ZWÖLFTER VORTRAG
Ilkley, 16. August 1923
Im
Unterricht und in der Erziehung hat man nach zwei Seiten
hinzusehen. Die eine Seite ist diejenige, welche sich
nach den Gegenständen, Objekten richtet, die man in
der Schule zu behandeln hat; die andere Seite aber ist die,
welche sich nach dem Kinde selber richtet und in einer, aus
wirklicher Menschenbeobachtung hervorgegangenen Weise die
einzelnen Fähigkeiten des Kindes entwickelt.
In
dieser Beziehung wird, wenn so vorgegangen wird, wie das in den
letzten Tagen hier auseinandergesetzt wurde, auch in jedem
Lebensalter immer richtig an die richtige kindliche
Fähigkeit appelliert. Eine besondere Beachtung aber ist
dem Gedächtnis des Kindes, dem Erinnerungsvermögen
beizumessen. Wir müssen uns ja klar darüber sein,
daß in dieser Beziehung aus einer mangelhaften
Menschenkenntnis heraus in früherer Zeit zuviel an
Gedächtnisbelastung getan worden ist. Dadurch ist
wiederum in einer ähnlichen Weise, wie das gestern schon
in einem anderen Falle von mir betont worden ist, das andere
Extrem entstanden. Man will das Gedächtnis im neueren
Unterricht fast ganz ausschalten.
Beides aber, sowohl die zu geringe wie die zu starke Belastung
des Gedächtnisses, ist in der Erziehung vom Übel. Es
handelt sich darum, daß in dem kindlichen Lebensalter bis
zum Zahnwechsel hin, also gerade bis in diejenige Zeit, in der
das Kind in die Schule geschickt wird, das Gedächtnis ganz
allein sich selbst überlassen bleiben muß.
In
dieser Zeit wirken ja, wie wir gesehen haben, im Einklänge
miteinander physischer Leib, Äther- oder
Bildekräfteleib, astralischer Leib und Ich-Organisation.
Und die Art und Weise, wie das Kind nachahmend alles in
sich ausbildet, was es unbewußt in seiner Umgebung
beobachten kann, wirkt auch so, daß bis in den physischen
Leib hinein diejenigen Kräfte sich entwickeln, welche die
Gedächtnis-, die Erinnerungskraft am besten zur
Entfaltung kommen lassen, so daß man in diesen Jahren
eigentlich das Kind mit Bezug auf die
Gedächtnisentwickelung ganz sich selbst
überlassen muß.
Dagegen vom Zahnwechsel ab, wo das Seelisch-Geistige in einer
gewissen Weise vom Leiblichen emanzipiert wird, ist eine
regelrechte methodische Behandlung gerade des
Gedächtnisses von der allergrößten Wichtigkeit.
Denn seien wir uns nur darüber klar: das Gedächtnis
muß das ganze Leben des Menschen hindurch den physischen
Körper in Anspruch nehmen. Ohne einen allseitig
entwickelten physischen Leib ist das Gedächtnis des
Menschen irgendwie auch unterbrochen. Man weiß ja auch
schon in derjenigen Menschenkunde, die heute an den Laien
herandringt, daß diese oder jene Verletzung des Gehirnes
sofort irgendwelche Gedächtnisdefekte hervorbringt.
Aber beim Kinde hat man nicht etwa bloß darauf zu sehen,
wo sich irgendein Seelisches in die Krankheit hinein
entlädt, sondern man hat auch die kleinen intimen
Wirkungen des Seelisch-Geistigen auf das Körperliche als
Pädagoge stets ins Auge zu fassen. So daß also eine
unrichtige Gedächtnisentwickelung bis in den physischen
Körper hinein das Kind für das ganze Erdenleben
beeinträchtigt.
Nun
handelt es sich darum: wie kommen wir zu einer richtigen
Gedächtnisentwickelung? Da müssen wir uns vor allen
Dingen darüber klar sein, daß abstrakte Begriffe,
Begriffe, die rationalistisch, intellektualistisch gebildet
werden, das Gedächtnis immer belasten, gerade in dem
Lebensalter am meisten belasten, das zwischen dem Zahnwechsel
und der Geschlechtsreife liegt, daß Anschauungen, die in
der Weise lebendig an das Kind herangebracht werden, wie ich es
geschildert habe, plastisch-malerische Anschauungen, die wir im
künstlerischen Unterrichtsbetrieb an das Kind
heranbringen, auch in lebendiger Weise diejenigen
Kräfte aufrufen, die bis in den physischen Körper
hinein das Gedächtnis in der richtigen Weise zur
Entfaltung kommen lassen. Das ist die beste Unterlage für
eine richtige Gedächtnisentwickelung:
künstlerisch den ganzen Unterricht zu gestalten
gerade im Elementarschulzeitalter.
Aus
der Kunst, aus einer richtigen Behandlung der Kunst geht nun
aber auch immer die richtige Behandlung der körperlichen
Bewegungsfähigkeit hervor. Dann aber, wenn wir das
Kind selber sich künstlerisch betätigen lassen,
wenn wir in der Lage sind, das Kind selbst künstlerisch in
Regsamkeit, in Tätigkeit zu bringen, so daß wir also
bei dem, was das Kind tut während des Mallebens,
während des Schreiblebens, während des
Zeichnenlebens, während des musikalischen
Unterrichtes, immer das Körperliche zugleich mit dem
Geistigen in Tätigkeit bringen — wie das bei
der Eurythmie geschieht, werde ich morgen an der Hand der
Figuren hier zu erklären haben —, dann werden wir
dasjenige, was von der seelischen Ausbildung in den
physischen Leib für das Gedächtnis hineinkommen
muß, in der richtigen Weise entwickeln. Wir dürfen
auch nicht glauben, daß die völlige Ausschaltung des
Gedächtnisses oder die mangelhafte Behandlung des
Gedächtnisses irgendwie dem Kinde förderlich sein
könnten.
Wenn wir die drei Grundsätze festhalten: Begriffe belasten
das Gedächtnis; Anschaulich-Künstlerisches
bildet das Gedächtnis; Willensanstrengung,
Willensbetätigung befestigt das Gedächtnis —,
dann haben wir die drei goldenen Regeln für die
Gedächtnisentwickelung.
Wir
können diese drei goldenen Regeln ganz besonders dadurch
anwenden, daß wir dann den Unterricht in der Naturkunde,
in der Geschichte, den wir so leiten, wie ich es in diesen
Tagen angedeutet habe, zur Ausbildung des Gedächtnisses
benützen. Auch der rechnerische Unterricht ist
durchaus zur Ausbildung des Gedächtnisses zu
benützen. Es ist das so, daß wir immer beginnen
sollen im Rechnen mit dem künstlerischen Verstehen der
Dinge, wie es in diesen Tagen gezeigt worden ist.
Aber wenn wir wirklich dafür gesorgt haben, daß das
Einfachere, sagen wir, die Zahlen bis zehn oder meinetwillen
bis zwanzig in ihrer Handhabung bei den Rechnungsoperationen
durchschaut worden sind, dann brauchen wir nicht davor
zurückzuschrecken, das übrige
gedächtnismäßig an das Kind herankommen zu
lassen. Und wir sollen das Kind ebensowenig wie mit
Gedächtnismaterial mit zu weit getriebener
Anschaulichkeit überlasten. Denn Begriffe, die zu weit ins
Kompüzierte hineingetrieben werden, die belasten das
Gedächtnis. So daß wir gerade in bezug auf die
Gedächtnisentwickelung sorgfältig hinschauen
müssen, wie es sich bei dem einzelnen Kinde macht.
Und
hier sieht man, wie notwendig es ist für den Lehrer und
den Erzieher, etwas von der Art und Weise zu verstehen, wie der
ganze Mensch für Gesundheits- und für
Krankheitstendenzen arbeitet. In dieser Beziehung kann man
gerade heute die merkwürdigsten Erfahrungen
machen.
Unsere Waldorfschule wurde einmal besucht von einem Herrn, der
mit seinem Denken ganz im Unterrichtswesen, im Erziehungswesen
drinnen stand. Ich versuchte, ihm den ganzen Geist, aus dem in
der Waldorfschule gewirkt wird, auseinanderzusetzen, und als er
eine Weile sich das angehört und angesehen hatte, sagte
er: Ja, aber dann müßten ja die Lehrer viel von
Medizin verstehen! — Er betrachtete es von vornherein als
eine Unmöglichkeit, daß die Lehrer so viel von
Medizin verstehen könnten, als für den Geist
eines solchen Unterrichts nötig ist. Ich sagte zu ihm:
Wenn das eben aus der Natur des Menschen hervorgeht, so
muß so viel medizinischer Unterricht, als für die
Schule eben nötig ist, den Gegenstand jeder
Lehrerseminarbildung bilden. — Das ist ganz zweifellos,
wir dürfen niemals sagen, wir überlassen
dasjenige, was sich auf die Gesundheit bezieht, dem
Schularzte.
Ich
betrachte es als ein ganz besonderes Glück der
Waldorfschule, daß wir den eigentlichen Schularzt im
Lehrerkollegium selber drinnen haben, daß er mit im
Lehrerkollegium ist. Dr. Kolisko, der das
Gesundheitliche fachmännisch betreibt, ist Arzt und
steht im Lehrerkollegium zugleich lehrend darinnen. So daß
in dieser Beziehung alles dasjenige, was sich auf das
Körperliche der Kinder bezieht, in völligem
Einklänge mit allem Unterrichten und Erziehen betrieben
werden kann.
Und
das ist zum Schluß dasjenige, was notwendig ist: es
muß in unsere Lehrerbildung eine Entwickelung
hineinkommen, die aufnimmt, was sich auf Gesundheit und
Krankheit des Kindes bezieht. Ein Lehrer bemerkt —
ich will ein Beispiel anführen —, daß ein Kind
immer mehr und mehr blaß wird. Ein anderes Kind
verändert seine Farbe dadurch, daß es auffallend
gerötet wird. Man bemerkt dann, wenn man richtig
beobachtet, daß das gerötete Kind zugleich unruhig,
jähzornig wird. Man muß eine solche Erscheinung
in der richtigen Weise auf das Geistig-Seelische beziehen
können. Man muß wissen, daß das Blaß werden
in abnormer Weise, wenn es sich auch nur in der Tendenz zeigt,
von einer zu starken Berücksichtigung des
Gedächtnisses herkommt. Das Gedächtnis beim
blaßgewordenen Kinde ist zu stark belastet worden. Man
muß also Einhalt tun gerade mit der
Gedächtnisbelastung. Bei dem geröteten Kinde
hat man das Gedächtnis zu wenig in Anspruch genommen. Da
muß man dafür sorgen, daß es die
Aufgäbe bekommt, das oder jenes als
Gedächtnisstoff aufzunehmen und wiederum zu zeigen,
daß es die Sache behalten hat. Wir müssen also ein
Kind, das uns blaß wird, gedächtnismäßig
entlasten; ein Kind, das uns gerötet wird, müssen wir
gerade nach der Richtung des Gedächtnisses hin sich
entfalten lassen.
Nur
dadurch, daß wir in einer so eingehenden Weise
Seelisch-Geistiges im Einklang mit dem Physischen
behandeln können, kommen wir in der rechten Weise an den
ganzen Menschen heran. So wird auch der Mensch in unserer
Waldorfschule als werdender Mensch, als Kind, nach seinen
geistig-seelisch-körperlichen Anlagen, insbesondere nach
den Temperamentsanlagen, behandelt.
Wir
setzen schon in der Schule die Kinder so, daß sie in der
richtigen Weise untereinander ihr cholerisches, ihr
sanguinisches, ihr melancholisches oder ihr
phlegmatisches Temperament zur Wirkung kommen lassen.
Wenn man die Choleriker zusammensetzt, dann schleifen sie sich
am allerbesten aneinander ab; ebenso die Melancholiker. Nur
muß man in der richtigen Weise diese Temperamente bei den
Kindern beobachten können. Diese Temperamentsbehandlung
geht dann wiederum bis tief in die körperliche
Entwickelung hinein.
Man
nehme an, man habe ein sanguinisches Kind, ein Kind, das
unaufmerksam ist für dasjenige, was es aufnehmen
soll, das dagegen jedem möglichen äußeren
Eindruck sogleich hingegeben ist, aber ihn auch sehr schnell
wiederum aus seiner Seele verschwinden läßt. Dieses
sanguinische Kind können wir dadurch in der richtigen
Weise behandein, daß wir darauf sehen, daß
seinen Speisen möglichst Zucker entzogen wird;
natürlich nicht in einer ungesunden Weise, aber in dem
Maße, in dem wir richtig die Speisen, die wir dem Kinde
verabreichen, weniger zuckern, in dem Maße wird auch das
Sanguinische zurückgehen und ein harmonischeres
Temperament sich an die Stelle setzen.
Haben
wir ein melancholisches Kind, ein Kind, das leicht brütet,
dann ist das Umgekehrte notwendig: dann müssen wir mehr
Süße den Speisen zusetzen.
Auf
diese Weise wirkt man hinein bis in die physische Organisation
der Leber. Denn je nachdem der Mensch mehr oder weniger
Zuckergenuß hat, entwickelt sich die
Lebertätigkeit ganz anders. Alles dasjenige, was man
im Äußeren tut, wirkt bis tief in die physische
Organisation des Menschen hinein.
In
dieser Beziehung sehen wir in der Waldorfschule
außerordentlich stark darauf, daß ein inniger Kontakt
besteht zwischen der Lehrerschaft und den Eltern.
Natürlich ist das immer je nach dem Verständnis
der Eltern nur bis zu einem gewissen Grade zu erreichen, aber
wir sehen darauf, daß es soweit als möglich gehen
könne; so daß in der Tat die Eltern sich
verständnisvoll an den betreffenden Klassenlehrer wenden,
und dieser ihnen auch Auskünfte darüber geben kann,
wie individuell, für das Kind angemessen, die Diät zu
besorgen ist. Denn das ist etwas, was in derselben Weise
wichtig ist wie das, was man im Klassenzimmer tut.
Sie
können natürlich nicht einem Kinde, das keine
Hände hat, Klavierspielen beibringen. Es handelt sich
nicht darum, daß man in materialistischer Weise glaubt,
der Körper tue alles. Aber der Körper muß da
sein als das geeignete Werkzeug. Und ebenso wie man einem Kinde
mit fehlenden Händen nicht das Klavierspiel beibringen
kann, ebensowenig kann man einem Kinde, das eine viel zu rege
Lebertätigkeit hat, dadurch daß man seelisch nun
alles Mögliche tut, was eine abstrakte Pädagogik
glaubt tun zu können, die Melancholie wegbringen.
Regelt man dagegen in der Diät die Lebertätigkeit
durch Versüßen der Speisen, so hat das Kind die
Möglichkeit, sich dieses körperlichen Organes
als eines rechten Werkzeuges zu bedienen. Dann helfen erst die
seelisch-geistigen Anordnungen, die man trifft.
Das
ist eben immer zu berücksichtigen, daß man nun
glauben kann, mit abstrakten Grundsätzen sehr viel
reformierend in das Unterrichtsund Erziehungswesen
hineinzuwirken. Was gut ist für den Unterricht, das wissen
ja alle Leute; alle Leute wissen, wie man erziehen soll —
aber wirklich erziehen zu können, das erfordert eben die
Kenntnis des Menschen, die man nur Stück für
Stück sich erwerben kann. Daher nützt jenes
ausgezeichnete Wissen, wie man erziehen soll, das alle Leute
haben — ich will es gar nicht anfechten, gar nicht
bekritteln —, eben gar nichts. Und dieses Wissen, das
kommt mir in der Regel so vor, als wenn jemand sagt: Ich
möchte ein Haus gebaut haben. — Wie wollen Sie das
Haus gebaut haben? — Ich will es so gebaut haben,
daß es schön ist, daß es wetterbeständig,
bequem ist. — Und jetzt soll man das Haus bauen. Ich soll
zu einem Menschen gehen, der da weiß, das Haus muß
schön, wetterbeständig, bequem sein, er soll es
bauen. Das nützt gar nichts, daß man das weiß!
Ungefähr soviel weiß man im allgemeinen auch von der
allgemeinen Erziehungskunst, und damit will man
reformieren.
Man
muß zum Baumeister gehen, der im einzelnen weiß, wie
der Plan gemacht wird, wie Stein auf Stein gesetzt wird, wie
dick ein Balken sein muß, auf dem eine Last ruht. Man
muß im einzelnen wissen, wie der Mensch beschaffen
ist, nicht im allgemeinen über den Menschen so reden, wie
man über ein Haus redet, wenn man sagt: es muß
schön, wetterbeständig und bequem sein.
Das
ist dasjenige, was zunächst einmal in die allgemeine
Zivilisation hinein muß: Erziehungskunst ist etwas, was
auch bis in die Einzelheiten hinein eine allerdings
vergeistigte, aber doch eine Technik braucht. Wenn das in die
allgemeine Zivilisation hineinkommt, dann wird es ein Segen
sein für alle die so löblichen, so anerkennenswerten
Reformbestrebungen, die gerade auf dem Gebiete des Erziehungs-
und Unterrichtswesens sich heute so vielfach geltend
machen.
Das
Wichtige solcher Prinzipien zeigt sich gerade dann, wenn man
auf die durchaus differenzierten Kinderindividualitäten
hinschaut. In gewissen Zeiten hat sich ja in der Erziehung
durch die Schule das Prinzip herausgebildet, Kinder, die nicht
recht mitkamen in der einen oder anderen Klasse,
sitzenzulassen, nicht hinaufrücken zu lassen in die
nächste Klasse. Für eine Erziehung, die, wie ich
auseinandergesetzt habe, so vorgeht, daß für jedes
Lebensalter gerade das an das Kind herangebracht werden soll,
was diesem Lebensalter entsprechend ist, für eine solche
Erziehungskunst muß es eigentlich nach und nach etwas ganz
Unmögliches werden, ein Kind in irgendeiner Klasse
zurückzulassen; denn dadurch kommt es ja gerade aus
dem Gange des Unterrichts und der Erziehung heraus, der dem
Alter angemessen ist. In der Waldorfschule hat eben jede Klasse
ihr besonderes Kindesalter. Lasse ich also einen Schüler
oder eine Schülerin, die eigentlich aufrücken
sollten von der dritten in die vierte Klasse, zurück
in der dritten Klasse, dann kommt das Kind in seinem inneren
Entwickelungsgang aus seinem Lebensalter heraus. Das ist
daher etwas, was wir in der Waldorfschule, soviel es
möglich ist, vermeiden. Nur in ganz ausnahmsweisen
Fällen kann es bei uns vorkommen, daß irgendein Kind
in einer Klasse zurückbleibt. Wir versuchen eben alles zu
tun, um jede Kinderindividualität so zu behandeln,
daß wir ein solches Zurückbleiben nicht notig
haben.
Dazu ist allerdings ein anderes dann notwendig. Es gibt, wie
Sie alle wissen, Kinder, die sich nicht normal entwickeln, die
in irgendeiner Weise abnorm sind. Für solche Kinder
haben wir nun eine Hilfsklasse errichtet. Diese
Hilfsklasse, die ist uns, ich möchte sagen, ganz besonders
ans Herz gewachsen. Da sind die intellektuell oder
gefühlsmäßig oder willensgemäß
schwächeren Kinder untergebracht. Irgendein Kind,
das wir nicht haben können in der Klasse wegen seiner
Schwäche in bezug auf irgendeine Seelenkraft, das wird
dann in dieser Hilfsklasse untergebracht. Und eigentlich
gehört es zu den erfreulichen Zuständen in der
Waldorfschule, daß im Grunde genommen immer dann, wenn ein
Kind aus der Normalklasse in die Hilfsklasse
hinübergeführt werden muß, eine Art
Wettstreit um das Kind entsteht in der Lehrerschaft, die ja
sonst, wie Sie leicht begreifen können aus alledem, was
ich auseinandersetzte, in der Waldorfschule nur in der
Atmosphäre des tiefsten Friedens lebt; aber dann, wenn ein
Kind aus einer Klasse einem Lehrer weggenommen werden soll,
dann entsteht ein Wettstreit. Und es ist ein wahrer Ansturm auf
unseren, für diese Hilfsklasse so außerordentlich
segensreichen Dr. Schubert, dem diese Hilfsklasse
anvertraut ist. Man will ihm keine Kinder übergeben,
denn die Lehrer sind immer unglücklich, wenn ihnen ein
Kind für diese Hilfsklasse des Dr. Schubert genommen
werden soll. Die Kinder fühlen natürlich das auch als
etwas, was ihnen gegen ihre Sympathien geht, wenn sie aus der
Normalklasse herausrücken, ihre geliebte Lehrkraft
verlassen und in die Hilfsklasse hinüberkommen sollen. Und
nun ist es wiederum so segensreich, daß es gar nicht lange
dauert, und das Kind, das in diese Hilfsklasse einrückt,
bekommt den gerade für diese Hilfsklasse durch seinen
Charakter, seine Temperamentseigenschaften, durch seine
Liebefähigkeit so geeigneten Dr. Schubert so
ungeheuer lieb, daß es nun -wieder aus der Hilfsklasse
nicht heraus will. Diese Zustände, die im
wesentlichen durchaus die pädagogische Kunst
zugleich auf Gesinnung, Liebefähigkeit, auf Hingebung und
Opfertätigkeit bauen, sind ganz besonders wichtig da, wo
es sich darum handelt, nun in einer solchen abgesonderten
Hilfsklasse die Kinder so weit zu bringen, daß sie dann
wiederum den Anschluß an ihre altersgemäße
Klasse finden können. Und das setzen wir uns gerade durch
diese Hilfsklasse ja zur Aufgabe.
Eine wirkliche Menschenerkenntnis zeigt uns das Folgende. Wenn
man von geistigen Abnormitäten oder gar geistigen
Erkrankungen spricht, so sagt man eigentlich etwas Unsinniges,
obwohl ja für den Redegebrauch und für das
gewöhnliche Leben selbstverständlich man kein
Fanatiker und Pedant zu sein braucht, und solche Ausdrücke
durchaus gebraucht werden können. Aber im Grunde genommen
werden Geist und auch Seele des Menschen niemals krank,
sondern krank ist immer nur dasjenige, was körperliche
Grundlage ist und was vom Körper in die Seele dann
hinüberspielt. Da man nun den Menschen, insoweit er im
Erdendasein lebt, nur so behandeln kann, daß man dem
Geistig-Seelischen durch den Körper beikommt, so handelt
es sich vor allen Dingen darum, daß man weiß:
für eine Behandlung sogenannter abnormer Kinder ist die
Schwierigkeit diese, daß der Körper durch seine
Abnormität die Unmöglichkeit bewirkt, der Seele und
dem Geiste beizukommen.
Sobald wir beim Kinde über den körperlichen oder
körperlich-seelischen Defekt hinauskommen, der im
Körper liegt, und dem eigentlich Seelischen und Geistigen
beikommen, ist in diesem Augenblick auch alles Nötige
getan. So daß gerade auf diesem Gebiete immer mehr und
mehr dahin gearbeitet werden muß, die feinen, intimen
Eigenschaften und Kräfte des Körperlichen
kennenzulernen.
Man
wird, wenn man sieht, daß ein Kind nicht in normaler Weise
begreift, Widerstand entgegensetzt den Verbindungen von
Begriffen und Anschauungen, immer den Schluß zu ziehen
haben, daß da irgend etwas im Nervensystem nicht in
Ordnung ist, und man wird viel mehr erreichen durch die
individuelle Behandlung in der Verlangsamung des Unterrichts
oder in dem besonderen Anspornen der Willensfunktion oder
dergleichen. Im einzelnen Falle ist gerade bei einem
abnormen Kinde immer dasjenige, was man tun muß,
ganz individuell zu gestalten, und man wird dadurch, daß
man nun das Kind individuell behandelt, den Unterricht
verlangsamt oder auch mehr Willensmäßiges
hineinfügt, wirklich unsäglich Gutes bewirken
können. Natürlich muß gerade bei einem solchen
Kinde auf die körperliche Erziehung, auf die
körperliche Pflege ein ganz besonderes Augenmerk gelenkt
werden. Ich will an einem einfachen Beispiel das Prinzipielle
einmal erörtern.
Man
nehme an, ein Kind zeige sich ungeschickt in der Verbindung von
Anschauungen. Man wird außerordentlich viel dadurch
erreichen, daß man das Kind zum Beispiel solche
Körperübungen machen läßt, die dann den
eigenen Körper, das ganze menschliche organische System
von der Seele aus in zusammenhängende Bewegung bringen:
Greife mit dem dritten Finger deiner rechten Hand das linke
Ohrläppchen an! Und man lasse solch eine Übung das
Kind schnell ausführen. Dann kann man wechseln dadurch,
daß man sagt: Greife mit dem kleinen Finger deiner linken
Hand die obere Seite deines Hauptes an! Man kann dann die erste
Übung mit der zweiten schnell wechseln. Man lasse in einer
solchen Weise den menschlichen Organismus in Bewegung bringen,
daß das Kind schnell die Gedanken einfließen lassen
muß in die eigenen Bewegungen des menschlichen Organismus.
Dann macht man dadurch, daß man auf diese Weise das
Nervensystem geschickter macht, das Nervensystem in der
richtigen Weise zu einer guten Grundläge auch
für dasjenige, was das Kind dann für die Verbindung
oder Trennung von Anschauungen, Begriffen aufbringen soll.
In
dieser Beziehung macht man die wirklich wunderbarsten
Erfahrungen darüber, in welcher Weise aus der Pflege
des Körperlichen heraus das Geistige gehoben werden kann.
Nehmen wir zum Beispiel an, ein Kind zeige einem den Fehler,
daß es immer wieder und wiederum auf bestimmte Dinge
zurückkommt. Das merkt man ja als eine besondere seelische
Schwäche, wie man es nennt, sehr leicht. Das Kind kann
nicht anders als bestimmte Worte wiederholen, auf bestimmte
Begriffe, Anschauungen immer wieder zurückkommen. Die
setzen sich fest in seinem Wesen, das Kind kommt nicht davon
los. Man schaue dieses Kind an — natürlich sind die
Dinge individuell, deshalb ist eine wirkliche
Menschenerkenntnis, die individualisieren kann, so
notwendig —, es wird in der Regel nicht so stark
mit den Zehen, mit dem vorderen Fuß auftreten,
sondern zu stark mit der Ferse auftreten. Man lasse nun das
Kind solche Bewegungen möglichst so machen, daß das
Kind bei jedem Schritte zuerst achtgeben muß, und dieses
sich erst ganz langsam in Gewohnheit umwandelt, dann wird man
sehen, daß das Kind, wenn es nicht schon zu spät ist
— in der Regel ist aber für solche Dinge gerade
zwischen dem siebenten und zwölften Jahre
außerordentlich viel zu erreichen —, sich
gerade in bezug auf solche seelischen Defekte
außerordentlich bessert. Man muß nur eben eine
Erkenntnis davon haben, wie, sagen wir, eine Bewegung der
Finger der rechten Hand wirkt auf den Sprachorganismus, wie
eine Bewegung der Finger der linken Hand wirkt auf dasjenige,
was vom Denken aus dem Sprachorganismus zu Hilfe kommen kann.
Man muß wissen, wie das Auftreten mit den Zehen, das
Auftreten mit der Ferse, auf Sprache, auf Denkfähigkeit,
namentlich auch auf Willensfähigkeit zurückwirkt. In
dieser Beziehung ist ja auch die eurythmische Kunst, indem sie
aus dem Normalen heraus gestaltet, für das Abnorme
außerordentlich lehrreich, und man bildet dann die
eurythmischen Bewegungen — die zunächst für den
normalen Menschen selbstverständlich ins
Künstlerische hinübergebildet sind — zu
therapeutischen Bewegungen um. Die werden herausgeholt aus dem
menschlichen Organismus, so daß dadurch angeregt
wird vom Körperlichen aus die während der
Wachstumsperiode immer noch anzuregende geistig-seelische
Fähigkeit. Es ist schon gerade dann so hervorstechend, wie
man vor allen Dingen Geist, Seele, Leib im Einklänge
miteinander beobachten können muß, wenn man es mit
der abnormen Seite der Schüler oder Schülerinnen in
irgendeinem Teil der Schule zu tun hat.
Gerade mit Bezug auf diesen Teil unserer Schülerschaft
wird ja durch den ganz vorzüglichen Lehrgang, den Dr.
Schubert auf diesem Gebiete entfaltet, manches ganz
Ersprießliche geleistet. Dazu allerdings
gehört, gerade um die Dinge individuell zu behandeln, eine
außerordentliche Liebefähigkeit und Opferwilligkeit.
Gerade in einer Hilfsklasse ist es ja ganz besonders
nötig, dies aufzubringen. Und man muß bedenken,
daß man, wenn man in dieser Richtung etwas erreichen
will, auch wirklich in mancher Beziehung Resignation haben
muß. Denn selbstverständlich kann man gerade auf
diesem Gebiete nur dasjenige leisten, was man
sachgemäß eben aus dem Menschen herausholen kann.
Wenn dann doch nur ein Viertel oder die Hälfte von
demjenigen gelingt, was eigentlich das Kind zum vollen
Normalzustand hinüberbringen könnte, dann sind
die Eltern doch nicht ganz zufrieden. Aber das ist ja das
Wesentliche in der menschlichen Betätigung, die vom
Geiste, vom Spirituellen aus geleitet und gelenkt wird,
daß wir, von der äußeren Anerkennung
unabhängig, dazu kommen, immer mehr und mehr dasjenige zu
fühlen, was die tragende Kraft wird, aus der inneren
Verantwortlichkeit heraus die tragende Kraft wird. Die wird
Stufe für Stufe erhöht, wenn man tatsächlich
eine solche Erziehungskunst zugrunde legen kann, die bis in
diese einzelnen Intimitäten des Lebens hinein Geist, Seele
und Körper des Kindes in völligem Einklänge
sieht. Das Sehen, das Wahrnehmen, das
Beobachtenkönnen, das ist für den Lehrer das
erste; dann prickelt, ich möchte sagen, die Sache selber
in seinem ganzen menschlichen Wesen. Er überträgt
ganz instinktgemäß künstlerisch dasjenige, was
er aus der Menschenbeobachtung herausholen kann, auf die Praxis
des Unterrichtes.
Etwas ist von einer ganz besonderen Wichtigkeit in dem
Lebensalter, in welchem nach den gestern von mir hier
gemachten Ausführungen das Kind
herübergeführt werden muß von einer mehr
seelisch zu ergreifenden Pflanzen- und Tierkunde zu dem
Unterricht, der dann mehr an das menschliche
Begriffsvermögen, an den Intellekt appelliert, zu dem
Unterricht im Mineralisch-Physikalisch-Chemischen, der, wie ich
ausgeführt habe, ja nicht zu früh eintreten darf.
Wenn wir an das Kind etwas heranbringen müssen, wodurch es
lernt: in der Natur ist das Ursache, das Wirkung und so weiter,
wenn wir also die Kausalität an das Kind heranbringen,
dann ist von besonderer Wichtigkeit in diesem
Lebensabschnitte, daß das Kind einen Ausgleich hat
für das unorganisch leblose Naturkundliche in dem
richtigen Hineinkommen in den künstlerischen
Unterricht.
Daß man in diesem Lebensalter in der richtigen Weise die
Kunst an das Kind heranbringen kann, dazu ist natürlich
notwendig, daß man den ganzen Unterricht vom Anfang an
nicht nur künstlerisch einrichtet —
darüber habe ich mich ja ausführlich ausgesprochen
—, sondern auch der Kunst die rechte Rolle im Unterricht
zugestehe. Daß für das Plastisch-Malerische gesorgt
wird, ergibt sich ja schon dadurch, daß man aus dem
Malerischen das Schreiben herauszuholen hat. Also man beginnt
ja nach dem Waldorfschul-Prinzip mit einem
malerisch-zeichnerischen Unterricht schon im ganz zarten
Kindesalter. Auch das Plastische wird möglichst viel
gepflegt, allerdings erst etwa vom neunten, zehnten Jahre an
und in primitiver Weise. Aber es wirkt ungeheuer belebend auf
das physische Sehvermögen des Kindes, auf die Beseelung
des physischen Sehvermögens, daß das Kind auch in das
Formen von plastischen Gestalten in der rechten Weise im
richtigen Alter eingeführt werde. Die Menschen gehen
ja vielfach so durchs Leben: die Dinge und Ereignisse sind um
sie herum und viele sehen das Allerwichtigste nicht. Sehen
lernen so, daß der Mensch in rechter Weise in der Welt
drinnen steht, das muß man ja auch erst lernen. Und
für dieses richtige Sehenlernen ist es ganz besonders
fruchtbar, die plastische Betätigung, die das Gesehene vom
Kopf ableitet, von den Augen in die Fingerbewegung, in die
Handbewegung ableitet, beim Kinde möglichst
frühzeitig zu pflegen. Das Kind wird dadurch nicht nur in
geschmackvoller Weise hinübergeleitet dazu, daß ihm
in seiner nachsten Umgebung, ich will sagen, in seiner
Zimmereinrichtung und dergleichen nur das Geschmackvolle
gefällt, nicht das Geschmacklose, sondern es wird
dadurch auch in der richtigen Weise dazu geführt, in der
Welt dasjenige zu sehen, was von der Welt vor allen Dingen in
Menschenseele und Menschengemüt hereinkommen
soll.
Dadurch, daß wir den musikalischen Unterricht aus dem
Gesanglichen heraus, aber immer mehr und mehr auch in das
Instrumentale hinein in der richtigen Weise leiten, bringen wir
es dahin, das Willenselement beim Menschen in der Weise
in die Welt hineinzustellen, daß er nun nicht nur an dem
Musikunterricht eine künstlerische Ausbildung hat, sondern
daß auch sein Menschliches gerade nach der Willens- und
Gemütsseite hin durch diesen Musikunterricht in besonderer
Art gefördert werden kann.
Dazu ist allerdings notwendig, daß von dem Gesanglichen
ausgegangen wird, daß aber möglichst bald
übergegangen wird zu dem Ergreifen des
Instrumental-Musikalischen, so daß das Kind lernt, das
rein Musikalische, Rhythmus, Takt, Melodie, loszulösen von
allem übrigen, vom Nachahmerischen der Musik und
dergleichen, von allem Malerischen der Musik, und immer mehr
und mehr dazu kommt, das rein Musikalische in der Musik zu
ergreifen. Gerade dadurch, daß wir in dieser Weise das
Kind entsprechend in die Kunst hineinbringen, den Übergang
schaffen vom Spiel ins Leben durch die Kunst, sind wir auch in
der Lage, dann, wenn es nötig ist, also namentlich
zwischen dem elften und zwölften Jahre, beim Kinde in der
richtigen Weise den Unterricht für das
Kunstverständnis betreiben zu können. Und das ist von
einer ganz besonderen Bedeutung für diejenigen
Erziehungsprinzipien, die durch die Waldorfschule
verwirklicht werden sollen, daß das Kind auch in das
entsprechende Kunstverständnis im rechten
Lebensalter hineinkommt. In demselben Lebensalter, in dem
das Kind begreifen lernen muß: die Natur ist nach
abstrakten, durch den Verstand zu begreifenden
Naturgesetzen geordnet, in demselben Lebensalter, wo man
in der Physik kennenlernen muß, wie Ursache und
Wirkung in den einzelnen Fällen zusammenhängen,
in demselben Lebensalter sollen wir Kunstverständnis
schaffen als das Gegengewicht, sollen in das Verständnis
einführen, wie sich die einzelnen Künste in den
verschiedenen Epochen der Menschengeschichte entwickelt
haben, wie das eine oder das andere Kunstmotiv in diesem oder
jenem Zeitalter eingreift. Dadurch erst wird dasjenige in
dem Kinde wirklich angeregt, was der Mensch braucht, wenn er zu
einer allseitigen Entfaltung seines Wesens kommen will. Dadurch
wird auch dasjenige in der richtigen Weise entwickelt, wie ich
morgen dann zeigen will, was für den
Moral-Unterricht in ganz besonderer Art notwendig
ist.
Dadurch, daß der Mensch Kunstverständnis sich
erringt, wird er auch dem Menschen selbst, seinem
Nebenmenschen, seinem Mitmenschen in einer ganz anderen Weise
gegenüberstehen, als wenn ihm dieses Kunstverständnis
fehlt. Denn, was ist das Wesentliche im
Weltverständnis? Daß wir die abstrakten
Begriffe im rechten Momente verlassen können, um
Einsicht, Verständnis für die Welt gewinnen zu
können.
Wenn man Mineralien begreifen will, kann man das nach Ursache
und Wirkung. Physikalisches läßt sich so begreifen.
Kommt man zu den Pflanzen herauf, dann ist es schon
unmöglich, alles durch Logik, durch Verstand, durch
Intellekt zu begreifen. Da muß schon das plastische
Prinzip im Menschen sich regen, da gehen die Begriffe, die
Ideen über in bildhafte Formen. Und alles, was wir an
plastischer Geschicklichkeit dem Kinde beibringen, gibt
ihm die Befähigung, das Pflanzenwesen seinen Gestaltungen
nach zu begreifen. Wollen wir das Tierreich begreifen, wir
können es nicht anders, als wenn wir in uns die
Verständnisbegriffe durch die moralische Erziehung
veranlagen lassen. Dann erst werden in uns diejenigen
Kräfte rege, die hinüberschauen können zu
dem Aufbauenden, zu dem aus dem Unsichtbaren heraus Aufbauenden
des Tieres. Wie wenige Menschen, auch wie wenige
Physiologen wissen heute, woher die Gestalt eines Tieres kommt!
Die Gestalt eines Tieres kommt nämlich aus der Bildung
gerade derjenigen Organe, die beim Menschen nachher
Sprachorgane und Gesangsorgane werden. Das ist das
Zentrum der Formbildung, der GeStaltbildung des Tieres.
Das Her kommt nicht zur artikulierten Sprache; das Tier kommt
auch nur zu jenem Gesang, den wir bei dem Vogel kennen. Aber
ebenso wie in Gesang und Sprache die Gestaltung
ausströmt und die Luftwellen bildet, wodurch das
Hörbare entsteht, ebenso geht dasjenige, was in dem
Sprachorganismus, in dem Gesangsorganismus sich aus einem
vitalen Prinzip entwickelt, zurück in das Tier. Und
derjenige erkennt erst die Tierform, der weiß, wie
gewissermaßen «musikalisch» diese Tierform
gerade sich aus den später beim Menschen zu den
musikalischen Organen metamorphosierten Gliedern
herausbildet.
Und
wollen wir zum Menschen heraufkommen, dann brauchen wir ein
umfassendes Kunstverständnis. Denn alles, was am Menschen
ist, ist nur seinem unorganischen Ingredienz nach durch den
Verstand begreifbar. Wenn wir im rechten Momente wissen,
Vorstellung in künstlerisches Erfassen
überzuführen, dann erst haben wir die
Möglichkeit eines Menschen Verständnisses.
Das
aber muß besonders durch den Kunstunterricht erweckt
werden. Wenn wir als Lehrer selber, ausgerüstet mit
künstlerischem Sinn, im rechten Lebensalter das Kind
hinzuführen vermögen vor Leonardos Abendmahl oder vor
Raffaels Sixtinische Madonna, wenn wir ihm zeigen können,
wie da jede einzelne Gestalt zu der anderen in einem bestimmten
Verhältnisse steht, wie aber gerade dasjenige Zeitalter in
seiner historischen Entwickelung, in welchem Leonardo oder
Raffael gestanden haben, in dieser Weise mit der Farbe verfuhr,
in dieser Weise mit der inneren Perspektive verfuhr und so
weiter, wenn wir allen übrigen Natur- und
Geschichtsunterricht beseelen können durch einen auf das
Kunstverständnis führenden Unterricht: dann bringen
wir in allen Unterricht das menschliche, das humane Prinzip
hinein.
Darauf müssen wir sehen, daß wir nichts, was
nötig ist an künstlerischem Sich-Durchdringen
bei dem Kinde, diesem Kinde im rechten Lebensalter entziehen.
Unsere Zivilisation kann nur dadurch den ihr notwendigen
Aufschwung, den Aufstieg erlangen, wenn wir mehr
Künstlerisches in die Schule hineinbringen; nicht nur
dasjenige, was ich in allen diesen Stunden angedeutet habe: die
Durchdringung des gesamten Unterrichts mit einem
artistischen, künstlerischen Element, sondern wenn wir
auch für alles prosaische Auffassen von Natur und
Geschichte ein Gegengewicht schaffen durch ein lebendiges,
selber von künstlerischer Schöpferkraft getragenes
Unterrichten in Kunstverständnis.
Das
ist dasjenige, was wir nun als ein besonderes Ingredienz im
Unterricht, in der Erziehungskunst der Waldorfschule auch
befolgen wollen, was wir für notwendig halten, weil es
einfach wahr ist, was jeder wahre Künstler auch
gefühlt hat: daß die Kunst nicht bloß etwas vom
Menschen Erfundenes ist, sondern ein Gebiet, in dem der Mensch
auf einem anderen Niveau, als durch das sonstige Begreifen, in
die Geheimnisse der Natur hineinzuschauen vermag, in die
Geheimnisse der ganzen Welt überhaupt hineinzublicken
vermag. Erst in dem Momente, wo der Mensch begreifen
lernt: die Welt selber ist ein Kunstwerk, wo der Mensch
lernt, in alle Natur und alles Naturgeschehen so
hineinzuschauen, daß er in der Natur eine
schöpferische Künstlerin sieht, erst in dem Momente
ist der Mensch auf dem Wege, auch zur religiösen
Vertiefung hinaufzudringen. Nicht umsonst sagte der
Dichter Mitteleuropas: «Nur durch das Morgenrot des
Schönen dringst du in der Erkenntnis Land.» Wahr ist
es: wenn wir durch die Kunst den ganzen Menschen ergreifen,
bewirken wir in dem Menschen auch wiederum ein
entsprechendes Weltverständnis, das auf das Ganze, auf das
Totale der Welt geht. Daher sollen wir, soviel es nur
möglich ist, zu dem, was nun schon einmal für die
Prosakultur und —Zivilisation notwendig ist, im
Unterricht dasjenige hinzufügen, was rein menschlich
ist. Und das kann nicht nur durch einen künstlerischen
Unterricht, sondern auch durch eine entsprechende Unterweisung
im Kunstverständnis einzig und allein geschehen.
Kunst und Wissenschaft führen dann im rechten Maße,
wie wir morgen sehen werden, zur moralischen und zur
religiösen Vertiefung. Dafür aber, daß der
Mensch in religiöser und moralischer Beziehung
vorwärtskomme, muß eben die Vorbereitung geschaffen
werden durch die Tatsache, daß der Unterricht wie zu einer
Waage wird. Auf der einen Seite liegt alles dasjenige, was in
die Prosa des Lebens führt, was den Menschen sozusagen an
die Erde bindet; auf der anderen Seite liegt das
Gleichgewichtbewirkende alles dessen, was zur Kunst führt,
was den Menschen in jedem Augenblicke seines Lebens das, was er
in Prosa erarbeiten muß, auch künstlerisch
erhöhen und so unmittelbar wiederum in den Geist
hineinführen kann.
|