AUFZEICHNUNGEN
ZU DEN
ZÜRCHER VORTRÄGEN ÜBER
«DIE
SOZIALE FRAGE»
Zu den
nachstehenden Aufzeichnungen: Mit Ausnahme der Materialien
für den vierten Vortrag vom 12. Februar 1919 sind
die auf diese Vorträge bezüglichen
Notizbucheintragungen (Nb 97 und 130) nicht von Rudolf
Steiner selbst datiert. Dies ist vermutlich darauf
zurückzuführen, daß sie die gedankliche
Grundlage für eine Reihe von Vorträgen mit
gleicher Themenstellung an verschiedenen Orten innerhalb kurzer
Zeitabstände bildeten, von denen in dem vorliegenden
Band jedoch nur die in Zürich gehaltenen abgedruckt
sind. Die zur leichteren Orientierung eingefügten Daten
sind, wie es grundsätzlich bei allen Zusätzen des
Herausgebers geschieht, in eckige Klammern
gesetzt.
In den Aufzeichnungen
zum zweiten Vortrag vom 5. Februar ist unter Punkt 13 ein Zitat
aus dem sechsten Vortrag des Wiener Zyklus «Inneres Wesen
des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt»,
Bibl.-Nr. 153, angeführt. Dieses Zitat findet sich nicht
in der Nachschrift der Zürcher Vorträge, ist jedoch
in der Schrift «Die Kernpunkte der sozialen
Frage» Kap. IV sowie in einer Reihe von Vorträgen der
folgenden Wochen und Monate enthalten. In den Aufzeichnungen
zum Vortrag vom 10. Februar beziehen sich die drei letzten
Absätze auf die Schrift von Woodrow Wilson «Die neue
Freiheit», deutsch München 1914.
Das Konzept für
den Vortrag vom 8. März befindet sich im Archiv unter der
Nr. 5462/63.
I.
Die wirkliche Gestalt
der sozialen Fragen, erfaßt aus den
Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit
(auf Grund geisteswissenschaftlicher
Untersuchung).
II.
Die vom Leben
geforderten wirklichkeitsgemäßen
Lösungsversuche für die sozialen Fragen und
Notwendigkeiten (auf Grund geisteswissenschaftlicher
Lebensauffassung).
III.
Schwarmgeisterei und
reale Lebensanschauung im sozialen Denken und
Wollen.
IV.
Die Entwicklung des
sozialen Denkens und Wollens und die Lebensfrage der
gegenwärtigen Menschheit.
Diese Vorträge
wollen von einem Gesichtspunkte, welcher der
vollen Lebenswirklichkeit durch geisteswissenschaftliche
Denkungsart und Forschung Rechnung trägt, und
durch eine nachVorurteilslosigkeit strebende
allseitige Erfassung der wahren
gegenwärtigen
Menschheitsbedürfnisse die sozialen Fragen und
Notwendigkeiten erörtern. Sie wollen als Tatsache
geltend machen und ins Auge fassen, daß nur eine solche
Erörterung Verständnis der wirklichen
Lebensforderungen auf diesem Gebiete an die Stelle von
Mißverständnis auf demselben; fruchtbare Arbeit an
Stelle von unfruchtbaren, unpraktischen und die Entwicklung
hemmenden Debatten und Bestrebungen treten lassen kann;
daß auch nur in solcher Betrachtungsart das im Menschen
wesenhaft begründete Freiheitsbewußtsein mit
den Notwendigkeiten des sozialen Zusammenlebens vereinigt
gedacht und durch sie verwirklicht werden
kann.
[Zürich, 3. Februar 1919]
Die wirkliche Gestalt der sozialen Fragen,
erfaßt aus den Lebensnotwendigkeiten der
gegenwärtigen Menschheit.
1. Die Katastrophe hat die in den
sozialen Tiefen vorhandenen Kräfte an die Oberfläche
geworfen. In die Kriegsursachen haben sie
hineingespielt.
2. Man redet von der «sozialen
Frage»; man isoliert sie und universalisiert sie. Aber sie
steht im wirklichen Leben nicht isoliert da. Sie wurde nur
isoliert, weil die anderen beiden Glieder im
gesellschcftlichen Organismus, mit denen sie
verknüpft ist, verkümmert sind. Nirgends tritt die
wahre Gestalt der sozialen Fragen auf. Die Forderungen
treten auf. Aber die schöpferischen Kräfte zur
Lösung sind nicht da.
3. Die auftretenden Forderungen
steigen aus verschiedenen Gebieten auf: aus dem
Wirtschaftsleben = ob die Produktion im Einklang ist mit dem
Bedarf. Aus dem Gefühle der Menschenwürde = ob die
menschliche Arbeitskraft Ware sein darf? Aus dem
Verständnis für soziale Gemeinschaft: Die
Brücken sind abgeschlagen. Man versteht über die
Klassen hinweg einander nicht. Man hat nur Vertrauen zum
Klassenkampf. Die naturwissenschaftliche Denkungsart hat nur
Verständnis für das bloße
Wirtschaftsleben. Das geistige Leben ist für das
Proletariat zur bloßen «Ideologie»
geworden.
Herrschaft des Kapitals. Abhängigkeit.
Die Krisen. Produziert, damit profitiert werde.
Sozialismus wie eine
Religion.
Der Sozialismus als
Lehre wegen der mangelnden sozialen Impulse des Lebens. —
Die letzteren waren (auf ihre Art) früher besser vorhanden
als jetzt.
Der Sozialismus
hält sich für eine «wissenschaftliche
Lehre» und eine Weltanschauung.
1. Die Wirtschaft bestimmt den
geschichtlichen Zustand. Alles Übrige, Recht, Sitte,
Sittlichkeit, ideologischer Überbau.
Sklaverei,
Feudalität, Privatkapitalismus.
2. Der Arbeiter erzeugt den
Profit.
3. Alle Geschichte ist Geschichte von
Klassenkämpfen.
Als die früher
von der Bildung ausgeschlossene Klasse in die
Bildungssphäre
einrückte, hatte
die Bildung ihre Stoßkraft verloren: man nahm die
religiöse Nuance der Bildung nicht mehr auf. Weil vorher
diese religiöse Nuance keine Wirkung auf den
naturwissenschaftlichen Gedanken zu üben
vermochte.
1.
Die kriegerische
Katastrophe hat nach den verschiedensten Seiten hin das
Drängende der sozialen Frage geoffenbart. Sie war
vorhanden im Bewußtsein der proletarischen
Bevölkerung. Aber sie hat dazu geführt, auf
eine Lösung zu verzichten. Man muß in der Lage sein,
psychologisch zu beobachten, was in der Seele der prolet.
Bevölkerung lebt.
2.
Der
«wissenschaftliche» Charakter des modernen prolet.
Klassenbewußtseins. Das bezeugt, daß mit dem
Aufsteigen der prolet. Bewegung die Art
zusammenhängt, wie der Proletarier denken lernte. Er
lernte «naturwissenschaftlich» denken. Das brachte
ihn dazu, auf die bloße wirtschaftliche Entwicklung zu
sehen. Er lernt das Wesen der Warenproduktion
kennen.
3.
Nun vermeint
er, auch seine Grundforschung gehe aus Wirtschaftlichen Impulsen hervor.
Doch besteht sie darin, daß die Arbeitskraft als Ware in den
kapitalistischen Produktionsprozeß verschlungen worden
ist.
4.
Das geistige Leben ist
der prolet. Persönlichkeit zur «Ideologie»
geworden.
5.
Dadurch wird
verdunkelt, was aus den Lebensnotwendigkeiten folgt: Das Wesen
der Weiterentwicklung der Menschheit. Das Wesen des sozialen
Organismus.
Spiel Beschäftigung nach freier Wahl;
Arbeit durch Notwendigkeit, Pflicht, Willen eines
Anderen.
Verkürzung der
Arbeitszeit: man strebt sie
an, während man
die Befreiung von langandauernder Abhängigkeit
meint.
Wenn das geistige
Leben mit den beiden andern Gliedern des sozialen Organismus
vermengt wird, so fehlt diesem die Zuströmung dessen, was
ihn belebend im Werden erhält.
Das wirtschaftliche
Leben steht unter Gesetzen, die fortwährend den sozialen
Organismus stagnierend machen.
Die wirkliche Gestalt der
sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebensnotwendigkeiten der
gegenwärtigen Menschheit.
1.
Wie die soziale Frage
am Ausgangspunkte und im Verlauf wie ein Faktor da stand, mit
dem man rechnete.
2.
Nun lastet etwas auf
einem Teile Europas wie ein tragischer Zug: man steht vor der
Notwendigkeit, ein Urteil zu gewinnen, das in die Tat
übergehen kann = man kann wohl doch kaum zugeben, daß
ein solches Urteil sich zeigt.
3.
Eines tritt in der prolet. Bewegung zu Tage: sie verleugnet den
Gedanken und doch: sie ist im eminentesten Sinne eine
Gedankenbewegung.
[Auf der
gegenüberstehenden Seite :]
Nur derjenige wird
gewachsen sein der Zeit, der imstande ist, sein Urteil
umzuwandeln —
Die
alten
Programmesind noch da; aber die Tatsachen haben sich so
gründlich geändert, daß man sich innerhalb
dieser Tatsachen wie mumifiziert ausnimmt
-
Das Leben stellt
überall neue Forderungen -
Die Kriegskatastrophe
ist wie der letzte Akt, in den die menschlichen
Impulse ausgelaufen
sind; was sie zurückgelassen haben, das wird ein
neues Verständnis der Dinge
notwendig machen.
[Fortlaufender
Text:]
4.
Doch sie weist auf
ganz andere Impulse als die in den Gedanken
ausgesprochenen.
Im Mittelpunkte steht
für den, der das Leben beobachten kann und der mit dem
Proletariat gelebt hat: der proletarische Mensch mit
seinem
«Klassenbewußtsein».
5.
Aber dieses
«Klassenbewußtsein» ist doch nur eine
Maskierung. Es ist in Wahrheit das Menschheitsbewußtsein
erwacht an der Maschine und innerhalb der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung.
6.
Und es ist letzten
Endes doch nicht der Wirtschaftsgegensatz zwischen dem
Bürgertum und dem Proletariat, sondern ein Nichtverstehen,
das andere Grundlagen hat. Der Bürger sieht Hauptmanns
Weber an. Was er dabei wahrnimmt, ist
sein Mißverständnis.
7.
Der von der Welt an
der Maschine isolierte und in den Kapitalismus isoliert
eingespannte proletarische Mensch ringt sich zu dem
modernen Denken (z. B. Marx) auf.
8.
Dieses Denken hat die
Stoßkraft verloren, um in seinem Erkennen eine
Menschheitsempfindung zu zeitigen. Mit diesem Denken kann man
nur die ökonomische Ordnung verstehen.
9.
Dieses Denken ist noch
nirgends als selbständige Macht
aufgetreten.
Es ist untergetaucht
in die Staatsgebilde.
10. Daher innerhalb
des prolet. Denkens die«Ideologie».
11. Die Meinung von
der Grundforderung — Arbeitskraft
soll
nicht Ware sein. Diese Frage an die Politik. So wird
die Ungleichheit empfunden.
12. Das Kapital
verfälscht die Beziehung des Menschen zum
Wirtschaftsprozeß. Es ist der
Wirtschaftsprozeß, welcher die Kapitalvermehrung
bewirkt — der Mensch steht ihm machtlos
gegenüber. Es ist
die Verleugnung der menschlichen
Brüderlichkeit.
1)
Geistig =
die Liebe zur Sache
2)
politisch = der Wille
zum Recht
3)
wirtschaftlich = das
Begehren nach dem Nutzen (Zweck). (Das
Interesse am Nutzen,
Nutzwert)
[Auf der
gegenüberstehenden Seite zu Punkt 12]
Der Kapitalismus geht
auf Mehrwert-Profit; das ist die Wurzel des Glaubens an
einen andern Effekt. -
Das Elend, das
Übel ist nicht im Wesen des Menschenlebens begründet
— es kann nur aus den Einrichtungen kommen — : das
weiß der Proletarier (vielleicht unbewußt)
— Man kann sich über seinen Organismus nicht freuen;
aber man erleidet Schmerz, wenn er in Unordnung ist —
Jeder, der behauptet: das Elend sei notwendig, wird von dem
Proletarier nicht ernst genommen.
Gesund hindert der soziale Organismus nicht
die Entfaltung von
Glück und Freude. Der Wirtschafts-Körper kann
gestört nur von den andern Körpern
werden.
[Zürich, 5. Februar
1919]
Die vom Leben geforderten
wirklichkeitsgemäßen Lösungsversuche für
die die sozialen
Fragen und
Notwendigkeiten.
1. Man hat im sozialen
Denken den Blick gerichtet auf die Wirtschaftliche
und technische Entwicklung der neueren Zeit. Man hat aber nicht
beachtet, daß innerhalb dieser Entwicklung eine Lebensform
und Lebensnotwendigkeit erwacht sind, welche nicht durch eine
bloße Ordnung des Wirtschaftslebens in die rechten Bahnen
gelenkt werden können.
[Auf der
gegenüberstehenden Seite:]
Es sollen nicht die
aus einseitigen Lebensverhältnissen hervorgehenden Impulse
geltend gemacht werden, sondern die wirklichen
Lebensnotwendigkeiten. Was nützt es, wenn Eine
Klasse dem sozialen Organismus das Gepräge gibt und sie
eben dadurch die Gegenwirkung hervorruft, daß eine andere
Klasse sich bildet, die störend wirkt.
[Fortlaufender
Text:]
2.
Die kapitalistische
Wirtschaftsform hat aus sich herausgetrieben jeden Impuls, der
aus anderen Lebensgrundlagen kommt als aus dem Wirtschaftsleben
selbst.
3.
Die sozialistische
Denkart des Proletariats hat allen Glauben daran verloren,
daß eine Erreichung des menschenwürdigen Daseins
für es auf eine andre Art als durch eine Ordnung der rein
Wirtschaftlichen Verhältnisse erreicht werden
könne.
4.
Allein das
wirtschaftliche Leben umfaßt nur ein Glied des gesamten
sozialen Organismus. Und wird der Mensch in ein bloß nach
wirtschaftlichen Grundlagen geordnetes Leben
hineingestellt, so muß seine Gesamtwesenheit
verkümmern.
5.
Es wird gerade
übersehen, daß die neuere Zeit in dem
privatwirtschaftlichen Kapitalismus die beiden anderen
Glieder des sozialen Organismus unterjocht
hat.
6.
Man muß diese
beiden andern Glieder wieder befreien. Man muß lernen an
der Betrachtung des natürlichen Organismus auch die
Lebensnotwendigkeiten des sozialen richtig anzuschauen. Wenn
man einfach die Gesetze, die man glaubt für den
natürlichen Organismus erkannt zu haben, auf den
sozialen übertragen zu können [glaubt], so beweist
man nur, daß man nicht in der Lage ist, den sozialen
Organismus aus seinen eigenen Lebensnotwendigkeiten heraus
anzuschauen.
7.
Wie man den
natürlichen Menschenorganismus betrachten
soll.
8.
Wie man den sozialen
Organismus betrachten soll: bei ihm ist die mit den
Naturgrundlagen zusammenhängende Produktion
ähnlichen Gesetzen unterworfen wie beim
Menschenorganismus die natürlichen Begabungen. Man kann
nicht die natürlichen Begabungen unmittelbar durch
Lernen hervorbringen; man kann nicht durch eine soziale
Einrichtung ändern, daß die Produktion des
Bananenlebensmittels mit Bezug auf das Erträgnis der
Arbeit zu der Produktion des Weizenlebensmittels [sich] wie
400:3 verhält. Man kann nicht ändern durch eine
soziale Ordnung, daß in Deutschland der Weizen das Sieben-
bis Achtfache der Aussaat ergibt, in Chile das 12fache, in
Nordmexiko das 17fache; in Peru das 20fache, in
Südmexiko das 25-35fache. Aber wenn der soziale
Organismus nach seinen eigenen Gesetzen in Ordnung ist, dann
wird die Produktivität eines Gebietes daraus ebenso
folgen, wie die Begabungen des natürlichen
Menschenorganismus richtig hervortreten, wenn das
Erziehungssystem richtig wirkt.
9.
Gesund ist der soziale Organismus nur, wenn er in die
selbständigen Glieder zerfällt:
1) das
wirtschaftliche Glied, das den Menschen mit der
Naturgrundläge zusammen läßt. Es muß ein
halbpersönliches Verhältnis des Menschen sein zu den
Urfaktoren der Produktion.
2)
das rechtliche Glied, das alle Menschen
gleich vor dem Gesetz behandelt, in dem ein völlig
unpersönliches Verhältnis walten
muß.
|
|
Hier ist das
Gebiet, wo gesundes demokratisches Empfinden
seine Fruchtbarkeit erweisen könnte. Der jetzt
schon alte Liberalismus hat es nicht verstanden.
Dieses Glied kann eben nicht solche Gesetze
liefern, welche das geistige und das Wirtschaftsleben
regeln.
|
3)
das rechtliche Glied, das alle Menschen
gleich vor dem Gesetz behandelt, in dem ein völlig
unpersönliches Verhältnis walten
muß.
|
|
Vergiftet
worden der Inhalt
durch das
Begehren dessen, was nicht
zum Inhalt
gehört: Position — oder durch das
Durchsetzenwollen einer Tendenz = Partei:
konservativ, liberal etc.
Wer hat denn
eine Barrikade vor die geistige Welt gestellt, so
daß diese nicht mehr gesehen werden
kann?
|
10. Diese Glieder
müssen im Leben zusammenwirken, nicht durch eine abstrakte
Einheit. Die Vertretungen der einzelnen Glieder müssen
sorgsam wachen können über ihre Selbständigkeit.
Es wird nicht können konfundiert werden die menschliche
Regelung der Arbeitsverhältnisse dadurch, daß
durch die Hereinnahme des Wirtschaftlichen Lebenselementes in
das zweite Glied die menschliche Arbeitskraft zur Ware und ihr
Wert zum Warenwert wird. Es wird das Wirtschaftsglied nur
mit Warenerzeugung, Warenzirkulation und Warenkonsum zu tun
haben; das politische Gebiet wird nur zu tun haben mit alledem,
worinnen alle Menschen gleich sind. Das Geistgebiet wird
es zu tun haben mit alledem, worinnen alle Menschen gleich
sind. Das Geistgebiet wird es zu tun haben mit der Sphäre
der Freiheit, mit dem, was nur unter der freien Entfaltung der
individuellen Impulse gedeihen kann.
11.
Erfahrungen, welche
während der Kriegskatastrophe mit diesen Anschauungen
gemacht worden sind. Wie über sie gesprochen worden
ist. Wie man nicht die Brücke gefunden hat vom
theoretischen Verständnis zum praktischen Wollen. Man hat
darauf gerechnet, daß die bitteren Erfahrungen diese
Impulse bringen könnten.
12.
Man schreckt
zurück, indem man dasjenige, was die Wirklichkeit fordert,
entweder für radikal hält: man möchte den
Organismus heilen vor den Erscheinungen z. B. der
Geschlechtreife. Oder man hält diese Dinge für
Ausflüsse eines unpraktischen
Idealismus.
13.
Man hat die Erfahrung
gemacht, daß diese Dinge immer nur für innere
Angelegenheiten gehalten werden. Sie sind aber die
Grundlagen für die äußeren
Verhältnisse der Staatsgebiete. Diese müssen einander
durch die selbständigen Glieder des sozialen Organismus
gegenübertreten. Dann korrigieren sich die Nachteile des
einen Gebietes durch die Eigenheiten des anderen.
Während das Konfundieren zu den Konflikten und
Katastrophen führen muß, deren größte im
Jahre 1914 ihren Anfang genommen hat.
In Wien: «Diese
Tendenz wird immer größer und größer
werden, bis sie sich in sich selber vernichten wird. Da schaut
derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt,
überall, wie furchtbare Anlagen zu geistigen
Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große
Kultursorge, die auftritt für denjenigen, der das Dasein
durchschaut; das ist das Furchtbare, was bedrückend
wirkt und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst
für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte,
wenn man unterdrücken könnte, was sonst den Mund
öffnet für Geisteswissenschaft, was einen auch
dann dahin bringen müßte, das Heilmittel der
Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark
schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker
werden wird. Wenn der soziale Organismus so sich weiter
entwickelt, wie dies bisher geschehen ist, so entstehen
Schäden der Kultur, die für den sozialen Organismus
dasselbe sind, was die Krebsbildungen für den
menschlichen natürlichen Organismus
sind.»
[Zürich, 10. Februar
1919]
III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung
im sozialen Denken und Wollen.
Materialien.
I.
Die
Freiheit kann nur sich entwickeln auf Grund
eines in voller Selbständigkeit sich entwickelnden
geistigen Lebens. Denn das freie Entfalten der
Kräfte beruht auf den Denkimpulsen, die sich ergeben, wenn
das geistige Leben seine Eigenregulierung hat.
-
II.
Alle besonderen
Verhältnisse ergeben sich aus der naturgemäßen
Gliederung des sozialen Organismus: die assoziative
Organisation der Wirtschaftssphäre. Das Verhältnis
des Menschen zur Naturgrundlage ergibt Koalitionen und
Assoziationen, die miteinander in sachgemäße
Verbindung treten. Hier ist bestimmend die
Wertbildung. Hier wird maßgebend
der Vertrag.
das
Rechtsverhältnis: Es liegt zu Grunde das
Verhältnis von Mensch zu Mensch. Bestimmend wirkt
das Recht. Es ergibt sich dadurch, daß derjenige ein Recht
«mit Recht» hat, der in den sozialen Organismus zum
Gedeihen der andern eingreift. Nicht die
Macht entscheidet, sondern das Maß, in dem die
Betätigung eines Menschen in den sozialen Organismus
eingreift.
das
geistig-individuelle Leben. Bestimmend wirkt die
Freiheit, mit der sich die seelische und geistige Begabung
entfalten kann.
so ergibt sich in
Wirklichkeitslogik: Steuersystem, Geldbedeutung, Beziehung von
Kapital zu Geld etc.
Bestimmend
werden:
1.
Auf dem
Wirtschaftsgebiet: das System der aus Opportunität
hervorgegangenen Verträge.
2.
Auf dem politischen
Gebiete: das System der öffentlichen
Rechte.
3.
Auf dem geistigen
Gebiete diefreie
Konkurrent der Begabungen und entwickelten Kräfte und
Betätigungen.
Grund und Boden: er
wird in einem Realverhältnis stehen müssen zu dem
Bearbeiter; aber dieses Verhältnis wird nicht ein solches
sein dürfen, das den allgemeinen sozialen Organismus
schädigt.
Alles, was die
Erhöhung des Ertrages des Bodens niedriger stellt als das
Recht auf diesen Ertrag, wird ausgeschaltet: Hypothekenrecht
die Priorität -
Das Kapital kann nicht
liegen in Werten (Pfandbriefen und Hypotheken), denen die
hohen Bodenpreise als Deckung dienen.
Vermögenbildung
ohne die Zusammenbindung des Vermögens mit dem sozialen
Prozeß muß zum Unheil ausschlagen. Wenn jemand
seine Erfindergabe in eine Maschine gesteckt hat, so
stecken in ihr doch nicht bloßseine, sondern die Impulse der Allgemeinheit.
In die Wirtschaft darf
die Arbeitskraft erst einfließen,
nachdem sie ihre Grenzen gefunden hat aus dem
Rechtsverhältnis heraus. Ein Produktionszweig, der
eine unmögliche Arbeitsleistung erfordert, darf
ebensowenig als statthaft gelten wie einer, dessen
Rohprodukte zu teuer zu stehen kommen.
Woher rührt die
Schwarmgeisterei? Von der Loslösung des einen
Zweiges des Denkens von dem andern.
Der
Merkantilismus\\2Ltkein Bewußtsein davon, wie in
das Wirtschaftsleben eingreift, wenn man die Staaten zu
Handelszentren macht — (Colbert 1619-1687; Cromwell,
Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große).
Abschließen der Länder
gegeneinander.
Die
Physiokraten: das wirtschaftliche Leben ganz von
Naturgesetzen beherrscht, die frei walten
sollen.
Quesnay: 1.
Produktivität des Bodens
2. Unproduktivität des Handels
und der Industrie, einzige Steuer: landwirtschaftliche
Ertragsteuer.
3. Ohne Nutzen ist die
künstliche Geld Vermehrung.
4. Laisser faire, laisser
aller.
Es scheint an dieser
Anschauung sehr vieles richtig — Woran liegt ihr
Ungenügendes? -
1. Man wird die Steuer
nur richtig orientieren, wenn man davon ausgeht: in dem
Augenblicke, in dem ich in den sozialen Organismus mit meiner
Tätigkeit eingreife, stelle ich auf den Markt, was ich der
Allgemeinheit verdanke: also muß ich steuern.
Bezahle ich ein Industrieprodukt, eine Handelsleistung,
so muß ich steuern für die Möglichkeit, mich in
den sozialen Organismus hineinzustellen. In jedem Falle
muß der Genießer
die Steuer bezahlen.
Führt das nicht zum Drücken der Preise? Doch nur
dann, wenn der Produzent sich drücken lassen kann —
nicht aber, wenn das nicht der Fall ist.
III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung
im sozialen Denken und
Wollen.
1. Man muß immer wieder darauf
zurückkommen: das gegenseitige Sich-nicht-Verstehen der
alten führenden Klassen und der neu aufstrebenden
ist eines der größten Hemmnisse des
gegenwärtigen sozialen Lebens. Man versteht in den
ersteren Kreisen das «proletarische Denken» gar
nicht. Man hat, aus seinen Denkgewohnheiten heraus, kein
Mittel, zu verstehen, wie dieses Denken zur Kritik geworden ist
des vom Bürgertum Entwickelten. Aber eben nur
«Kritik», nicht die Vertretung eines Impulses, der
sich verwirklichen will. «Was kommen wird, muß
sich zeigen, wenn das Proletariat die Herrschaft errungen
haben wird.»
2. Man muß zu der Erkenntnis
kommen: die Denkgewohnheiten der neuen Zeit erzeugen nicht
Gedanken, welche eingreifen können in das Gewebe der
tatsächlichen wirtschaftlichen Faktoren und Kräfte
— in den meisten Fällen versumpft das Denken
gegenüber diesen Kräften in Schwarmgeisterei
-
3. Diese Schwarmgeisterei erzeugt die
einzelnen Utopien; aber schlimmer als das Aufstellen von
Utopien ist die utopistische Denkungsart. Gerade die
sogenannten «Praktiker» haben in der neuesten Zeit
die utopistische Denkungsart zu der ihrigen gemacht. —
Vor allen Dingen kommt das Streben nach dem Glück in
Betracht. -
4. Das moderne Denken hat die
Fähigkeit verloren, unterzutauchen in die Wirklichkeit. Es
handelt sich darum, in dem Seelenleben die «inneren
Kräfte» zu lösen, denen sich dann die volle
Wirklichkeit ergibt.
5. Dazu muß das «geistige
Leben» auf die volle Freiheit
auch im Leben gestellt
sein. Diese Freiheit kann nie erreicht werden, wenn Aufsicht
oder Verwaltung von seiten des politischen Gliedes des sozialen
Organismus da ist.
6. Der Rechtsorganismus kann nicht
Wirtschafter sein, und er darf auch nicht mißbraucht von
dem Wirtschaftsorganismus sein. Er würde
sich als Gesetzgeber notwendig begünstigen müssen. In
diesem Organismus muß der Mensch
als
Mensch wirken.
Grundgesetz: der
Mensch kann nur «für Andre»
arbeiten.
[Auf der
gegenüberstehenden Seite:]
Dieser Organismus
muß die Wirtschaft begrenzen können; er muß
sie beleben können = sie
bewegt sich so,
daß sie den Menschen verbraucht;
sie kann ihn niemals
beglücken; er muß ihr entrissen werden können.
— Die Grundlage des
Rechtes nicht Macht, sondern das Ersprießliche für die
Allgemeinheit. — Dem
kommt ein Recht zu,
der den Willen hat, das mit dem Recht Begründete in den
Dienst der Gesamtheit zu stellen.
In Bezug auf die
äußere Politik — Der Weltkrieg hat gezeigt,
daß man sich auf Grund einer Internationale doch nicht
finden kann, wenn sie vorwiegend auf wirtschaftlicher Grundlage
ruht.
Es ist davon
gesprochen worden, daß nicht Völker
können
verschachert werden wie Waren; vor allem kommt dies für
den Menschen in Betracht.
[Fortlaufender
Text:]
7. In dem
ökonomischen Organismus muß die Verbindung des
Menschen mit den Bedingungen der Produktion, des Handels, des
Konsums geltend sein. Da spielt hinein z. B. die
Arbeitskraft, die nur aus der Warenzirkulation ausschalten
kann, wenn sie ihr von der Einen Seite her zu Grunde liegt und
mitbestimmend ist.
Wie durch die
elementarischen Weltereignisse die wirtschaftlichen Impulse
bestimmt werden: die Türken erscheinen in
Konstantinopel, Europas Wirtschaft muß
die Richtung nach dem Osten aufgeben.
Wilson sagt: mit der Entdeckung Amerikas wurde der
europäischen Menschheit möglich: «ein neues
geschichtliches Experiment
anzustellen».
Wilson: «Die Freiheit des Menschen besteht in dem richtigen
Ineinandergreifen der menschlichen Interessen, des
Handels und der Kräfte.»
Das ökonomische
Leben erfordert Anpassung des Menschen an die
Interessenbefriedigung des Ganzen: die Aufhebung der
Freiheit; wenn das Schiff sich in der Windrichtung bewegt,
bewegt es sich frei!
Wenn es dagegen
strebt, ist es gefesselt! Aber so ist es nur frei dadurch,
daß es ein Glied in einem Zusammenhang ist —
hätte es Bewußtsein, so könnte es
nur glauben, frei zu sein, solange als es nicht
bemerkt, daß es sich seiner ursprünglichen Freiheit
entäußert hat, um im Zusammenhang nicht gehemmt
zu sein. Der Proletarier könnte glauben,
frei zu sein, wenn er
sich so betätigt, daß seine Tätigkeit den
Interessen des Unternehmers angepaßt ist —
aber er hört auf, in diesem Glauben zu leben, wenn er
gewahr wird, daß dies seinen
Interessen
widerspricht. Das Schiff kann nur «frei» genannt
werden, wenn es auch im gegebenen Augenblick
nicht dem Wind zu folgen braucht; sondern seine
Richtung umkehren
kann, so daß der
Wind ihm entgegenarbeitet. Der Proletarier muß in der Lage
sein, sich so einzustellen, daß der Kapitalist ein
Interesse daran hat, seine «Ruhe» ebenso zu benutzen,
wie er seinen «Fleiß», seine
«Arbeitskraft» benutzt. Das Kapital muß etwas
produzieren, das ohne die «Ruhe» des Arbeiters
wesenlos wird. Dem widerstrebt es, wenn das Kapital
die Möglichkeit hat, für sich etwas zu sein,
wenn es nicht gezwungen ist, in den sozialen Organismus
einzufließen.
Man muß veranlaßt sein, sein
Kapital auszugeben
(zu «kaufen») — das
ist man nur, wenn man ohne das Ausgeben am Leben verarmt, wenn
einem ohne die Ausgabe die Einnähme versiegt; der
Unternehmer muß den Arbeiter nicht nur für sein
Produzieren, er muß ihn für sein Leben nötig
haben — er muß ihn als Konsumenten dessen nötig
haben, was er produziert — das aber bedeutet die
Assoziation zwischen dem Konsumenten und dem Produzenten, die
Gesellschaft, die Brüderschaft, die die Konsumenten
für einen Produktionszweig vereinigt — und da
dies unmittelbar nicht möglich ist innerhalb der
Lebenslage der gegenwärtigen Menschheit: bedeutet es
das System der
Associationen –
Zürich, 12. Februar
1919
Materialien:
Es handelt sich in der
Entwicklung des sozialen Denkens und Wollens nicht um eine
wirtschaftliche, sondern um eine Frage des Einflusses der
menschlichen Persönlichkeit -
Es tritt auf auch auf
dem Gebiete des Seelenlebens selbst der Glaube an die
Verankerung des Einzelmenschen in der menschlichen
Gesellschaft beim Proletariat wird diese Verankerung auf
die unpersönlichen Faktoren des Wirtschaftslebens
geschoben — man will nicht auf andere Menschen
gestützt sein =
Hervorgebracht ist das rein ökonomisehe Denken
innerhalb der bürgerl. intellektuellen Kreise; die
proletarischen haben dies übernommen-: sie wollen
aber das Wirtschaftsleben weiter politisieren, statt es von der
bereits eingetretenen Politisierung zu
befreien.