Berlin, 18. November 1913
Dritter Vortrag
Als ich das letzte Mal hier sprach,
versuchte ich einiges zu erzählen aus dem Fünften Evangelium über das Leben des
Jesus von Nazareth von dessen
zwölftem Jahre bis in die Zeit der Johannestaufe im Jordan
hinein. Als ich damals jene bedeutungsvolle Erfahrung
erzählte, welche der Jesus von
Nazareth an einer heidnischen Kultstätte gehabt
hat, da zeigte ich, wie uns das Lesen in
der Akasha-Chronik heute diesen
Jesus von Nazareth an dieser heidnischen Kultstätte
schauen läßt, wie er den
Eindruck hat von den Altar umgebenden Dämonen.
Ich will an dieses nur kurz erinnern, wie
er dann wie tot hinfällt, wie er entrückt ist in eine andere Welt, in der er
wahrnehmen kann, welches die göttlich-geistigen
Geheimnisse der uralt heiligen Mysterienlehre der Heiden waren.
Denn so konnte er ja in sich eine lebendige Idee von dem aufnehmen, was einstmals das Heidentum
war, und von dem, was es zu seiner
Zeit geworden ist.
Ich erwähnte schon, daß er
während dieser Zeit — also in diesem
anderen Bewußtseinszustande an einem
heidnischen Altare, von dem wir das
letzte Mal gesprochen haben — etwas hörte wie aus
der geistigen Welt heraus die Verkündigung von Worten, die
zum Ausdruck brachten, so wie es in
der uralt heiligen Lehre der Heidenvölker zum
Ausdruck gebracht worden ist, was zu
betrachten ist als das Geheimnis von des Menschen Verquickung
mit der materiellen, mit der sinnlich-physischen Welt. Er
hörte also sozusagen aus den geistigen Welten jene Stimme,
die den alten heidnischen Propheten zugänglich war.
Und was er da hörte, ist zu bezeichnen
als eine Art kosmisches Vaterunser. Es drückt aus, wie des
Menschen Seelenschicksal sich gestalten muß dadurch, daß der Mensch mit der
Erdenmaterie von der Geburt bis zum
Tode verquickt ist. Dieses kosmische Vaterunser, dessen
spätere Umkehrung das irdische
Vaterunser wurde, war mir möglich zuerst zu Gehör zu bringen bei unserer
Grundsteinlegung in Dornach. Ich werde es hier wieder zur
Verlesung bringen, denn es liegt tatsächlich die Urlehre der heidnischen Menschheit
in diesen Worten. So gut es geht,
versuche ich sie eben in deutscher Sprache
wiederzugeben:
Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender
Ichheit
Von ändern erschuldete
Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel
Wille
Indem der Mensch sich schied von Eurem
Reich
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.
Das war es ungefähr, was der Jesus von
Nazareth als das Geheimnis des
Erdenmenschen im Sinne der uralt heiligen Lehre damals
bei seiner Wanderung in heidnischen
Gegenden gehört hat. Es bringen diese Worte wirklich tiefe Geheimnisse der
Menschheitsevolution zum Ausdruck.
Dieses bedeutsame Hören drang also damals in des
Jesus Seele herein, als es gegen
sein vierundzwanzigstes Jahr zu
ging, und er wußte von da ab etwas, was einstmals in uralten
Zeiten der Menschheitsentwickelung
aus der geistigen Welt heruntergetönt hat,
was ihm so groß und gewaltig erschien,
daß er sich sagte, insbesondere nachdem er an der verfallenen alten heidnischen
Kultstätte den das letzte Mal
geschilderten Eindruck hatte: Jetzt sind für alles das
auf der Erde nicht mehr die Menschen
da, um es zu verstehen.
So hatte er das Heidentum kennengelernt.
Wir haben gesehen, wie er in den
drei aufeinanderfolgenden Epochen seines Jugendlebens
kennengelernt hat die tiefsten Tiefen des
Judentums, die tiefsten Tiefen des
Heidentums und auch die tiefsten Tiefen des
Essäertums. Wir haben gesehen,
wie diese Erkenntnisse für ihn Stück für
Stück Quellen tiefsten Leides
waren. Denn von allen drei Erkenntnissen mußte er sich sagen: Sie könnten da sein,
wenn in der Menschheit jetzt die
Bedingungen dazu vorhanden wären, um sie
aufzunehmen; aber diese Bedingungen
sind eben jetzt nicht zu schaffen.
Das war das Ergebnis dieses Jesus-Lebens.
So zeigt es uns das Fünfte
Evangelium, daß der Jesus sich sagen konnte, bevor er
den Christus in sich aufgenommen
hatte: Es hat eine Menschheitsevolution stattgefunden, aber so,
daß die Menschen Fähigkeiten sich angeeignet haben,
welche die anderen Fähigkeiten der Urzeit
verdunkelt haben, so daß die
Menschen jetzt nicht mehr imstande sind, die
Verkündigungen der geistigen Welt entgegenzunehmen, wie
sie in der Urzeit für Juden und
Heiden stattgefunden hatten. — Aber auch das
hatte er sich durch seine Verbindung mit
den Essäern sagen müssen, daß so, wie die Essäer zu einer
Wiedervereinigung mit der geistigen Welt kommen, nur ein kleines Häuflein, nicht die
ganze Menschheit, zu einer solchen Wiedervereinigung kommen
könnte. So war ihm auch dieser
Weg als ein unmöglicher erschienen. Arme, arme
Menschheit — so ging es durch seine
Seele — , wenn dir ertönen würden
die Stimmen der alten heidnischen
Propheten, du würdest sie nicht mehr verstehen. Wenn dir ertönen würden die
Stimmen der alten jüdischen Propheten, du würdest sie
nicht mehr verstehen. Das aber kannst du nicht als gesamte Menschheit jemals erstreben
wollen, was die Essäer
erstreben; das ist nur zu erstreben von einem kleinen
Häuflein, das auf Kosten der
übrigen Menschheit seine Vollkommenheit sucht.
Was ich Ihnen so in einigen trockenen
Worten erzähle, das war in ihm
Leben, schmerzvolle seelische Wirklichkeit. Das war in ihm
eine Empfindung unendlichen
Mitleides mit der gesamten Menschheit, jenes Mitleides, das er empfinden mußte, um reif
zu werden, damit er die
Christus-Wesenheit in sich aufnehmen konnte.
Bevor aber dieses geschah, hatte der Jesus
von Nazareth noch ein wichtiges
Gespräch mit derjenigen Persönlichkeit, die wir als
seine Zieh- oder Stiefmutter kennen.
Wir wissen ja, daß die Mutter jenes nathanischen Jesus, der in seinem zwölften Jahre
die Individualität des
Zarathustra in sich aufgenommen hatte, das heißt also die
wirkliche leibliche Mutter dieses nathanischen Jesus, gestorben
war bald, nachdem dieser Jesusknabe
den Zarathustra, der in dem anderen Jesusknaben verkörpert war, in sich aufgenommen
hatte, so daß also deren Seele
längst in der geistigen Welt war. Wir wissen auch
aus früheren Vorträgen
verflossener Jahre, daß der Vater des anderen,
des salomonischen Jesusknaben, gestorben
war, und daß aus den beiden
Familien der beiden Jesusknaben eine einzige Familie in
Nazareth geworden war, innerhalb welcher der Jesus mit seinen
Geschwistern und mit der Zarathustra-Mutter zusammen war. Wir
wissen, daß der Vater des Jesus
von Nazareth, als dieser etwa im vierundzwanzigsten Jahre von
einer größeren Wanderung zurückkam,
gestorben war, und daß nun der
Jesus von Nazareth allein mit seiner Mutter,
der Zieh- oder Stiefmutter, lebte. Im
allgemeinen muß gesagt werden, daß diese Zieh- oder
Stiefmutter sich nur langsam ein Gemütsverständnis,
aber eben nach und nach ein tiefes
Gemütsverständnis für
alle die tiefen Erlebnisse aneignete, welche der Jesus von
Nazareth durchmachte. Es wuchsen gewissermaßen im Laufe
der Jahre diese Seelen, die des
Jesus von Nazareth und die der Zieh- oder Stiefmutter, ineinander.
In der ersten Zeit nach seinem
zwölften Jahre war er auch im Elternhause mit seinem
Erleben einsam. Die anderen Geschwister sahen
in seiner Seele, die mit ihren tiefen,
schmerzlichen Erlebnissen fertig werden mußte, eigentlich nur eine Seele, die einer
Art von Wahnsinnszustand entgegenging. Die Mutter dagegen fand
eben die Möglichkeit, immer mehr und mehr Verständnis
für diese Seele zu gewinnen. Und so kam es, daß der Jesus von Nazareth in
seinem neunundzwanzigsten oder dreißigsten Jahre mit
dieser Mutter ein wichtiges Gespräch führen konnte, ein Gespräch,
das tatsächlich von tiefster Wirkung war, wie wir gleich sehen werden.
Dieses Gespräch enthielt im Grunde
genommen in einer Art Rückschau alles, was der Jesus von
Nazareth seit seinem zwölften Lebensjahre erlebt hatte.
Die Akasha-Chronik zeigt uns, wie dieses Gespräch
verlief. Zunächst sprach der Jesus von
Nazareth von jenen Erlebnissen, die sich zwischen seinem
zwölften bis sechzehnten oder achtzehnten Jahre zugetragen
hatten, wie er in dieser Zeit das, was einstmals die uralte
hebräische Lehre war, die uralte Lehre der
hebräischen Propheten, nach und
nach in sich selbst erlebte. Er hatte es ja in der
Umgebung durch niemanden erleben
können, wie er auch nicht jene Worte durch jemanden in seiner Umgebung hatte erleben
können, die er zu solchem
Erstaunen der Schriftgelehrten in ihrer Mitte bei der
bekannten Gelegenheit vorgebracht hatte.
Aber immer stiegen in seiner Seele
Inspirationen auf, von denen er jedoch wußte: sie kommen
aus der geistigen Welt. Die hebräische Lehre stieg so in
ihm auf, daß er sich wußte
als Besitzer dieser alten hebräischen Lehre, für
die aber zu seiner Zeit keine Ohren
da waren. Er war mit dieser Lehre allein. Das war sein großer Schmerz, daß er
mit dieser Lehre allein war.
Die Mutter hatte zwar manches zu erwidern,
wenn er sagte: Auch wenn heute noch
die Stimmen der alten hebräischen Propheten ertönten,
so würde es doch keine Menschen geben, um diese
Stimmen zu verstehen. Die Mutter
sagte darauf, daß zum Beispiel Hillel dagewesen sei,
ein großer Gesetzeslehrer, und der Jesus von
Nazareth wußte auch zu
würdigen, wer Hillel war und was er für das Judentum
bedeutete. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, welche
Bedeutung dieser Hillel hatte. Sie finden es im jüdischen
Schrifttum genügend gewürdigt. Hillel war ein
Erneuerer der schönsten Tugenden und Lehren des alten Judentums, wie auch eine
Persönlichkeit, die durch ihre
eigene Art und Weise dieses alte Judentum wieder zu
einer Art Erneuerung brachte. Aber
das war nicht dadurch gekommen, daß Hillel ein Gelehrter war, sondern dadurch, daß er
durch sein Tun und Treiben, vor
allem aber in seinem Fühlen, Wollen und
Wünschen und in seiner Art, die
Menschen zu behandeln, zum Ausdruck brachte, wie wirkliche Weisheit jeglicher Art in der
Menschenseele die Seele umgestaltend
wirkt. Was man insbesondere im Judentum pries, aber in der damaligen Zeit nicht mehr recht
verstand: die Geduld in der
Behandlung anderer Menschen — dem Hillel wurde sie
mit Recht zugeschrieben. Er hatte ja
auch auf sonderbare Art die Möglichkeit erlangt, unter den
Hebräern zu wirken. Er stammte aus Babylon, aber aus einem
Geschlechte, das von den Juden zur Zeit der Gefangenschaft hinüberverpflanzt war nach Babylon,
und das seinen Ursprung auf die
Familie David selbst zurückführte. Auf diese
Weise hatte er in sich vereinigt,
was er aus dem Babyloniertum hatte aufnehmen können, mit
dem in seinem Blute pulsierenden Hebräertum.
Und wie sich das in seiner Seele gestaltet
hat, das wird in einer bedeutungsvollen Legende
erzählt.
Einmal, so heißt es, als Hillel gerade
in Jerusalem ankam, waren die
bedeutendsten anderen jüdischen Gelehrten zu allerlei
Diskussionen versammelt, in denen man hören konnte, wie
pro und kontra über die
Geheimnisse der jüdischen Lehre gesprochen wurde.
Man hatte eine Kleinigkeit zu
zahlen, um solchen Diskussionen beiwohnen zu können. Hillel hatte kein Geld, denn er war
sehr arm. Trotzdem es sehr kalt war,
versuchte er einen kleinen Hügel vor dem Hause zu
besteigen, in welchem die Diskussionen
stattfanden, um durch das Fenster zu hören, was gesprochen
wurde. Denn er konnte seinen Eintritt nicht bezahlen. Es war so kalt in der Nacht, daß
er steif wurde vor Frost, so
daß man ihn später am Morgen steif fand und ihn erst
wieder erwärmen mußte,
damit er auftaue. Aber er hatte dadurch, daß er
dieses durchgemacht hatte, in seinem
Ätherleibe teilgenommen an der ganzen Diskussion. Und während die anderen selber nichts
anderes hörten als die
abstrakten Worte, die hin- und widerflogen, hatte Hillel eine
Welt von wunderbaren Visionen
gesehen, die seine Seele umgestalteten.
Solcher Ereignisse wären noch manche
zu erzählen. Insbesondere wurde
seine Geduld gerühmt. Von dieser Geduld sagte man, sie
sei unerschöpflich. Und einmal,
so wird sogar erzählt, ging jemand eine
Wette ein, Hillels Geduld aufs
äußerste zu erschöpfen, so daß
Hillel zornig werden sollte. Die
Wette war eingegangen, und der, welcher den Hillel zornig machen wollte, das heißt, seine
Geduld ausschöpfen wollte,
hatte die Aufgabe, dieses zu tun. Und er tat das
Folgende. Er ging hin, als Hillel
seine Vorbereitungen traf zu dem, was er am Sabbat zu lehren hatte und gerade im Neglige war,
pochte an die Tür und rief:
Hillel, Hillel, komm heraus! — Hillel fragte: Was ist
denn? — Ach, Hillel, komm
heraus, ich habe eine wichtige Frage an dich! —
Hillel zog sich seinen Rock an, ging hinaus
und sagte: Mein Sohn, um was hast du
mich zu fragen? — Da sagte der Betreffende, der
die Wette eingegangen war, zu ihm:
Hillel, ich habe eine wichtige Frage an dich. Warum haben manche Leute unter den Babyloniern
so spitze Köpfe? — Und
Hillel antwortete: Mein lieber Sohn, weißt du, die
Babylonier haben so schlechte Hebammen, und
da werden sie unter so
ungünstigen Umständen geboren. Daher haben dort
manche Leute so spitze Köpfe.
Geh nun, deine Frage ist beantwortet. — Und Hillel
ging wieder in das Haus hinein und
bereitete sich weiter für den Sabbat vor.
Aber nach kurzer Zeit kam derselbe Mensch
wieder und rief wie vorher: Hillel,
Hillel, komm heraus! — Hillel antwortete: Was ist
es denn? — Ach, Hillel, ich
habe eine wichtige Frage, die sogleich beantwortet werden
muß. — Und Hillel kam wieder heraus und sagte
zu dem Fragenden: Was ist es
für eine Frage? — Und der Betreffende
antwortete: Ach, Hillel, sage mir doch,
warum gibt es in Arabien so viele
Menschen, die so sehr verkniffene Augen haben? — Hillel
antwortete: In Arabien ist die Wüste so weit, und man kann
sie nur ertragen, wenn man mit
seinen Augen an die Wüste angepaßt ist.
Daher haben in Arabien viele Menschen so
sehr verkniffene Augen. Gehe nun,
mein Sohn, denn deine wichtige Frage ist beantwortet.
— Und Hillel ging wieder in
das Haus hinein.
Aber es dauerte nicht lange, da kam der
Betreffende zum dritten Male und
rief wiederum: Hillel, Hillel, komm heraus! — Was ist
es denn? — Hillel, komm
heraus, ich habe eine wichtige Frage, die sogleich beantwortet
werden muß! — Hillel ging heraus, und da
sagte der Betreffende: Ach, Hillel,
beantworte mir doch die Frage: Warum haben denn so manche Leute in der Nähe
Ägyptens so platte Füße? —
Und Hillel antwortete: Mein lieber Sohn,
sie haben so platte Füße, weil sie in sumpfigen Gegenden leben. Da brauchen sie
so platte Füße wie manche
Vögel, die in sumpfigen Gegenden leben, und da
müssen die Füße
angepaßt sein an die Umgebung. Daher haben sie so
platte Füße. Gehe nun,
mein Sohn, deine Frage ist beantwortet. — Und er
ging wieder hinein.
Doch nach wenigen Minuten kam derselbe
Mensch wieder, klopfte wieder an das
Haus, aber er war bei jeder Frage trauriger geworden,
und er rief, noch trauriger als vorher:
Hillel, komm heraus! — Und als
Hillel kam, da sagte er: Ach, Hillel, ich habe gewettet,
daß ich dich in Zorn bringen
kann. Jetzt habe ich es dreimal mit meinen Fragen versucht.
Sage mir doch, o Hillel, was ich tun muß, damit ich
meine Wette nicht verliere! — Aber
Hillel antwortete: Mein Sohn, besser
ist es, daß du deine Wette verlierst, als daß Hillel
zornig werden könnte. Gehe nun, und bezahle deine
Wette!
Das ist ein Beispiel, welches zeigen soll,
bis zu welchem Grade von Geduld es
Hillel damals in den Augen oder in der Meinung seiner
jüdischen Mitbewohner gebracht hatte.
Die Wirkung dieses Mannes hatte also
der Jesus von Nazareth auch erlebt. Aber er kannte nicht
nur, was Hillel gewirkt hatte, sondern er
hatte selbst in seiner Seele die
große Bath-Kol vernommen, das heißt die Stimme vom
Himmel, wo aus der
göttlich-geistigen Welt heraus die Geheimnisse, wie
sie einst den Propheten
ertönten, ihm im Inneren seiner Seele aufgestiegen
waren. Und er wußte, daß auch
selbst in Hillel nur ein ganz schwacher Nachklang dessen war, wofür einstmals die
Vorfahren der Hebräer reif
waren. Aber jetzt waren die Nachfahren der alten Hebräer
nicht einmal für den schwachen
Nachklang, der in Hillels Stimme ertönte,
und noch weniger für die große
Bath-Kol reif.
Das alles lastete auf seiner Seele, und das
teilte er der Mutter mit. Er teilte
ihr mit, was er erlitten hatte, wie ihm von Woche zu
Woche immer mehr aufging, welches
die uralt heiligen Lehren des alten Judentums waren, und wie die Nachfahren der alten
Hebräer keine Ohren mehr
hatten, um zu hören, was einst die Worte der
großen Propheten waren. Und
jetzt verstand ihn die Mutter, so daß ein tiefes
Gefühls- und
Gemütsverständnis seinen Worten
entgegenkam.
Und dann erzählte er von jenem
Ereignis, das er erlebte, nachdem er
sein achtzehntes Jahr vollendet hatte und hinausgezogen war
in jüdische und heidnische
Gegenden. Er erzählte es erst jetzt der Mutter,
wie er auf seiner Wanderung an eine
heidnische Kultstätte gekommen war, wie aber dort die Priester geflohen waren. Denn es
war unter der Bevölkerung eine
bösartige Krankheit ausgebrochen, die jeden
anstecken konnte. Und als er hinkam, wurde
er gesehen, und wie ein Lauffeuer
verbreitete es sich, daß ein ganz besonderer Mensch
herankäme. Denn das war ihm eigentümlich, daß er
allein schon durch sein äußeres Auftreten, als Jesus von Nazareth,
überall, wo er hinkam, einen
besonderen Eindruck machte. So glaubten die Menschen
jener Gegend, deren größte
Trauer darin bestand, daß die heidnischen
Priester sie verlassen hatten und ihr Altar
nicht mehr bedient wurde, sie
glaubten, daß ein Opferpriester herankäme in Jesus
von Nazareth, der wieder ihre Opfer
verrichten werde. In großer Zahl versammelten
sie sich um den verfallenen Altar. Jesus
von Nazareth hatte nicht den Willen,
ihren Opferkult zu verrichten. Aber er sah die tieferen
Gründe dessen, warum jene
Menschen litten. Er sah das, was man folgendermaßen
ausdrücken könnte:
An solchen Opferaltären wurden
einstmals rechtmäßige Opfer verrichtet, die der
äußere Kultausdruck waren für die alten
Mysterienoffenbarungen jener heidnischen Gegenden. In den
Kulthandlungen waren ja die
Mysterienoffenbarungen ausgedrückt. Und wenn solche
Kulthandlungen in uralt heiligen Zeiten
— das wußte er jetzt durch unmittelbare Anschauung — verrichtet wurden,
verrichtet wurden mit der richtigen
Gesinnung der Priester, dann nahmen die göttlichgeistigen
Wesen, mit denen die heidnischen Menschen verbunden
waren, daran teil. Aber nach und nach waren
diese Opferhandlungen in Dekadenz
gekommen, waren herabgekommen, korrumpiert. Die
Priester waren nicht mehr mit den
rechtmäßigen Gesinnungen begabt, und so war es gekommen, daß an einer solchen
Kultstätte statt der guten
alten Götterwesen Dämonen walteten. Und in diesen
Dämonen liegt der Grund, warum
die Bevölkerung leiden mußte. Diese Dämonen sah
jetzt der Jesus von Nazareth versammelt. Sie forderten
gleichsam seinen hellseherischen Blick heraus, und er fiel hin,
war wie tot. Und als er hinfiel,
erkannten die Menschen, daß er nicht gekommen
war, um an ihrem Altar wieder die Opfer zu
verrichten. Sie ergriffen die
Flucht, und in diesem Augenblicke sah er den ganzen
Übergang der alten heidnischen
Götterwelt in die Dämonenwelt und erkannte,
daß dies die Gründe der Leiden
dieses Volkes waren.
Aber er wurde nun auch entrückt in
jene Heidenzeiten, als die wirklichen Offenbarungen der uralt
heiligen Lehren zu den Menschen herunterkamen. Das hörte
er bei dieser Gelegenheit, was ich als das kosmische Vaterunser
vorgelesen habe. Jetzt wußte er, wie weit entfernt
die gegenwärtige, auch seine
gegenwärtige Menschheit im Heidentume wie im Judentume,
von den alten Lehren und Offenbarungen war. Nur hatte er, was er über das Judentum zu
lernen hatte, durch die Stimme der
großen Bath-Kol erlangt. Das Heidentum dagegen
war ihm aufgegangen in einer furchtbaren
Vision. Die wirkte ganz anders als
eine abstrakte Mitteilung; sie wandelte seine Seele um.
So wußte er, daß jetzt
keine Ohren mehr da waren, um das zu verstehen,
was einstmals für das Judentum in den
Stimmen der Propheten erklungen, wie aber auch für das
andere, das einst für das alte Heidentum herunterklingen
konnte, jetzt keine Ohren mehr da waren, um es
zu verstehen.
Das alles erzählte er jetzt in
bewegten Worten der Mutter. Dann erzählte er auch seine Gemeinschaft mit den
Essäern, insbesondere das, was,
wenn ihm die Mutter nicht schon ein solches
Gemütsverständnis entgegengebracht hätte, schwer
zu verstehen gewesen wäre: daß er, als er einst hinausging von einer
Essäerversammlung, von den Toren Luzifer und Ahriman fliehen sah. Er wußte,
daß die Methoden der
Essäer für die große Menge der Menschen
unmöglich waren. Zwar konnte
man eine Vereinigung mit der göttlich-geistigen
Welt durch diese Methoden haben,
aber nur dadurch, daß man Luzifer und Ahriman von sich wies. Doch indem man dies tat, hatten
Luzifer und Ahriman um so mehr die
Möglichkeit, zu den anderen Menschen hinzufliehen und sie
weiter in die Verstrickungen des irdischen Daseins
hineinzustoßen, so daß sie nicht
teilnehmen konnten an der Vereinigung mit der geistigen Welt.
Durch dieses Erlebnis wußte also der Jesus
von Nazareth: Auch der Essäerweg kann
kein allgemein menschlicher werden,
denn er ist nur für ein kleines Häuflein von Menschen
möglich. —
Das war eine dritte schmerzliche Erkenntnis
zu den beiden anderen.
Es war in einer eigentümlichen Art,
wie er das erzählte. Denn nicht nur gingen seine Worte hinüber zur Mutter, sondern
die Worte flössen zum Herzen
der Mutter hinüber wie lebendige Wesen. Die Mutter
fühlte sich, wenn der tiefe Sinn
dieser Worte — der von Leiden, aber auch von tiefster Menschenliebe durchtränkte Sinn
— in ihre Seele hinüberfloß, wie wenn ihre Seele innerlich
erkraftete, von einer von ihm
herüberkommenden Kraft belebt würde und eine innere
Wandlung erführe. So fühlte die Mutter. Es ist
wirklich so, wie wenn alles, was in
der Seele des Jesus von Nazareth lebte, während dieses
Gespräches in die Seele der Mutter hinübergegangen
wäre. Und es war auch für
ihn so. Denn Merkwürdiges enthüllt uns geheimnisvoll
hier der Blick in die
Akasha-Chronik.
Der Jesus von Nazareth erzählte so,
daß seine Worte, indem sie sich ihm entrangen und indem sie hinüberzogen in Herz
und Seele der Mutter, immer ein
Stück seines eigenen Ichs mit hinübernahmen.
Man könnte sagen: Auf den Flügeln
seiner Worte ging sein eigenes Ich
wie hinüber zur Mutter, aber ohne daß es als solches
eigentliches Ich in die Mutter
hinüberging, die sich nur durch diese Worte wie
belebt fühlte. Denn das
Merkwürdige geschah jetzt, daß durch die
Wirkung dieses Gespräches die Seele
jener Mutter, welche die leibliche Mutter des nathanischen
Jesus war, aus der geistigen Welt herunterkam und sich mit der
Seele der Stief- oder Ziehmutter verband, so daß von jenem Gespräche an in der Seele
der Stief- oder Ziehmutter zugleich die Seele der wirklichen
Mutter des nathanischen Jesus lebte.
Empfangen hatte die Seele der Stief- oder Ziehmutter die
Seele jener anderen Mutter. Es war wie eine
Art Wiedergeburt zur Jungfräulichkeit, was hier stattgefunden hat.
Diese Wandlung, diese Durchsetzung
der Seele der Mutter mit einer anderen Seele aus den
geistigen Welten, sie macht in der
Beobachtung allerdings einen tief, tief ergreifenden Eindruck, wenn man sieht, wie jetzt
weiterhin die Stief- oder Ziehmutter
eigentlich nur als Hülle derjenigen Mutter
herumwandelt, welche die Zeit von Jesu
zwölftem bis dreißigstem Jahre in der geistigen Welt zugebracht hat.
In dem Jesus selber war jetzt etwas, wie
wenn er sein Ich an die Mutter
hingegeben hätte, wie wenn in ihm nur, wie von
kosmischen Gesetzen beherrscht, der
physische Leib, der Ätherleib und der Astralleib lebten.
Und ein innerer Drang entstand in dieser dreifachen
Leiblichkeit des Jesus von Nazareth, zu demjenigen hinzugehen,
den er in der
Essäergemeinschaft kennengelernt hatte, der ja ebensowenig
wie er ein wirklicher Essäer
war, aber in die Essäergemeinschaft aufgenommen war,
hinzugehen zu Johannes dem Täufer. Und dann fand
bei dem, was aus den vier anderen
Evangelien bekannt ist, bei der Taufe, die Hineinsenkung der Christus-Wesenheit in die
Leiblichkeit des Jesus von Nazareth
statt, die ihr mit ihren Leiden und mit ihrem ganzen Wesen
verbundenes Ich in das Gespräch gelegt hatte, das in
die Seele der Mutter
hinübergegangen war. Auf nahm diese dreifache
Leiblichkeit die Ihnen oftmals geschilderte
Christus-Wesenheit, die jetzt
anstelle jenes anderen Ichs in diesen drei Leibern
lebte.
Und nun spricht uns auch dieses Fünfte
Evangelium, das aus der Akasha-Chronik zu gewinnen ist, von der auf die
Empfängnis der Christus-Wesenheit folgenden Versuchung. Nur ergibt
sich durch den Blick in die
Akasha-Chronik die Versuchung in etwas anderem Geiste, und ich
werde wiederum versuchen, so gut es geht, zu
erzählen, was sich da ergibt,
wie die Versuchungsszene sich ereignet hat.
Es stand, also jetzt können wir sagen
der Christus Jesus, zuerst dem Luzifer gegenüber. Und Luzifer stellt
tatsächlich durch jenen Vorgang, den der Geistesforscher
durchaus begreifen kann, und auch in jener Form, die der Geistesforscher begreifen kann, die
Frage, die man natürlich in
äußere Worte umsetzen muß, wenn man sie
erzählen will, die Frage, die
in den anderen Evangelien mitgeteilt ist, die Frage,
die eine Versucherfrage ist, die besonders
zu dem Hochmut sprechen sollte: Alle
Reiche, die du um dich herum siehst — und Luzifer
meinte die Reiche der astralen Welt
in ihren Weiten — , sollen dir gehören,
wenn du mich als deinen Herrn
anerkennst!
Diese Frage spricht im richtigen Momente,
wenigstens zu einer Menschenwesenheit gestellt, den tiefsten
Versuchungsimpuls aus, denn es
werden alle Kräfte und Triebe des Hochmutes und der
Selbstüberschätzung ausgelöst in der Seele. Man
kann sich natürlich nicht gut
davon eine Vorstellung machen, wenn man nur mit
Abstraktionen an die astrale Welt
denkt. Aber wenn man in ihr drinnensteht, dann
ist die Wirksamkeit der Kräfte dieser
astralen Welt, in der dann Luzifer spricht, auf die ganze Konstitution des Menschen so
wirksam, daß alle Dämonen
des Hochmuts in ihm losgelassen werden mit derselben
Notwendigkeit, wie man hungrig wird, wenn
man vier bis fünf Tage nichts
gegessen hat. Man kann da nicht sprechen in der
harmlosen Weise des physischen
Planes: Man solle sich nicht vom Hochmut verblenden lassen.
— Das ist schön und gut für den physischen
Plan, aber es ist nicht mehr von
derselben Wertigkeit, wenn die ganze astrale Welt auf die Konstitution des Menschen
einstürmt. Aber der Christus
Jesus widerstand der Versuchung des Luzifer. Dem Hochmute
konnte diese Wesenheit nicht verfallen. Er wies Luzifer
zurück.
Ich möchte hier eine Einschaltung
machen. Es ist im allgemeinen leicht
möglich, beim Lesen in der Akasha-Chronik die
Reihenfolge zu verwechseln. Ich
glaube, die Reihenfolge bei der sogenannten Versuchung ist so,
wie sie mir richtig zu sein scheint. Es könnte aber
sein, daß sie umgekehrt wäre. Ich
glaube das nicht, könnte aber nicht sagen, daß sich bei einem späteren
Verifizieren nicht die umgekehrte Reihenfolge ergeben könnte. Daher möchte ich
durchaus darauf aufmerksam machen, daß ich Ihnen bei
diesen Mitteilungen aus der Akasha-Chronik nichts anderes erzähle, als was
sich wirklich ergibt. Daher mache
ich an den Stellen, wo sich Unsicherheit ergibt, darauf
aufmerksam, daß hier später eine
Korrektur möglich sein könnte.
Nachdem also die erste luziferische Attacke
abgeschlagen war, traten nun Luzifer
und Ahriman vereint auf. Vereint stellten sie an
den Christus Jesus die Frage von dem
Sich-Herabstürzen tief in den Abgrund hinein. Das war eine Frage, die an den Stolz
gestellt war. Auf einem besonderen
Umwege sollte zum Stolz, zum Sich-erhabenFühlen über
alle Furcht, diese Frage gestellt werden. Der Christus
Jesus wies die Frage zurück. Er war
nicht zu versuchen, indem man an
seinen Stolz herantrat, womit in diesem Falle das
Sich-erhaben-Dünken über die Furcht gemeint war. Luzifer
mußte jetzt weichen, von ihm
ablassen.
Ahriman blieb zurück, und er stellte
die dritte Frage, die wiederum auch
im Fünften Evangelium mit der Frage in den anderen
Evangelien übereinstimmt, die Frage, die sich darauf
bezieht, daß die Steine zu Brot
werden sollten. Wenn der Christus wirklich die Macht
habe, so sollte er die Steine zu
Brot werden lassen. Und siehe da: dieser Frage gegenüber blieb ein unbeantworteter Rest.
Nicht ganz vermochte der Christus Jesus diese Frage dem Ahriman
zu beantworten, und Ahriman zog
nicht vollständig besiegt ab. Das zeigt uns allerdings die
Akasha-Chronik-mäßige Betrachtung dieser Sache. Und
der Christus Jesus wußte:
bezüglich Ahrimans bleibt ein Rest, der nicht
durch einen solchen inneren geistigen
Vorgang zu überwinden ist, sondern zu dem andere Dinge noch notwendig
sind.
Ich möchte in einer vielleicht
trivialen Weise einmal versuchen, dies auseinanderzusetzen. Wir werden uns dadurch aber
leichter darüber verständigen können, um was es sich handelt.
Ahriman ist eigentlich der Herr der
Welt der materiellen Gesetze. Wenn
die Münchner Vorträge aus
diesem Jahre einmal gedruckt sein werden, dann wird man
die ganze Welt des Ahriman noch deutlicher
durchschauen. Ahriman ist der Herr
der materiellen Gesetze, jener Gesetze, welche in der
Tat nur vergeistigt werden
können, nachdem die gesamte Erdentwickelung abgelaufen
sein wird, jener Gesetze, die tätig bleiben, die wirksam
bleiben. Ahriman ist der rechtmäßige Herr der
materiellen Gesetze. Würde er diese Herrschaft nicht
mißbrauchen, nicht auf etwas anderes ausdehnen, so wäre er eine in seiner Art
einzig notwendige Wesenheit
innerhalb der Erdentwickelung. Aber das gilt doch, was
in dem kosmischen Vaterunser steht:
«Von ändern erschuldete Selbstheitschuld, erlebet im
täglichen Brote, in dem nicht waltet der Himmel
Wille.» Es gilt das, daß der
Mensch in seinem Erdenleben an die materiellen Gesetze gebunden ist, und daß er die
unmittelbare Vergeistigung dessen, was aus den materiellen
Gesetzen kommt, nicht durch einen
bloß inneren, seelischen Vorgang erreichen kann,
sondern daß dazu
Äußeres notwendig ist. Alles, was mit reich und arm
zusammenhängt, hängt mit dieser Frage zusammen.
Alles, was uns einspinnt in eine soziale Ordnung, so daß
wir unter dem Joch von Gesetzen sind, die wir nur im
Gesamtverlaufe der Erdentwickelung vergeistigen können, gehört da herein. Und
damit hängt zusammen — wie gesagt, ich muß etwas Triviales sagen, das
Triviale ist aber nicht so gemeint
— , daß in die soziale Ordnung nach und nach die
Herrschaft alles dessen einzieht, was man als Geld bezeichnen
kann, die Herrschaft des Geldes,
welches unmöglich macht, unmittelbar in geistdurchwirkten
Gesetzen zu leben. Jeder versteht ja, was mit so etwas
gemeint ist. Aber dadurch, daß die
Unmöglichkeit besteht, «Steine zu Brot» zu machen, die Unmöglichkeit, das
Geistige in der Materie unmittelbar
zu haben, unabhängig vom Materiellen, dadurch daß
diese Unmöglichkeit da ist, und
ihr Spiegelbild, die Herrschaft des Geldes da ist, dadurch hat Ahriman die Herrschaft. Denn im
Gelde lebt ja sozial auch
Ahriman.
Es mußte aus der Ahriman
gegenüber unbeantwortet gebliebenen Frage bei dem Christus Jesus das Ideal entstehen, nun
in die Erdentwickelung sich auszugießen und nach und nach
langsam in der ganzen weiteren
Erdentwickelung zu wirken. Das konnte nicht bloß
seelisch abgemacht werden. Es mußte
die ganze folgende Erdentwickelung durchchristet werden! Der
Christus mußte übergehen in die Erdentwickelung. Ahriman hatte die Gewalt, dem Christus
die Notwendigkeit aufzuerlegen, wirklich sich mit der Erde zu
verbinden. Daher durchsetzte er
später den Judas, und durch den Judas hatte er
das Medium, um den Christus wirklich zum
Tode zu führen. Und durch den
Tod ging die Christus-Wesenheit über in die
Erdenwesenheit. Was Judas tat, war die nicht voll beantwortete
Frage des Ahriman. Die Luziferversuchung konnte innerlich
seelisch abgemacht werden. Die Luziferversuchung muß jede
Seele in sich selber abmachen. Ahrimans Art ist so, daß er überwunden wird
in der ganzen folgenden geschichtlichen Menschheitsentwickelung, indem sich die
Menschen immer mehr durchdringen und
identifizieren mit der Christus-Wesenheit.
Man schaut da in der Tat auf ein tiefes
Geheimnis der historischen Entwickelung nach dem Mysterium von Golgatha, wenn man
diese dritte, dem Ahriman nicht
vollständig beantwortete Frage Akasha-Chronik-mäßig ins
Auge faßt. Darin liegt schon alles. Und der
Christus wußte jetzt, daß
er sich vollständig verbinden müsse mit dem
Erdenleibe, daß er wirklich ganz Mensch werden
müsse.
Dieses Menschwerden war nun die Quelle von
weiterem, dreijährigem Leiden. Denn nicht gleich —
so sagt uns die Beobachtung des Fünften Evangeliums in der Akasha-Chronik — ,
nicht gleich wurde die Christus-Wesenheit vollständig eins mit den drei
Leibern des Jesus von Nazareth.
Anfangs können wir erkennen, wenn wir den Christus
Jesus auf der Erde wandeln sehen, wie die
drei Leiber zwar durchsetzt sind von
der Christus-Wesenheit, daß aber diese
Christus-Wesenheit nicht
vollständig darinnen ist, wie ein anderes Ich in einem
Menschen drinnen ist, sondern sie
hat diese drei Leiber wie eine mächtige Aura
nur schwach angefaßt. Denn es ist
möglich und hat unzählige Male stattgefunden, daß die Leiblichkeit dieses
Christus Jesus irgendwo war, sich
irgendwo aufhielt in der Einsamkeit oder bei anderen Leuten,
aber der Christus war weit weg, ging als Geistwesenheit im
Lande herum. Nicht immer, wenn der
Christus da oder dort erschien, dem einen oder dem anderen Apostel erschien, nicht immer
war dann diese Geistwesenheit in dem
physischen Leibe des Christus Jesus dabei. Er
erschien schon damals in einem Geistleibe,
der so stark war, daß man ihn
immer als eine physische Gegenwart empfand. Was vom
Zusammensein der Jünger mit dem Christus geredet wird, das
ist nach dem Fünften Evangelium
nicht immer ein Zusammensein im physischen Leibe, sondern oft nur die bis zur physischen Gegenwart
sich hinaufsteigernde visionäre Art des
Zusammenseins.
Das ist das Eigentümliche, daß
sich in der ersten Zeit in der Tat nur etwas wie ein lockeres Zusammensein ergab zwischen
dem Christus und der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth. Aber
das wurde immer dichter und dichter.
Immer mehr mußte sich die Christus-Wesenheit hineinsenken und
verbinden mit den Leibern des Jesus von Nazareth. Doch erst gegen das Ende der drei Jahre wurde
sozusagen aus der Christus-Wesenheit
und den Leibern des Jesus von Nazareth eine Einheit, vollständig erst beim Kreuzestode,
unmittelbar vor dem Kreuzestode.
Aber dieses Sich-Vereinigen mit dem menschlichen
Leibe war sukzessives, immer zunehmendes
Leiden. Die umfassende, universelle
Geistwesenheit des Christus konnte sich nur unter
unsäglichen Leiden mit dem Leibe des Jesus von Nazareth
vereinigen. Diese Leiden dauerten
noch drei Jahre.
Man wird, wenn man das erschaut, wahrhaftig
nicht sentimental, denn der
Eindruck, den man aus der geistigen Welt wahrnimmt, hat
nichts von Sentimentalität. Es gibt
wohl kaum einen Eindruck, der sich
an Leiden vergleichen ließe mit dem Einswerden der
Christus-Wesenheit mit der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth.
Und man lernt erkennen, was ein Gott
leiden mußte, damit die altgewordene Menschheit eine neue Verjüngung erleben konnte,
damit der Mensch fähig werden
konnte, von seinem Ich völlig Besitz zu
ergreifen.
Diese Entwickelung war so, daß, als
sich schon einzelne Jünger um den Christus Jesus versammelt hatten, der Christus
Jesus zuweilen im physischen Leibe
mit den Jüngern vereint war, aber als Geistwesenheit
selbstverständlich für alle nur mit physischen Augen
Sehenden unsichtbar, so daß nur
die Jünger durch die Art, wie er sie mit sich
verbunden hatte, von ihm wußten, ihn
unter sich wußten.
Aber etwas sehr Eigentümliches zeigt
jetzt die Akasha-Forschung des
Fünften Evangeliums. Insbesondere in der ersten Zeit
während der drei Jahre sprach
der Christus Jesus sehr wenig. Er wirkte. Und
er wirkte durch seine bloße Gegenwart.
Ich werde darüber noch zu sprechen kommen. Durch die besondere Art, wie hier die
Christus-Wesenheit mit der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth
verbunden war, gingen Wirkungen von
ihm zu anderen Menschen aus, die sonst nicht in der Erdentwickelung da waren, und deren
Abglanz man mit einem ganz
ungeeigneten oder heute schlecht verstandenen Worte
«Wunder» nennt. Solche Wirkungen
gingen von ihm aus durch die Zusammensetzung der Wesenheit. Davon ein nächstes
Mal. Was ich aber jetzt sagen will,
ist etwas ganz Eigentümliches.
Man sieht herumgehen die Schar der
Jünger, hat bei manchem Eindruck ganz entschieden das Bewußtsein: Jetzt
ist auch der physische Leib des Jesus von Nazareth unter den
Jüngern. — Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Christus Jesus in
der Einsamkeit mit seinen Jüngern herumgeht. Aber man hat
oftmals auch den Eindruck: Die
leibliche Persönlichkeit des Jesus von Nazareth ist
weit weg, die Jünger aber haben
das Bewußtsein, sie gehen herum, und unter ihnen ist die Christus-Wesenheit. Aber sie kann
— und das ist das
Merkwürdige — durch jeden der Jünger sprechen,
abwechselnd durch den einen oder den
anderen. Und während der eine oder der andere spricht, ist für die Zuhörenden aus
dem Volke die ganze Physiognomie des
Sprechenden verändert, wie geheiligt, alles ist
anders. Wie transfiguriert ist immer einer
unter ihnen, und gegen die letzten
Zeiten immer ein anderer. Es hatte sich durch die
mannigfaltigsten Verhältnisse das Bewußtsein
verbreitet: Da ist jemand, der das
Volk aufrüttelt, der etwas verbreitet, was die leitenden
Juden der damaligen Zeit nicht haben
wollten. Aber man wußte nicht, wer es ist.
Es sprach einmal aus diesem, einmal aus
jenem. Daher, so erzählt uns die Akasha-Chronik, war der Verrat des Judas
notwendig.
Ich selbst muß gestehen: Die Frage,
warum der Verrat des Judas notwendig
war, warum ernsthaftig notwendig ist, daß jemand,
der es wissen konnte aus dem Kreise
der Jünger, durch den Judas-Kuß wie mit den Fingern darauf hindeutete: «Dieser ist
es!», das erschien mir
eigentlich immer als eine sonderbare Mitteilung, bis ich
wußte, daß man es wirklich
nicht wissen konnte, welcher von ihnen es war,
um den es sich handelte, weil er durch
jeden sprechen konnte; so daß man, auch wenn er im Leibe unter ihnen war, es an dem
Leibe nicht erkennen konnte. Denn es
konnte jeder für ihn gehalten werden, je
nachdem er durch den einen oder den anderen
sprach. Und jeder sprach! Erst als
einer, der es wußte, als der Christus Jesus
wirklich im Leibe unter ihnen war,
den Juden sagte: Dieser ist es! — erst dann
konnte man ihn ergreifen.
Es war wirklich eine Erscheinung ganz
eigener Art, die sich damals im
Schwerpunkt, im Mittelpunkt der Erdentwickelung vollzog.
Ich habe verschiedentlich mehr
theoretisch davon gesprochen, wie die Menschheit einen Abstieg und einen Aufstieg erlebt, wie
einmal dieser Christus-Impuls Platz
gegriffen hat innerhalb der Menschheit, wie an
deren Schwerpunkt. Da bekommen wir
gewissermaßen den Eindruck von
der wesentlichen Bedeutung des Christus-Impulses für die
Erdentwickelung. Wir bekommen den Eindruck dadurch, daß
wir die Sache so charakterisieren,
was im Ganzen der Erdentwickelung dieser Impuls gerade ist. Ich glaube nicht, wenn wir jetzt
gleichsam Stück für
Stück, rein erzählend, darstellen, wie sich die Dinge
der Anschauung darbieten, daß auf unsere Gemüter die
Ereignisse, die rein erzählend dargestellt werden, einen
geringeren Eindruck machen würden. Ich glaube nicht, daß irgend etwas von jenen
Angaben, die gemacht worden sind
über die einschneidende Bedeutung des Christus-Impulses,
herabgestimmt wird, wenn wir sehen, was der Jesus von Nazareth
erlebt hat, als der Zarathustra in seinem Leibe war, wie er
erwuchs mit seinem Leiden und dem
ganzen Wohlwollen, das aus diesem Leiden floß, so daß die Zarathustra-Ichheit
gebunden war an die Worte, die sie
zur Mutter sprach und in diesen Worten sich selber
verließ.
Wenn wir dann erfahren, wie in dieses
Jesus-Wesen, das durch das Gespräch mit der Mutter so von sich selber frei
geworden war, die Christus-Wesenheit
sich hineingesenkt hat, wie diese Christus-Wesenheit gerungen
hat mit Ahriman und Luzifer, und wie sich aus diesen
Leiden alles Folgende entwickelt, wenn wir
diese Einzelheiten hinstellen, so glaube ich, sind sie im
vollsten Sinne eine Bestätigung dessen, was sich aus der Geistesforschung in
großen Linien ergibt. Und so
schwer es ist, gerade in der Gegenwart rückhaltlos von
diesen Dingen zu sprechen, so
muß es betrachtet werden als eine wirkliche
Verpflichtung, einzelnen Seelen zu geben,
was immer notwendiger und
notwendiger sein wird zur Entwickelung der Seelen gegen
die Zukunft hin. Deshalb bitte ich
noch einmal, diese Dinge mit Pietät hinzunehmen und zu bewahren.
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