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Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung

Schmidt-Nummer: S-5384

Online seit: 15th July, 2013

SIEBENTER VORTRAG

Ilkley, 11. August 1923

Beim Übergange aus dem eigentlich kindlichen Alter, durch den Zahn-wechsel hindurch um das siebente Jahr herum, in das schulmäßige Alter, ist insbesondere zu berücksichtigen, daß bis zum siebenten Lebensjahre der Mensch innerlich eigentlich Plastiker ist. Vom Haupte des Menschen gehen die Bildekräfte aus und organisieren den ganzen Menschen. Was der Mensch in seiner Umgebung beobachtet, auch der moralische Charakter des Beobachteten, teilt sich dem Aufbau des Gefäßsystems, der Blutzirkulation, der Atmung und so weiter mit, so daß der Mensch als physische Organisation durch sein ganzes Erdenleben in sich trägt, was er bis zum Zahnwechsel nachahmend geworden ist. Nicht als ob er ganz unbedingt abhängig wäre von dieser Organisation. Er kann gewiß später durch moralische Kraft, durch seelische Intensität von innen heraus manches im Körper zurechtrücken. Aber man muß doch bedenken, welches wunderbare Erbgut wir dem Menschen mit auf den Lebensweg geben, wenn wir seinen Organismus zu einem geeigneten Träger des Geistig-Moralischen dadurch machen, daß wir den inneren Plastiker im Menschen bis zum siebenten Lebensjahre in der Art unterstützen, daß wir nur Moralisches und solches, das zum Leben tüchtig macht, in seine Nähe bringen, damit er es nachahmen könne. Von den genaueren Details habe ich gestern gesprochen, und es wird noch manches im Laufe der Zeit zur Darstellung kommen.

Wenn nun das Kind das siebente Jahr überschritten hat und in das eigentlich schulmäßige Alter kommt, dann werden diese plastischen Kräfte seelisch, und der Lehrende, der Unterrichtende, hat auf diese plastischen Kräfte hinzuschauen. Das Kind will in anschaulichen Bildern beschäftigt sein: das muß der allererste Erziehungsgrundsatz für den Anfang des schulmäßigen Alters sein.

Dasjenige, was nach dem Kopf System beim Kinde von dem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ganz besonders sich entwickelt, das ist das rhythmische System, in der Hauptsache Atmungssystem, Blutzirkulationssystem mit allem, was zum regelmäßigen Rhythmus der Ernährung gehört. Und während man das Plastisch-Anschauliche seelisch beim Kinde vor sich hat, hat man das rhythmische System als Lehrender und Unterrichtender ín der Schule unmittelbar noch organisch körperlich vor sich. Das heißt, man muß in dem, was man mit dem Kinde unternimmt, was das Kind tun soll, das Bildhafte vorherrschen lassen. Und in alledem, was zwischen dem Lehrer und dem Kinde sich abspielt, muß Musikalisches herrschen, muß Rhythmus, Takt, sogar Melodik pädagogisches Prinzip werden. Das erfordert, daß der Lehrer in sich selber eine Art Musikalisches hat, in seinem ganzen Leben ein Musikalisches hat.

Das rhythmische System also ist es, das im Kinde im schulpflichtigen Alter organisch vorhanden ist, organisch prädominiert, und es handelt sich darum, daß der ganze Unterricht in rhythmischer Weise orientiert wird, daß der Lehrer selber in sich ein, man möchte sagen, musikalisch angelegter Mensch ist, so daß wirklich im Schulzimmer Rhythmus, Takt herrscht. Das ist etwas, was allerdings in einer gewissen Weise instinktiv in dem Unterrichtenden, in dem Lehrenden leben muß.

Wenn wir auf all dies hinschauen, dann müssen wir uns klar darüber sein, wie der Unterricht gerade im Beginne des schulmäßigen Alters nur ein solcher sein kann, der ganz und gar ausgeht von einem künstlerischen Elemente. Und wenn heute das Unterrichten viel zu wünschen übrig läßt, so ist es darum, weil die heutige Zivilisation als solche bei den Erwachsenen im Grunde genommen viel zu wenig künstlerischen Sinn entwickelt. Eine gesunde Pädagogik kann nicht aus den einzelnen Künsten, wohl aber aus der künstlerischen Gesamtverfassung der Zivilisation hervorgehen. Das ist außerordentlich wichtig.

Nun handelt es sich darum, daß, wenn wir den Unterricht künstlerisch einrichten, wir ja vor allen Dingen appellieren an das rhythmische System des Menschen. Es ist schon so: das Kind atmet gesund, wenn wir den Unterricht künstlerisch einrichten. Das Kind vollzieht seine Blutzirkulation gesund, wenn wir den Unterricht künstlerisch einrichten. Aber wir müssen uns auch klar darüber sein, daß wir ja das Kind auf der einen Seite hereinführen müssen in das Leben, daß wir es also tüchtig machen müssen in bezug auf die Urteilsfähigkeit, daß das Kind ein gesundes Urteil im ganzen späteren Leben haben muß. Wir müssen also im Laufe des schulmäßigen Alters das Kind zum Gebrauche seines Intellekts hinleiten. Wir dürfen ihm den Intellekt nicht zwangsweise beibringen, aber wir müssen es hinleiten. Wir müssen auf der anderen Seite körperlich gesunde Menschen erziehen, das heißt, wir müssen die Körperpflege, die Körperübungen so einrichten, daß der Mensch gesund für das ganze Leben werden kann, soweit es wenigstens in seinem Schicksal ihm vorgezeichnet ist. All das können wir nur, wenn wir nun wiederum etwas tiefer hineinblicken in die gesamte menschliche Wesenheit.

Zum menschlichen Leben gehört ein Drittel der Zeit, die eigentlich von unserer nur auf das Äußerlich-Materielle sehenden Zivilisation gar nicht berücksichtigt wird: das ist das Schlafesleben. Es gibt im menschlichen Erdendasein einen regelmäßigen Rhythmus zwischen Schlafen und Wachen. Dieser regelmäßige Rhythmus spielt die denkbar größte Rolle im menschlichen Erdendasein, und man darf nicht glauben, daß der Mensch, wenn er schläft, untätig ist. Er ist für die äußere materielle Zivilisation untätig; für sein eigenes Wesen, für seine Gesundheit, namentlich aber für die Gesundheit der Seele, für die Gesundheit des Geistes ist in der Tat der Schlaf ein Allerwichtigstes. Und fortwährend wird dasjenige, was der Mensch während des Wachens ausführt — besonders ist dies beim Kinde der Fall —, in das Schlafesleben hineingetragen. Und wir können, indem wir richtig erziehen, für ein gesundes Schlafesleben sorgen.

Wir müssen nur das Folgende verstehen: das rhythmische System, das allem Künstlerischen zugrunde liegt, das ermüdet nicht. Die Herztätigkeit, die Atmungstätigkeit gehen unermüdlich von der Geburt bis zum Tode fort. Ermüden kann der Mensch nur durch sein intellektuelles System und durch sein Willenssystem. Denken macht müde, Körperlich-sich-Bewegen macht müde. Da aber natürlich Denken und Körperlich-sich-Bewegen im Leben bei allem dabei sind, so macht im Leben alles müde. Aber beim Kinde ist darauf zu sehen, daß die Ermüdung im geringsten Maße auftritt.

Sie tritt im geringsten Maße auf, wenn wir zunächst in diesem wichtigen schulmäßigen Alter den Unterricht auf das Künstlerische hinorientieren; denn da appellieren wir an das rhythmische System, da ermüden wir das Kind am allerwenigsten.

Was geschieht, wenn wir an das intellektuelle System appellieren? Wenn wir an das intellektuelle System appellieren, wenn wir einfach das Kind durch einen inneren Entschluß zum Denken veranlassen, zum Denken als solchem, dann kommen diejenigen Kräfte des Organismus in Betracht, die den Menschen innerlich verfestigen, diejenigen Kräfte, die im Inneren des Organismus namentlich die salzablagernden Kräfte sind, die kalkablagernden Kräfte, die knochenbildenden Kräfte, die sehnenbildenden Kräfte, die knorpelbildenden Kräfte, alles dasjenige, was den Menschen fest macht. Das ist dasjenige, was durch das Denken, durch das zwangsmäßige Denken im Organismus entwickelt wird. Und der Mensch ist innerlich an seiner Verfestigung tätig, wenn er wacht. So daß wir dem Wachleben eine zu starke innere Verfestigung zumuten, wenn wir das Wachleben zu stark intellektualistisch anstreben. Wenn wir das Kind zu viel denken lassen, dann versetzen wir in den Organismus die Anlage zu einer frühen Sklerose, zu einer frühen Arterienverkalkung. Das festigende Element, das 1st dasjenige, was durch das zwangsmäßige Denken vollführt wird, besonders in Anspruch genommen wird. Hier handelt es sich darum, daß man durch echte Menschenbeobachtung auch einen Takt, einen Instinkt dafür bekommt, wieviel man dem Kinde zumuten darf.

Nun gibt es aber einen sehr wichtigen prinzipiellen Regulator in dieser Beziehung. Lasse ich das Kind denken, lehre ich das Kind zum Beispiel schreiben rein denkerisch, indem ich mir sage: die Buchstaben sind da, das Kind muß diese Buchstaben lernen, dann beschäftige ich dieses Kind intellektualistisch, dann züchte ich in ihm die Sklerose, wenigstens die Neigung dazu; denn es gibt keine innere Beziehung des Menschen zu diesen jetzt entwickelten Buchstaben. Die sind kleine Dämonen für die menschliche Natur. Man muß erst die Brücke, den Übergang dazu finden.

Diese Brücke, diesen Übergang findet man, wenn man das Kind zunächst sich künstlerisch betätigend, mit künstlerischem Sinn malen, zeichnen läßt, was aus seiner innersten Natur an Linien, an Farben förmlich von selbst von dem Kinde aufs Papier geht. Dann entsteht immer, wenn man das Kind künstlerisch sich betätigen läßt, innerlich das Gefühl — und auf dieses Gefühl kommt es an —, daß man durch die künstlerische Betätigung zu reich ist als Mensch. Durch den Verstand verarmt man seelisch, durch den Verstand wird man innerlich öde; durch das künstlerische Handhaben wird man innerlich reich, und man bekommt das Bedürfnis, nun diesen Reichtum etwas abzuschwächen. Und dann lenkt sich das Bildhaft-Künstlerische, das man erlebt, von selbst zu den ärmeren Begriffen und Ideenentwickelungen. Dann entsteht das innere Bedürfnis, das Künstlerische zu verarmen, es zu intellektualisieren. Und wenn man dann, nachdem man künstlerisch das Kind ergriffen hat, aus dem Künstlerischen das Intellektualistische hervorgehen läßt, dann hat dieses Künstlerische das richtige Maß, um in den Körper so einzugreifen, daß er nicht zu stark, sondern richtig verfestigt wird.

Sie halten sogar das Kind im Wachstum auf, wenn Sie es zu stark intellektualisieren. Dagegen geben Sie das Wachstum des Kindes frei, wenn Sie aus dem Künstlerischen heraus alles in das Intellektualistische erst hinüberleiten.

Das ist der Grund, warum in der Waldorfschule zunächst gerade im Anfang des schulmäßigen Alters auf das Künstlerische und nicht auf das Intellektualistische dieser hohe Wert gelegt wird, warum zunächst das Bildhafte, das Unintellektualistische den Unterricht beherrscht, und warum im Verkehr des Lehrers mit dem Kinde überall Musikalisches, eben Rhythmisch-Taktmäßiges hineingetragen wird, damit gerade dasjenige Maß von Intellektualität erzeugt wird, zu dem das Kind dann selber das Bedürfnis hat, und damit die geistige Erziehung zugleich die beste Körpererziehung wird.

Unser Zeitalter zeigt uns ja überall an den erwachsenen Menschen, wie sie zu stark innerlich verfestigt sind, wie sie gewissermaßen wie eine hölzerne Maschine ihren Körper mit sich herumschleppen im Leben. Natürlich gehört das aber nicht der groben Beobachtung, sondern der feineren Beobachtung an. Aber das ist das Eigentümliche unserer Zivilisation, daß die Menschen ihren Körper wie eine Last herumtragen, während eine richtige Erziehung, die aus dem Künstlerischen heraus arbeitet, den Menschen so erzieht, daß ihm jeder Schritt Freude macht, daß ihm jede Handbewegung, die er später im Leben im Dienste der Menschheit auszuführen hat, zu einem innerlichen Wohlgefallen, zur innerlichen Freude wird. Wir lösen die Seele ab vom Körper, indem wir den Menschen intellektualistisch erziehen.

Wenden wir zu stark den Intellektualismus an, so geht der Mensch später durch das Leben und sagt: Ach, das Körperliche, das ist eben bloß irdisch, das hat keinen Wert, das muß überwunden werden; man muß sich hingeben als Mystiker dem bloßen seelisch-geistigen Leben, der Geist allein hat seinen Wert.

Erzieht man in der richtigen Weise, dann kommt man auch in der richtigen Weise an den Geist, nämlich an den körperschöpferischen Geist. Gott hat auch nicht die Welt erschaffen dadurch, daß er gesagt hat: die Materie ist schlecht, man muß sich von ihr zurückziehen. Es wäre keine Welt entstanden, wenn die Götter so gedacht hätten. Einzig und allein dadurch, daß sie gedacht haben: Geist muß tätig, Geist muß bildhaft, offenbar werden in der Materie, dadurch ist von Götterseite her die Welt zustande gekommen. Und wenn der Mensch beachtet, daß es das beste menschliche Leben auf allen Gebieten für ihn ist, wenn er sich nach den Göttern richtet, dann muß er eine Erziehung wählen, welche nicht den Menschen zu einem weltfremden Wesen macht, sondern zu einem solchen seelisch-geistigen Wesen, durch welches Seele und Geist auch durch das ganze Leben sich in das Körperliche hineintragen können. Der ist auch kein guter Denker, der immerfort seinen Körper abwerfen muß, wenn er sich dem Denken hingeben will.

So bezieht sich dasjenige, was wir in gesunder Art durch die künstlerische Grundlage und das Herausarbeiten des Intellektuellen aus der künstlerischen Grundlage tun können, auf das Wachleben des Menschen. Alles dasjenige, was wir in bezug auf die eigentliche Körperpflege beim Kinde tun können, hat eine gewisse Beziehung zum Schlafesleben. Und immer muß die Frage gestellt werden, wenn man wissen will, wie die gesunde Körperpflege und Körperübung sein soll: wie wirkt das körperliche Üben, die körperliche Tätigkeit auf das Schlafesleben?

Die körperliche Tätigkeit des Menschen geht seelisch-geistig aus dem Willen hervor, ist ein Ausströmen des Willensimpulses in den Bewegungsorganismus des Menschen. Auch wenn der Mensch nur geistig tätig ist, ist das doch eine Willenstätigkeit, die übergeht in die Bewegungsglieder. Wenn wir irgendwo in einem Büro sitzen und ausdenken die Willensentschlüsse, die dann andere ausführen, so ist es doch das Einströmen unserer Willensimpulse in unsere Glieder, das wir nur zurückhalten. Wir halten uns still; aber dasjenige, was wir auch still, ruhig befehlen, ist ein Hereinströmen des Willens in unsere Glieder.

So muß erkannt werden, was das Wichtigste ist beim Entfalten des Willens durch die körperliche Tätigkeit, damit diese Willensentfaltung in der richtigen Weise auf das Schlafesleben wirkt.

Dabei kommt folgendes in Betracht: Alles dasjenige, was durch den Willen vom Menschen in Tätigkeit übersetzt wird, bildet eine Art von Verbrennungsprozeß im Organismus. Wenn ich denke, befestige ich den Organismus, lagere ich feste Produkte in ihm ab. Wenn ich will, verbrenne ich etwas in meinem Organismus. Nur muß man sich die Verbrennung, die da im Inneren vor sich geht, nicht so vorstellen, wie man sich die Verbrennung äußerlich oder auch in der Chemie oder in der Physik vorstellt. Wenn eine Kerze verbrennt, so ist das ein äußerlicher Verbrennungsprozeß. Allein dasjenige, was man im Inneren des Menschen Verbrennen nennt, das sehen nur die materialistisch Denkenden in gleicher Art an wie einen Kerzen Verbrennungsprozeß. Geradeso wie der äußere Naturprozeß im ganzen Menschen vom Geiste ergriffen ist, seelisch durchsetzt ist, wie also die Stoffe, die äußerlich in der Natur wirken, in ganz anderer Weise tätig sind im Menschen — schon in der Pflanze sind sie das —, so ist auch der Verbrennungsprozeß im Menschen selbstverständlich etwas ganz anderes als der äußerlich beobachtete Kerzen Verbrennungsprozeß. Aber es ist eine Art Verbrennungsprozeß, der immer sich einstellt im Organismus, wenn wir wollen, wenn das Wollen auch in der Ruhe des Menschen zum Vorschein kommt. Dadurch aber, daß wir diesen Verbrennungsprozeß erzeugen, bewirken wir in unserem Organismus etwas, was nur der Schlaf wiederum gutmachen kann. Wir würden gewissermaßen als Organismus ganz verbrennen, wenn nicht der Schlaf jederzeit wiederum den Verbrennungsprozeß — nicht im Sinne der groben Naturwissenschaft, sondern intim — fein abdämpfen würde bis dahin, bis zu dem er abgedämpft werden muß. Der Schlaf gleicht diesen inneren Verbrennungsprozeß aus. Er gleicht ihn namentlich dadurch aus, daß er ihn in den ganzen Organismus überführt, während sonst nur die Verbrennung über die Bewegungsorgane verbreitet ist.

Nun können wir in zwiefacher Weise unsere Körperbewegungen ausführen. Sehen wir darauf hin, wie oftmals gerade beim Kinde die Veranlassung gegeben wird zur Körperbewegung. Man bildet sich ein — die materialistische Zivilisation bildet sich ja alles ein, obwohl sie glaubt, mit Tatsachen zu rechnen —, das Kind müsse, weil es nur dadurch ein zivilisierter Mensch wird, diese oder jene Bewegung im Spiel, in der Gymnastik und so weiter ausführen. Es gefallen einem ja in der Regel am besten diejenigen Bewegungen, an die sich auch die Erwachsenen gewöhnt haben, und da man das Ideal hat, daß das Kind eben auch so werden muß, wie man selbst ist als Erwachsener, daß es eben geradeso einmal seine Gymnastik treiben muß, wie man sie treibt als Erwachsener, so bringt man dem Kinde zwangsmäßig dasjenige spielartig bei, was man als Erwachsener für das Richtige hält. Das heißt, man hat eine gewisse Vorstellung: das gehöre sich für einen ordentlichen, anständigen Menschen, dazu müsse man das Kind nun auch veranlassen.

Da bringt man durch einen äußerlichen Zwang aus der Überlegung, aus dem Abstrakten, wenn die Sache auch noch so materiell ist, das Materielle aus dem Abstrakten an das Kind heran, man sagt ihm: du mußt diese, du mußt jene Bewegung machen. Man richtet schon das ganze Gerätwesen so ein, daß das Kind diese oder jene Bewegung machen muß, und es geht an die Bewegung des Körpers um dieser Bewegung willen. Allein das erzeugt Verbrennungsprozesse, in denen sich der menschliche Organismus nicht mehr auskennt. Er kann sie nicht mehr rückgängig machen. Und ein solches äußerliches Heranbringen der Körperpflege, der Körperübungen, bewirkt einen unruhigen Schlaf.

Wiederum tritt es nicht so grob hervor, daß es die äußere Medizin bestätigen kann; aber im intimen, feinen Geschehen des menschlichen Organismus spielt sich das ab. Bringen wir in äußerer Weise, rein konventionell, die körperlichen Übungen an die Kinder heran, so bekommen die Kinder nicht jenen tiefen, vollen Schlaf, den sie haben müssen, und sie können sich dann auch aus dem Schlafe nicht die Regeneration des Organismus herausholen, die notwendig ist.

Erziehen wir das Kind künstlerisch, bringen wir all dasjenige, was die Schule heranzubringen hat, künstlerisch an das Kind heran, so entsteht, geradeso wie ich auf der einen Seite sagen konnte, daß das künstlerische Leben zu reich ist und deshalb sich nach der Verarmung sehnt, die im Intellektuellen ist, so daß das Intellektuelle aus dem Künstlerischen elementar hervorgeholt wird, so entsteht auf der anderen Seite, wenn das Kind sich künstlerisch betätigt, und weil im künstlerischen Betätigen der ganze Mensch in Aktion ist, ein gewisser Hunger nach Körpertätigkeit. Bei nichts entsteht der Hunger nach Körpertätigkeit mehr als bei künstlerischer Übung. Ist das Kind ein paar Stunden, die man sorgfältig ihrer Länge nach abwägen muß, schulmäßig künstlerisch beschäftigt worden, dann regt sich etwas im Organismus, das ganz bestimmte Körperübungen vollführen will. Der Mensch will sich ausleben in diesen Körperbewegungen. Das Künstlerische erzeugt den Hunger nach den richtigen Körperbewegungen.

Und so muß man allmählich übergehen lassen dasjenige, was nur mit den Händen ausgeführt wird im Malen und Zeichnen, was ausgeführt wird mit der Stimme im Gesang oder auch — schon möglichst früh soll man das tun — von dem Kinde am Instrumente, was also gewissermaßen unmittelbar am Körper und durch den Körper sich abspielt, das muß man allmählich übergehen lassen, ausströmen, auslaufen lassen in Raumesbewegungen, in Raumesspiel: es soll eine Fortsetzung desjenigen sein, was der Mensch innerhalb seines Organismus unternimmt in der künstlerischen Unterweisung. Dann wird die Körperpflege aus dem schulmäßigen Unterricht herausgeholt, sie steht mit ihm in innigstem Einklang.

Und wenn das Kind an Körperpflege, an Körperübung nichts anderes vornimmt als dasjenige, wonach es aus seiner künstlerischen Betätigung Hunger hat, dann entsteht derjenige Schlaf, den gerade das Kind notwendig hat. Kann man daher sorgen für ein richtiges Wachleben, indem man das Intellektualistische aus dem Künstlerischen hervorholt, so kann man für ein richtiges Schlafleben, in dem sich alle Verbrennungsprozesse im Organismus harmonisieren, dadurch sorgen, daß man auch die Körperübungen ganz aus dem Künstlerischen hervorholt. Daher ist nichts notwendiger für ein richtiges Erziehen gerade in körperlicher Beziehung als das Drinnenstehen des Lehrers im Künstlerischen. Je mehr der Lehrer Freude hat an allem Künstlerischen der Form, je mehr der Lehrer inneres Wohlgefallen hat an allem Künstlerischen des Musikalischen, je mehr der Lehrer Sehnsucht danach hat, das abstrakt-prosaische Wort in den Rhythmus der Dichtung überzuführen, je mehr Plastisch-Musisches in ihm selber steckt, desto mehr wird er dasjenige, was er das Kind vollbringen läßt im Räume als Spiele, als Körperübungen, so einrichten, daß sie ein künstlerisches Ausleben des Kindes sind.

Heute, in unserer Zivilisation, möchte man ja alles Geistige so furchtbar bequem haben. Man möchte sich ja in bezug auf die geistigen Ideale nicht zu stark anstrengen. Ich habe schon im vorletzten Vortrage gesagt: die Menschen geben alle zu, daß sie schlecht erzogen worden sind, aber sie geben auch alle zu, daß sie unbedingt von selbst das Richtige wissen über die richtige Erziehung, also sagen können, wie man besser erzieht. Und so ist es auch heute geworden, daß man keine große Neigung dazu hat, über diese feinen Prozesse im menschlichen Organismus nachzusinnen: wie geht aus der künstlerischen Betätigung die Gymnastik in künstlerischer Weise hervor? Was fordert die menschliche Organisation für die äußere Bewegung im Räume? Man hat keine große Neigung dazu, und wenig künstlerischer Sinn durchdringt dieses. Man schlägt lieber ein Buch auf — das ist ja überhaupt die wichtigste Beschäftigung des heutigen geistigen Menschen, daß er Bücher aufschlägt —, man schlägt viel lieber ein Buch auf und sieht nach, wie es die Griechen gemacht haben. Erneuerung der Olympischen Spiele in einer ganz äußerlichen Weise, das ist Schlagwort geworden. Und man studiert die Olympischen Spiele nicht an den Forderungen des menschlichen Organismus, wie das bei den Griechen der Fall war, sondern man studiert sie aus dem Buche oder aus demjenigen, was eben durch Dokumente, durch Äußeres überliefert worden ist.

Man kann aber nicht, weil die heutigen Menschen keine Griechen mehr sind, vom griechischen Leben die richtigen Olympischen Spiele ablesen. Denn dringt man mit voller Geistigkeit in den Sinn des Griechentums ein, dann sagt man sich: Die Kinder wurden gymnastisch unterwiesen, wie ich das geschildert habe, im Tanz, im Ringen. Woher aber war das alles bei dem Griechen gelernt? — Es war gerade von den Olympischen Spielen gelernt, die nicht bloß einen artistischen, künstlerischen Charakter hatten, die sogar einen religiösen Charakter hatten, die unmittelbar aus der Zivilisation des Griechentums in künstlerisch-religiöser Weise hervorgingen. Weil die Griechen mit diesem hingebungsvollen künstlerisch-religiösen Sinne in ihren Olympischen Spielen lebten, deshalb konnten sie aus einem unmittelbar pädagogischen Instinkt heraus dasjenige, was da künstlerisch vorhanden war, auch übertragen auf die körperliche Pflege, auf die Gymnastik des kindlichen Alters.

Abstrakt, prosaisch, unkünstlerisch die Körperpflege, die Gymnastik ausbilden, ist wider alle Didaktik, weil es wider die eigentliche Entwickelung des Menschen ist. Und so sollte man heute viel mehr, als daß man, ich möchte sagen, aus dem Buche eine Art Renaissance der Olympischen Spiele anstellt, sich fragen: Wie begreift man das Innerliche des Menschen? — Und da kann man dann finden, daß unorganische, das heißt, nicht aus der Menschennatur hervorgeholte Körper-Übungen den Menschen zu stark verbrennen. So daß er durch solche Übungen, wenn sie in der Kindheit gepflogen werden, später eine zu geringe Festigkeit in den Muskeln hat, daß die Muskeln nicht folgen seiner Seele, seinem Geist.

Zu einer falschen intellektualistischen Erziehung für das Wachen, die den Körper innerlich verfestigt und die bewirkt, daß wir in unseren Knochen eine Last tragen, statt sie mit unserer Seele in schwungvoller Weise zu bewegen, kommt das andere, daß nun die weichen Glieder zu stark zur Verbrennung geneigt sind. Und so sind wir allmählich ein Luftikus um einen Holzorganismus herum geworden, ein Mensch, der auf der einen Seite gefesselt ist durch die Last desjenigen, was in ihm an Salzen sich bildet, und der auf der anderen Seite seinem physischen Organismus durch einen falschen Verbrennungsprozeß eigentlich immer davonlaufen, eigentlich davonfliegen möchte.

Damit wir wiederum dasjenige, was Verbrennung ist, mit der Salzbildung in das richtige Verhältnis bringen, dazu ist eben eine intime Kenntnis des Menschen notwendig. Dann werden wir dasjenige, was als Verfestigung entsteht, indem wir das Künstlerische zum Intellektualistischen hinüberleiten, in der richtigen Weise wie durch eine Waage ausgleichen durch den richtigen Verbrennungsprozeß, der ins Schlafesleben hineinwirkt und beim Kinde nicht einen unruhigen, innerlich zappeligen Schlaf erzeugt, wie ihn heute zumeist die Körperübungen bewirken, sondern einen innerlich festen, sicheren, ruhigen Schlaf. Diejenigen Kinder, die zwangsmäßig in die Körperpflege hineingeführt werden, die zappeln seelisch während des Schlafes, und das Zappeln während des Schlafes bewirkt, daß sie am Morgen in ihren Organismus mit der Seele zurückkommen, indem sie diesen Organismus beunruhigen, ihn zu falschen Verbrennungsprozessen veranlassen.

Sie sehen aus alledem, daß das Wesentliche überall ist: tiefe Menschenerkenntnis, Erweiterung aus Menschenerkenntnis heraus. Wenn uns der Mensch in diesem Erdendasein das wertvollste Geschöpf der Götter ist, dann müssen wir vor allen Dingen fragen: Was haben die Götter in dem Menschen vor uns hingestellt? Wie haben wir dasjenige, was sie uns überlassen haben, hier auf Erden an dem Menschen zu entwickeln?

Wenn bis zum siebenten Jahre hin der Mensch vor allem ein nachahmendes Wesen ist, so wird er mit dem siebenten Jahre, mit dem Zahnwechsel, ein Wesen, das vor allen Dingen sein eigenes Inneres bilden will nach dem, was im weitesten Umfange ausgesprochen, geoffenbart wird von einer selbstverständlichen Autorität.

Glauben Sie nicht, meine sehr verehrten Anwesenden, daß ich, der ich vor sehr langer Zeit die «Philosophie der Freiheit» geschrieben habe, nun eintreten möchte in einer unberechtigten Weise für das Autoritätsprinzip, für die ausschließliche, absolute Geltung des Autoritätsprinzips im sozialen Leben. Aber dasjenige, was im Menschenleben sich offenbart, ist — wenn auch auf geistige Weise unter dem Impuls der Freiheit — geradeso gesetzmäßig orientiert wie das Naturgesetzleben, und so können wir nicht danach entscheiden, was uns für die Kindererziehung vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife sympathisch oder unsympathisch ist, sondern wir müssen danach entscheiden, was die menschliche Organisation will. Und ebenso wie die menschliche Organisation bis zum Zahnwechsel, also bis zum siebenten Jahre, daraufhin veranlagt ist, in jeder Gebärde, in jeder Haltung, ja in der inneren Durchpulsierung der Blutzirkulation, der Atmung und der Gefäße das nachzuahmen, was die Umgebung tut, wie also die Umgebung Vorbild ist für das Kind bis zum siebenten Jahre, so muß der Mensch, damit er sich gesund und frei entwickeln kann, damit er später gerade die Freiheit in der richtigen Weise gebrauchen kann, vom siebenten bis zum vierzehnten, fünfzehnten Jahre, bis zur Geschlechtsreife, die Freiheit unter der selbstverständlichen Autorität entwickeln.

Wir werden erst im vierzehnten, fünfzehnten Jahre reif zu einem persönlichen Urteil. Erst im vierzehnten, fünfzehnten Jahre kommt der Mensch so weit, daß der Lehrer auf ihn wirken kann, indem er an das Urteil appelliert. Dann kann er auch vom Denken aus die Gründe entwickeln für irgendeine Sache. Aber vorher schaden wir dem Menschen, halten seine ganze menschliche Entwickelung zurück, wenn wir mit Gründen an ihn herantreten. Es ist die größte Wohltat für das ganze spätere Leben, wenn wir in der Lage sind, zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre, approximativ natürlich, eine Wahrheit deshalb anzunehmen, nicht weil wir schon die Gründe einsehen — dazu ist unser Intellekt noch nicht reif —, sondern weil die verehrte Lehrerautorität dieses nach unserer kindlichen Empfindung für die Wahrheit hält. Und wir entwickeln in richtiger Weise die Empfindung für die Schönheit, wenn wir als schön dasjenige empfinden und fühlen, was die verehrte Lehrerautorität, die selbstverständliche, nicht zwangsweise verehrte Lehrerautorität, als schön uns offenbart. Und wir empfinden das Gute dann in der richtigen Weise, so daß es Lebensweg wird für das spätere Alter, wenn wir nicht auseinandergesetzt bekommen: Dies ist ein Gebot, dies ist ein Gesetz, du sollst es halten, du sollst dich danach richten —, sondern wenn wir aus den warmherzigen Worten des Lehrers heraus erleben, wie er selbst Sympathie mit dieser guten Handlung, Antipathie mit jener bösen Handlung hat, wenn er uns durch sein Wort so erwärmen kann für das Gute, so erkalten kann für das Böse, daß wir die Richtung zum Guten hin aufnehmen wiederum, weil die verehrte Lehrerautorität dies uns durch ihr eigenes Gefühl vorlebt.

Und so wachsen wir nicht auf in einem Dogmatismus, sondern in einer hingebenden Liebe für dasjenige, was der verehrten Lehrerautorität wahr, schön und gut ist. Haben wir durch das schulmäßige Alter hindurch als den Maßstab für die Wahrheit, Schönheit, Güte dasjenige ansehen gelernt, was der geliebte Lehrer für wahr, schön, gut hält, wovon er als wahr, schön, gut in anschaulichen künstlerischen Bildern zu sprechen weiß, dann ist in einer genügend tiefen Art mit unserem Menschenwesen verbunden der Impuls für das Wahre, Schöne, Gute. Denn nicht der Intellekt bildet das Gute aus. Und ein Mensch, der nur immer dogmatisch gehört hat: Das sollst du tun, das sollst du nicht tun —, der trägt den Sinn für das Gute nur als einen kalten, nüchternen Sinn in sich. Derjenige Mensch, der im kindlichen Alter im Gefühl sympathisieren gelernt hat mit dem Guten, antipathisieren gelernt hat gegenüber dem Bösen, und der aus dem Gefühl heraus den Enthusiasmus für das Gute, die Fliehekraft für das Böse erhalten hat, bei dem ist in dem ganzen rhythmischen Organismus der Sinn für das Gute, der Nichtsinn für das Böse eingezogen. Er fühlt später, wie er förmlich unter dem Einfluß des Bösen nicht atmen kann, wie es ihm den Atem verschlägt, wie sein rhythmisches System in Unordnung kommt.

Das alles erreichen wir, wenn an der Stelle des Imitations —, des Nachahmungsprinzips, das bis zum Zahnwechsel herrschend sein muß in der ganzen Kindererziehung, das Prinzip der selbstverständlichen Autorität auftritt mit dem siebenten Lebensjahre, mit dem schulmäßigen Alter. Das darf nicht auf eine zwangsmäßige Weise auftreten, und deshalb war jene Erziehung so falsch, welche die Autorität durch Prügel erzielen wollte.

Ich bitte um Verzeihung, daß ich gestern in einer, wie ich gehört habe, nicht ganz vollrichtigen Weise über die Prügelstrafe gesprochen habe, indem meine Worte, wie es scheint, so aufgefaßt worden waren, als ob ich meinte, daß überall die Prügelstrafe schon abgeschafft worden wäre. Ich sagte nur, die Humanität, die humanitären Beziehungen in der Zivilisation wollen die Prügelstrafe abschaffen. Es ist mir nämlich mitgeteilt worden, daß in England die Prügelstrafe noch voll in Blüte sei, und ich mit meinen Worten nicht ganz das Richtige getroffen habe. Aber die Sache ist so, daß, wenn wir richtig erziehen wollen, wir durchaus nicht zwangsmäßig die Autorität heranbilden sollen, namentlich nicht durch Strafen, sondern auf eine selbstverständliche Weise durch dasjenige, was wir sind. Und wir sind mit Geist, Seele, Körper der richtige Lehrer, wenn wir richtige Menschenbeobachtung aus Menschenkenntnis heraus entwickeln können. Richtige Menschenbeobachtung sieht in dem werdenden Menschen ein Göttergeschöpf. Es gibt im ganzen weiten Weltenall in der Tat nichts Größeres, als zu sehen, wie bei dem Kinde von der Geburt an aus dem unbestimmten Körperlichen immer mehr und mehr das Bestimmte sich ergibt, wie die unbestimmten Bewegungen, die Zappelbewegungen, die Willkürbewegungen sich umgestalten in solche Bewegungen, die vom Seelischen beherrscht werden, wie da das Innere nach außen sich immer mehr und mehr offenbart, wie da das Geistige im Körperlichen immer mehr und mehr an die Oberfläche kommt. Dieses vom Göttlichen auf die Erde heruntergeschickte Menschenwesen, das wir in dem Körper sich offenbaren fühlen, das ist es, was uns wie eine göttliche Offenbarung selber erscheinen kann. Die größte göttliche Offenbarung ist der sich entwickelnde Mensch. Lernt man diesen sich entwickelnden Menschen nicht bloß äußerlich anatomisch-physiologisch kennen, lernt man erkennen, wie in den Körper Seele und Geist hineinschießen, hineinströmen, dann verwandelt sich jede Menschenerkenntnis in Religion, in fromme, scheue Ehrfurcht vor demjenigen, was aus den göttlichen Tiefen in die weltlichen Oberflächen hineinströmt. Dann bekommen wir dasjenige, was uns als Lehrer trägt und hält, und was das Kind schon fühlt, was sich beim Kinde in die Hingabe, in die selbstverständliche Autorität wandelt. Wir sollten uns als Lehrer, statt den Stock in die Hand zu nehmen — auch nicht den innerlichen Stock, wie ich gestern auseinandersetzte, der innerlich peitscht —, statt mit dem Stock uns zu bewaffnen, uns vielmehr bewaffnen mit wahrer Menschenerkenntnis, wahrer Menschenbeobachtung, die in sittlich-religiös inneres Erleben, in sittlich-religiöse Ehrfurcht vor der Gottesschöpfung übergeht.

Dann stehen wir in der richtigen Weise in der Schule drinnen und wissen auch — was für alle Erziehung ganz unerläßlich ist — gewisse Momente im menschlichen Leben zu beobachten, wo der Mensch an einem Umschwung, an einer Metamorphose seines ganzen Lebens steht. Ein solcher Umschwung ist zum Beispiel die Zeit zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre. Bei dem einen Kinde tritt es früher, bei dem anderen etwas später ein, in der Regel zwischen dem neunten und zehnten Jahre.

Man geht, wenn man Materialist ist, über die Dinge leicht hinweg. Hat man den Sinn für wirkliche Menschenbeobachtung, dann sieht man, wie in diesem Lebensalter zwischen dem neunten und zehnten Jahre bei jedem Kinde etwas Merkwürdiges auftritt. Das Kind wird äußerlich etwas unruhig. Es kommt nicht zurecht mit der äußeren Welt. Es fühlt etwas, wie wenn es scheu werden müßte. Es zieht sich etwas zurück von der äußeren Welt. Das alles geschieht in intimer, feiner Weise bei fast jedem Kinde. Das Kind, bei dem es nicht geschieht, ist nicht normal. Das müssen wir beobachten; denn da entsteht gefühlsmäßig in dem Kinde eine außerordentlich wichtige Frage zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahr. Das Kind könnte diese Frage nicht in Begriffe verwandeln, es könnte diese Frage nicht mit Worten ausdrücken. Alles ist Gefühl; aber das Gefühl ist um so stärker da, das Gefühl will um so intensiver berücksichtigt werden. Was will das Kind in diesem Lebensalter? Es hat bis dahin aus einer naturhaften Kraft heraus den Erzieher, den Lehrer verehrt. Jetzt fühlt es: der Lehrer muß ihm durch etwas Besonderes zeigen, daß er verehrungswürdig ist. Das Kind wird unsicher, und wir haben nötig gerade als Lehrer in dem Punkte, wo wir bemerken, daß das auftritt, durch unser Verhalten darauf einzugehen. Durch irgend etwas, es braucht gar nicht etwas Ausgedachtes zu sein, sondern durch eine besondere Liebeentfaltung unserer Tätigkeit, durch eine besondere Berücksichtigung und Zuspräche zum Kinde, dadurch, daß wir in diesem Momente in einer ganz besonderen Weise an das Kind herantreten, daß das Kind merkt, der Lehrer hat es ganz besonders lieb, der Lehrer geht auf es ein, dadurch bringen wir das Kind gerade zwischen dem neunten und zehnten Jahre, wenn wir nur überhaupt aufmerksam darauf sind und uns dementsprechend verhalten, über eine Klippe hinweg. Und daß wir es darüber hinwegbringen, ist von einer ungeheuren Wichtigkeit für das ganze spätere Leben. Denn dasjenige, was da an Unsicherheit zurückbleibt in dem Kinde, das tritt als Unsicherheit im ganzen späteren Leben auf, nur ohne daß es der Mensch bemerkt; nur dadurch, daß es in seinem Charakter, in seinem Temperament, in seiner körperlich-physischen Gesundheit sich abdrückt, kommt es zum Vorschein.

Überall müssen wir eben wissen, wie der Geist in das Materielle und damit in das Gesundheitliche hineinwirkt, und wie der Geist gepflegt werden muß, damit er in der richtigen Weise in das Gesundheitliche hineingreifen kann. Gerade die Erziehungskunst zeigt uns, wie sehr wir den Geist und das Materielle nicht als Gegensätze, sondern als in Harmonie befindlich durchschauen müssen. Wir müssen erkennen, was wir da der Erziehung schuldig sind gegenüber der modernen Zivilisation, die alles getrennt hat. Wir haben heute einen Materialismus. In dem lebt man, wenn man an die Natur denkt. Und wenn man dann nicht zufrieden ist mit demjenigen, was die Naturerkenntnisse bieten, dann ersinnt man sich einen Spiritualismus, dann sucht man durch alle möglichen Dinge, die eigentlich der Naturwissenschaft widersprechen, zu den Geistern zu kommen. Darinnen liegt eine Tragik unserer Zivilisation.

Der Materialismus ist dazu gekommen, alles zu intellektualisieren. Der Materialismus versteht nur noch die Begriffe, die er sich über die Materie macht. Er dringt nicht in die Materie hinein. Und der Spiritualismus von heute? Der möchte die Geister angreifen können, möglichst greiflich sie haben; durch Tische, durch Manifestationen sollen die Geister sich in ihrer materiellen Glorie zeigen. Sie sollen nicht Geister bleiben, die das Merkmal der Unsichtbarkeit, der Ungreifbarkeit haben, weil der Mensch zu bequem ist, zu ihnen vorzudringen.

Dadurch ist der Mensch heute in eine merkwürdige Tragik hineingekommen. Der Materialismus redet nur noch von der Materie, nicht mehr vom Geiste, denn der Materialismus versteht nichts von der Materie. Er redet nur in destillierten Geistworten von der Materie. Der Spiritualismus redet eigentlich immer vom Materiellen, indem er glaubt, vom Geiste zu reden. Und so haben wir die eigentümliche Erscheinung, daß unsere Zivilisation gespalten ist in Materialismus und Spiritualismus. Der Materialismus versteht nichts von der Materie, der Spiritualismus versteht nichts vom Geiste. Und so haben wir die merkwürdige Erscheinung, daß zerfallen ist der ganze Mensch in Körperliches, in Geistiges. Die Erziehung aber braucht die Harmonisierung beider. Das kann nicht oft genug betont werden. Darauf muß alle Erziehung abzielen, daß man im Materiellen wieder etwas vom Geiste versteht, daß man vom Spirituellen aus verständnisvoll die materielle Welt ergreift. Versteht man die materielle Welt richtig zu ergreifen, so findet man den Geist; versteht man im Spirituellen etwas vom Geiste, so findet man nicht eine materielle Spiritualität, sondern eine wirkliche geistige Welt.

Das brauchen wir: wirkliche geistige Welt, verständnisvoll ergriffene materielle Welt, wenn wir in richtiger Weise die Menschheit nicht zu einem Niedergang, sondern zu einem Aufstieg erziehen wollen.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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