Berlin, 6. Januar 1914
Vierter Vortrag
Als ein Wichtiges in der Betrachtung des
Christus Jesus-Lebens, wie wir sie
jetzt angestellt haben nach dem, was ich das Fünfte
Evangelium nennen möchte, muß uns alles erscheinen,
was geschehen ist nach jenem
Gespräche des Jesus von Nazareth mit der Mutter,
von dem ich auch hier eine
Darstellung gegeben habe. Ich möchte nun,
wie das hoffentlich im intimen Kreise einer
solchen Arbeitsgruppe, wie die
hiesige ist, geschehen kann, zunächst aufmerksam machen
auf das, was unmittelbar nach dem
Gespräche des Jesus von Nazareth mit der Mutter geschehen ist, was sich also
gewissermaßen zwischen diesem Gespräche und der
Johannestaufe im Jordan zugetragen hat. Was ich zu erzählen habe, sind Tatsachen, die sich dem
intuitiven Schauen ergeben, und die
auch ohne weitere Erklärung einfach angeführt
werden sollen, so daß sich jeder
über sie die Gedanken machen kann, die er will.
Wir haben gesehen, daß nach dem Leben,
das wir in bezug auf einzelnes geschildert haben, welches der
Jesus von Nazareth von seinem zwölften bis zum neunundzwanzigsten,
dreißigsten Jahre geführt hat, ein Gespräch zwischen ihm und seiner Mutter
stattgefunden hat, jener Mutter, die
eigentlich seine Stief- oder Ziehmutter und die
leibliche Mutter des salomonischen
Jesus war, jenes Gespräch, in dem gewissermaßen so
intensiv, so energisch in die Worte des Jesus von
Nazareth eingeflossen ist das, was
sich ihm als Konsequenz, als die Wirkung seines Erlebens ergeben hat: daß mit seinen Worten
in die Seele der Stief- oder
Ziehmutter eine ungeheure Kraft hinüberging. Es war
eine solche Kraft, welche
möglich machte, daß die Seele der leiblichen
Mutter des nathanischen Jesus von Nazareth
aus der geistigen Welt heruntersteigen konnte, in der sie ungefähr seit
dem zwölften Jahre des
nathanischen Jesus war, und durchdringen, durchgeistigen
konnte die Seele der Stief- oder
Ziehmutter, so daß diese fortan weiterlebte,
durchdrungen mit der Seele der Mutter des
nathanischen Jesus. Für den Jesus
von Nazareth selbst aber ergab sich,
daß mit seinen Worten gleichsam
das Ich des Zarathustra fortgegangen war. Was sich jetzt
auf den Weg machte zur Johannestaufe im
Jordan, das war im Grunde genommen
der nathanische Jesus, der die drei Hüllen in der
Weise gestaltet hatte, wie es
öfter besprochen worden ist, ohne das Ich des
Zarathustra, aber mit den Wirkungen dieses
Zarathustra-Ichs, so daß tatsächlich alles, was das Zarathustra-Ich in
diese dreifache Hülle hineingießen konnte, in dieser
dreifachen Hülle auch war.
Sie werden verstehen, daß dieses
Wesen, das jetzt als Jesus von Nazareth aus einem, man möchte sagen, unbestimmten
kosmischen Drange — für
ihn unbestimmten, für den Kosmos sehr bestimmten
Drange heraus — zu der Johannestaufe
im Jordan ging, nicht in demselben Sinne als Mensch
anzusprechen ist wie andere Menschen. Denn das, was dieses Wesen als Ich ausgefüllt
hatte seit seinem zwölften
Jahre, war das Zarathustra-Ich. Dieses Zarathustra-Ich
war jetzt fort. Es lebte nur in den
Wirkungen dieses Zarathustra-Ichs weiter.
Als nun dieses Wesen Jesus von Nazareth
sich auf den Weg machte zu dem
Täufer Johannes, da — so erzählt das
Fünfte Evangelium — begegnete der Jesus von Nazareth
zunächst zwei Essäern. Zwei Essäer
waren es, mit denen er oftmals bei den
Gelegenheiten, von denen ich
gesprochen habe, Gespräche geführt hatte. Aber da das
Ich des Zarathustra aus ihm
herausgegangen war, so kannte er die beiden Essäer nicht sogleich. Sie aber erkannten ihn,
denn es hatte sich natürlich jenes bedeutungsvolle
physiognomische Gepräge, welches diese Wesenheit durch das Innewohnen des Zarathustra bekommen
hatte, für den
äußeren Anblick nicht geändert. Die beiden
Essäer sprachen ihn an mit den
Worten: Wohin geht dein Weg? — Der Jesus von
Nazareth antwortete: Dahin, wohin noch
Seelen eurer Art nicht blikken wollen, wo der Schmerz der
Menschheit die Strahlen des vergessenen Lichtes fühlen
kann!
Die beiden Essäer verstanden seine
Rede nicht. Als sie merkten, daß er sie nicht erkannte, da sprachen sie zu ihm:
Jesus von Nazareth, kennst du uns
denn nicht? — Er aber antwortete: Ihr seid wie
verirrte Lämmer; ich aber werde
der Hirte sein müssen, dem ihr entlaufen
seid. Wenn ihr mich recht erkennet, werdet
ihr mir bald von neuem entlaufen. Es
ist so lange her, daß ihr von mir entflohen seid! —
Die Essäer wußten nicht,
was sie von ihm halten sollten, denn sie wußten
nicht, wie es möglich wäre,
daß aus einer Menschenseele solche Worte
kommen konnten. Und unbestimmt schauten sie
ihn an. Er aber sprach weiter: Was
seid ihr für Seelen, wo ist eure Welt? Warum
umhüllt ihr euch mit täuschenden
Hüllen? Warum brennt in eurem Innern ein Feuer, das in meines Vaters Hause nicht
entfacht ist? Ihr habt des
Versuchers Mal an euch; er hat mit seinem Feuer eure
Wolle glänzend und
gleißend gemacht. Die Haare dieser Wolle stechen meinen
Blick. Ihr verirrten Lämmer, der Versucher hat eure Seelen
mit Hochmut durchtränkt; ihr
traft ihn auf eurer Flucht.
Als Jesus von Nazareth das gesagt hatte,
sprach einer der Essäer: Haben
wir nicht dem Versucher die Türe gewiesen? Er hat kein
Teil mehr an uns. — Und Jesus
von Nazareth sprach: Wohl wieset ihr dem Versucher die Türe, doch er lief hin und kam zu
den anderen Menschen. So grinst er euch aus den Seelen der
anderen Menschen von allen Seiten
an! Glaubt ihr denn, ihr hättet euch dadurch
erhöhen können, daß
ihr die anderen erniedrigt habt? Ihr kommt euch hoch
vor, aber nicht deshalb, weil ihr
hochgekommen seid, sondern weil ihr
die anderen erniedrigt habt. So sind sie niedriger. Ihr seid
geblieben, wo ihr wäret. Nur deshalb kommt ihr euch so
hoch über den anderen vor.
— Da erschraken die Essäer. In diesem Augenblick
aber verschwand der Jesus von
Nazareth vor ihren Augen. Sie konnten ihn nicht mehr sehen.
Nachdem ihre Augen für eine kurze
Weile wie getrübt waren, fühlten sie den Drang, in die Ferne zu schauen.
Und in der Ferne schauten sie etwas
wie eine Fata Morgana. Diese zeigte ihnen, ins
Riesenhafte vergrößert, das
Antlitz dessen, der eben vor ihnen gestanden. Und dann
hörten sie wie aus der Fata Morgana zu ihnen gesprochen
die Worte, furchtbar ihre Seelen durchdringend: Eitel
ist euer Streben, weil leer ist euer
Herz, da ihr euch erfüllt habt mit dem Geiste, der den Stolz in der Hülle der Demut
täuschend birgt! — Und
als sie eine Weile wie betäubt von diesem Gesicht und
diesen Worten gestanden hatten,
verschwand die Fata Morgana. Aber auch der Jesus von Nazareth stand nicht mehr vor ihnen. Sie
blickten sich um. Da war er schon
weitergegangen, und fern von ihnen sahen sie
ihn. Und die beiden Essäer gingen nach
Hause und sagten keinem etwas, was
sie gesehen hatten, sondern schwiegen die ganze
übrige Zeit bis zu ihrem
Tode.
Ich will diese Tatsachen darstellen und
rein für sich geben, wie sie sich aus dem heraus, was wir die Akasha-Chronik nennen,
finden lassen, und jeder kann sich
dabei denken, was er mag. Es ist dieses gerade jetzt wichtig, weil dieses Fünfte
Evangelium vielleicht doch immer
mehr ausführlich kommen mag, und weil durch jede
theoretische Interpretation das, was es geben will, nur
gestört werden könnte.
Als nun der Jesus von Nazareth auf diesem
Wege zum Jordan hin, auf den er
getrieben worden war, eine Weile weiterging, begegnete
er einer Persönlichkeit, von
der man sagen kann: in ihrer Seele war tiefste Verzweiflung.
Ein Verzweifelter kam ihm in den Weg. Und der
Jesus von Nazareth sagte: Wozu hat deine
Seele dich geführt? Ich habe
dich vor Äonen gesehen, da warst du ganz anders. —
Da sprach der Verzweifelte: Ich war
in hohen Würden; ich bin im Leben hoch gestiegen. Viele, viele Ämter habe ich durchlaufen
in der menschlichen Rangordnung, und schnell ging es. Da sagte
ich mir oftmals, wenn ich sah, wie
die anderen in ihren Würden zurückblieben, und
ich hochstieg: Was für ein seltener
Mensch bist du doch; deine hohen Tugenden erheben dich über alle anderen Menschen!
Ich war im Glück und genoß
voll dieses Glück. — So sagte der
Verzweifelte. Dann fuhr er fort:
Dann kam mir einmal schlafend etwas vor wie ein
Traum. Im Traume war es, wie wenn eine
Frage an mich gestellt würde,
und dann wußte ich gleich, daß ich mich im Traume
selber schämte vor dieser
Frage. Denn die Frage, die da an mich gestellt
wurde, war die: Wer hat dich groß
gemacht? — Und ein Wesen stand vor mir im Traume, das sagte: Ich habe dich
erhöht, doch du bist dafür mein! — Und ich
schämte mich; denn ich glaubte, nur meinen
eigenen Verdiensten und meinen Talenten die
Erhöhung zu verdanken. Und jetzt trat mir — ich
fühlte, wie ich mich im Traume schämte — ein anderes Wesen entgegen, das
sagte, daß ich kein
Verdienst hätte an meiner
Erhöhung. Da mußte ich im Traume vor
Scham die Flucht ergreifen. Ich ließ
alle meine Ämter und Würden hinter mir und irre herum, suchend und nicht wissend,
was ich suche. — So sprach der
Verzweifelte. Und als er noch so sprach, stand das
Wesen wieder vor ihm, zwischen ihm und dem
Jesus von Nazareth, und deckte mit
seiner Gestalt die Gestalt des Jesus von Nazareth zu.
Und es hatte der Verzweifelte ein
Gefühl, daß dieses Wesen etwas mit dem Luziferwesen zu tun habe. Und während das
Wesen noch vor ihm stehenblieb,
entschwand der Jesus von Nazareth, und dann verschwand auch das Wesen. Dann sah aber der
Verzweifelte bereits in einiger
Entfernung, daß Jesus von Nazareth
vorübergegangen war, und er zog
seines Weges irrend weiter.
Als Jesus von Nazareth weiterging, traf er
einen Aussätzigen. Auf die
Frage des Jesus von Nazareth: Wozu hat der Weg deiner
Seele dich geführt? Ich habe
dich vor Äonen gesehen, doch da warst du
anders — , sagte der Aussätzige:
Mich haben die Menschen verstoßen, verstoßen wegen meiner Krankheit! Kein Mensch
wollte mit mir etwas zu tun haben,
und ich wußte nicht, wie ich für die Notdurft
meines Lebens sorgen sollte. Da irrte ich
in meinem Leide herum und kam einmal
in einen Wald. Etwas, was ich in der Ferne sah wie
ein leuchtender Baum, zog mich an. Und ich
konnte nicht anders, als wie
getrieben zu diesem leuchtenden Baume hinzugehen. Da war
es, wie wenn aus diesem Lichtschimmer des
Baumes etwas herauskäme wie ein Totengerippe. Und ich
wußte: der Tod selber stand vor
mir. Der Tod sagte: Ich bin du! Ich zehre an dir. — Da
fürchtete ich mich. Der Tod
aber sprach: Warum fürchtest du dich? Hast du
mich nicht immer geliebt? — Und ich
wußte doch, daß ich ihn nie geliebt hatte. Und während er so zu mir sprach:
Warum fürchtest du dich? Hast
du mich nicht geliebt? — verwandelte er sich in
einen schönen Erzengel. Dann
verschwand er, und ich verfiel in einen tiefen Schlaf. Erst am
Morgen wachte ich wieder auf und fand mich an
dem Baume schlafend. Von da ab wurde mein
Aussatz immer schlimmer. — Und als er das erzählt
hatte, stand das, was er an dem Baume gesehen hatte, zwischen ihm und dem Jesus von Nazareth
und verwandelte sich in ein Wesen, von dem er wußte:
Ahriman oder etwas Ahrimanisches
stand vor ihm. Und während er es noch anschaute,
verschwand das Wesen, und auch der Jesus
von Nazareth verschwand. Jesus war
schon eine Weile weitergegangen. Und der Aussätzige
mußte weiterziehen.
Nach diesen drei Erlebnissen kam der Jesus
von Nazareth zu der Johannestaufe im
Jordan. Noch einmal will ich hier erwähnen,
daß, als die Johannestaufe sich
vollzogen hatte, dasjenige eintrat, was auch
in den anderen Evangelien beschrieben ist,
und was man als die Versuchung bezeichnet. Diese Versuchung hat
sich so vollzogen, daß der Christus Jesus nicht nur dem einen Wesen
gegenüberstand, sondern daß die Versuchung gleichsam in drei Etappen
verlief.
Zuerst stand der Christus Jesus einem Wesen
gegenüber, das ihm jetzt nahe
war, weil er es gesehen hatte, als der Verzweifelte an
ihn herangetreten war, und das er
dadurch gerade als Luzifer empfinden konnte. Das ist ein sehr bedeutsamer Zusammenhang. Und
dann fand durch Luzifer jene
Versuchung statt, die ja mit den Worten ausgesprochen ist: Ich gebe dir alle Reiche der Welt
und ihre Herrlichkeit, wenn du mich als deinen Herrn
anerkennst! — Die Luziferversuchung wurde
abgeschlagen.
Die zweite Attacke bestand darin, daß
Luzifer wiederkam, aber mit ihm das
Wesen, das zwischen dem Jesus von Nazareth und dem
Aussätzigen gestanden hatte, und das er deshalb als
Ahriman erfühlte. Und stattfand
jetzt die Versuchung, die in den anderen Evangelien
in die Worte gekleidet ist: Stürze
dich hinab, es wird dir nichts geschehen, wenn du der Sohn
Gottes bist. — Auch diese Versuchung, die so stattfand, daß Luzifer durch Ahriman und
Ahriman durch Luzifer paralysiert
werden konnte, wurde abgeschlagen.
Nur die dritte Versuchung, die durch
Ahriman allein geschah, um den
Christus Jesus zu versuchen, daß die Steine zu Brot
gemacht werden könnten, nur diese Versuchung wurde dazumal
nicht völlig abgeschlagen. Und diese Tatsache, daß
Ahriman nicht völlig besiegt wurde, sie führte dann dazu, daß die Dinge den
Verlauf nahmen, den sie eben genommen haben. Dadurch konnte dann Ahriman durch den
Judas wirken; dadurch konnte es überhaupt geschehen,
daß alle späteren Ereignisse eingetreten sind in der
Weise, wie wir es noch hören werden.
Sie sehen, es hat sich hier eine
Akasha-Intuition ergeben über den Moment, den wir als einen unendlich wichtigen in der
ganzen Christus Jesus-Entwickelung und damit in der
Entwickelung der Erde ansehen
müssen. Gleichsam als ob noch einmal vorüberziehen
sollte die Art, wie die
Erdentwickelung verbunden ist mit dem luziferischen
und ahrimanischen Element, so traten die
Ereignisse auf zwischen dem
Gespräch des Jesus von Nazareth mit der Ziehmutter und
der Johannestaufe im Jordan.
Derjenige, welcher der nathanische Jesus war und in dem durch achtzehn Jahre das Ich des
Zarathustra gewirkt hatte, war durch die geschilderten
Ereignisse vorbereitet, die Christus-Wesenheit in sich aufzunehmen. Und damit
stehen wir an dem Punkt, von dem so
außerordentlich wichtig ist, daß er in der
richtigen Weise vor unsere Seele
tritt, wenn wir die Menschheitsentwickelung der Erde entsprechend verstehen wollen. Darum versuchte
ich auch verschiedenes
zusammenzutragen, wie es sich aus der okkulten Forschung
ergibt, was in diesem Sinne unsere
Menschheitsentwickelung auf der Erde
begreiflich machen kann.
Es wird sich vielleicht auch einmal die
Möglichkeit bieten, hier über die Dinge zu sprechen, die jetzt in dem
Leipziger Vortragszyklus besprochen sind, wo ich versuchte,
eine Linie zu ziehen von dem
Christus-Ereignis zu dem Parzival-Ereignis hin. Heute will
ich darüber nur einige
Andeutungen machen im Zusammenhange mit den Tatsachen des Fünften Evangeliums, die ich dann
bei unserer nächsten Zusammenkunft weiter besprechen
möchte. Ich möchte darauf aufmerksam machen, wie durch die verschiedensten Dinge
der Menschheitsentwickelung —
Dinge, die dieser Menschheitsentwickelung gleichsam
eingeprägt sind, damit diese Menschheitsentwickelung ein
wenig den Gang der Ereignisse verstehen sollte — , wie
der ganze Sinn und Verlauf dieser
Menschheitsentwickelung zum Ausdruck kommt, wenn man diese
Dinge nur versteht und im richtigen Lichte sieht. Nicht auf das möchte ich eingehen,
was ich in Leipzig auseinandergesetzt habe über den Zusammenhang der
Parzival-Idee mit der
Christus-Entwickelung; aber auf etwas, was dort alle
Auseinandersetzungen durchdrungen hat, möchte ich
eingehen.
Dazu muß ich allerdings darauf
aufmerksam machen, daß wir uns erinnern: Wie steht Parzival vor uns, der einige
Jahrhunderte, nachdem das Mysterium von Golgatha stattgefunden
hat, gleichsam eine wichtige Stufe
bildet für das Fortwirken des Christus-Ereignisses
in einer Seele?
Parzival ist der Sohn eines abenteuernden
Ritters und seiner Mutter Herzeleide. Der Ritter ist schon weggezogen, bevor
Parzival geboren wurde. Die Mutter
erleidet Schmerzen und Qualen schon vor der Geburt. Sie will ihren Sohn vor alledem bewahren, womit
er in Berührung kommen kann etwa durch Rittertugend und
dadurch, daß er im
Ritterdienste seine Kräfte entfaltet. Sie zieht ihn so
auf, daß er nichts von allem
erfährt, was in der äußeren Welt vorkommt, was
dem Menschen durch die
Einflüsse der äußeren Welt gegeben werden
kann. In der Einsamkeit der Natur,
nur eben diesen Eindrücken der Natur überlassen, soll Parzival heranwachsen. Nichts
wissen soll er von dem, was unter
den Rittern und den anderen Menschen vorgeht. Es
wird auch gesagt, daß er nichts
weiß von dem, was in der äußeren
Welt über diese oder jene
religiösen Vorstellungen gesagt wird. Einzig
und allein das erfährt er von der
Mutter, daß es einen Gott gibt, daß
ein Gott hinter allem steht. Er will Gott
dienen. Aber mehr weiß er nicht, als daß er Gott dienen kann. Alles andere
wird ihm vorenthalten. Aber der
Drang zum Rittertum ist so stark, daß er dazu
getrieben wird, die Mutter eines
Tages zu verlassen und hinauszuziehen, um das kennenzulernen, wonach es ihn treibt. Und dann wird
er nach mancherlei Irrfahrten nach
der Burg des Heiligen Grals geführt.
Was er dort erlebt, ist uns am besten
— das heißt am besten entsprechend dem, was wir aus
der geisteswissenschaftlichen Urkunde heraus gewinnen können — bei
Chrestien de Troyes
geschildert, der auch eine Quelle war für Wolfram von Eschenbach. Wir erfahren, daß Parzival einst auf seinen Wanderungen in eine waldige Gegend
kam, am Meeresrande, wo zwei
Männer fischten. Und auf die Frage, die er
ihnen stellte, wiesen sie ihn nach der Burg
des Fischerkönigs. Er kam an
die Burg, trat ein, und es wurde ihm der Anblick, daß er
einen Mann fand, krank und schwach,
der auf einem Ruhebette lag. Dieser gab ihm ein Schwert, das Schwert seiner Nichte. Und der
Anblick bot sich ihm weiter,
daß ein Knappe hereintrat mit einer Lanze, von der
Blut heruntertroff, bis zu den Händen
des Knappen. Dann trat herein eine
Jungfrau mit einer goldenen Schale, aus der ein solches
Licht leuchtete, das alle anderen
Lichter des Saales überstrahlte. Dann wurde
ein Mahl aufgetragen. Bei jedem Gange wurde
diese Schale vorübergetragen und in das Nebenzimmer
gebracht. Und der dort liegende Vater des Fischerkönigs wurde durch das, was in
dieser Schale war, gestärkt.
Das alles war dem Parzival wunderbar
vorgekommen, allein er hatte früher auf seinen Wanderungen durch einen Ritter
den Rat erhalten, nicht viel zu
fragen. Daher fragte er auch jetzt nicht nach dem, was
er sah; er wollte erst am nächsten
Morgen fragen. Aber als er aufwachte, da war das ganze
Schloß leer. Er rief, niemand kam. Er glaubte, die Ritter seien auf die Jagd gezogen und
wollte ihnen folgen. Auf dem
Schloßhofe fand er sein Pferd gesattelt. Er ritt hinaus,
mußte aber schnell über
die Zugbrücke reiten; das Pferd hatte einen Sprung
machen müssen, weil die Zugbrücke
gleich hinter ihm heraufgezogen wurde. Aber nichts fand er von den Rittern.
Aber es ist uns ja bekannt, worauf es
ankommt: daß Parzival nicht gefragt hat. Trotzdem das Wunderbarste vor seine Seele
getreten ist, hat er zu fragen
versäumt. Und er muß es immer wieder hören,
daß es mit dem, was zu seiner
Sendung gehört, etwas zu tun hat, daß er
hätte fragen müssen,
daß gewissermaßen seine Mission
zusammengehangen hat mit dem Fragen
nach dem Wunderbaren, das ihm entgegengetreten ist. Er hat
nicht gefragt! Erkennen ließ man ihn, daß er
eine Art Unheil dadurch
herbeigeführt hat, daß er nicht gefragt
hat.
Wie steht hier Parzival vor uns? So steht
er vor uns, daß wir uns sagen:
In ihm haben wir eine Persönlichkeit, die abseits
erzogen worden ist von der Kultur
der äußeren Welt, die nichts hat wissen
sollen von der Kultur der äußeren
Welt, die zu den Wundern des Heiligen Grals hat geführt werden sollen, damit
sie nach diesen Wundern fragt, aber fragt mit
jungfräulicher, nicht durch die übrige Kultur
beeinflußter Seele. Warum sollte sie
so fragen? Ich habe öfters darauf hingewiesen, daß das, was durch den Einfluß
des Christus-Impulses gewirkt worden
war, als eine Tat gewirkt worden war, daß die Menschen
nicht gleich haben verstehen können, was gewirkt worden
ist. So haben wir auf der einen
Seite das, was dadurch, daß der Christus
in die Erdenaura eingeflossen ist,
fortlaufend gewirkt worden war, was
auch die Menschen darüber gedacht und gestritten und
ersonnen haben in den mannigfaltigen
theologischen Dogmen. Denn der Christus-Impuls hat weitergewirkt! Und die Gestaltung
des Abendlandes geschah durch den Einfluß dieses
Christus-Impulses, der gleichsam in den Untergründen auf
die Menschenseelen und in den Untergründen des ganzen
geschichtlichen Werdens wirkte. Hätte er nur
durch das wirken können, was die
Menschen verstanden haben und worüber sie gezankt haben, so hätte er wenig
in der Menschheitsentwickelung wirken können. Jetzt sehen
wir zur Parzival-Zeit einen wichtigen Moment herbeikommen, wo der Christus-Impuls
wieder um eine Stufe weiter wirken
soll.
Daher soll Parzival nicht einer von
denjenigen sein, die gewissermaßen gelernt haben, was
einst auf Golgatha hingeopfert worden ist, was nachher die Apostelväter, die Kirchenlehrer
und die anderen verschiedenen
theologischen Strömungen gelehrt haben. Er sollte
nicht wissen, wie sich die Ritter mit ihren
Tugenden in den Dienst des Christus
gestellt haben. Er sollte einzig und allein mit dem
Christus-Impuls in den Untergründen seiner Seele in
Zusammenhang kommen, in den er nach
Maßgabe seiner Zeit hat kommen können.
Getrübt hätte es diesen
Zusammenhang nur, wenn er das aufgenommen hätte,
was die Menschen über den Christus
gelehrt oder gelernt hatten. Nicht
was die Menschen taten oder sagten, sondern was die Seele
erlebt, wenn sie nur dem hingegeben ist, was übersinnlich
geschah im Fortwirken des
Christus-Impulses. So sollte es bei Parzival sein.
Äußere Lehre gehört immer
auch der sinnlichen Welt an. Aber der Christus-Impuls hat übersinnlich gewirkt und
sollte übersinnlich in die
Seele des Parzival hineinwirken. Zu nichts anderem sollte
seine Seele getrieben werden, als zu
fragen dort, wo ihm die Bedeutsamkeit des Christus-Impulses entgegentreten konnte: am
Heiligen Gral. Fragen sollte er! Fragen sollte er, nicht
angestiftet durch das, was die Ritter glaubten in dem Christus verehren zu
müssen, oder durch das, was die
Theologen glaubten in dem Christus verehren zu
müssen; sondern einzig und
allein durch die jungfräuliche, aber im Sinne ihrer
Zeitepoche lebende Seele sollte er angeregt
werden, zu fragen, was der Heilige
Gral enthüllen könnte, und was eben das
Christus-Ereignis sein konnte. Er sollte fragen! Halten wir
dieses Wort fest.
Ein anderer sollte nicht fragen. Er ist
ja bekannt genug, der nicht fragen
sollte: der Jüngling zu Sais sollte nicht fragen. Denn
sein Verhängnis war es, daß er fragen mußte,
daß er tat, was er nicht tun sollte, daß er haben wollte, daß das Bild der
Isis enthüllt werden sollte.
Der Parzival der vor dem Mysterium von Golgatha
liegenden Zeit, das ist der
Jüngling zu Sais. Aber in jener Zeit wurde ihm gesagt:
Hüte dich, daß deiner Seele unvorbereitet
enthüllt werden sollte, was
hinter dem Schleier ist! — Der Jüngling zu Sais nach
dem Mysterium von Golgatha ist
Parzival. Und er sollte nicht besonders vorbereitet werden, er soll mit jungfräulicher
Seele zum Heiligen Gral
hingeführt werden. Er versäumt das Wichtigste, da er
das nicht tut, was dem Jüngling
zu Sais verwehrt war, da er nicht fragt, nicht
sucht nach der Enthüllung des
Geheimnisses für seine Seele. So ändern
sich die Zeiten im Laufe der
Menschheitsentwickelung!
Wir wissen es ja — zunächst
müssen wir solche Dinge abstrakt andeuten, wir werden
darüber aber noch ausführlicher sprechen können
— , daß es sich handelt um das, was sich in der Isis
enthüllen sollte. Wir stellen
uns vor das Bild der alten Isis mit dem Horusknaben, das
Geheimnis des Zusammenhanges zwischen Isis
und Horus, dem Sohne der Isis und
des Osiris. Aber das ist abstrakt gesprochen. Dahinter
liegt natürlich ein großes
Geheimnis. Der Jüngling zu Sais war nicht
reif, um dieses Geheimnis zu erfahren. Als
Parzival, nachdem er auf der
Gralsburg nach den Wundern des Heiligen Grals zu fragen
versäumt hatte, fortreitet, da gehört zu den ersten,
die ihm begegnen, ein Weib, eine
Braut, die da trauert um ihren eben gestorbenen
Bräutigam, den sie im Schöße
hält: Richtig das Bild der trauernden Mutter mit dem Sohne, das später so oftmals als
Pietä-Motiv gedient hat! Das
ist die erste Hinweisung darauf, was Parzival erfahren
hätte, wenn er nach den Wundern
des Heiligen Grals gefragt hätte. Er hätte
in der neuen Form jenen Zusammenhang
erfahren, der besteht zwischen Isis und Horus, zwischen der
Mutter und dem Menschensohne. Und er
hätte fragen sollen!
Daran sehen wir, wie tief uns solche
Hinweise andeuten, was für ein Fortschritt in der Entwickelung der Menschheit
geschieht: Was nicht geschehen darf
in der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha — nach
dem Mysterium von Golgatha soll es
geschehen, denn die Menschheit ist
eben in der Zwischenzeit vorwärts geschritten. Die Seele
der Menschheit ist
gewissermaßen eine andere geworden.
Wie gesagt, über alle diese Dinge
wollen wir später weiter sprechen; ich will sie hier nur andeuten. Aber alle diese Dinge
haben doch für uns nur den
entsprechenden Wert, wenn wir sie für uns fruchtbar
machen, recht fruchtbar machen. Und was uns
aus dem für uns wirklich durch das Bild des Jünglings
zu Sais bereicherten Parzival-Geheimnis fließen
kann, das ist, daß wir im rechten Sinne, wie es
unserer Zeit auch entspricht, fragen
lernen. Denn in diesem Fragenlernen liegt die aufsteigende
Strömung der Menschheitsentwickelung.
Wir haben notwendigerweise nach dem
Mysterium von Golgatha zwei
Strömungen der Menschheitsentwickelung: die eine, die
den Impuls des Christus in sich
trägt und in die spirituellen Höhen allmählich
aufwärts führt; die andere, welche gleichsam ein
Fortgehen des Niederstieges ist und
in das materielle Leben, in den Materialismus
hineinführt. In der Gegenwart gehen
diese beiden Strömungen so durcheinander, daß allerdings weitaus der
größte Teil unserer Kultur von der materialistischen Strömung durchsetzt ist;
so daß der Mensch heute
vorurteilslos und unbefangen auf alles hinblicken muß, was
uns die Geisteswissenschaft
über den Christus-Impuls sagen kann, und
was damit zusammenhängt, damit er
einsehen kann, daß die Seele zu der notwendig immer materialistischer werdenden
Außenwelt jenen inneren
Fortgang im Sinne der Spiritualität braucht. Dazu aber
müssen wir gerade von solchen
Dingen etwas lernen, wie das erwähnte ist:
Wir müssen lernen zu
fragen.
In der spirituellen Strömung
müssen wir lernen zu fragen. In der materialistischen Strömung führt aber die
Menschen alles ab vom Fragen. Wir
wollen diese zwei Dinge nur nebeneinander hinstellen,
um zu zeigen, wie die eine und wie die
andere Strömung ist. In der einen haben wir diejenigen Menschen, die im
Materialismus drinnenstehen. Das können durchaus solche
sein, die an diesen oder jenen spirituellen Dogmen festhalten, die mit Worten, mit
Theorien die spirituelle Welt
anerkennen. Aber darauf kommt es nicht an, sondern
darauf, daß wir mit dem Ganzen unserer
Seele in die spirituelle Strömung hineinkommen. Von den
Menschen, die in der materialistischen Strömung drinnenstehen, kann man sagen: sie sind
keine «Frager». Sie sind
wirklich keine Frager, denn sie wissen schon alles. Das ist
das Charakteristikon der
materialistischen Kultur, daß diese Menschen
alles wissen, daß sie nicht fragen
wollen. Sogar die jüngsten Menschen wissen heute alles und fragen nicht. Man hält das
für Freiheit und für eine
Erhöhung des persönlichen Wertes, wenn man
überall ein eigenes Urteil
fällen kann. Man merkt nur nicht, wie dieses
persönliche Urteil reift. Wir
wachsen herein in die Welt. Mit den ersten Worten der
Kindheit nehmen wir dieses oder jenes auf.
Dann wachsen wir heran, nehmen mehr
und mehr auf, merken nicht, wie wir die Dinge aufnehmen. Wir
sind durch unser Karma so und so geartet. Dadurch
gefällt uns dieses oder jenes mehr
oder weniger gut. Wir wachsen heran
und erreichen mit unserem Urteil das für manche Kritiker
schon durchaus respektable Alter von
fünfundzwanzig Jahren, und wir fühlen uns reif in
unserem Urteil, weil wir glauben, daß es aus
unserer eigenen Seele kommt. Wer
aber in die Seelen hineinblicken kann, der weiß, daß dahinter nichts steckt als das auf
die eigene Seele konzentrierte äußere Leben, in das
wir gerade hineingestellt sind. Wir können
damit auch in Konflikt kommen, wenn wir
glauben, dies oder jenes bringe uns
unser eigenes Urteil bei. Indem wir glauben,
unabhängig zu sein, werden wir
nur um so sklavischer abhängig von unserem eigenen
Inneren. Wir urteilen, aber wir verlernen vollständig, zu
fragen. Fragen lernen wir nur, wenn
wir jenes Gleichmaß der Seele in uns auszubilden vermögen, das sich Ehrfurcht und
Ehrerbietung bewahren kann vor den heiligen Gebieten des
Lebens, wenn wir imstande sind, in unserer Seele so etwas zu
haben, das immer den Drang hat, sich
auch durch das eigene Urteil nicht zu engagieren
gegenüber dem, was aus den
heiligen Gebieten des Lebens an uns herandringen
soll. Fragen lernen wir nur, wenn wir uns
versetzen können in eine erwartungsvolle Stimmung, so daß durch dieses oder
jenes Ereignis sich uns dieses oder jenes im Leben offenbaren
mag, wenn wir warten können,
wenn wir eine gewisse Scheu tragen, das eigene Urteil
anzuwenden gegenüber dem gerade, was
mit Heiligkeit aus den heiligen Gebieten des Daseins
herausströmen soll, wenn wir nicht urteilen,
sondern fragen, und nicht nur etwa Menschen
fragen, die uns etwas sagen
können, sondern vor allem die geistige Welt fragen, der
wir nicht unser Urteilen
entgegenhalten, sondern unsere Frage, unsere
Frage schon in der Stimmung, in der
Gesinnung.
Versuchen Sie sich durch Meditation so
recht klar zu
werden, welcher Unterschied besteht
zwischen dem Entgegenhalten von Urteilen und dem Entgegenhalten von Fragen gegenüber den
geistigen Gebieten des Lebens. Das muß man innerlich
erfahren, daß ein radikaler Unterschied zwischen den beiden besteht. Mit diesem
Unterschiede hängt etwas
zusammen, das durch unsere ganze Zeit geht und das wir
in unserer spirituellen
Geistesströmung ganz besonders wohl beachten sollen. Denn
diese spirituelle Geistesströmung wird nur gedeihen
können, wenn wir den Unterschied
zwischen Fragen und Urteilen verstehen lernen. Gewiß
müssen wir urteilen in bezug auf die
äußeren Verhältnisse
des Lebens. Daher habe ich auch nicht gesagt, wir sollen
überall unser Urteilen
einschränken; sondern über das, was die
tieferen Geheimnisse der Welt sind,
sollen wir die erwartungsvolle Fragestimmung kennenlernen.
Fortgehen wird unsere spirituelle Bewegung durch alles, wodurch diese Fragestimmung in einem
größeren Teile der
Menschheit anerkannt und gefördert wird; gehemmt wird
unsere spirituelle Bewegung durch
alles, was an leichtfertigem Urteilen sich dieser Strömung entgegensetzt. Und wenn wir in
rechten Feieraugenblicken unseres Lebens uns zu überlegen
versuchen, was wir aus einer solchen
Darstellung gewinnen können, wie die von dem nach
der Gralsburg gehenden Parzival, der
fragen soll, dann gewinnen wir gerade in dieser
Parzival-Gestalt ein Vorbild für unsere spirituelle
Bewegung. Und damit im Zusammenhange können wir dann
manches andere begreifen.
Wenn wir noch einmal zurücksehen auf
die Zeit der Menschheitsentwickelung vor dem Mysterium von
Golgatha, so müssen wir sagen: Damals hatte die Menschenseele ein altes Erbgut aus der
Zeit, da sie aus den geistigen
Höhen herunterstieg zu irdischen Inkarnationen.
Dieses Erbgut bewahrte sie sich von
Inkarnation zu Inkarnation weiter. Daher gab es in jenen Zeiten
ein altes Hellsehen, das nach und nach abflutete, immer schwächer und schwächer
wurde. Je weiter die Inkarnationen
vorschritten, desto schwächer wurde das abflutende
alte Hellsehen. Woran war das alte
Hellsehen gebunden? Es war gebunden an das, woran auch das äußere Wahrnehmen mit
Augen und Ohren gebunden ist, an
das, was eben der Mensch in der äußeren Welt ist.
Bei den Menschen vor dem Mysterium
von Golgatha war es so, daß sie wie Kinder heranwuchsen: sie lernten gehen, sprechen, und
sie lernten selbstverständlich,
solange die elementaren Kräfte im Sinne des alten
Hellsehens noch da waren, auch hellsehen.
Sie lernten es wie etwas, was sich
ergab im Umgange mit der Menschheit, so wie es sich
ergab im Umgange mit der Menschheit,
daß man durch die Organisation des Kehlkopfes das Sprechen lernte. Man blieb aber nicht
beim Sprechenlernen stehen, sondern schritt vor zu dem
elementaren Hellsehen. Dieses elementare Hellsehen war gebunden
an die gewöhnliche menschliche Organisation so, wie die
menschliche Organisation drinnenstand in der physischen Welt;
es mußte also notwendigerweise das Hellsehen auch den Charakter der menschlichen
Organisation annehmen. Ein Mensch, der ein Wüstling war,
konnte nicht eine reine Natur in
sein Hellsehen hineinschieben; ein reiner Mensch konnte seine
reine Natur auch in sein Hellsehen
hineinschieben. Das ist ganz natürlich,
denn es war das Hellsehen an die
unmittelbare menschliche Organisation gebunden.
Eine notwendige Folge davon war, daß
ein gewisses Geheimnis — das
Geheimnis des Zusammenhanges zwischen der geistigen Welt
und der physischen Erdenwelt
— , das vor dem Herabstieg des Christus
Jesus bestand, nicht für diese
gewöhnliche menschheitliche Organisation
enthüllt werden durfte. Es mußte
die menschheitliche Organisation erst umgestaltet, erst reif gemacht werden. Der
Jüngling von Sais durfte nicht
ohne weiteres, von außen kommend, das Bild der Isis
sehen.
Mit dem vierten nachatlantischen
Zeiträume, in welchen das Mysterium von Golgatha
hineinfiel, war das alte Hellsehen verschwunden.
Eine neue Organisation der Menschenseele
trat auf, eine Organisation der
Menschenseele, die überhaupt abgeschlossen bleiben
muß von der geistigen Welt,
wenn sie nicht fragt, wenn sie nicht den Trieb hat, der
in der Frage liegt. Dieselben
schädlichen Kräfte, die in alten Zeiten an
die Menschenseele herangetreten sind,
können nicht an sie herantreten, wenn man gerade nach dem Geheimnis fragt, das das
Geheimnis des Heiligen Grales ist.
Denn in diesem Geheimnisse birgt sich das, was seit
dem Mysterium von Golgatha in die Aura der
Erde jetzt ausgeflossen ist. Was
früher nicht in sie ausgeflossen war, was jetzt als das
Geheimnis des Grales in die Erdenaura ausgeflossen ist, bliebe
einem doch immer verschlossen, wenn
man nicht fragt. Man muß fragen, was aber
nichts anderes heißt als: man muß
den Trieb haben, dasjenige, was ohnedies in der Seele lebt, wirklich zu
entfalten.
Vor dem Mysterium von Golgatha war es nicht
in der Seele, denn der Christus war
nicht in der Erdenaura. Vor dem Mysterium von
Golgatha würde jemand ohne weiteres,
wenn er nur das Bild der Isis im
rechten Sinne geschaut und ihr Geheimnis ergründet
hätte, durch das, was in ihm
noch an alten hellseherischen Kräften vorhanden
war, seine ganze Menschennatur da
hineingelegt haben, und er würde es dann so erkannt haben.
In der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha
wird eine Seele, die zum Fragen
kommt, im rechten Sinne zum Fragen kommen, und sie
wird auch im rechten Sinne das neue
Isis-Mysterium empfinden können. Daher ist es so, daß
es heute ankommt auf das richtige Fragen, das heißt auf das richtige Sich-Stellen zu dem,
was als spirituelle Weltanschauung verkündet werden kann.
Kommt ein Mensch bloß aus der Stimmung des Urteilens, dann kann er alle Bücher
und alle Zyklen und alles lesen
— er erfährt gar nichts, denn ihm fehlt die
Parzival-Stimmung. Kommt jemand mit der Fragestimmung, dann
wird er noch etwas ganz anderes
erfahren, als was bloß in den Worten liegt. Er wird
die Worte fruchtbar mit den
Quellkräften in seiner eigenen Seele erleben. Daß uns
das, was uns spirituell verkündet ist, zu einem solchen
inneren Erleben werde, das ist es, worauf es
ankommt.
Daran werden wir insbesondere erinnert,
wenn solche Dinge an uns herantreten
wie die bedeutsamen Ereignisse zwischen dem
Gespräche des Jesus von
Nazareth mit der Mutter und der Johannestaufe im
Jordan. Denn diese Dinge werden uns auch
nur etwas sein können, wenn wir
nach ihnen fragen, wenn wir das lebendige Bedürfnis
haben, zu erkennen, was gewirkt hat
an jenem wichtigen Scheidepunkte, wo die Zeit vor dem Mysterium von Golgatha sich trennt von
der Zeit nach dem Mysterium von
Golgatha. Es ist am besten, gerade diese Dinge auf seine Seele wirken zu lassen. Es ist im
Grunde genommen alles, was sie
unserer Seele sagen sollen, schon in der Erzählung
enthalten. Wir brauchen nicht viel in sie
hineinzuinterpretieren.
Gerade bei Gelegenheit dieses Abschnittes
des Fünften Evangeliums wollte ich diese allgemeine
Bemerkung machen und darauf hinweisen, wie es für unsere
Zeit in gewissem Sinne wiederum wichtig wird, Parzival-Stimmung zu verstehen. Man wird sie
verstehen müssen. Sie ist ja aufgetaucht bei
Richard Wagner, der sie musikalisch-dramatisch zu verkörpern
suchte. Nicht will ich mich einlassen in den
großen Streit, der in der
äußeren Welt heute wegen des
«Parsifal» entbrannt ist.
Geisteswissenschaft ist nicht dazu da, um Partei zu ergreifen.
Daher möge es ihr ferneliegen, sich hier einzumischen in
den Streit zwischen denjenigen, die
Wagners «Parsifal», zunächst das bedeutsamste
Dokument für die heutige Welt über die neue
Parzival-Stimmung, in Bayreuth behalten möchten, Schutz
für ihn haben möchten, und
denjenigen, die ihn übergeben wollen dem Reiche
Klingsors. Es tritt ja im Grunde genommen
das letztere schon ein. Aber auf das
andere möchte ich hinweisen: daß in dem
Fortwirken des Christus-Impulses
gleichsam da, wo noch nicht die Urteilskraft, wo
noch nicht das Oberbewußtsein der
Menschen hindringt, wohinein aber
immer mehr und mehr dieses Oberbewußtsein durch die
spirituelle Weltanschauung deuten soll, daß da auch immer
die Parzival-Stimmung sein muß, und noch manches andere,
wovon wir dann im Verlaufe dieses
Winters noch sprechen wollen.
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