ELFTER VORTRAG
Ilkley, 15. August 1923
Man
kann, wie ich glaube, gerade an der Charakteristik, die ich vom
naturkundlichen, dem pflanzenkundlichen und dem tierkundlichen
Unterricht gegeben habe, durchaus bemerken, wie durch das
Waldorfschul-Prinzip versucht wird, den Lehrgang, den Lehrplan
ganz den Entwickelungsprinzipien, den Entwickelungskraften des
Kindes nach den verschiedenen Lebensaltern anzupassen.
Wir
müssen uns darüber klar sein, daß das Kind
zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre eben jenen
wichtigen Lebensübergang durchmacht, den ich von
verschiedenen Seiten aus charakterisiert habe. Heute
möchte ich noch insbesondere bemerken, daß in diesem
Lebensalter zwischen dem neunten und zehnten Jahre das Kind
eigentlich erst anfängt, sich von der Welt zu
unterscheiden, daß es also vorher eigentlich in
seinen Vorstellungen, in seinen Empfindungen keinen Unterschied
macht zwischen den Dingen der Welt und sich selbst. Daher
ist es eben nötig, über die Dinge der Welt, über
Pflanzen, Tiere, über Berge und Flüsse bis zum
neunten Jahre so zu sprechen, daß dieses Sprechen
märchenhaft ist, daß es vorzugsweise die Phantasie
anspricht; daß Pflanzen, Berge, Quellen reden, so
daß dieselbe Wesensart, die das Kind in sich selber
erst weiß, ihm gewissermaßen auch aus der
äußeren Welt entgegentönt.
Wenn Sie dann hinblicken auf die Art und Weise, wie man nach
diesem Lebenspunkte zu Pflanzenkunde und zu Tierkunde
übergehen soll, so werden Sie sehen, daß es sich
gerade bei dieser Art, das Pflanzenreich, das Tierreich
zu betrachten, darum handelt, das Kind da richtig
einzuführen, um es in ein entsprechendes Verhältnis
zu den Dingen der Welt zu bringen.
Die
Pflanze lernt das Kind kennen im Verhältnis zur Erde: so
treten dem Kinde durchaus die Pflanzen entgegen. Die Erde wird
ein lebendes Wesen, das aus sich die Pflanzen heraustreibt
— nur lebendiger, nur gestaltenreicher —, wie
das menschliche Haupt durch ein vitales Prinzip die Haare aus
sich heraustreibt.
Dadurch ist von vornherein das Kind in dasjenige
Verhältnis zur Pflanzenwelt und zur ganzen Erde gesetzt,
das sein Inneres, sein Seelen- und auch sein
Sinnesleibesleben fördert.
Und
wenn wir dann den tierkundlichen Unterricht so geben, daß
wir gewissermaßen im Menschen die Zusammenfassung der
fächerartig über die Erde ausgebreiteten Tiere sehen,
dann setzt sich der Mensch in das richtige Verhältnis zu
den anderen, unter ihm stehenden Lebewesen.
Indem wir so den naturkundlichen Unterricht treiben bis zu
einem Lebenspunkt, der zwischen dem elften und zwölften
Lebensjahre liegt, haben wir es dabei durchaus damit zu tun,
daß wir immer das Verhältnis des Menschen zur
Welt ins Auge fassen.
Nun
kommt dasjenige Lebensalter, bei dem eigentlich das Kind erst
das betrachten darf, was in der Welt draußen geschieht,
ohne daß es mit dem Menschen etwas zu tun hat. Daher
beginnt erst zwischen dem elften und zwölften Jahre die
Möglichkeit, das Mineralische, das
Gesteinsmäßige im Unterricht zu lehren. Wer
vorher das Gesteinsmäßige, das Mineralische anders
dem Kinde beibringt, als insofern es sich anlehnt an das
Pflanzliche, das aus der Erde, also aus dem Gestein
herauswächst, der verdirbt ganz und gar die innere
Beweglichkeit des kindlichen Seelenlebens. Was kein
Verhältnis zum Menschen hat, das ist mineralisch. Mit dem
sollen wir erst beginnen, nachdem das Kind selber sich in die
Welt dadurch ordentlich eingelebt hat, daß es
dasjenige, was ihm nähersteht, das Pflanzliche und
das Tierische, in sein Vorstellen und namentlich in sein
Fühlen und auch durch die Tierkünde in sein
Wollen aufgenommen hat.
Und
dasselbe, was vom Mineralischen gilt, gilt von den Begriffen
des Physikalischen und gilt von den Begriffen des Chemischen,
und es gilt auch für die sogenannten objektiven
Zusammenhänge in der Geschichte und in der
Geographie, für alle diejenigen Zusammenhänge, die
abgesondert vom Menschen betrachtet werden müssen. Die
großen historischen Zusammenhänge, die nicht so
betrachtet werden können, wie ich das gestern in bezug auf
den Menschen charakterisiert habe, die müssen verschoben
werden im Unterricht bis in die Zeit zwischen dem elften und
zwölften Lebensjahre. Erst nachher kann mit dem
begönnen werden, was den Menschen zunächst
eigentlich wenig angeht.
Wir
sollten das Kind erst mit dem siebenten Lebensjahre, mit dem
Zahnwechsel, in die Schule bekommen, vorher gehört das
Kind eigentlich nicht in die Schule. Müssen wir es vorher
hereinnehmen, so müssen wir natürlich allerlei
Kompromisse schließen. Aber ich will hier das Prinzipielle
erklären. Wenn wir das Kind in die Schule
hereinbekommen, dann erteilen wir den Unterricht so,
daß das Kind noch nicht die Unterscheidungen macht
zwischen sich und der Welt. Wenn das Kind das charakterisierte
Lebensalter zwischen dem neunten und zehnten Jahr
erreicht, führen wir es zu demjenigen, was zum Verstand,
aber zum beweglichen, zum lebendigen Verstand gehört:
Pflanzenkünde; was zur Stärkung des Willens
führt: Tierkunde. Mit dem eigentlichen mineralischen
Unterricht, mit dem Unterricht in Physik und Chemie können
wir nur auf den Intellekt wirken. Wir brauchen dann, wie ich
noch morgen zu erörtern haben werde, zum Ausgleich den
Kunstunterricht. Aber wir finden das Kind vom elften oder
zwölften Lebensjahr ab reif dazu, dasjenige durch
den Intellekt aufzufassen, was erarbeitet werden muß nach
den Zusammenhängen von Ursache und Wirkung. Und das
muß ja in Physik und Chemie geschehen. Diese Prozesse, die
dann auch in astronomische Betrachtungen übergehen
müssen, dürfen also nicht früher mit dem Kinde
begonnen werden. Wenn wir vorher einfache physikalische
Prozesse, wie zum Beispiel die Verbrennung oder chemische
Prozesse beschreiben, dann soll das eine bloße bildhafte
Beschreibung sein, dann soll das imaginative Element
darinnen eine besondere Rolle spielen, nicht der
Gedankenzusammenhang von Ursache und Wirkung.
Ursache und Wirkung in ihrer Beziehung soll das Kind im Grunde
genommen erst kennenlernen von einem Zeitpunkte an, der
zwischen dem elften und zwölften Jahre liegt. Und je
weniger man über die sogenannte Kausalität vorher zu
dem Kinde spricht, desto besser ist es, desto stärker,
desto kräftiger und auch desto inniger wird der Mensch in
bezug auf seine Seele, während er vertrocknet in bezug auf
seine Seele, tote Begriffe und sogar tote Gefühle in sich
aufnimmt, wenn wir mit der Kausalität vor diesem
Lebensalter an den Menschen herankommen.
Nun
haben wir auf der einen Seite im Waldorfschul-Prinzip
durchaus das Ziel, aus dem Menschen heraus den Lehrplan
selbst zu schaffen. Sie sehen, wir beachten genau die
Lebensepochen, setzen dasjenige in den Klassenunterricht
für irgendein Lebensalter, was sich vom Menschen selber
ablesen läßt. Auf der anderen Seite haben wir aber
auch gar sehr das Ziel, daß der Mensch durch die Schulzeit
in der rechten Weise in das soziale Leben hineingesetzt wird,
daß er überhaupt in der richtigen Weise in die Welt
hineinversetzt werde. Das erreicht man dadurch, daß man
nun, wenn das Kind das vierzehnte, fünfzehnte
Lebensjahr erreicht, gerade diesen physikalischen, den
chemischen Unterricht in einen praktischen Unterricht
überführt.
Daher haben wir in den Lehrplan unserer Waldorfschule für
diese Lebensjahre solche Dinge aufgenommen, die durchaus den
Menschen verständnisvoll in das praktische Leben
hineinstellen: Spinnerei, Weberei, mit der Erlernung der
entsprechenden Handgriffe. Der Schüler soll wissen, wie
gesponnen wird, auch fabrikmäßig gesponnen wird, wie
gewebt wird. Er soll die Anfangsgründe auch der chemischen
Technologie kennenlernen, Farbenbereitung und dergleichen.
Er
soll ferner durchaus einen praktischen Begriff bekommen von
dem, was uns fortwährend im Leben umgibt und das heute
noch für viele Menschen, weil die Schule nicht die
Möglichkeit findet, im rechten Momente überzugehen
von dem Menschlichen zu dem Lebensmäßigen und
Weltgemäßen, etwas ganz Unbegreifliches,
Unfaßbares ist. Für gewisse Dinge des Lebens geht das
nicht, ohne daß der Mensch Schaden leidet an seiner
ganzen seelischen Entwickelung.
Man
denke nur daran, daß ja der Mensch organisch
außerordentlich empfindlich ist, wenn, sagen wir,
irgendein Stoff in der Luft ist, den er nicht assimilieren
kann, den er nicht in sich aufnehmen kann, wenn irgend etwas,
das ihm nicht gemäß ist, in der Luft ist.
Nun, im sozialen Leben, im Leben der Welt verhält es sich
allerdings anders. Da müssen wir mancherlei Dinge
erleben, die uns vielleicht weniger gemäß sind;
aber sie werden uns gemäß, wenn wir ein
Verhältnis zu ihnen dadurch gewinnen, daß wir im
rechten Lebensalter in der richtigen Weise in sie
eingeführt werden.
Denken Sie doch, wie viele Leute heute einen
Straßenbahnwagen besteigen, ohne zu wissen, wie so etwas
in Bewegung gesetzt wird, wie der Mechanismus ist. Ja, es gibt
Menschen, die sehen jeden Tag die Eisenbahn an sich
vorbeifahren und haben keine Ahnung davon, wie der Mechanismus
einer Lokomotive ist. Das heißt aber, der Mensch steht da
in der Welt und ist umgeben von lauter Dingen, die aus
menschlichem Geiste kommen, die menschlicher Geist geschaffen
hat, aber er nimmt nicht teil an diesem menschlichen
Geiste.
Damit ist überhaupt der Anfang gemacht mit dem unsozialen
Leben, wenn wir dasjenige, was menschlicher Geist
geschaffen hat, in unserer Umgebung sein lassen, ohne ein
entsprechendes, wenigstens allgemeines Verständnis davon
zu haben.
Und
so wollen wir im Waldorfschul-Prinzip gerade um das
vierzehnte, fünfzehnte Lebensjahr herum den
Unterricht einströmen lassen in das Lehren und auch in das
Handhaben von durchaus lebenspraktischen Dingen. Und das
ist ja zu gleicher Zeit dasjenige Lebensalter, in dem der
Mensch durch die Geschlechtsreife durchgeht. Diese
Geschlechtsreife wird heute außerordentlich
einseitig betrachtet. In Wahrheit bedeutet sie, daß
der Mensch überhaupt für die Welt
aufgeschlossen wird. Während er bis dahin mehr in
sich selber lebte, wird er für die Welt aufgeschlossen,
wird veranlagt dazu, für die Dinge der Welt
Verständnis zu gewinnen, für den anderen Menschen und
für die Dinge der Welt. Daher kommen wir durchaus der
menschlichen Natur entgegen, wenn wir vorher den Blick auf
dasjenige gewendet haben, was den Menschen mit der Natur
verbindet.
Nun
beginnen wir aber ganz energisch im vierzehnten,
fünfzehnten Jahre den Schüler und die Schülerin
zu verbinden mit dem, was menschlicher Geist im weitesten
Umfange geschaffen hat. Dadurch stellen wir den Menschen
verständnisvoll in das soziale Leben hinein.
Meine sehr verehrten Anwesenden, hätte man ein solches
Schulprinzip vor vielleicht sechzig oder siebzig Jahren
ins Auge gefaßt, so hätte dasjenige, was man heute
soziale Bewegung nennt, eine ganz andere Gestalt im modernen
Europa und Amerika bekommen, als es hat. In einer ungeheuren
Weise ist die technische Befähigung der Menschheit, die
kommerzielle Befähigung der Menschheit gewachsen. Was
haben wir alles durchgemacht in den letzten sechzig bis siebzig
Jahren! Wir haben die großen technischen Fortschritte
durchgemacht, wir haben den Übergang durchgemacht vom
Volkshandel zum Welthandel, und wir haben zuletzt den
Übergang durchgemacht von Volkswirtschaft zur
Weltwirtschaft.
Die
äußeren sozialen Verhältnisse sind völlig
andere geworden, als sie vor sechzig bis siebzig Jahren waren.
Unseren Unterricht aber haben wir so geführt, als ob das
alles nicht geschehen wäre. Wir haben es immer
versäumt, gerade in dem richtigen Lebensalter, in dem
vierzehnten, fünfzehnten Jahre, die Kinder
einzuführen in die lebenspraktischen Dinge.
Wir
wollen durchaus im Waldorfschul-Prinzip nicht Banausen sein und
etwa die in vieler Beziehung ja wohltätige
Gymnasialerziehung ganz beseitigen; wir bereiten unsere
Schüler, deren Eltern dies wünschen, oder die es
selbst haben wollen, auch für die Gymnasiallaufbahn,
für die Gymnasial-Abgangsprüfung vor. Aber wir
übersehen nicht, daß unsere Zeit ein Verständnis
für die heutige Gegenwart fordert. Während die
Griechen, die mit all ihrer Bildung dem Leben dienen wollten,
ganz gewiß nicht ägyptisch gelernt haben, also etwas,
was längst der Vergangenheit angehört hat,
führen wir tatsächlich unsere Jungen — und
heute machen es die Mädchen nach — ein in eine Welt,
die gar nicht die Welt der Gegenwart ist. Kein Wunder, daß
die Menschen in der Welt der Gegenwart so wenig zu leben
verstehen.
Das
Schicksal der Welt ist den Menschen über den Kopf
gewachsen, gerade deshalb, weil der Unterricht den
Anschluß an die sozialen Umgestaltungen nicht
entwickelt hat. Wir wollen im Waldorfschul-Prinzip gerade das
befolgen, daß wir die Möglichkeit finden, den
Menschen als Menschen voll zu entwickeln, und den Menschen in
die Menschheit richtig hineinzustellen.
Vor
allen Dingen versuchen wir im Waldorfschul-Prinzip den Menschen
so auszubilden, daß er in der rechten Art dasjenige zur
Offenbarung bringt, was im ganzen Menschen veranlagt ist,
und auf der anderen Seite dasjenige, was ihn richtig in die
Welt hineinstellt. Das soll vor allen Dingen angestrebt werden
durch die Art und Weise, wie wir in unseren Lehrplan den
Sprachunterricht aufnehmen.
Selbstverständlich wird der Unterricht in der
Muttersprache in der Art, wie ich es bei den anderen
Unterrichtsgegenständen geschildert habe, dem Lebensalter
angemessen erteilt; aber das Besondere der Waldorfschule
liegt darinnen, daß wir sogleich beginnen, wenn das Kind
in die Schule hereinkommt, also im sechsten, siebenten
Lebensjahre, mit dem Unterricht in zwei fremden Sprachen, im
Französischen und im Englischen.
Dadurch versuchen wir den Kindern für die Zukunft in der
Tat dasjenige mitzugeben, was der Mensch für diese Zukunft
immer mehr und mehr brauchen wird. Beim Sprachenunterricht
muß man ja, wenn man ihn recht menschlich erfassen will,
vor allen Dingen berücksichtigen, daß die
Sprache sich tief einwurzelt in das ganze menschliche Wesen.
Die Sprache, die der Mensch als seine Muttersprache aufnimmt,
wurzelt sich ganz tief ein in das Atmungssystem, in das
Zirkulationssystem, in den Bau des
Gefäßsystems, so daß der Mensch nicht nur nach
Geist und Seele, sondern nach Geist und Seele und Körper
hingenommen wird von der Art und Weise, wie sich seine
Muttersprache in ihm auslebt. Aber wir müssen uns durchaus
klar darüber sein, daß die verschiedenen Sprachen in
der Welt — bei den primitiven Sprachen ist das ja
anschaulich genug, bei den zivilisierten Sprachen verbirgt es
sich oftmals, aber es ist doch da — in einer ganz anderen
Art den Menschen durchdringen und das Menschliche
offenbaren.
Es
gibt innerhalb der europäischen Sprachen eine, die geht
ganz und — gar aus dem Gefühlselemente hervor, hat
im Laufe der Zeit sehr stark den Charakter der
Intellektualisierung des Gefühlselementes
angenommen, aber sie geht aus dem Gefühlselemente
hervor, so daß das intellektuelle Element und das
Willenselement bei dieser Sprache weniger dem Menschen
durch die Sprache schon eingepflanzt werden. Da müssen
dann diese anderen Glieder der menschlichen Wesenheit durch das
Erlernen anderer Sprachen entwickelt werden.
So
haben wir eine Sprache, die ganz besonders herausentwickelt ist
aus dem Elemente der plastischen Phantasie, die sozusagen die
Dinge in der Lautbildung hinmalt. Dadurch kommt das Kind in
eine natürliche, plastisch-bildnerische Kraft im
Sprachenlernen hinein.
Eine andere Sprache haben wir innerhalb des zivilisierten
Europa, welche vorzugsweise auf das Willenselement hin
gerichtet ist; eine Sprache, der man es förmlich
anhört in ihrem Tonfall, in ihrer Vokalisierung und
Konsonantengestaltung, daß sie ganz auf das
Willenselement gerichtet ist, daß der Mensch
fortwährend, indem er spricht, sich so verhält, als
ob er mit der ausgestoßenen Luft Meereswellen
zurückschlagen möchte. Da lebt das
Willenselement in der Sprache. — Andere Sprachen sind da,
die mehr so aus dem Menschen herauskommen, daß das
Gefühlsmäßig-Musikalisch-Phantasiemäßige
im Menschen in Anspruch genommen wird. Jede Sprache hat
einen besonderen Bezug zum Menschen.
Nun
werden Sie sagen, ich sollte für die einzelnen Sprachen,
die ich charakterisiert habe, die Namen nennen. Das werde ich
mich wohl hüten; denn wir sind heute nicht so weit,
daß wir mit derjenigen Objektivität in der
zivilisierten Welt uns gegenüberstehen, um ein solches
ganz Objektives zu vertragen.
Was
ich aber in bezug auf die Charakteristik der Sprachen gesagt
habe, macht eben durchaus nötig — wenn wir dem
Menschen heute eine rein menschliche, nicht eine spezialisiert
menschliche, volksmäßige Bildung und Entwickelung
geben wollen daß wir tatsächlich in bezug auf das
Sprachliche dasjenige, was aus dem Sprachgenius heraus von der
einen Sprache her über die menschliche Natur kommt, durch
die andere Sprache ausgleichen.
Das
hat eben in rein pädagogisch-didaktischer Beziehung die
Veranlassung dazu gegeben, daß wir für die
kleinsten Kinder in der Waldorfschule schon mit drei
Sprachen beginnen; und wir erteilen den Sprachunterricht sogar
in einem recht ausgiebigen Maße.
Nun
ist es sehr gut, so früh mit dem Sprachunterricht in
fremden Sprachen zu beginnen, weil ja bis zu jenem Zeitpunkte,
der zwischen dem neunten und zehnten Jahre im menschlichen
Leben liegt, das Kind in das schulmäßige Alter herein
noch etwas von dem mitträgt, was ich als besonders
charakteristisch für das erste Lebensalter des Menschen
von der Geburt bis zum Zahnwechsel dargestellt habe. Da ist der
Mensch vorzugsweise ein nachahmendes Wesen. Die
Mutterspräche lernt der Mensch ja ganz und gar nach
dem Prinzip der Nachahmung. Ohne daß der Intellekt
stark in Anspruch genommen wird, lernt das Kind innerlich
dasjenige nachbilden, was es als Sprache hört. Und das
Kind hört zugleich mit dem äußerlich Lautlichen,
mit dem Tonmäßigen der Sprache durchaus das
innerlich-seelisch-musikalische Element der Sprache. Und die
erste Sprache, die sich das Kind aneignet, eignet es sich
an als — wenn ich mich so ausdrücken darf —
feinere Gewohnheit. Es geht alles tief in den ganzen Menschen
hinein.
Dann, wenn das Kind mit dem Zahnwechsel in die Schule
hereinkommt, sprechen wir auch mit dem Sprachunterricht
schon mehr zu dem bloß Seelischen, nicht mehr so stark zu
dem Körperlichen. Aber das Kind bringt uns immerhin noch
bis zum neunten, zehnten Jahre genügend phantasievolle
Imitationsfähigkeit in die Schule herein, so daß wir
den Unterricht in der Sprache in der Art lenken können,
daß die Sprache von dem ganzen Menschen aufgenommen wird,
nicht etwa bloß von den seelisch-geistigen
Kräften.
Daher ist es von so ungeheuer tiefgreifender Wichtigkeit, sich
ja nicht entgehen zu lassen für den Unterricht in fremden
Sprachen das erste, zweite, dritte Volksschuljahr. Nur aus
einem didaktisch-pädagogisch-humanen Prinzip heraus
ist es also in der Waldorfschule eingeführt worden,
den Unterricht in den fremden Sprachen mit dem Eintritte des
Kindes in die Elementarschule zu beginnen.
Ich
brauche nicht zu erwähnen, daß dieser Unterricht nun
gerade im eminentesten Sinne wiederum den Lebensaltern
angepaßt wird. In unserer Zeit ist man ja in bezug auf
alle Wirklichkeit stark in ein Denkchaos hineingekommen. Man
bildet sich ein, man stehe tief in der Wirklichkeit darinnen,
weil man materialistisch geworden ist; aber man ist eigentlich
in unserer Zeit viel theoretischer. Die stärksten
Praktiker, das heißt diejenigen, die sich dafür
halten, sind eigentlich in unserer Zeit Theoretiker im
eminentesten Sinne. Sie bilden sich ein, irgend etwas sei
richtig — nicht ist es so, daß sie dasjenige, was
sie aufgenommen haben als das Richtige, auch wirklich aus
der Lebenspraxis heraus gestaltet hätten. Und so ist
namentlich in pädagogisch-didaktischen Fragen, wenn
man auf der einen Seite gesehen hat, wie irgend etwas nicht
richtig ist, dann ein unmöglicher Radikalismus nach dem
anderen Extrem aufgetaucht.
So
haben die Leute gesehen, daß die vorangegangene Zeit den
Sprachunterricht ganz und gar, namentlich im Lateinischen und
Griechischen, auf die Grammatik, auf die Sprachregeln
aufgebaut hat, und daß dieses den Unterricht
veräußerlichte, mechanisierte. Nun ist wiederum
das entgegengesetzte Prinzip gekommen, nur weil man nicht
konsequent auf die Sachen hinsehen kann. Und wenn man bemerkt,
daß das Unheil da ist, dann fällt man ins andere
Extrem, weil man glaubt, dadurch das Unheil vermeiden zu
können. Und so ist das Prinzip entstanden, überhaupt
gar nicht mehr irgend etwas Grammatikalisches zu
lehren.
Das
ist wiederum unsinnig. Denn das hieße auf einem speziellen
Gebiete wiederum nichts Geringeres als: man soll den Menschen
nur beim Bewußtsein lassen, nicht zum
Selbstbewußtsein kommen lassen. Der Mensch kommt eben
zwischen dem neunten und zehnten Jahre vom Bewußtsein zum
Selbstbewußtsein. Er unterscheidet sich von der Welt.
Da
ist ja auch der Zeitpunkt, wo man — allerdings in leiser
Weise — zu grammatikalischen, zu syntaktischen Regeln
übergehen kann; denn da kommt der Mensch dazu, nicht nur
über die Welt zu denken, sondern über sich
selber etwas nachzudenken. Das Nachdenken über sich
selbst, das bedeutet bei der Sprache, nicht bloß
instinktiv zu sprechen, sondern die Sprache in Regeln
vernünftiger Art bringen zu können. Also wiederum:
ganz ohne Grammatik zu lernen ist für die Sprache ein
Unding. Man bringt dem Menschen nicht jene innere Festigkeit
bei, die er braucht fürs Leben, wenn man von aller Regel
absieht.
Was
aber vor allen Dingen dabei berücksichtigt werden
muß, das ist, daß eben erst in jenem Lebenselemente
zwischen dem neunten und zehnten Jahre der Mensch dazu kommt,
aus dem bloßen Bewußtsein zum Selbstbewußtsein
hin zu wollen, daß daher jeder grammatische Unterricht
vorher ein Unding ist.
Man
muß diesen Übergang zwischen dem neunten und zehnten
Lebensjahr finden, um nun auch den ganz und gar nur instinktiv
aus der Sache herausgegriffenen Sprachunterricht
vernünftig leise in den grammatischen Unterricht
überzuführen.
Auch für die Muttersprache muß das so sein. Man
verdirbt das Seelenleben des Kindes vollständig,
wenn man grammatische oder syntaktische Regeln vor diesem
wichtigen Lebensmomente in das Kind hineinpfropft. Bis dahin
soll in instinktiv gewohnheitsmäßiger Weise
gesprochen werden, wie es einzig und allein durch Nachahmung
geschieht. Das Selbstbewußtsein soll das Sprechen
einleiten — und in der Regel tritt immer das
Selbstbewußtsein mit der Grammatik und Syntax auf
— zwischen dem neunten und zehnten Jahre. Wenn Sie das
berücksichtigen, werden Sie sehen, wie man gerade im
Waldorfschul-Prinzip die zwei oder drei Jahre vor diesem
Lebensmomente benützt, um den Sprachunterricht in die
richtige Lebensepoche nach der Entwickelung der Menschen
hineinzustellen. Und so sehen Sie Stück für
Stück, daß die Waldorfschul-Pädagogik den Lehrer
lesen lehren will, aber nicht in einem Buche, nicht in einem
pädagogischen System, sondern im Menschen.
In
diesem wunderbarsten Dokument der Welt, im Menschen, soll der
Waldorflehrer lesen lernen. Dasjenige, was ihm diese
Lektüre gibt, geht über in allen Enthusiasmus
für Unterrichten und Erziehen. Was wirklich so gelesen
werden kann, daß es unmittelbar den Menschen nach Leib,
Seele und Geist zur allseitigen Tätigkeit aufruft, wie
allein man sie als Lehrer braucht, das ist allein im Buche der
Welt enthalten. Und alles andere Lernen, alle anderen
Bücher, alle anderen Lektüren sollen gerade dem
Pädagogen die Möglichkeit geben, in dem großen
Buche der Welt zu lesen. Kann er das, dann wird er ein
Unterrichtender mit dem nötigen Enthusiasmus, und
aus dem Enthusiasmus allein kann diejenige Kraft, die
Stärke des Impulses hervorgehen, welche eine Schulklasse
beleben kann.
Dieses Allgemein-Menschliche im Unterrichts- und
Erziehungswesen, das ich für die verschiedensten
Unterrichtszweige charakterisieren mußte, das muß
sich im Waldorfschul-Prinzip besonders dadurch ausleben,
daß diese Waldorfschule nach keiner Richtung hin eine
Schule der religiösen oder philosophischen
Überzeugung oder eine Schule einer bestimmten
Weltanschauung ist. Und nach dieser Richtung war es ja
natürlich notwendig, gerade für ein Schulwesen, das
sich aus der Anthroposophie heraus entwickelt hat, darauf
hinzuarbeiten, daß nun ja diese Waldorfschule weit, weit
davon entfernt sei, etwa eine Anthroposophenschule zu werden
oder eine anthroposophische Schule zu sein. Das darf sie ganz
gewiß nicht sein. Man möchte sagen: jeden Tag aufs
neue strebt man wieder danach, nun ja nicht irgendwie durch den
Übereifer eines Lehrers, oder durch die ehrliche
Überzeugung, die ja selbstverständlich bei den
Waldorfschullehrern für die Anthroposophie vorhanden ist,
da sie Anthroposophen sind, irgendwie in eine anthroposophische
Einseitigkeit zu verfallen. Der Mensch, nicht der Mensch einer
bestimmten Weltanschauung, muß in
didaktisch-pädagogischer Beziehung einzig und allein
für das Waldorfschul-Prinzip in Frage kommen.
Damit war es geboten, den Religionsgesellschaften
gegenüber, ich möchte sagen, eben ein durch die Zeit
gefordertes Kompromiß einzugehen, gar nicht auf
etwas anderes zunächst zu sehen für die Schüler,
als auf das Methodische einer allgemein-menschlichen Erziehung.
Der Religionsunterricht wurde zunächst den
Religionslehrern ihrer Konfession übergeben. Und so
wird der katholische Religionsunterricht in der Waldorfschule
von dem katholischen Priester, der evangelische
Religionsunterricht von dem evangelischen Pfarrer
erteilt.
Aber es gibt eine ganze Menge von Schülern in der
Waldorfschule, die, wie man in Mitteleuropa sagt, eben
Dissidentenkinder sind, die einfach keinen Religionsunterricht
nehmen würden, wenn eben nur katholischer und
evangelischer Religionsunterricht da wäre. Dadurch,
daß sich die Waldorfschule zunächst aus dem
Proletarierstande herausgebildet hat — sie war die
Schule eines Industrieunternehmens, sie ist das heute
längst nicht mehr, sie ist eine Schule für alle
Klassen geworden waren anfangs namentlich
überwiegend konfessionslose Kinder da. Diese Kinder
hätten nun, wie es ja in sehr vielen Schulen
Mitteleuropas der Fall ist, gar keinen
Religionsunterricht gehabt. So haben wir gerade für diese
Kinder, die sonst gar keinen Religionsunterricht gehabt
hätten, einen sogenannten freien Religionsunterricht
eingeführt.
Dieser freie Religionsunterricht, der ist auch nicht darauf
abgestellt, theoretische Anthroposophie in die Waldorfschule
hineinzutragen. Das würde ganz falsch sein. Die
anthroposophische Überzeugung ist bis heute für
Erwachsene ausgebildet, und man spricht ja über
Anthroposophie zu Erwachsenen. Man kleidet daher alle Begriffe,
alle Empfindungen in dasjenige, was für Erwachsene
gut ist. Dasjenige, was in unserer anthroposophischen Literatur
für Erwachsene bestimmt 1st, einfach zu nehmen und es nun
in die Schule hineinzutragen, hieße gerade dem
Pädagogisch-Didaktischen im Waldorfschul-Prinzip
schnürstracks zuwiderhandeln. Da handelt es sich darum,
für diejenigen Kinder, die uns übergeben
werden, freiwillig übergeben werden zum freien
religiösen Unterricht, nun auch im strengsten Sinne des
Wortes wiederum das religiöse Element, und was ihnen
als Religionsunterricht zu geben ist, abzulesen von ihrem
Lebensalter.
So
darf man auch nicht unter dem freien Religionsunterricht der
Waldorfschule, der sogar mit einem entsprechenden Kultus
verbunden ist, sich etwas vorstellen wie eine in die Schule
hineingetragene anthroposophische Weltanschauung. Man wird
gerade sehen, daß in diesem freien Religionsunterricht
überall dem Lebensalter des Kindes in ausgiebigstem
Maße Rechnung getragen wird. Wir können nichts
dafür, daß dieser freie Religionsunterricht in der
Waldorfschule von den meisten Kindern besucht wird,
trotzdem wir es uns zur strengen Regel machen, nur auf Wunsch
der Eltern das Kind zu diesem freien Religionsunterricht
zuzulassen. Allein es spielt ja dabei doch das
pädagogisch-didaktische Element eine
außerordentliche Rolle, und da unser freier
Religionsunterricht wiederum im strengsten Sinne ein
christlicher ist, so schicken diejenigen Eltern, die ihre
Kinder christlich erzogen, aber nach dem Schulprinzip,
nach der Pädagogik und Didaktik der Waldorfschule
unterrichtet und erzogen wissen wollen, uns eben ihre Kinder in
den freien Religionsunterricht, der ein durch und durch
christlicher ist, der sogar so christlich wirkt, daß die
ganze Schule in eine Atmosphäre von Christlichkeit
getaucht ist. Feste, Weihnachtsfest, Osterfest, werden
bei uns von den Kindern aus dem freien christlichen
Religionsunterricht heraus mit einer ganz anderen
Innigkeit empfunden, als das sonst bei diesen Festen
heute der Fall ist.
Nun
handelt es sich darum, daß gerade im Religionsunterricht
das Lebensalter des Kindes berücksichtigt werden muß.
Gerade da ist es von großem Schaden, wenn irgend etwas zu
früh an das Kind herangetragen wird. Deshalb ist
unser freier Religionsunterricht so eingerichtet,
daß das Kind zunächst zur Erfassung des
Allgemein-Göttlichen in der Welt kommt.
Sie
erinnern sich, wir unterrichten das Kind zunächst, wenn es
in die Schule hereinkommt zwischen dem siebenten und neunten
oder zehnten Jahre so, daß wir die Pflanzen sprechen
lassen, die Wolken sprechen lassen, die Quellen sprechen
lassen. Die ganze Umgebung des Menschenkindes ist belebt. Da
läßt sich nun leicht der Unterricht
hinführen zu dem die Welt durchlebenden, allgemeinen
göttlichen Vaterprinzip. Daß alles seinen
Ursprung in einem Göttlichen hat, das läßt sich
für das Kind, gerade wenn man den übrigen Unterricht
so führt, wie ich es geschildert habe, in einer
vorzüglichen Weise hinstellen.
Und
so knüpfen wir an dasjenige an, was das Kind weiß,
wissen lernt auf märchenhafte Weise, auf
phantasiemäßige Weise über die Natur. An das
knüpfen wir an, um das Kind zunächst gegenüber
allem, was in der Welt geschieht, zu einer gewissen Dankbarkeit
zu führen. Dankbarkeit gegenüber allem, was Menschen
uns tun, aber gegenüber allem auch, was uns die Natur
gewährt, das ist dasjenige, was das religiöse
Empfinden auf den richtigen Weg bringt. Überhaupt ist die
Erziehung zur Dankbarkeit etwas unendlich Wichtiges und
Bedeutungsvolles.
Der
Mensch sollte sich dazu entwickeln, wirklich auch ein gewisses
Dankesgefühl zu haben, wenn — vielleicht klingt das
sogar paradox, und dennoch ist es tief wahr — zur rechten
Zeit, wo er dies oder jenes zu tun hat, ihm das geeignete
Wetter zuteil wird. Gegenüber dem All, dem Kosmos
Dankbarkeit entwickeln zu können, wenn das auch, ich
möchte sagen, in einem imaginativen Welterleben nur
geschehen kann, das ist dasjenige, was unsere ganze
Weltempfindung religiös vertiefen kann.
Zu
dieser Dankbarkeit brauchen wir dann die Liebe gegenüber
allem. Und wir können wiederum leicht, wenn wir das Kind
also bis gegen das neunte, zehnte Jahr hinführen, wie es
angedeutet worden ist, in all dem Belebten, das wir dem Kind
hinstellen, zugleich etwas für das Kind offenbaren, was
das Kind liebgewinnen muß. Liebe zu jeder Blume, Liebe zu
jedem Baum, Liebe zu Sonnenschein und Regen, das ist dasjenige,
was das Weltempfinden wiederum religiös vertiefen
kann.
Wenn wir Dankbarkeit und Liebe in dem Kinde vor dem zehnten
Jahre entwickeln, dann können wir auch in der richtigen
Weise dasjenige entwickeln, was wir die Pflicht nennen.
Die Pflicht durch Gebote zu früh entwickeln, führt zu
keiner religiösen Innigkeit. Wir müssen vor allen
Dingen in dem Kinde Dankbarkeit und Liebe entwickeln, dann
entfalten wir das Kind sowohl ethisch-moralisch in der
richtigen Weise wie auch religiös.
Wer
im tiefsten Sinne des Wortes das Kind im christlichen Sinne
erziehen will, der hat nötig, darauf zu sehen, daß
dasjenige, was sich vor die Welt in dem Mysterium von Golgatha
hinstellt, in alledem, was an die Persönlichkeit und
Gotteswesenhaftigkeit des Christus Jesus geknüpft ist,
sich vor dem neunten und zehnten Jahre nicht in der richtigen
Weise vor die kindliche Seele hinstellen läßt.
Großen Gefahren setzt man das Kind aus, wenn man es
nicht vor diesem Lebensmomente in das allgemein
Göttliche einführt, ich möchte sagen: in das
göttliche Vaterprinzip; ihm zeigt, wie in allem in der
Natur das Göttliche lebt, wie in aller
Menschenentwickelung das Göttliche lebt, wie überall,
wo wir hinschauen, in den Steinen, aber auch in dem Herzen des
anderen Menschen, in jeder Tat, die der andere Mensch dem Kinde
tut, überall das Göttliche lebt. Dieses allgemein
Göttliche, das müssen wir in Dankbarkeit empfinden,
in Liebe das Kind fühlen lehren durch die
selbstverständliche Autorität des Lehrers. Dann
bereiten wir uns vor, zu diesem Mysterium von Golgatha
gerade zwischen dem neunten und zehnten Jahre die richtige
Stellung bekommen zu können.
Da
ist es so unendlich wichtig, das Menschenwesen auch
hinsichtlich seiner zeitlichen Entwickelung verstehen zu
lernen. Versuchen Sie es nur einmal, sich den Unterschied
klarzumachen, der besteht, wenn man dem Kinde irgend etwas vom
Neuen Testament beibringen will im siebenten und achten
Lebensjahre, oder — nachdem man zunächst aus jedem
Naturwesen das Gottesbewußtsein im allgemeinen hat
anregen wollen — mit diesem Neuen Testament kommt
zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre, um es nachher
erst als solches dem Kinde zu entwickeln. Da ist es in der
richtigen Weise vorbereitet, da lebt es sich in das ganz
überweltlich Große hinein, das im Evangelium
enthalten ist. Bringen Sie es ihm vorher bei, dann bleibt es
Wort, dann bleibt es starrer nüchterner Begriff, dann
ergreift es nicht den ganzen Menschen, dann laufen Sie Gefahr,
daß das Religiöse im Kinde verhärtet, und
der Mensch es als verhärtetes Element durch das Leben
trägt, nicht in Lebendigkeit als etwas sein ganzes
Weltempfinden Durchsetzendes. Man bereitet das Kind im
schönsten Maße vor, die Glorie des Christus Jesus in
sich aufzunehmen vom neunten, zehnten Jahre an, wenn man es
vorher in die allgemeine Göttlichkeit der ganzen
Welt hineinführt.
Und
das strebt gerade der nun auch auf das rein Menschliche
gebaute Religionsunterricht an, den wir als freien
christlichen Religionsunterricht in der Waldorfschule erteilen
für diejenigen Kinder, deren Eltern dies wünschen,
die eigentlich immer mehr werden gegenüber den anderen,
und den wir auch in einen gewissen Kultus gekleidet haben.
Sonntäglich findet für diese Kinder, die diesem
freien Religionsunterricht beiwohnen, eine Kultushandlung
statt. Wenn diese Kinder aus der Schule entlassen werden, wird
diese Kultushandlung metamorphosiert. Auch eine Kultushandlung,
die sogar dem Meßopfer sehr ähnlich ist, aber
durchaus dem entsprechenden Lebensalter angemessen ist, ist
verbunden mit diesem auf den freien Religionsunterricht
gestützten religiösen Leben in der
Waldorfschule.
Es
war besonders schwierig, dasjenige in das religiöse
Element hineinzubringen, was wir in der Waldorfschule
ausbilden wollen: das rein menschliche Entwickelungsprinzip.
Denn in bezug auf das Religiöse sind ja heute die
Menschen noch am wenigsten geneigt, von ihrem Speziellen
abzugehen. Man redet vielfach von einem
allgemeinmenschlich Religiösen. Das aber ist doch
bei dem einzelnen Menschen so gefärbt, wie seine
Spezial-Religionsgemeinschaft es ihm färbt. Wenn wir die
Aufgabe der Menschheit in die Zukunft hinein richtig
verstehen, so wird dieser Aufgabe schon auch im rechten
Maße gedient durch diesen freien religiösen
Unterricht, mit dem wir in der Waldorfschule eigentlich
erst begonnen haben.
Anthroposophie, so wie diese für Erwachsene heute
vorgetragen wird, wird ganz gewiß nicht in die
Waldorfschule hineingetragen; dagegen dasjenige, wonach der
Mensch lechzt: das Ergreifen des Göttlichen — des
Göttlichen in der Natur, des Göttlichen in der
Menschheitsgeschichte — durch das richtige
Einstellen auf das Mysterium von Golgatha. Das ist es, was im
rechten Sinne hineinzutragen auch in den Unterricht wir als
unsere Aufgabe betrachten.
Damit
erreichen wir es aber auch, daß wir dem ganzen Unterricht
dasjenige Kolorit geben können, das er braucht. Ich habe
schon gesagt, der Lehrer muß eigentlich dazu kommen,
daß alles Unterrichten für ihn eine sittliche, eine
religiöse Tat werde, daß er sozusagen in dem
Unterrichten selber eine Art Gottesdienst sehe.
Das
können wir nur erreichen, wenn wir imstande sind, für
diejenigen Menschen, die es heute schon wollen, auch das
religiös-sittliche Element in der richtigen Weise in die
Schule hineinzustellen. Das haben wir eben, so weit das schon
heute gegenüber den sozialen Verhältnissen geht, in
bezug auf den Religionsunterricht in der Waldorfschule
versucht. Wir haben ganz gewiß damit nicht irgendwie
nach einem blind rationalistischen Christentum hinarbeiten
wollen, sondern gerade nach dem richtigen Erfassen des
Christus-Impulses in der ganzen Erdenentwickelung der
Menschheit. Wir haben nichts anderes gewollt damit, als
dasjenige dem Menschen zu geben, was er dann noch braucht, wenn
er. durch allen anderen Unterricht ein ganzer Mensch geworden
ist.
Denn,
meine sehr verehrten Anwesenden, man kann durch allen anderen
Unterricht schon ein ganzer Mensch geworden sein — etwas
braucht man dann noch, wenn man auch schon sonst ein ganzer
Mensch geworden ist, um diesen ganzen Menschen wiederum in
einer allseitigen Weise so in die Welt hineinzustellen,
daß er seinem ihm eingeborenen Wesen gemäß in
dieser Welt drinnen steht: die religiöse Vertiefung. Den
ganzen Menschen erziehen, diesen als ganzen Menschen erzogenen
Menschen religiös zu vertiefen, das haben wir als eine der
bedeutsamsten Aufgaben des Waldorfschul-Prinzipes zu
erfassen gesucht.
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