles war im Niedergang
begriffen, war in vielen Gegenden
verfallen. Da kam denn Jesus von Nazareth an eine Kultstätte, wo auch die äußeren
Bauanlagen aus ihm unbekannten Gründen in Verfall geraten
waren. Ich weiß heute noch nicht, an welchem Orte diese Kultstätte war.
Leider ist es nicht möglich gewesen, den Ort nach genauer
Lage und Namen in der Akasha-Chronik zu ermitteln; aus
irgendeinem Grunde ist der Eindruck des Ortes sozusagen auf der Landkarte der Erde verwischt.
Was ich Ihnen erzähle, ist
absolut richtig beobachtet, wie ich meine, nur ist es
nicht möglich, den Ort
anzugeben; aus irgendwelchem Grunde ist er nicht
aufzufinden. Aber es war ein heidnischer
Ort, eine verfallene Kultstätte, ringsherum das Volk
traurig und krank und mit allerlei Krankheiten und
Mühsalen beladen. Weil es beladen war mit solchen
Krankheiten und Mühsalen, war die Priesterschaft
fortgezogen, war geflohen. Die Kultstätte war verfallen.
Das Volk fühlte sich unglücklich, weil seine Priester
es verlassen hatten. Ein ungeheures Elend war da, als Jesus in dieser heidnischen Kultstätte
einzog. Als er herannahte, wurde er von einigen bemerkt und
gleich ging es wie ein Lauffeuer durch das Volk: Da zieht einer
heran, der uns helfen kann! — Denn durch das, was als Kraft von seiner Liebe, die
schon zu einer Art heiligender Liebe
geworden war, ausstrahlte, fühlten die Menschen, wie wenn
jemand Besonderer herankäme, wie wenn ihnen der
Himmel selber geschickt hätte wiederum
einen ihrer Kultpriester. In großen Scharen strömten sie
zusammen; sie hofften, daß nun
wiederum ihr Kult verrichtet werden
könne. Jesus von Nazareth war nicht geneigt, den heidnischen Kult zu verrichten, wie das ja
begreiflich ist; aber als er sich
die Leute ansah mit seinem jetzt schon bis zu
einer Art von Hellsehertum gesteigerten
Blick, der aus Schmerz und Liebe
geboren war, ging ihm schon etwas auf von dem Wesen des
Verfalls des Heidentums. Da lernte er eben
das Folgende erkennen. Er
wußte: In uralten Zeiten, in denen einstmals die noch
guten Priester gedient und geopfert haben, da neigten sich an
diesen Kultstätten herab
zu den
heidnischen Opfern und Kulthandlungen gute geistige
Wesenheiten aus der Sphäre der
höheren Hierarchien. Aber nach und nach — das ging ihm aufwar das Heidentum
verfallen. Während früher die Ströme der Barmherzigkeit und Gnade der guten,
von den Heiden verehrten Götter
auf die Opferaltäre herabgesendet wurden und sich
verbanden mit dem Opfer, waren jetzt
Dämonen, Sendlinge von Ahriman
und Luzifer herabgekommen. Die schaute er unter dem
Volke und er erkannte, daß diese
dämonischen Wesenheiten eigentlich die Ursache der
bösen Krankheiten waren, die unter dem Volke
wüteten, das ihn jetzt in tiefster
Seele erbarmte. Und als er diese geheimnisvollen Zusammenhänge wahrgenommen, als er
so hinter das Geheimnis des
niedergehenden Heidentums kam, fiel er wie tot
hin. Furchtbar wirkte dieser Vorgang auf
das Volk, das glaubte, ein vom
Himmel gekommener Priester sei da. Es sah nun den
Menschen hinfallen und floh, floh
verstört hinweg von dem Orte, zu dem es
noch eben hingeströmt war. Mit dem
letzten Blicke, den er noch in seinem gewöhnlichen Bewußtsein hinrichtete
auf das fliehende Volk, sah Jesus
von Nazareth mit dem Volke fliehen die Dämonen;
aber noch immer umgaben ihn andere
Dämonen. Dann trat das alltägliche
Bewußtsein zurück und er
fühlte sich wie hinauf entrückt in eine
höhere geistige Welt, aus der
einstmals der Gnadesegen der Heidengötter geflossen war,
die mit den Opfern sich vereinigt hatten. Und
so, wie er sonst die Stimme der großen
Bath-Kol vernommen hatte, so vernahm
er jetzt die Klänge aus den göttlich-geistigen
Reichen, aus jenen Hierarchien,
welchen die heidnischen guten Götter
angehörten. Menschliche
Uroffenbarung vernahm er in diesem entrückten
Zustand. Ich habe versucht, in
deutsche Worte zusammenzufassen, was er da hörte; so gut es mir möglich war, das
wiederzugeben, was er gehört hat. Und charakteristisch ist
es: Es war mir möglich, diese Worte zuerst bei der Grundsteinlegung unseres Dornacher Baues
mitzuteilen. Es ist wie das umgekehrte christliche Vaterunser,
das er dann erst viel später
selber zu offenbaren hatte in der bekannten Art. Jetzt
aber wirkte es auf ihn so, wie es einstmals
vor dem Beginne der Erdenentwickelung hätte geoffenbart werden
können als kosmisches Vaterunser. So klingt es, wenn man es in deutsche Worte
überträgt:
Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender
Ichheit
Von ändern erschuldete
Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel
Wille
In dem der Mensch sich schied von Eurem
Reich
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.
Also so:
Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender
Ichheit
Von ändern erschuldete
Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel
Wille
In dem der Mensch sich schied von Eurem
Reich
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.
Was so aus den Regionen, aus denen
einstmals die Götter der Heiden
gewirkt hatten, zu ihm sprach, war ihm wie eine große,
gewaltige Offenbarung. Diese Worte, die sich zunächst
einfach anhören, enthalten in
der Tat das Geheimnis des ganzen Eingekörpertseins
des Menschen in die physisch-irdische
Leiblichkeit, das Verbundensein mit der physischen
Erdenleiblichkeit. Dieses Geheimnis enthalten
sie. Man kommt immer mehr und mehr darauf,
wie ich mich selbst überzeugt
habe durch nach und nach erfolgende Meditation dieser
Worte, zu erleben, welch ungeheure Tiefen
in diesen Worten enthalten sind. Man möchte sagen, der
ganze uralte heidnische Himmel, der
sich in diesem Geheimnis der Menschheitwerdung wie in
einem makrokosmischen Vaterunser
aussprach, wirkte dazumal auf den hingefallenen Jesus von
Nazareth, der in einem entrückten Zustand war.
Und als er wieder zu sich kam, da sah er
noch die letzten entfliehenden Dämonen, die an die Stelle der alten guten
heidnischen Götter getreten waren, sah in weiter Ferne das Volk fliehen. Er aber
hatte zu dem Schmerz, den er
erlitten hatte durch die Offenbarungen der Bath-Kol,
für die die Menschheit nicht mehr reif
war, nun den zweiten Schmerz erlitten dadurch, daß er erkennen mußte: Auch
das, was einstmals zu dem Heidentum
gesprochen hatte, auch das, was göttlich-geistige
Offenbarungen für das Heidentum waren,
ist im Niedergang begriffen. Wenn
auch alle Stimmen der Himmel heute ertönen würden:
die Menschheit hätte nicht die
Fähigkeit, sie aufzunehmen. — So mußte
er sich sagen.
Es ist ein ungeheurer Eindruck, zu sehen,
wieviel Schmerz notwendig war, der aufgehäuft werden
mußte in einer Seele, damit das Mysterium von Golgatha vorbereitet werden konnte. Der
Eindruck ist ein ungeheurer, zu
erkennen durch diese Dinge, welch ein Schmerz einfließen
mußte in jenen Impuls, den wir den Christus-Impuls
für die weitergehende Erdenentwickelung nennen. So hatte
Jesus auch das Wesen des Heidentums und das Wesen seines
Verfalls kennengelernt.
Als er etwa vierundzwanzig Jahre alt
geworden war, begab er sich nach
Hause; es war ungefähr um dieselbe Zeit, da sein
leiblicher Vater starb. Mit seinen
Geschwistern, die alle seine Stiefgeschwister waren,
und seiner Zieh- oder Stiefmutter war er
nun allein. Jetzt stellte sich etwas
Eigentümliches ein: Nach und nach entflammte die Liebe
und das Verständnis der Stief-
oder Ziehmutter für ihn immer mehr und mehr, während die Geschwister ihn nicht
verstanden. Es keimte in ihr etwas
wie ein Genie des Herzens auf. Sie konnte mit ihrem
Gemüt den Einsamen, der das
Leid der Menschheit in sich trug, nach und nach — wenn auch nur nach und nach —
verstehen, während sich die Brüder nicht daran kehrten.
Zunächst aber sollte er noch etwas
anderes kennenlernen: die Gemeinschaft, die ihm sozusagen den
dritten Aspekt des Verfalls der Menschheit zeigte. Er sollte kennenlernen die
Essäergemeinschaft. Diese
Essäergemeinschaft, die ihren Hauptsitz am Toten Meer
hatte, war damals in der Welt weit
verbreitet. Sie war ein strenger, in sich geschlossener Orden, der anstrebte, durch ein gewisses
geregeltes, entsagungsvolles Leben
wieder hinaufzudringen zu jenen Stufen, über
die die Menschheit bei ihrem Verfalle
herabgestiegen war; durch Übungen der Seele hinaufzukommen zu jener
Seelenhöhe, auf der wiederum
etwas vernommen werden konnte von — gleichgültig,
ob man es nun im jüdischen
Sinne nennt die große Bath-Kol oder im heidnischen Sinne die alte Offenbarung. Durch strenge
Trainierung der Seele und
Abgeschlossenheit von dem, was sonst die Menschheit
pflegte, wollten die Essäer das
erreichen. Was sie erstrebten, hatte viele angezogen. Sie hatten mancherlei Besitzungen
weithin über das Land. Wer
Essäer werden wollte, mußte das, was er ererbt hatte
oder noch ererben konnte, dem
gemeinschaftlichen Besitz übergeben. Niemand durfte
Eigentum für sich behalten. Viele Essäer hatten da
oder dort ein Haus oder Landgut, das
sie dem Orden verschrieben. Der hatte dadurch überall seine Niederlassungen
zerstreut in den vorderasiatischen Gegenden, namentlich in
Palästina, auch in Nazareth. Alles mußte Gemeingut sein. Große Wohltaten
verrichtete der Essäerorden. Niemand besaß etwas für sich. Jeder durfte
von dem gemeinsamen Besitz weggeben
an jeden, den er für einen armen oder bresthaften
Menschen hielt. Durch Übungen der
Seele kam man zu einer gewissen Heilkraft, die ungeheuer
wohltätig wirkte. Einen Grundsatz hatten sie, der heutzutage unmöglich wäre,
der aber damals streng innegehalten
wurde: Jeder konnte aus dem gemeinsamen Vermögen
die Menschen, die er für würdig
hielt, unterstützen, niemals aber seine
Verwandten. Losgetrennt mußte er sich
haben von all den Sinnesbanden, die mit der äußeren
Welt zusammenhängen.
Jesus von Nazareth war wie Johannes, den er
bei den Essäern flüchtig
kennenlernte, nicht eigentlich ein Essäer geworden;
aber durch das Ungeheure, was seine
Seele barg, behandelte man ihn in dem Orden mit großem Vertrauen. Vieles was sonst
nur Angehörigen der
höheren Grade eigen war, besprach man mit ihm im
Vertrauen auf die Art, wie seine
Seele wirkte. So lernte er erkennen, wie sie
auf einem steilen Wege wiederum
hinaufstrebten zu den Höhen, aus denen die Menschen herabgestiegen waren. So konnte es
ihm oftmals scheinen, als ob er sich
hätte sagen können: Ja, es gibt noch Menschen
unter uns, die wiederum hinaufsteigen zu
dem, was einstmals der Menschheit in
Urzeiten geoffenbart worden war, was aber die Menschheit im
allgemeinen heute nicht versteht.
Da hatte er einstmals, nachdem er eben ein
tiefgehendes Gespräch über
die Weltengeheimnisse innerhalb der Essäergemeinschaft
gehabt hatte, einen großen,
gewaltigen Eindruck. Als er wegging durch das
Tor hinaus, da sah er in einer Vision zwei
Gestalten. Als Ahriman und Luzifer
erkannte er sie und er sah sie von den Essäertoren
hinwegfliehen. In die übrige Menschheit hinein, wußte
er, fliehen sie. Solch einen Anblick
hatte er nunmehr öfters. Es war bei den
Essäern der Brauch, daß
sie nicht durch die gewöhnlichen Tore einer Stadt
oder eines Hauses der damaligen Zeit gehen
durften, die irgendwie mit
Bildwerken geschmückt waren. Vor solchen Toren mußten
sie wieder umkehren. Da aber die
Essäer in großer Zahl waren — es
lebten so viele Essäer wie
Pharisäer damals in Palästina — , so
hatte man Rücksicht auf sie
genommen und ihnen eigene, ganz einfache Tore gebaut. Die Essäer durften also durch kein
Tor gehen, das irgendwelche
Bildnisse aufwies. Das hing mit ihrer ganzen Seelenentwickelung
zusammen. Daher gab es eben besondere Essäertore
in den Städten. Jesus von Nazareth war
des öfteren durch solche Essäertore gegangen. Immer sah er, wie da Luzifer
und Ahriman in einer die Menschheit
besonders bedrohenden Weise sich von den Toren entfernten. Ja, sehen Sie, wenn man solche Dinge
theoretisch kennenlernt, machen sie
gewiß schon Eindruck; wenn man sie aber
so kennenlernt, wie man sie kennenlernen
kann durch den Blick in die
Akasha-Chronik, wenn man wirklich die Gestalten des
Luzifer und Ahriman unter solchen
Bedingungen sieht, wie sie Jesus von Nazareth gesehen hat, dann macht das noch einen ganz
anderen Eindruck. Dann beginnt man, nicht nur mit dem
bloßen Intellekt, mit dem
Verstand, sondern mit der ganzen Seele tiefste Geheimnisse
zu erfassen, die man nicht nur
weiß, die man erlebt, mit denen man eins ist.
Ich kann nur mit armen Worten stammeln, was
sich jetzt als ein dritter
großer Schmerz auf die Seele des Jesus ablud: Er
erkannte, daß es in seiner Zeit
für einzelne Individuen zwar möglich war, sich
abzusondern und höchste Einsicht zu
erreichen, aber nur, wenn die übrige Menschheit um so mehr abgeschnitten wird
von aller Entwickelung der Seele. Auf Kosten der übrigen
Menschheit suchen solche Menschen,
so sagte er sich, die Vervollkommnung ihrer Seele,
und weil sie eine solche Entwickelung
anstreben, durch die Luzifer und
Ahriman nicht an sie herankommen können, so müssen
diese fliehen. Aber indem diese
einzelnen Menschen loskommen, fliehen Luzifer und Ahriman zu den anderen Menschen hin. Diese
werden um so mehr in die Dekadenz
gestürzt, je mehr solche Menschen in ihrer Absonderung hoch hinaufkommen. Das war allerdings
ein furchtbarer Eindruck für
Jesus von Nazareth, der ungeteiltes Mitleid mit allen Menschen fühlte, der nicht ohne den
tiefsten, allertiefsten Schmerz
empfinden konnte, daß einzelne in ihrer
Seelenentwickelung steigen sollten
auf Kosten der allgemeinen Menschheit. So bildete
sich ihm die Vorstellung: Luzifer und
Ahriman erhalten in der allgemeinen Menschheit eine immer
größere Macht gerade dadurch, daß
einzelne die Reinen, die Essäer sein
wollen. Das war der dritte große Schmerz, sogar der furchtbarste Schmerz; denn jetzt
entlud sich in seiner Seele manchmal
etwas wie Verzweiflung an dem Schicksal der Erdenmenschheit. Das Geheimnis dieses Schicksals der
Erdenmenschheit kam furchtbar über ihn. Er trug dieses
Schicksal der Welt zusammengedrängt in seiner eigenen
Seele.
So war es etwa in seinem
neunundzwanzigsten, dreißigsten Lebensjahre, so war es,
nachdem die Mutter, die seine Stief- oder Ziehmutter war, immer
mehr und mehr ein Gemütsverständnis für
ihn erlangt hatte, daß er
einmal, als sie gegenseitig fühlten, daß die
Seelen sich verstehen konnten, in
ein Gespräch mit dieser Stief- oder Ziehmutter kam, in
jenes, für die Entwickelung der Menschheit so unendlich
bedeutungsvolle Gespräch. Jetzt, während dieses
Gespräches, wurde Jesus von
Nazareth gewahr, wie er wirklich in das Herz der
Stiefmutter hineingießen konnte, was
er seit seinem zwölften Lebensjahre erlebt hatte. Jetzt
konnte er allmählich ihr gegenüber in Worte
fassen, was er durchgemacht hatte. Und er
tat es. Er erzählte, was er gegenüber dem Verfalle des Juden- und des
Heidentums, gegenüber den Essäern, gegenüber der
Einsiedelei der Essäer gefühlt hatte.
Und es war so, daß diese Worte, die
aus der Seele des Jesus zur Seele der Stief- oder Ziehmutter hinübergingen, nicht
wirkten wie gewöhnliche Worte, sondern so, als ob er jedem
seiner Worte etwas hätte von
der ganzen Kraft seiner Seele mitgeben können. Sie waren
beflügelt von dem, was er gelitten hatte, was unmittelbar
aus seinem Leid an Liebe, an
Heiligkeit der Seele geworden war. Verbunden
war er selbst mit diesem seinem Leid,
seiner Liebe, so daß etwas von seinem Selbst auf den Flügeln seiner Worte
hinüberschwebte in das Herz, in
die Seele dieser Stief- oder Ziehmutter.
Und dann, nachdem er erzählt hatte
das, was er so durchlebt hatte, da brachte er noch etwas vor, was sich ihm als Erkenntnis
ergeben hatte und was ich jetzt
zusammenfassen will in Worte, die wir in der
Geisteswissenschaft gewonnen haben. Es wird
dadurch allerdings das, was Jesus
von Nazareth zu seiner Stief- oder Ziehmutter gesagt
hat, nur seinem eigentlichen Sinne
nach getreu gesagt werden, die Worte werde ich aber so wählen, daß Sie sie
leichter verstehen können, als wenn ich unmittelbar in deutschen Worten stammle, was
sich mir aus Bildern der
Akasha-Chronik ergab. Jesus von Nazareth sprach
zu seiner Stief- oder Ziehmutter, wie ihm
an all seinem Schmerz aufgegangen war das Geheimnis der
Menschheitsentwickelung, wie die Menschheit sich entwickelt hatte. So sagte er zu ihr:
Ich habe erkannt, daß einstmals
die Menschheit durchgemacht hat eine uralte Epoche,
in der sie, ihr unbewußt, in
frischester Kindeskraft die höchsten Weisheiten empfangen hat. — Er deutete mit diesen
Worten an, was wir in der
Geisteswissenschaft bezeichnen als die erste
nachatlantische Kulturepoche, wo die
heiligen Rishis des alten indischen Volkes ihre
großen, gewaltigen Weistümer an
die Menschheit heranbringen konnten. Aber diese Weistümer,
sie sah Jesus von Nazareth so, daß er sich sagen konnte: Wie waren diese Weistümer von
den heiligen Rishis aufgenommen
worden, welche Kräfte waren in den Seelen der
Rishis und im ganzen uralt indischen Volk
tätig? Es waren Kräfte, die sonst nur in der Kindheit, zwischen der Geburt und
dem siebenten Jahre im Kinde walten, die dann absterben
für die Einzelmenschen, damals
aber ergossen waren über die gesamten menschlichen
Altersstufen. Dadurch, daß ausgebreitet waren über
das gesamte menschliche Alter die Kindheitskräfte, dadurch
flössen inspirierend, intuitierend diese uralten heiligen
göttlichen Wahrheiten hernieder in das menschliche Gemüt. Aber mit dieser ersten Epoche
der Menschheit in der
nachatlantischen Zeit, die wir als die altindische
Kulturepoche bezeichnen, die Jesus
von Nazareth seiner Mutter gegenüber verglich
mit dem ersten Kindesalter, mit dem
Vorübergehen dieser Epoche war
auch die Möglichkeit vorübergegangen, die Kräfte
der Kindheit bis ins spätere
Alter hinauf noch zu bewahren. Sie schwanden dahin
und daher war die Menschheit nicht mehr
imstande, das was ihr einstmals geoffenbart worden war, jetzt
in sich aufzunehmen und sich das zu
erhalten. Weiter sprach Jesus von Nazareth davon, daß dann
eine Epoche folgte, welche sich
vergleichen lasse mit dem menschlichen Alter vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr, wo
aber die Kräfte, die sonst nur
vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahre da sind,
über das ganze Menschenleben ausgegossen waren, so
daß die Menschen sie noch als Greise
erlebten. Dadurch daß das der Fall war, daß noch spätere Altersstufen von
diesen Kräften durchsetzt sein konnten, war es
möglich in dieser zweiten, der urpersischen
Epoche, jene Weistümer zu erlangen,
die wir als die Zarathustra-Weistümer anerkennen,
die Jesus von Nazareth jetzt von der Menschheit durch
Unverständnis zurückgewiesen sah. Über die
dritte Epoche, in die Jesus von
Nazareth zurückblicken konnte und von der er jetzt
zu seiner Mutter sprach, war ausgegossen
über alle Menschenalter das,
was sonst zwischen dem vierzehnten und dem
einundzwanzigsten Jahre erlebt wird,
so daß die Menschen noch mit fünfzig, sechzig
Jahren die Kräfte hatten, die sonst
nur bis zum einundzwanzigsten Lebensjahre wirken. Dadurch waren erlangbar für
diese dritte Epoche jene bedeutenden
Wissenschaften vom Wirken der Natur, die wir so
bewundern, wenn wir eindringen in die
ägyptische, in die uralt chaldäische Wissenschaft,
eindringen in die wahren Grundlagen ihres astrologischen Wissens, jenes tiefen Wissens, das nicht
bloß von der Erde, sondern von
den Weltgeheimnissen handelt in ihrer Wirkung
auf die Menschen, und wovon die
spätere Menschheit nur noch wenig verstehen konnte. Aber auch das dritte Zeitalter
erblickte Jesus von Nazareth
dahinschwindend. So wie der einzelne Mensch alt wird,
sagte er, so ist die Menschheit älter
geworden.
Die gewaltigsten Impulse hat die
griechische Kultur durch die Mysterienweisheit erhalten, die in ihr eine
Hochblüte des philosophischen Denkens und der Kunst
hervorrief, aber auch den Übergang in die vierte Kulturperiode bewirkte, in der wir selbst
leben, die schon an die
Selbständigkeit des Menschen appelliert und neue soziale
Gebilde schafft, die mit der Abhängigkeit vom alten
Mysterienwesen brechen. Der Verfall
der alten Mysterien beginnt mit dem Aufstieg
der neuen Staatenwesen und deren
Rivalitäten untereinander; aber auch der schnelle intellektuelle Aufstieg ist damit
verbunden. Die Kräfte, die nur
Geringstes erfassen können, wenn sie über das
ganze Menschenalter ausgegossen
sind, sind jetzt da. Wir leben innerhalb einer Menschheit, die nur noch begreifen kann mit den
Kräften, die der Menschheit
eigen sind zwischen dem einundzwanzigsten und
achtundzwanzigsten Lebensjahre. Aber wenn diese Kulturperiode
hingeschwunden sein wird, dann wird die Menschheit ihr
mittleres Zeitalter erreicht haben; damit ist ein gewisser
Höhepunkt erreicht, der nicht
weiter gehalten werden kann. Der Abstieg muß, wenn
auch zuerst langsam, beginnen. Die
Menschheit tritt in ein Zeitalter ein, wo die Kräfte ersterben, in einer ähnlichen
Weise, wie der einzelne Mensch in
den Dreißigerjahren das Lebensalter erreicht, von dem
an der Abstieg beginnt. Der Abstieg
der ganzen Menschheit beginnt mit dem nächsten Zeitalter schon, so sagte Jesus von
Nazareth, indem der ganze Schmerz
über diesen künftigen Niedergang der
Menschheit durch seine Seele zog.
Die Menschheit selbst, sagte er, tritt in das
Zeitalter ein, wo die ursprünglichen
Kräfte erstorben sind. Während aber für den einzelnen Menschen gleichsam noch die
Jugendkräfte weiterwirken
können, kann das für die gesamte Menschheit nicht
der Fall sein. Sie muß in ein
unbesiegbares Greisenalter hineingehen, wenn
keine neuen Kräfte in sie kommen.
Verödet sah er im voraus die Erdenkultur, wenn keine jungen Kräfte
hineinkommen. Versiegt sind die
natürlichen Kräfte, wenn die Menschheit in das
Zeitalter eintritt, das für den
einzelnen Menschen abläuft vom achtundzwanzigsten
bis zum fünfunddreißigsten
Lebensjahre. Wenn sich dann keine anderen Quellen öffnen, so würde die Menschheit
vergreisen.
Solches zusammenfassend sprach Jesus von
Nazareth zu seiner Mutter: Was soll
aus der ganzen Menschheit werden, wenn sie dem
Schicksal des einzelnen Menschen verfallen
ist? — Vor der Wucht dieser
Frage fühlte denn Jesus und mit ihm die Stiefmutter die
Notwendigkeit eines neuen geistigen Impulses. Etwas
müßte kommen, was nur von
außen kommen könnte, was in der Menschheit
selber nicht war, weil in dem
Menschen etwas Neues an innermenschlichen, nicht mit der Sinneswelt zusammenhängenden
Kräften nach diesem mittleren
Lebensalter nicht mehr sich frei entfalten konnte. Es
mußte etwas von außen
erwartet werden, was sonst in der Zeit zwischen
dem achtundzwanzigsten und
fünfunddreißigsten Lebensjahre aus
dem Inneren wächst. Und mit einer
ungeheuren Gewalt, die mit nichts zu
vergleichen ist, entrang sich der Seele des Jesus von Nazareth
der Schmerz darüber, daß nichts in der Umwelt
vorhanden sei, was Kräfte der
Erneuerung in die verfallende Menschheit hineingießen
könne.
So war dieses Gespräch vor sich
gegangen und mit jedem Wort floß etwas wie vom eigenen Selbst hinüber in
die Stief- oder Ziehmutter. Die Worte hatten Flügel und in
ihnen drückte sich aus, daß sie nicht bloß Worte waren, sondern daß sich
etwas herausrang aus der
Leiblichkeit des Jesus von Nazareth, was eben wie sein
Selbst war, was eins geworden war
mit seinem Schmerz und seiner Liebemacht. In diesem Augenblick,
da sein Selbst sich losrang, leuchtete in ihm für einen Augenblick auf, was dieses Selbst
in Wahrheit war: das Bewußtsein
von dem eigenen Ich als dem des Zarathustra. Erglänzend,
wie einen Augenblick erglänzend fühlte er sich als
Ich des Zarathustra. Doch war es ihm
so, als ob dieses Ich aus ihm herausginge und ihn wieder allein
ließe, so daß er wieder derjenige war,
nur größer, gewachsen, der er in
seinem zwölften Lebensjahre gewesen war.
Auch mit der Mutter war eine ungeheure
Veränderung vor sich gegangen.
Wenn man in der Akasha-Chronik forscht, was sich da
zuträgt, so kommt man darauf, daß
bald nachdem Jesus aus der nathanischen Linie das zwölfte Jahr erreicht hatte
und in ihm das Zarathustra-Ich
innewohnend geworden war, die Seele seiner leiblichen
Mutter in die geistigen Regionen
hinaufgestiegen war. Nun senkte sie
sich als Seele wieder herab und beseelte seine Stiefmutter, die
dadurch wie verjüngt wurde. So war nun durchgeistigt von
der Seele seiner eigenen Mutter die
Stief- oder Ziehmutter, die die leibliche Mutter des salomonischen Jesusknaben war. So wandelte
von jetzt ab auch wiederum auf der
Erde in einem physischen Leibe herum, im Leibe der Mutter des salomonischen Jesusknaben, die
Seele der leiblichen Mutter des nathanischen Jesusknaben. Er
selber aber war wie allein mit
seinen drei Leibern, aber von all den Erlebnissen aufs
höchste durchgeistigt, allein mit
seinem physischen, ätherischen und astralischen Leibe; das Selbst jedoch war weggegangen.
Es wohnte ja in diesem physischen,
Äther- und Astralleib alles das, was aus dem Ich
des Zarathustra stammte. Obwohl das
Zarathustra-Ich sich herausgezogen hatte, waren alle seine
Eindrücke zurückgeblieben. Das bewirkte, daß in
dieser merkwürdigen Persönlichkeit, die Jesus
von Nazareth jetzt war, nachdem das
Ich des Zarathustra von ihm gewichen, etwas ganz Besonderes
war. Und was da in ihr war, das stellte sich mir, als ich in diesem Fünften Evangelium den
weiteren Fortgang erblicken konnte, so dar wie ich es
schildere.
Nachdem das Gespräch mit der Mutter
stattgefunden hatte, regte sich
jetzt in Jesus von Nazareth, aus dem das Ich des Zarathustra
fort war, etwas wie ein Drang, der
sich wie ein mächtiger kosmischer Trieb
ausnahm, der das, was jetzt von ihm da war,
zu den Ufern des Jordan hindrängte, zu Johannes dem Täufer. Auf dem
Wege dahin begegnete dieses
merkwürdige Wesen — denn ein solches war jetzt der
Jesus von Nazareth, ein Wesen, das
höchste Menschlichkeit, wie sie sonst nur
vereinbar ist bei voll entwickelten vier
menschlichen Gliedern, nur in drei
menschlichen Hüllen hintrug über den Erdboden, ein
Wesen, das sich innerlich anders
erfühlte als ein Mensch, das aber äußerlich
die menschliche Gestalt hatte
— , es begegnete dieses Wesen
nach dem Gesprach mit der Mutter,
nachdem es den Drang in sich verspürt hatte,
zum Jordan hin zu Johannes dem Täufer
zu gehen, zwei Essäern, zwei
von jenen Essäern, die Jesus gut kannten. Sonderbar kam
ihnen freilich vor, was da aus
seinen Zügen sprach; aber sie erkannten ihn
doch an der äußeren Gestalt, die
sich nicht verändert hatte, die deutlich zu erkennen war.
Aber sonderbar empfanden sie ihn. Durch die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, hatten
seine Augen einen ganz besonderen
Ausdruck bekommen. Es sprach etwas aus diesen
Augen wie inneres Licht, das milde
glänzte, wie die im Licht verkörperte, nicht
irdische, sondern himmlische Menschenliebe. Einen
alten Bekannten sahen die beiden
Essäer in ihm. So empfanden sie ihn, daß sie sich nicht entziehen konnten dem ungeheuer
milden, dem bis ins Unendliche
gesteigerten milden Blick des Jesus, wie er jetzt war.
Dann aber wiederum, wenn sie in
diese Augen schauten, fühlten sie zugleich
etwas wie einen Vorwurf, der nicht von ihm
kam, der etwas war wie eine Kraft,
die in ihrer eigenen Seele erquoll, hineinstrahlte in sein Auge
und zurückstrahlte, gleichsam
wie mildes Mondenlicht, aber wie ein ungeheurer Vorwurf
über ihr eigenes Wesen, über das, was sie
waren. Nur mit solchen Worten kann
ich schildern, was konstatierbar ist durch den Blick in die Akasha-Chronik, was diese
Essäer in der Seele des Jesus
von Nazareth sahen, die sie durch seinen Leib, also
durch seinen physischen,
ätherischen und astralischen Leib erfühlten,
die sie auf sich blicken sahen, die
sie vernahmen. Schwer war für sie seine
Nähe auszuhalten; denn es wirkte
unendliche Liebe, die aber doch gleichzeitig etwas wie ein Vorwurf für sie war.
Tief anziehend empfanden sie seine Nähe, von der sie doch
wiederum zugleich den Drang hatten,
wegzukommen. Einer von ihnen raffte sich aber auf, da
sie beide ihn aus vielen
Gesprächen, die sie mit ihm gehabt hatten, kannten, und
frug ihn: Wohin geht dein Weg, Jesus von Nazareth? —
Die Worte, die Jesus dann sprach,
könnte ich etwa so in Worte der deutschen Sprache
übersetzen: Dahin, wohin Seelen eurer Art nicht
blicken wollen, wo der Schmerz der
Menschheit die Strahlen des vergessenen Lichtes finden kann! — Sie verstanden seine Rede
nicht und merkten, daß er sie
nicht erkannte, daß er nicht wußte, wer sie waren. An
der befremdlichen Art seines
Blickes, der gar nicht war wie ein Blick, der
die Menschen anschaut, die er kennt, aus
seinem ganzen Verhalten und aus der
Art, wie er die Worte sprach, merkten sie, daß er sie
nicht erkannte. Und da raffte sich noch einmal einer der
Essäer auf und sprach: Jesus
von Nazareth, erkennst du uns nicht? — Und dieser gab zur
Antwort etwas, was ich eben nur in folgenden Worten der
deutschen Sprache wiedergeben kann:
Was seid ihr für Seelen? Wo ist eure Welt? Warum umhüllt ihr euch mit täuschenden
Hüllen? Warum brennt in eurem
Innern ein Feuer, das in meines Vaters Hause nicht
entfacht ist? — Sie wußten
nicht, wie ihnen geschah, wußten nicht,
was mit ihm los war. Noch einmal raffte
sich einer der beiden Essäer auf und fragte: Jesus von Nazareth, kennst du uns denn
nicht? — Jesus antwortete: Ihr
seid wie verirrte Lämmer; ich aber war des Hirten
Sohn, dem ihr entlaufen seid. Wenn ihr mich
recht erkennet, werdet ihr alsbald
von neuem entlaufen. Es ist so lange her, daß ihr von
mir in die Welt entflohen seid.
— Und sie wußten nicht, was sie von ihm
halten sollten. Dann sprach er weiter: Ihr
habt des Versuchers Mal an euch! Er
hat mit seinem Feuer eure Wolle gleißend gemacht.
Die Haare dieser Wolle stechen
meinen Blick! — Und sie empfanden, daß
diese seine Worte etwas waren wie der
Widerhall ihres eigenen Wesens aus
seinem Wesen. Und dann sprach Jesus weiter: Der Versucher
traf euch nach eurer Flucht. Er hat
eure Seelen mit Hochmut durchtränkt! — Da ermannte sich
einer der Essäer, denn er fühlte etwas Bekanntes, und
sprach: Haben wir nicht dem Versucher die Türe gewiesen?
Er hat kein Teil mehr an uns. — Darauf sprach Jesus
von Nazareth: Wohl wieset ihr ihm
die Türe; doch er lief hin zu den anderen Menschen und kam
über sie. So ist er nicht um euch, so ist er in
den anderen Menschen! Ihr schaut ihn
überall. Glaubt ihr, daß ihr euch erhöht habt, indem ihr ihn aus euren Toren
wieset? Ihr seid so hoch geblieben,
wie ihr wäret. Hoch scheint ihr euch geworden, weil
ihr die anderen erniedrigt habt. In dem
Verkleinern der anderen seid ihr
scheinbar hoch gekommen.
Da erschraken die Essäer. In diesem
Augenblick aber, wo unendliche Furcht über sie kam, war
ihnen, wie wenn Jesus von Nazareth sich in Nebel aufgelöst hätte und vor ihren
Augen verschwunden wäre. Dann
aber waren ihre Augen gebannt von
diesem verschwindenden Wesen des
Jesus von Nazareth und sie konnten ihre Blicke
nicht abwenden von dort, wohin sie
gerichtet waren. Da fiel ihr Blick wie in kosmischer Ferne auf eine riesengroße
Erscheinung, die wie das ins
Maßlose vergrößerte Gesicht des Jesus von
Nazareth war, das sie eben noch
gesehen hatten. Was aus seinen Zügen zu ihnen gesprochen
hatte, das sprach jetzt mit Riesengröße aus diesen
vergrößerten Zügen, die sie wie bannten. Sie
konnten den Blick nicht abwenden von der Erscheinung, deren
Blick wie aus weiter Ferne auf sie
gerichtet war. Dadurch senkte sich in ihre Seelen etwas wie
ein Vorwurf, was ihnen vorkam wie
verdient auf der einen Seite, aber wie unerträglich auf der anderen Seite. Wie in eine
Fata Morgana am fernen Himmel
verwandelt, so erschien diesen beiden Essäern riesenhaft
vergrößert der Jesus, und auch die Verhältnisse,
die in den Worten lagen, erschienen ins Riesenhafte
vergrößert. Aus dieser Vision heraus, aus diesem Gesicht, ertönten die Worte,
die etwa in der folgenden Weise in deutscher Sprache
wiedergegeben werden können: Eitel ist euer Streben, weil leer ist euer Herz, das ihr euch
erfüllet habt mit dem Geiste,
der den Stolz in die Hülle der Demut täuschend
birgt.
Das hatte das Wesen gesprochen zu den ihm
begegnenden Essäern, nachdem
das Ich des Zarathustra sich aus den leiblichen Hüllen
des Jesus herausgelöst hatte
und Jesus wiederum das geworden war, nur erwachsen, was er in seinem zwölften Jahre gewesen
war, aber jetzt durchdrungen mit
alledem, was das Ich des Zarathustra und alles das
Erlebte, von dem ich erzählt habe,
hineinsenken konnten in diesen eigenartigen Körper, der seine Eigenart schon
dadurch angekündigt hatte,
daß er gleich nach seiner Geburt wunderbare Worte der
Weisheit sprechen konnte, in einer nur dem Gefühl der
Mutter verständlichen Sprache.
Das ist das, was ich Ihnen heute geben
wollte in einer einfachen Erzählung, die zunächst bis zu dem Wege geht,
den Jesus von Nazareth nach dem Gespräch mit seiner Mutter
zu Johannes dem Täufer, zum
Jordan hin nahm. Übermorgen wollen wir dann in der
Erzählung fortfahren und versuchen, die Brücke zu
schlagen zu dem, was wir versucht
haben zu begreifen als die Bedeutung des Mysteriums
von Golgatha.
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