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Die soziale Frage

Online seit: 15th November, 2017

AUFZEICHNUNGEN

ZU DEN ZÜRCHER VORTRÄGEN ÜBER

«DIE SOZIALE FRAGE»

Zu den nachstehenden Aufzeichnungen: Mit Ausnahme der Materialien für den vierten Vortrag vom 12. Februar 1919 sind die auf diese Vorträge bezüglichen Notizbucheintragungen (Nb 97 und 130) nicht von Rudolf Steiner selbst datiert. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß sie die gedankliche Grundlage für eine Reihe von Vorträgen mit gleicher Themenstellung an verschiedenen Orten innerhalb kurzer Zeitabstände bildeten, von denen in dem vorliegenden Band jedoch nur die in Zürich gehaltenen abgedruckt sind. Die zur leichteren Orientierung eingefügten Daten sind, wie es grundsätzlich bei allen Zusätzen des Herausgebers geschieht, in eckige Klammern gesetzt.

In den Aufzeichnungen zum zweiten Vortrag vom 5. Februar ist unter Punkt 13 ein Zitat aus dem sechsten Vortrag des Wiener Zyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Bibl.-Nr. 153, angeführt. Dieses Zitat findet sich nicht in der Nachschrift der Zürcher Vorträge, ist jedoch in der Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage» Kap. IV sowie in einer Reihe von Vorträgen der folgenden Wochen und Monate enthalten. In den Aufzeichnungen zum Vortrag vom 10. Februar beziehen sich die drei letzten Absätze auf die Schrift von Woodrow Wilson «Die neue Freiheit», deutsch München 1914.

Das Konzept für den Vortrag vom 8. März befindet sich im Archiv unter der Nr. 5462/63.

     I.         Die wirkliche Gestalt der sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit (auf Grund geisteswissenschaftlicher Untersuchung).

 II.          Die vom Leben geforderten wirklichkeitsgemäßen Lösungsversuche für die sozialen Fragen und Notwendigkeiten (auf Grund geisteswissenschaftlicher Lebensauffassung).

III.         Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung im sozialen Denken und Wollen.

IV.         Die Entwicklung des sozialen Denkens und Wollens und die Lebensfrage der gegenwärtigen Menschheit.

 

Diese Vorträge wollen von einem Gesichtspunkte, welcher der vollen Lebenswirklichkeit durch geisteswissenschaftliche Denkungsart und Forschung Rechnung trägt, und durch eine nachVorurteilslosigkeit strebende allseitige Erfassung der wahren gegenwärtigen Menschheitsbedürfnisse die sozialen Fragen und Notwendigkeiten erörtern. Sie wollen als Tatsache geltend machen und ins Auge fassen, daß nur eine solche Erörterung Verständnis der wirklichen Lebensforderungen auf diesem Gebiete an die Stelle von Mißverständnis auf demselben; fruchtbare Arbeit an Stelle von unfruchtbaren, unpraktischen und die Entwicklung hemmenden Debatten und Bestrebungen treten lassen kann; daß auch nur in solcher Betrachtungsart das im Menschen wesenhaft begründete Freiheitsbewußtsein mit den Notwendigkeiten des sozialen Zusammenlebens vereinigt gedacht und durch sie verwirklicht werden kann.

 

[Zürich, 3. Februar 1919]

Die wirkliche Gestalt der sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit.

1.   Die Katastrophe hat die in den sozialen Tiefen vorhandenen Kräfte an die Oberfläche geworfen. In die Kriegsursachen haben sie hineingespielt.

2.   Man redet von der «sozialen Frage»; man isoliert sie und universalisiert sie. Aber sie steht im wirklichen Leben nicht isoliert da. Sie wurde nur isoliert, weil die anderen beiden Glieder im gesellschcftlichen Organismus, mit denen sie verknüpft ist, verkümmert sind. Nirgends tritt die wahre Gestalt der sozialen Fragen auf. Die Forderungen treten auf. Aber die schöpferischen Kräfte zur Lösung sind nicht da.

3.   Die auftretenden Forderungen steigen aus verschiedenen Gebieten auf: aus dem Wirtschaftsleben = ob die Produktion im Einklang ist mit dem Bedarf. Aus dem Gefühle der Menschenwürde = ob die menschliche Arbeitskraft Ware sein darf? Aus dem Verständnis für soziale Gemeinschaft: Die Brücken sind abgeschlagen. Man versteht über die Klassen hinweg einander nicht. Man hat nur Vertrauen zum Klassenkampf. Die naturwissenschaftliche Denkungsart hat nur Verständnis für das bloße Wirtschaftsleben. Das geistige Leben ist für das Proletariat zur bloßen «Ideologie» geworden.

 

Herrschaft des Kapitals. Abhängigkeit. Die Krisen. Produziert, damit profitiert werde. Sozialismus wie eine Religion.

Der Sozialismus als Lehre wegen der mangelnden sozialen Impulse des Lebens. — Die letzteren waren (auf ihre Art) früher besser vorhanden als jetzt.

Der Sozialismus hält sich für eine «wissenschaftliche Lehre» und eine Weltanschauung.

1.   Die Wirtschaft bestimmt den geschichtlichen Zustand. Alles Übrige, Recht, Sitte, Sittlichkeit, ideologischer Überbau.

Sklaverei, Feudalität, Privatkapitalismus.

2.   Der Arbeiter erzeugt den Profit.

3.   Alle Geschichte ist Geschichte von Klassenkämpfen.

Als die früher von der Bildung ausgeschlossene Klasse in die Bildungssphäre einrückte, hatte die Bildung ihre Stoßkraft verloren: man nahm die religiöse Nuance der Bildung nicht mehr auf. Weil vorher diese religiöse Nuance keine Wirkung auf den naturwissenschaftlichen Gedanken zu üben vermochte.

1.    Die kriegerische Katastrophe hat nach den verschiedensten Seiten hin das Drängende der sozialen Frage geoffenbart. Sie war vorhanden im Bewußtsein der proletarischen Bevölkerung. Aber sie hat dazu geführt, auf eine Lösung zu verzichten. Man muß in der Lage sein, psychologisch zu beobachten, was in der Seele der prolet. Bevölkerung lebt.

2.    Der «wissenschaftliche» Charakter des modernen prolet. Klassenbewußtseins. Das bezeugt, daß mit dem Aufsteigen der prolet. Bewegung die Art zusammenhängt, wie der Proletarier denken lernte. Er lernte «naturwissenschaftlich» denken. Das brachte ihn dazu, auf die bloße wirtschaftliche Entwicklung zu sehen. Er lernt das Wesen der Warenproduktion kennen.

3.    Nun vermeint er, auch seine Grundforschung gehe aus Wirtschaftlichen Impulsen hervor. Doch besteht sie darin, daß die Arbeitskraft als Ware in den kapitalistischen Produktionsprozeß verschlungen worden ist.

4.    Das geistige Leben ist der prolet. Persönlichkeit zur «Ideologie» geworden.

5.    Dadurch wird verdunkelt, was aus den Lebensnotwendigkeiten folgt: Das Wesen der Weiterentwicklung der Menschheit. Das Wesen des sozialen Organismus.

Spiel Beschäftigung nach freier Wahl; Arbeit durch Notwendigkeit, Pflicht, Willen eines Anderen.

Verkürzung der Arbeitszeit: man strebt sie an, während man die Befreiung von langandauernder Abhängigkeit meint.

Wenn das geistige Leben mit den beiden andern Gliedern des sozialen Organismus vermengt wird, so fehlt diesem die Zuströmung dessen, was ihn belebend im Werden erhält.

Das wirtschaftliche Leben steht unter Gesetzen, die fortwährend den sozialen Organismus stagnierend machen.

 

Die wirkliche Gestalt der sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit.

1.    Wie die soziale Frage am Ausgangspunkte und im Verlauf wie ein Faktor da stand, mit dem man rechnete.

2.     Nun lastet etwas auf einem Teile Europas wie ein tragischer Zug: man steht vor der Notwendigkeit, ein Urteil zu gewinnen, das in die Tat übergehen kann = man kann wohl doch kaum zugeben, daß ein solches Urteil sich zeigt.

3.     Eines tritt in der prolet. Bewegung zu Tage: sie verleugnet den Gedanken und doch: sie ist im eminentesten Sinne eine Gedankenbewegung.

[Auf der gegenüberstehenden Seite :]

Nur derjenige wird gewachsen sein der Zeit, der imstande ist, sein Urteil umzuwandeln —

Die alten Programmesind noch da; aber die Tatsachen haben sich so gründlich geändert, daß man sich innerhalb dieser Tatsachen wie mumifiziert ausnimmt -

Das Leben stellt überall neue Forderungen -

Die Kriegskatastrophe ist wie der letzte Akt, in den die menschlichen Impulse ausgelaufen sind; was sie zurückgelassen haben, das wird ein neues Verständnis der Dinge notwendig machen.

 

[Fortlaufender Text:]

4.      Doch sie weist auf ganz andere Impulse als die in den Gedanken ausgesprochenen.

Im Mittelpunkte steht für den, der das Leben beobachten kann und der mit dem Proletariat gelebt hat: der proletarische Mensch mit seinem «Klassenbewußtsein».

5.      Aber dieses «Klassenbewußtsein» ist doch nur eine Maskierung. Es ist in Wahrheit das Menschheitsbewußtsein erwacht an der Maschine und innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

6.      Und es ist letzten Endes doch nicht der Wirtschaftsgegensatz zwischen dem Bürgertum und dem Proletariat, sondern ein Nichtverstehen, das andere Grundlagen hat. Der Bürger sieht Hauptmanns Weber an. Was er dabei wahrnimmt, ist sein Mißverständnis.

7.      Der von der Welt an der Maschine isolierte und in den Kapitalismus isoliert eingespannte proletarische Mensch ringt sich zu dem modernen Denken (z. B. Marx) auf.

8.      Dieses Denken hat die Stoßkraft verloren, um in seinem Erkennen eine Menschheitsempfindung zu zeitigen. Mit diesem Denken kann man nur die ökonomische Ordnung verstehen.

9.      Dieses Denken ist noch nirgends als selbständige Macht aufgetreten.

Es ist untergetaucht in die Staatsgebilde.

10. Daher innerhalb des prolet. Denkens die«Ideologie».

11. Die Meinung von der Grundforderung — Arbeitskraft soll nicht Ware sein. Diese Frage an die Politik. So wird die Ungleichheit empfunden.

12. Das Kapital verfälscht die Beziehung des Menschen zum Wirtschaftsprozeß. Es ist der Wirtschaftsprozeß, welcher die Kapitalvermehrung bewirkt — der Mensch steht ihm machtlos gegenüber. Es ist die Verleugnung der menschlichen Brüderlichkeit.

1)      Geistig   = die Liebe zur Sache

2)      politisch = der Wille zum Recht

3)      wirtschaftlich = das Begehren nach dem Nutzen (Zweck). (Das

Interesse am Nutzen, Nutzwert)

[Auf der gegenüberstehenden Seite zu Punkt 12]

Der Kapitalismus geht auf Mehrwert-Profit; das ist die Wurzel des Glaubens an einen andern Effekt. -

Das Elend, das Übel ist nicht im Wesen des Menschenlebens begründet — es kann nur aus den Einrichtungen kommen — : das weiß der Proletarier (vielleicht unbewußt) — Man kann sich über seinen Organismus nicht freuen; aber man erleidet Schmerz, wenn er in Unordnung ist — Jeder, der behauptet: das Elend sei notwendig, wird von dem Proletarier nicht ernst genommen. Gesund hindert der soziale Organismus nicht die Entfaltung von Glück und Freude. Der Wirtschafts-Körper kann gestört nur von den andern Körpern werden.

[Zürich, 5. Februar 1919]

Die vom Leben geforderten wirklichkeitsgemäßen Lösungsversuche für die die sozialen Fragen und Notwendigkeiten.

1. Man hat im sozialen Denken den Blick gerichtet auf die Wirtschaftliche und technische Entwicklung der neueren Zeit. Man hat aber nicht beachtet, daß innerhalb dieser Entwicklung eine Lebensform und Lebensnotwendigkeit erwacht sind, welche nicht durch eine bloße Ordnung des Wirtschaftslebens in die rechten Bahnen gelenkt werden können.

[Auf der gegenüberstehenden Seite:]

Es sollen nicht die aus einseitigen Lebensverhältnissen hervorgehenden Impulse geltend gemacht werden, sondern die wirklichen Lebensnotwendigkeiten. Was nützt es, wenn Eine Klasse dem sozialen Organismus das Gepräge gibt und sie eben dadurch die Gegenwirkung hervorruft, daß eine andere Klasse sich bildet, die störend wirkt.

[Fortlaufender Text:]

2.          Die kapitalistische Wirtschaftsform hat aus sich herausgetrieben jeden Impuls, der aus anderen Lebensgrundlagen kommt als aus dem Wirtschaftsleben selbst.

3.          Die sozialistische Denkart des Proletariats hat allen Glauben daran verloren, daß eine Erreichung des menschenwürdigen Daseins für es auf eine andre Art als durch eine Ordnung der rein Wirtschaftlichen Verhältnisse erreicht werden könne.

4.          Allein das wirtschaftliche Leben umfaßt nur ein Glied des gesamten sozialen Organismus. Und wird der Mensch in ein bloß nach wirtschaftlichen Grundlagen geordnetes Leben hineingestellt, so muß seine Gesamtwesenheit verkümmern.

5.          Es wird gerade übersehen, daß die neuere Zeit in dem privatwirtschaftlichen Kapitalismus die beiden anderen Glieder des sozialen Organismus unterjocht hat.

6.          Man muß diese beiden andern Glieder wieder befreien. Man muß lernen an der Betrachtung des natürlichen Organismus auch die Lebensnotwendigkeiten des sozialen richtig anzuschauen. Wenn man einfach die Gesetze, die man glaubt für den natürlichen Organismus erkannt zu haben, auf den sozialen übertragen zu können [glaubt], so beweist man nur, daß man nicht in der Lage ist, den sozialen Organismus aus seinen eigenen Lebensnotwendigkeiten heraus anzuschauen.

7.          Wie man den natürlichen Menschenorganismus betrachten soll.

8.          Wie man den sozialen Organismus betrachten soll: bei ihm ist die mit den Naturgrundlagen zusammenhängende Produktion ähnlichen Gesetzen unterworfen wie beim Menschenorganismus die natürlichen Begabungen. Man kann nicht die natürlichen Begabungen unmittelbar durch Lernen hervorbringen; man kann nicht durch eine soziale Einrichtung ändern, daß die Produktion des Bananenlebensmittels mit Bezug auf das Erträgnis der Arbeit zu der Produktion des Weizenlebensmittels [sich] wie 400:3 verhält. Man kann nicht ändern durch eine soziale Ordnung, daß in Deutschland der Weizen das Sieben- bis Achtfache der Aussaat ergibt, in Chile das 12fache, in Nordmexiko das 17fache; in Peru das 20fache, in Südmexiko das 25-35fache. Aber wenn der soziale Organismus nach seinen eigenen Gesetzen in Ordnung ist, dann wird die Produktivität eines Gebietes daraus ebenso folgen, wie die Begabungen des natürlichen Menschenorganismus richtig hervortreten, wenn das Erziehungssystem richtig wirkt.

9.          Gesund ist der soziale Organismus nur, wenn er in die selbständigen Glieder zerfällt:

1) das wirtschaftliche Glied, das den Menschen mit der Naturgrundläge zusammen läßt. Es muß ein halbpersönliches Verhältnis des Menschen sein zu den Urfaktoren der Produktion.

 

2)   das rechtliche Glied, das alle Menschen gleich vor dem Gesetz behandelt, in dem ein völlig unpersönliches Verhältnis walten muß.

 

Hier ist das Gebiet, wo gesundes demokratisches Empfinden seine Fruchtbarkeit erweisen könnte. Der jetzt schon alte Liberalismus hat es nicht verstanden. Dieses Glied kann eben nicht solche Gesetze liefern, welche das geistige und das Wirtschaftsleben regeln.

 

3)   das rechtliche Glied, das alle Menschen gleich vor dem Gesetz behandelt, in dem ein völlig unpersönliches Verhältnis walten muß.

 

Vergiftet worden der Inhalt durch das Begehren dessen, was nicht zum Inhalt gehört: Position — oder durch das Durchsetzenwollen einer Tendenz = Partei: konservativ, liberal etc.

Wer hat denn eine Barrikade vor die geistige Welt gestellt, so daß diese nicht mehr gesehen werden kann?


 




 


 


10. Diese Glieder müssen im Leben zusammenwirken, nicht durch eine abstrakte Einheit. Die Vertretungen der einzelnen Glieder müssen sorgsam wachen können über ihre Selbständigkeit. Es wird nicht können konfundiert werden die menschliche Regelung der Arbeitsverhältnisse dadurch, daß durch die Hereinnahme des Wirtschaftlichen Lebenselementes in das zweite Glied die menschliche Arbeitskraft zur Ware und ihr Wert zum Warenwert wird. Es wird das Wirtschaftsglied nur mit Warenerzeugung, Warenzirkulation und Warenkonsum zu tun haben; das politische Gebiet wird nur zu tun haben mit alledem, worinnen alle Menschen gleich sind. Das Geistgebiet wird es zu tun haben mit alledem, worinnen alle Menschen gleich sind. Das Geistgebiet wird es zu tun haben mit der Sphäre der Freiheit, mit dem, was nur unter der freien Entfaltung der individuellen Impulse gedeihen kann.

11.    Erfahrungen, welche während der Kriegskatastrophe mit diesen Anschauungen gemacht worden sind. Wie über sie gesprochen worden ist. Wie man nicht die Brücke gefunden hat vom theoretischen Verständnis zum praktischen Wollen. Man hat darauf gerechnet, daß die bitteren Erfahrungen diese Impulse bringen könnten.

12.    Man schreckt zurück, indem man dasjenige, was die Wirklichkeit fordert, entweder für radikal hält: man möchte den Organismus heilen vor den Erscheinungen z. B. der Geschlechtreife. Oder man hält diese Dinge für Ausflüsse eines unpraktischen Idealismus.

13.    Man hat die Erfahrung gemacht, daß diese Dinge immer nur für innere Angelegenheiten gehalten werden. Sie sind aber die Grundlagen für die äußeren Verhältnisse der Staatsgebiete. Diese müssen einander durch die selbständigen Glieder des sozialen Organismus gegenübertreten. Dann korrigieren sich die Nachteile des einen Gebietes durch die Eigenheiten des anderen. Während das Konfundieren zu den Konflikten und Katastrophen führen muß, deren größte im Jahre 1914 ihren Anfang genommen hat.

In Wien: «Diese Tendenz wird immer größer und größer werden, bis sie sich in sich selber vernichten wird. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, überall, wie furchtbare Anlagen zu geistigen Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für denjenigen, der das Dasein durchschaut; das ist das Furchtbare, was bedrückend wirkt und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte, was sonst den Mund öffnet für Geisteswissenschaft, was einen auch dann dahin bringen müßte, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Wenn der soziale Organismus so sich weiter entwickelt, wie dies bisher geschehen ist, so entstehen Schäden der Kultur, die für den sozialen Organismus dasselbe sind, was die Krebsbildungen für den menschlichen natürlichen Organismus sind.»

[Zürich, 10. Februar 1919]

III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung im sozialen Denken und Wollen.

Materialien.

I.          Die Freiheit kann nur sich entwickeln auf Grund eines in voller Selbständigkeit sich entwickelnden geistigen Lebens. Denn das freie Entfalten der Kräfte beruht auf den Denkimpulsen, die sich ergeben, wenn das geistige Leben seine Eigenregulierung hat. -

II.           Alle besonderen Verhältnisse ergeben sich aus der naturgemäßen Gliederung des sozialen Organismus: die assoziative Organisation der Wirtschaftssphäre. Das Verhältnis des Menschen zur Naturgrundlage ergibt Koalitionen und Assoziationen, die miteinander in sachgemäße Verbindung treten. Hier ist bestimmend die Wertbildung. Hier wird maßgebend der Vertrag.

das Rechtsverhältnis: Es liegt zu Grunde das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Bestimmend wirkt das Recht. Es ergibt sich dadurch, daß derjenige ein Recht «mit Recht» hat, der in den sozialen Organismus zum Gedeihen der andern eingreift. Nicht die Macht entscheidet, sondern das Maß, in dem die Betätigung eines Menschen in den sozialen Organismus eingreift.

das geistig-individuelle Leben. Bestimmend wirkt die Freiheit, mit der sich die seelische und geistige Begabung entfalten kann.

so ergibt sich in Wirklichkeitslogik: Steuersystem, Geldbedeutung, Beziehung von Kapital zu Geld etc.

 

Bestimmend werden:

1.    Auf dem Wirtschaftsgebiet: das System der aus Opportunität hervorgegangenen Verträge.

2.    Auf dem politischen Gebiete: das System der öffentlichen Rechte.

3.    Auf dem geistigen Gebiete diefreie Konkurrent der Begabungen und entwickelten Kräfte und Betätigungen.

Grund und Boden: er wird in einem Realverhältnis stehen müssen zu dem Bearbeiter; aber dieses Verhältnis wird nicht ein solches sein dürfen, das den allgemeinen sozialen Organismus schädigt.

Alles, was die Erhöhung des Ertrages des Bodens niedriger stellt als das Recht auf diesen Ertrag, wird ausgeschaltet: Hypothekenrecht die Priorität -

Das Kapital kann nicht liegen in Werten (Pfandbriefen und Hypotheken), denen die hohen Bodenpreise als Deckung dienen.

Vermögenbildung ohne die Zusammenbindung des Vermögens mit dem sozialen Prozeß muß zum Unheil ausschlagen. Wenn jemand seine Erfindergabe in eine Maschine gesteckt hat, so stecken in ihr doch nicht bloßseine, sondern die Impulse der Allgemeinheit.

In die Wirtschaft darf die Arbeitskraft erst einfließen, nachdem sie ihre Grenzen gefunden hat aus dem Rechtsverhältnis heraus. Ein Produktionszweig, der eine unmögliche Arbeitsleistung erfordert, darf ebensowenig als statthaft gelten wie einer, dessen Rohprodukte zu teuer zu stehen kommen.

Woher rührt die Schwarmgeisterei? Von der Loslösung des einen Zweiges des Denkens von dem andern.

Der Merkantilismus\\2Ltkein Bewußtsein davon, wie in das Wirtschaftsleben eingreift, wenn man die Staaten zu Handelszentren macht — (Colbert 1619-1687; Cromwell, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große). Abschließen der Länder gegeneinander.

Die Physiokraten: das wirtschaftliche Leben ganz von Naturgesetzen beherrscht, die frei walten sollen.

Quesnay: 1. Produktivität des Bodens

2.   Unproduktivität des Handels und der Industrie, einzige Steuer: landwirtschaftliche Ertragsteuer.

3.   Ohne Nutzen ist die künstliche Geld Vermehrung.

4.   Laisser faire, laisser aller.

Es scheint an dieser Anschauung sehr vieles richtig — Woran liegt ihr Ungenügendes? -

1. Man wird die Steuer nur richtig orientieren, wenn man davon ausgeht: in dem Augenblicke, in dem ich in den sozialen Organismus mit meiner Tätigkeit eingreife, stelle ich auf den Markt, was ich der Allgemeinheit verdanke: also muß ich steuern. Bezahle ich ein Industrieprodukt, eine Handelsleistung, so muß ich steuern für die Möglichkeit, mich in den sozialen Organismus hineinzustellen. In jedem Falle muß der Genießer die Steuer bezahlen. Führt das nicht zum Drücken der Preise? Doch nur dann, wenn der Produzent sich drücken lassen kann — nicht aber, wenn das nicht der Fall ist.

 

III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung im sozialen Denken und

Wollen.

1.   Man muß immer wieder darauf zurückkommen: das gegenseitige Sich-nicht-Verstehen der alten führenden Klassen und der neu aufstrebenden ist eines der größten Hemmnisse des gegenwärtigen sozialen Lebens. Man versteht in den ersteren Kreisen das «proletarische Denken» gar nicht. Man hat, aus seinen Denkgewohnheiten heraus, kein Mittel, zu verstehen, wie dieses Denken zur Kritik geworden ist des vom Bürgertum Entwickelten. Aber eben nur «Kritik», nicht die Vertretung eines Impulses, der sich verwirklichen will. «Was kommen wird, muß sich zeigen, wenn das Proletariat die Herrschaft errungen haben wird.»

2.   Man muß zu der Erkenntnis kommen: die Denkgewohnheiten der neuen Zeit erzeugen nicht Gedanken, welche eingreifen können in das Gewebe der tatsächlichen wirtschaftlichen Faktoren und Kräfte — in den meisten Fällen versumpft das Denken gegenüber diesen Kräften in Schwarmgeisterei -

3.   Diese Schwarmgeisterei erzeugt die einzelnen Utopien; aber schlimmer als das Aufstellen von Utopien ist die utopistische Denkungsart. Gerade die sogenannten «Praktiker» haben in der neuesten Zeit die utopistische Denkungsart zu der ihrigen gemacht. — Vor allen Dingen kommt das Streben nach dem Glück in Betracht. -

4.   Das moderne Denken hat die Fähigkeit verloren, unterzutauchen in die Wirklichkeit. Es handelt sich darum, in dem Seelenleben die «inneren Kräfte» zu lösen, denen sich dann die volle Wirklichkeit ergibt.

5.   Dazu muß das «geistige Leben» auf die volle Freiheit auch im Leben gestellt sein. Diese Freiheit kann nie erreicht werden, wenn Aufsicht oder Verwaltung von seiten des politischen Gliedes des sozialen Organismus da ist.

6.   Der Rechtsorganismus kann nicht Wirtschafter sein, und er darf auch nicht mißbraucht von dem Wirtschaftsorganismus sein. Er würde sich als Gesetzgeber notwendig begünstigen müssen. In diesem Organismus muß der Mensch als Mensch wirken.

Grundgesetz: der Mensch kann nur «für Andre» arbeiten.

 

[Auf der gegenüberstehenden Seite:]

Dieser Organismus muß die Wirtschaft begrenzen können; er muß sie beleben können = sie bewegt sich so, daß sie den Menschen verbraucht; sie kann ihn niemals beglücken; er muß ihr entrissen werden können. — Die Grundlage des Rechtes nicht Macht, sondern das Ersprießliche für die Allgemeinheit. — Dem kommt ein Recht zu, der den Willen hat, das mit dem Recht Begründete in den Dienst der Gesamtheit zu stellen.

In Bezug auf die äußere Politik — Der Weltkrieg hat gezeigt, daß man sich auf Grund einer Internationale doch nicht finden kann, wenn sie vorwiegend auf wirtschaftlicher Grundlage ruht.

Es ist davon gesprochen worden, daß nicht Völker können verschachert werden wie Waren; vor allem kommt dies für den Menschen in Betracht.

[Fortlaufender Text:]

7. In dem ökonomischen Organismus muß die Verbindung des Menschen mit den Bedingungen der Produktion, des Handels, des Konsums geltend sein. Da spielt hinein z. B. die Arbeitskraft, die nur aus der Warenzirkulation ausschalten kann, wenn sie ihr von der Einen Seite her zu Grunde liegt und mitbestimmend ist.

Wie durch die elementarischen Weltereignisse die wirtschaftlichen Impulse bestimmt werden: die Türken erscheinen in Konstantinopel, Europas Wirtschaft muß die Richtung nach dem Osten aufgeben.

Wilson sagt: mit der Entdeckung Amerikas wurde der europäischen Menschheit möglich: «ein neues geschichtliches Experiment anzustellen».

Wilson: «Die Freiheit des Menschen besteht in dem richtigen Ineinandergreifen der menschlichen Interessen, des Handels und der Kräfte.»

Das ökonomische Leben erfordert Anpassung des Menschen an die Interessenbefriedigung des Ganzen: die Aufhebung der Freiheit; wenn das Schiff sich in der Windrichtung bewegt, bewegt es sich frei! Wenn es dagegen strebt, ist es gefesselt! Aber so ist es nur frei dadurch, daß es ein Glied in einem Zusammenhang ist — hätte es Bewußtsein, so könnte es nur glauben, frei zu sein, solange als es nicht bemerkt, daß es sich seiner ursprünglichen Freiheit entäußert hat, um im Zusammenhang nicht gehemmt zu sein. Der Proletarier könnte glauben, frei zu sein, wenn er sich so betätigt, daß seine Tätigkeit den Interessen des Unternehmers angepaßt ist — aber er hört auf, in diesem Glauben zu leben, wenn er gewahr wird, daß dies seinen Interessen widerspricht. Das Schiff kann nur «frei» genannt werden, wenn es auch im gegebenen Augenblick nicht dem Wind zu folgen braucht; sondern seine Richtung umkehren kann, so daß der Wind ihm entgegenarbeitet. Der Proletarier muß in der Lage sein, sich so einzustellen, daß der Kapitalist ein Interesse daran hat, seine «Ruhe» ebenso zu benutzen, wie er seinen «Fleiß», seine «Arbeitskraft» benutzt. Das Kapital muß etwas produzieren, das ohne die «Ruhe» des Arbeiters wesenlos wird. Dem widerstrebt es, wenn das Kapital die Möglichkeit hat, für sich etwas zu sein, wenn es nicht gezwungen ist, in den sozialen Organismus einzufließen. Man muß veranlaßt sein, sein Kapital auszugeben (zu «kaufen») — das ist man nur, wenn man ohne das Ausgeben am Leben verarmt, wenn einem ohne die Ausgabe die Einnähme versiegt; der Unternehmer muß den Arbeiter nicht nur für sein Produzieren, er muß ihn für sein Leben nötig haben — er muß ihn als Konsumenten dessen nötig haben, was er produziert — das aber bedeutet die Assoziation zwischen dem Konsumenten und dem Produzenten, die Gesellschaft, die Brüderschaft, die die Konsumenten für einen Produktionszweig vereinigt — und da dies unmittelbar nicht möglich ist innerhalb der Lebenslage der gegenwärtigen Menschheit: bedeutet es das System der Associationen –

 

Zürich, 12. Februar 1919

Materialien:

Es handelt sich in der Entwicklung des sozialen Denkens und Wollens nicht um eine wirtschaftliche, sondern um eine Frage des Einflusses der menschlichen Persönlichkeit -

Es tritt auf auch auf dem Gebiete des Seelenlebens selbst der Glaube an die Verankerung des Einzelmenschen in der menschlichen Gesellschaft beim Proletariat wird diese Verankerung auf die unpersönlichen Faktoren des Wirtschaftslebens geschoben — man will nicht auf andere Menschen gestützt sein = Hervorgebracht ist das rein ökonomisehe Denken innerhalb der bürgerl. intellektuellen Kreise; die proletarischen haben dies übernommen-: sie wollen aber das Wirtschaftsleben weiter politisieren, statt es von der bereits eingetretenen Politisierung zu befreien.


 



Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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