DRITTER
VORTRAG
Dornach,
13. Oktober 1921
Es
wird sich, zu den Aufgaben, die man sich auf einem bestimmten Gebiete als
Redner stellen kann, darum handeln, den Stoff, den man zu behandeln hat,
in der entsprechenden Weise zunächst selber zu durchdringen. Es
gibt eine zweifache Durchdringung des Stoffes, insofern die
Mitteilung über diesen Stoff durch das Reden in Betracht kommt.
Das erste ist, sich den Stoff für eine entsprechende Rede
anzueignen so, daß man ihn gliedern kann, daß man
gewissermaßen in die Lage versetzt ist, der Rede eine
Komposition zu geben. Ohne Komposition kann eine Rede eigentlich
nicht verstanden werden. Es kann dem Zuhörer an einer
nichtkomponierten Rede das eine oder das andere gefallen; aber in
Wirklichkeit aufgenommen wird eine nicht-komponierte Rede nicht.
Insofern die Vorbereitung in Betracht kommt, muß es sich daher
darum handeln, daß man einsieht: Jede Rede muß unbedingt
schlecht werden in bezug auf die Aufnahme durch die Zuhörer,
welche nur so entstanden ist, daß man einfach eine
Ausführung nach der anderen, einen Satz nach dem anderen sich
vorgestellt hat und eines nach dem anderen in der Vorbereitung
gewissermaßen durchgenommen hat. Ist man nicht in der Lage,
wenigstens in irgendeinem Stadium der Vorbereitung die ganze Rede als
ein Ganzes zu überschauen, dann kann man eigentlich nicht auf
Verstandenwerden rechnen. Hervorgehenlassen die ganze Rede
gewissermaßen aus einem umfassenden Gedanken, den man gliedert,
und Entstehenlassen der Komposition dadurch, daß man von einem
solchen einheitlichen, das Ganze der Rede umfassenden Gedanken
ausgeht, das ist das erste.
Das
andere ist das Zu-Rate-Ziehen aller Erfahrungen, die man für das
Gebiet der Rede aus dem unmittelbaren Leben heraus haben kann, also
möglichst in die Erinnerung rufen alles dasjenige, was man in
der betreffenden Sache unmittelbar erlebt hat, und versuchen, nachdem
man eine Art Komposition der Rede vor sich hat, die Erfahrungen in
diese Komposition da oder dort hineinfließen zu lassen.
Das
wird im allgemeinen die Skizze zum Vorbereiten sein. Man hat also dann in
der Vorbereitung das Ganze der Rede vor sich wie in einem Tableau. Und so
genau hat man dieses Tableau vor sich, daß man, wie es ja
naturgemäß sein wird, die einzelnen Erfahrungen, an die man
sich erinnert, in beliebiger Weise dahin oder dorthin unterbringen
kann, wie wenn man auf dem Papier aufgeschrieben hätte: a, b, c,
d, und man nun eine Erfahrung hätte; man weiß, sie
gehört unter d, eine andere unter f, eine andere gehört
unter a, so daß man also gewissermaßen von der Folge der
Gedanken, wie sie nachher vorgebracht werden sollen, in bezug auf
dieses Aufsammeln der Erfahrungen unabhängig ist. Ob man so
etwas macht, indem man es zu Papier bringt, oder ob man es in freier
Verarbeitung ohne Zuhilfenahme des Papiers macht, davon wird ja nur
abhängen, daß derjenige, der auf das Papier angewiesen ist,
eben schlechter reden wird, und derjenige, der auf das Papier nicht
angewiesen ist, etwas besser reden wird. Aber man kann natürlich
durchaus beides machen.
Nun
handelt es sich aber darum, daß man noch ein Drittes absolviert,
und das ist, nachdem man auf der einen Seite das Ganze hat –
ich sage niemals: das Gerippe hat – und auf der anderen Seite
die einzelnen Erfahrungen, hat man nötig, die Ideen, die sich
ergeben, so weit auszuarbeiten, daß diese Dinge bis zur
vollständigsten eigenen inneren Befriedigung vor der Seele
stehen können.
Nehmen wir also
als Beispiel an, wir wollten eine Rede halten über
Dreigliederung. Hier werden wir uns sagen: Nach einer Einleitung,
über die werden wir noch sprechen, und vor einem Schlüsse,
über den wir auch noch sprechen, ist eigentlich die Komposition
einer solchen Rede durch die Sache selbst gegeben. Der einheitliche
Gedanke ist durch die Sache selbst gegeben. Ich sage das bei diesem
Beispiel. Wenn man ordentlich geistig lebt, so gilt das eigentlich
für jeden einzelnen Fall, es gilt für alles gleich. Aber
nehmen wir dieses uns naheliegende Beispiel der Dreigliederung des
sozialen Organismus, über die wir reden wollen. Da ist von
vornherein das gegeben, daß uns die Behandlung unseres Themas
drei Glieder ergibt. Wir werden zu behandeln haben das Wesen des
geistigen Lebens, das Wesen des rechtlich-staatlichen Lebens und das
Wesen des wirtschaftlichen Lebens.
Nun
wird es sich allerdings darum handeln, daß wir durch
eine entsprechende Einleitung –
über die wir, wie gesagt, noch reden werden – eine
Empfindung davon hervorrufen bei den Zuhörern, daß es
überhaupt einen Sinn hat, über diese Dinge, über eine
Wandlung, in diesen Dingen, in der Gegenwart zu sprechen. Dann aber
wird es sich darum handeln, nicht gleich etwa von Erklärungen
auszugehen, was zu verstehen ist unter einem freien Geistesleben,
unter einem auf Gleichheit begründeten rechtlich-staatlichen
Leben, unter einem auf Assoziationen begründeten
Wirtschaftsleben, sondern man wird hinführen müssen zu
diesen Dingen. Und da wird man hinführen müssen dadurch,
daß man anknüpft an dasjenige, was zunächst in
allerhervorragend-stem Maße über die drei Glieder des
sozialen Organismus in der Gegenwart vorhanden ist, was also am
intensivsten durch den Menschen der Gegenwart bemerkt werden kann.
Nur dadurch wird man ja an Bekanntes anknüpfen.
Nehmen
wir an, wir hätten ein Publikum, und ein solches
Publikum kann uns ja am angenehmsten und am sympathischsten sein, das
zusammengemischt wäre aus bürgerlicher Bevölkerung,
aus proletarischer Bevölkerung –
diese wiederum mit allen möglichen Nuancen –, und wenn
dann natürlich auch ein paar Adelige dabei sind, schweizerische
Adelige sogar, so schadet das natürlich durchaus nichts. Nehmen
wir also an, wir hätten so ein aus allen Gesellschaftsklassen
durcheinandergewürfeltes Publikum. Ich betone das aus dem
Grunde, weil man eigentlich als Redner dieses immer erfühlen
soll, zu wem man zu sprechen hat, bevor man an das Sprechen
herangeht. Man sollte sich schon lebendig in die Situation nach
dieser Richtung hineinversetzen.
Nun,
was wird man sich selber zunächst sagen müssen
über dasjenige, woran man bei dem heutigen Publikum
anknüpfen kann in be-zug auf den dreigliedrigen sozialen
Organismus? Man wird sich sagen: An Begriffe des Bourgeoispublikums
läßt sich zunächst außerordentlich schwer
anknüpfen, weil sich die Bourgeoisie über soziale
Verhältnisse in der neueren Zeit außerordentlich wenig
Vorstellungen gemacht hat, weil sie gewissermaßen gedankenlos in
bezug auf das soziale Leben dahinvegetiert hat. Es würde immer
einen akademischen Eindruck machen, wenn man aus dem Gedankenkreis
eines bürgerlichen Publikums heute reden wollte über diese
Dinge. Andererseits aber wird man sich doch darüber klar sein
können, daß über alle drei Gebiete des sozialen
Organismus innerhalb der proletarischen Bevölkerung
außerordentlich ausgeprägte Begriffe vorhanden sind, auch
ausgeprägte Empfindungen, und auch ein ausgeprägtes
soziales Wollen. Und es bedeutet das gerade die Signatur unserer
heutigen Zeit, daß eben innerhalb der proletarischen
Bevölkerung diese ausgebildeten Begriffe da sind.
Diese
Begriffe sind dann aber allerdings von uns mit großer Vorsicht zu
behandeln, denn wir werden sehr leicht das Vorurteil hervorrufen,
daß wir nach der proletarischen Richtung hin parteiisch sein
wollen. Dieses Vorurteil sollen wir durch die ganze Art und Weise
unseres Auftretens eigentlich bekämpfen. Wir werden ja
allerdings sehen, daß wir uns, wenn wir von proletarischen
Begriffen ausgehen, zunächst schweren
Mißverständnissen aussetzen. Diese
Mißverständnisse haben sich ja in der Tat fortwährend
ergeben in der Zeit, als noch in Mitteleuropa gewirkt werden konnte,
so vom April 1919 ab, für die Dreigliederung des sozialen
Organismus. Eine bürgerliche Bevölkerung hört nur das,
was sie durch Jahrzehnte aus dem agitatorischen Auftreten des Proletariats
empfunden hat, heraus aus bestimmten Begriffen. Wie man die Sache selbst
meint, das wird zunächst fast gar nicht aufgefaßt.
Man
muß sich klar sein darüber, daß das Wirken in der
Welt überhaupt im Sinne, möchte ich sagen, der Weltenordnung
erfaßt werden muß. Die Weltenordnung ist so –
Sie brauchen nur bei den Fischen im Meer nachzusehen –,
daß sehr, sehr viele Fischkeime abgelegt werden und nur wenige
zu Fischen werden. Das muß so sein. Aber mit dieser Naturtendenz
müssen Sie auch an die Aufgaben herangehen, welche von Ihnen als
Redner zu lösen sind: Wenn sich auch nur ganz wenige, und diese
v/enig angeregt, zunächst finden bei der ersten Rede, dann ist
eigentlich schon ein Maximum desjenigen erreicht, was erreicht werden
kann. Es handelt sich ja bei Dingen, für die man so
drin-nensteht im Leben wie etwa für die Dreigliederung des
sozialen Organismus, darum, daß dann dasjenige, was auf
rednerischem Wege geleistet werden kann, eben niemals fallengelassen
werden darf, sondern aufgefangen werden muß und auf irgendeine
Weise fortgebildet werden muß, sei es durch weitere Reden, sei
es in irgendeiner anderen Weise. Man kann sagen: Keine Rede ist
eigentlich vergeblich, welche aus dieser Gesinnung heraus gehalten
wird und an die sich eben dann das Nötige anschließt.
Aber
man muß sich völlig klar darüber sein,
daß man auch bei einer proletarischen Bevölkerung
eigentlich, wenn man gerade aus dem heraus spricht, was sie heute
denkt im Sinne ihrer Theorien, wie sie seit Jahrzehnten bestehen,
daß man auch da durchaus mißverstanden wird. Man kann sich
nicht etwa die Frage stellen: Wie macht man es nun, damit man nicht
mißverstanden wird? –
Man muß es nur richtig machen! Aber darum kann es sich gar nicht
handeln, sich etwa die Frage vorzulegen: Wie macht man es denn, damit
man nicht mißverstanden wird? – Sie ist nicht schwer zu
lösen, die Frage: Wie macht man es, damit man nicht
mißverstanden wird? – Man sagt den Leuten, was sie
ohnedies schon gedacht haben! Man tradiert ihnen irgendwie Marxismus
oder so etwas. Dann wird man natürlich verstanden.
Aber
es liegt ja kein Interesse vor, in dieser Weise
verstanden zu werden. Sonst wird man ja sehr bald die folgende
Erfahrung machen –
über diese Erfahrung muß man sich völlig klar sein
–: Redet man heute zu einer Proletarierversammlung so, daß
sie wenigstens die Terminologie verstehen kann – und das
muß man anstreben –, dann wird man, insbesondere in der
Diskussion, bemerken, daß diejenigen, die diskutieren, nichts
verstanden haben. Die anderen lernt man meistens nicht kennen, weil
sie sich nicht an den Diskussionen beteiligen. Die nichts verstanden
haben, beteiligen sich gewöhnlich nach solchen Reden an den
Diskussionen. Und bei denen wird man eben etwas bemerken, was in der
folgenden Linie liegt. Unzählige Reden habe ich selber gehalten
über die Dreigliederung des sozialen Organismus vor, wie man es
in Deutschland nennt, «Mehrheits-Sozialdemokraten»,
unabhängigen «Sozialdemokraten», Kommunisten und so
weiter. Nun, man wird da bemerken: Wenn sich nun jemand in der
Diskussion hinstellt und glaubt, reden zu können, so ist es ja
meistens so, daß er einem antwortet, als ob man eigentlich gar
nicht geredet hätte, sondern als ob irgend jemand geredet hatte
so, wie man ungefähr als sozialdemokratischer Agitator vor
dreißig Jahren in Volksversammlungen geredet hätte. Man
fühlt sich plötzlich ganz verwandelt. Man sagt sich
ungefähr: Ja, sollte dir denn das Malheur passiert sein,
daß du besessen warst in diesem Momente von dem alten Bebel}
Denn so wird dir ja eigentlich entgegengetreten! Die Betreffenden
hören selbst physisch nichts anderes, als was sie gewohnt sind,
seit Jahrzehnten zu hören. Selbst physisch hören sie sonst
nichts – nicht etwa bloß seelisch –, selbst physisch
hören sie nur, was sie lange gewohnt sind. Und dann sagen sie:
Ja, eigentlich hat uns der Vortragende gar nichts Neues gesagt!
– Denn sie haben, weil man genötigt war, die Terminologie
zu gebrauchen, sofort schon im Ohr – nicht erst in der Seele
– den ganzen Zusammenhang der Terminologie übersetzt in
das, was sie seit langem gewohnt gewesen sind. Und dann reden sie
weiter fort im Sinne dessen, was sie seit langem gewohnt gewesen sind.
So
ungefähr verliefen unzählige Diskussionen.
Höchstens, daß manchmal eine neue Nuance dadurch in die
Sache hineinkam, daß die Kommunisten nun von ihrem neu
errungenen Standpunkte aus auftraten und nun etwa erklärten: Vor
allen Dingen sei es notwendig, daß man die politische Macht
habe! Es sei ja ganz natürlich – ich rede aus der
Erfahrung heraus und gebe Beispiele, die durchaus vorgekommen sind
–, daß man zuerst die politische Macht habe! Und wenn
– so sagte zum Beispiel einmal einer –, wenn er die
politische Macht hätte, sagen wir zum Beispiel – so meinte
er – als Polizeiminister, so würde er ja auch nicht als
Standesbeamten sich selber anstellen, denn er sei ein Schuhflicker,
und er könne sehr gut einsehen, daß ein Schuhflicker von
den Verpflichtungen eines Standesbeamten nichts wisse. Er würde
durchaus nicht, wenn er Polizeiminister wäre, da er ein
Schuhflicker sei, sich selber als Standesbeamten anstellen! –
Er merkte nicht, daß er eigentlich implicite sagte: Zum
Polizeiminister gerade angestellt zu werden, fühle er sich ganz
gut berufen, aber zum Standesbeamten durchaus nicht! Das war für
die Diskussion eine Art neuer Nuance. Die Nuancen waren ja
ungefähr immer in diesem Stil gehalten.
Nun,
trotzdem aber müssen wir uns klar sein, daß,
weil wir eben verstanden werden sollen, aus der Seele der Leute
heraus geredet werden muß. Das Unterbewußte geht dennoch
nämlich, wenn aus der Seele heraus geredet wird, in einem
gewissen Sinne mit. Insbesondere, wenn im übrigen die Rede so
angeordnet worden ist, wie ich es schon angedeutet habe und wie ich
es im weiteren auseinandersetzen werde. Aber wir müssen dann
über dasjenige, was in Betracht kommt, wirklich aus der
Erfahrung, das heißt in diesem Falle, aus den Erfahrungen des
proletarischen Empfindens heraus formulierbare Begriffe haben.
Nehmen
wir einmal das geistige Glied des dreigliedrigen
sozialen Organismus. In bezug auf dieses geistige Glied hat der
Proletarier seit dem Heraufkommen des Marxismus sich sehr deutliche
Begriffe herausgebildet, nämlich den Begriff der Ideologie. Er
sagt: Geistesleben, das hat für sich gar keine Wirklichkeit.
Religion, Rechtsbegriffe, Sittenbegriffe und so weiter, Kunst,
Wissenschaft selber, das ist nichts für sich. Für sich
existieren eigentlich nur wirtschaftliche Prozesse. Man kann
verfolgen in der weltgeschichtlichen Entwickelung, wie das wahrhaft
Wirkliche in der Art und Weise besteht, wie die eine Schichte der
Bevölkerung zu der anderen steht im Wirtschaftsleben. Darnach,
wie die eine Schichte der Bevölkerung zu der anderen steht im
Wirtschaftsleben, darnach müssen sich ganz von selbst, wie eine
Art Rauch, der daraus hervorsteigt, die Begriffe, die Empfindungen in
Religion, Wissenschaft, Kunst, Sitte, Recht und so weiter bilden. Das
sind keine Wirklichkeiten, Recht, Sitte, Religion, Kunst, sondern
eine Ideologie. –
Diesen Ausdruck «Ideologie», mit dem Gefühl, wie ich
es eben jetzt charakterisiert habe, ihn konnte man hören seit
Jahrzehnten in allen sozialdemokratischen oder sonstigen
proletarischen Versammlungen. Und es war geradezu ein besonders
ausgebildetes Erziehungsmittel, den Menschen zum Verständnis zu
bringen: Die bürgerliche Bevölkerung spricht von der
Wahrheit an sich, von dem Werte der Wissenschaft, von dem Werte der
Religion, von dem Werte der Sittlichkeit, der Kunst –, aber das
ist ja alles nichts in Wirklichkeit für sich, sondern das alles
sind die Schaumbilder, die aufsteigen aus dem wirtschaftlichen
Prozesse. Einer der Führer der proletarischen Welt, Franz
Meh-ring, hat diese Sache ja bis zum besonderen Radikalismus
getrieben in einem Buche «Die Lessing-Legende».
Da
war erschienen ein allerdings nicht sehr bedeutendes Buch eines
Bourgeoisprofessors, des Erich Schmidt, über Lessing. Es ist
deshalbnicht sehr bedeutend, weil darin nicht eigentlich Lessing behandelt
wird, sondern eine Statue aus Papiermache, welche fälschlich
«Lessing» genannt wird, und an die Erich Schmidt die
Bemerkungen und Erzählungen und Mitteilungen anknüpft,
deren er eben durch seine besondere Begabung oder Unbegabung
fähig war. Man hat es gar nicht mit einem Menschen zu tun in
diesem Buche, sondern mit einer Statue aus Papiermache, genannt
«Lessing». Daß dieser Bourgeoisprofessor keine
besonders klaren Vorstellungen hatte über den lebendigen
Lessing, sondern nur über einen Papiermache-Lessing, das ging
mir schon hervor, als das Buch «Lessing» von Erich Schmidt
noch gar nicht geschrieben war, als ich Erich Schmidt reden
hörte in Wien in einer Rede in der Wiener Akademie der
Wissenschaften, wo er so die ersten Anfänge der ersten Kapitel
dieses Lessing-Buches zusammengefaßt vorgebracht hatte als eine
Rede. Ich war dazumal eigentümlich berührt von dieser Rede,
die so recht zeigte, wie man eben, wenn man sonst in eine gewisse
soziale Position hineingestellt ist und reden darf, also selbst vor
einer erlauchten Akademie der Wissenschaften, eigentlich inhaltlich
gar nichts zu sagen braucht. Denn bei den wichtigsten Stellen, wo
Erich Schmidt damals etwas vorbrachte, was charakteristisch sein
sollte für die Persönlichkeit, die er besprach, da sagte er
immer, indem er irgend etwas heraushob aus Lessings Arbeitsweise und
aus Lessings Schreibweise: Das ist echt Lessingsch! – Und
dieses Wort: Das ist echt Les-singsch! –, das hörte man,
ich glaube, fünfzigmal während dieser Akademierede.
Nun,
wenn man es zu tun hat mit dem Ernst Müller aus
Neu-Ba-belsberg und man ihn zu charakterisieren hat, so wird man mit
genau demselben Inhalt sagen können, wenn man erzählt seine
besondere Art, wie er, sagen wir, seinen Misthaufen in Ordnung
bringt: Das ist echt Müllersch! – Man wird etwas gesagt
haben, das ein ganz gleich schweres Gewicht hat.
Man
hatte es also zu tun mit etwas außerordentlich
Unbedeutendem. Aber ein richtiger sozialdemokratischer
Schriftsteller, wie Franz Mehring war, der schrieb dies Unbedeutende
des Erich Schmidtschen Lessing-Buches dem Umstände zu, daß
eben Erich Schmidt ein Bourgeoisprofessor war, und er sagte: Das ist
eben ein Bourgeoisprodukt. –
Und jetzt stellte er sein proletarisches Produkt dagegen. «Die
Lessing-Legende» nannte er dieses Buch. Da wird nun untersucht,
in welchen wirtschaftlichen Verhältnissen Lessings Voreltern
gelebt haben, was sie getrieben haben, wie dann Lessing selber in der
Jugend ins Wirtschaftsleben hineingestellt worden ist, wie er
Journalist werden mußte, wie er Geld pumpen mußte –
das ist ja auch ein wirtschaftlicher Zusammenhang – und so
weiter. Kurz, es wird gezeigt, wie Lessings
«Lao-koon»-Auffassung, wie Lessings «Hamburgische
Dramaturgie», wie Lessings «Minna von Barnhelm» so
sein mußten, wie sie eben sind, dadurch, daß Lessing aus
diesen bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen herausgewachsen
ist.
Nach
dem Muster dieses Buches «Die Lessing-Legende»
des Parteigelehrten Mehring hat dann einmal ein Schüler meiner
Arbeiterbildungsschule –
ich habe ja jahrelang eine Arbeiterbildungsschule versorgt, auch in
der Redelehre – in einer Proberede bewiesen, daß die
Kantsche Philosophie eben einfach aus den wirtschaftlichen
Verhältnissen hervorgegangen ist, aus denen Kant sich entwickelt
hat. Und ähnliche Dinge begegneten einem da immer und
können einem wohl auch noch heute begegnen, obwohl sie heute
mehr oder weniger schon zur Phrase geworden sind. Aber es war
durchaus so. Und das hat bedeutet, daß über das geistige
Leben der moderne Proletarier überhaupt die Anschauung hatte:
Alles, was im geistigen Leben vorhanden ist, ist Ideologie.
In
bezug auf das staatlich-rechtliche Leben, da läßt der Proletarier
nur gelten, was sich wiederum innerhalb der wirtschaftlichen
Verhältnisse als Beziehung von Mensch zu Mensch herausstellt.
Das sind aber für ihn die Klassen. Die herrschende Klasse
beherrscht die anderen Klassen. Und derjenige, der innerhalb der
Klasse steht, entwickelt dann das Klassenbewußtsein. So daß
eigentlich dasjenige, was der moderne Proletarier von dem
staatlich-rechtlichen Leben begreift, die Klasse ist, und was ihm
nahegeht, das Klassenbewußtsein ist.
Das
dritte Glied des sozialen Organismus ist das
wirtschaftliche. Auch da sind innerhalb des Proletariats streng
umrissene Begriffe, und der Mittelpunktsbegriff, der immer wiederum
gefunden wird, ebenso wie die Begriffe Ideologie und
Klassenbewußtsein, das ist der Begriff des Mehrwertes. Der
Proletarier begreift: Wenn ge wir tschaftet wird, so kommt im
wirtschaftlichen Produkt ein bestimmter Wert zum Vorschein; von
diesem Werte bekommt er als Lohn einen bestimmten Teil, das andere
geht fort für irgend etwas anderes. Das bezeichnet er als
«Mehrwert» und beschäftigt sich nun mit diesem
Mehrwert, von dem er das Gefühl hat, daß er ihm von dem
Werte seiner Arbeitsprodukte genommen werde.
Man
kann, indem man die Dinge so durchdenkt, sehen, wie in
der Tat innerhalb derjenigen Bevölkerungsklasse, die sich als
die aktive, als die eigentlich aggressive in der neueren Zeit
heraufgebildet hat, deutlich umrissene Begriffe für die drei
Gebiete des dreigliedrigen sozialen Organismus vorhanden sind. Das
soziale Leben offenbart sich in dreifacher Weise –
würde etwa ein richtiger proletarischer Theoretiker sagen
–, es offenbart sich erstens durch seine Wirklichkeit, durch
die wertproduzierende Wirtschaft. Diese wertproduzierende Wirtschaft
liefert aus dem wirtschaftlichen Leben selbst den Mehrwert. Durch die
Machtverhältnisse, die sich herausbilden, werden im
wirtschaftlichen Leben als in der einzigen Wirklichkeit die sozial
tätigen Menschen in Klassen zerspalten, so daß sie, wenn
sie über ihren Menschenwert nachdenken, zu dem
Klassenbewußtsein, nicht zu dem Menschenbewußtsein kommen.
Und dann entwickelt sich als dasjenige, was man für den Sonntag
gern hat, was man braucht – aber auch so zwischendurch –,
damit die Maschinen richtig ausgedacht werden, damit man auch ab und
zu in freien Stunden, nicht wahr, Erfindungen machen kann und so
weiter, dann entwickelt sich die Ideologie, die sich aber ergibt als
ein Rauchprodukt aus der eigentlichen Wirklichkeit, aus dem
wirtschaftlichen Leben.
Ich
karikiere ganz gewiß nicht, sondern ich schildere, was in Millionen,
nicht etwa in Tausenden, sondern in Millionen von Köpfen lebte in
den Jahrzehnten, die dem Kriege vorausgegangen sind, und was sich auch
durch den Krieg fortsetzte. Der Proletarier hat also schon einen
Begriff von der Dreigiiederung des sozialen Organismus in sich, und
man kann da anknüpfen.
Man
kann noch in weiterem Sinne anknüpfen. Man kann
anknüpfen daran, daß sich in der neueren Zeit im Grunde
genommen das wirtschaftliche Leben, weil es ja seine eigene
Notwendigkeit in sich trägt, besonders entwickelt hat, und
daß die anderen Lebenselemente, das geistige Leben und das
staatlich-rechtliche Leben, zurückgeblieben sind. Im
wirtschaftlichen Leben konnten die Menschen nicht zurückbleiben.
Sie mußten erst zum Weltverkehr, dann zur Weltwirtschaft im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts übergehen. Da liegt eine
innere Notwendigkeit. Das macht sich in gewissem Sinne von selbst,
bis man es ruiniert, wie es durch den Krieg geschehen ist. Aber weil
die anderen Dinge nicht nachgekommen sind, weil sich in den anderen
Dingen ein abstrakter Intellektualismus entwickelt hat, wurde die
Empfindung vom Wirtschaftsleben in hervorragendem Maße
einflußreich, wirkte in erster Linie durch ihren Charakter
suggestiv auf alle Bevölkerung. Und was da suggestiv wirkte, das
hat sich nicht etwa nur in den Vorstellungen festgelegt, sondern das
ist zu Einrichtungen geworden. Der Intellektualismus hat
allmählich das soziale Leben ganz ergriffen.
Dem
Intellektualismus ist eigen die Abstraktion, das
Abstrakte. Man hat im Leben, sagen wir, Butter; man hat irn Leben,
sagen wir, eine Raffaelsche Madonna; man hat im Leben, sagen wir,
eine Zahnbürste; man hat im Leben, sagen wir, ein
philosophisches Werk; man hat im Leben, sagen wir, einen Pudertigel
für Frauen und so weiter. Im Leben gibt es ja viel, nicht wahr.
Ich könnte ja diese Reihe lange fortsetzen. Aber Sie werden
nicht bestreiten, daß diese Dinge sehr, sehr verschieden
voneinander sind, und daß, wenn man sich Begriffe machen will
von all diesen Dingen, diese Begriffe, diese Vorstellungen sehr, sehr
verschieden voneinander werden. Aber im neueren sozialen Leben
entwickelte sich doch etwas, was außerordentlich bedeutsam wurde
für alle Lebensverhältnisse, und was gar nicht so sehr
differenziert ist. Denn, sagen wir, Butter von einer gewissen Menge
kostet zwei Franken; eine Raffaelsche Madonna kostet zwei Millionen
Franken; eine Zahnbürste kostet vielleicht jetzt bloß
zweieinhalb Franken; ein philosophisches Werk – es
wird vielleicht am billigsten sein –, das kostet, sagen wir, im
Einzelexemplar vielleicht, wenn es dünn ist, siebzig Rappen; ein
Pudertigel, wenn er besonders gut ist, zehn Franken.
Jetzt
haben wir die ganze Sache auf gleich gebracht! Jetzt brauchen wir
bloß das, was ja auch wiederum auf ein Feld gehört, die
Zahlen, verschieden zu nehmen. Aber wir haben eine Abstraktion, den
Geldpreis, über alles ausgebreitet.
Das
hat sich ganz besonders eingelebt in die Denkweise der
Menschen, wenn sich die Menschen das auch nicht immer gestehen.
Gewiß, derjenige, der ein Dichter ist, hält sich
selbstverständlich für den Mittelpunkt der Welt, der
beurteilt sich dann nicht so; ebensowenig derjenige, der ein
Philosoph ist und so weiter. Oder erst gar der, der ein Maler ist!
Aber die Welt beurteilt diese Sachen heute alle in diesem Stil in der
sozialen Bewertung der Menschen. Und da kommt es schon zuletzt
heraus, daß, sagen wir, ein Dichter für einen Verleger –
von dem Zeiträume an, wo er angefangen hat, seinen Roman zu
schreiben, bis zu der Zeit, wo er ihn beendet hat –, wenn der
Verleger edel ist, dieser Dichter zehntausend Franken wert ist. Das
ist also der Preis eines Dichters für eine gewisse Zeit, nicht
wahr. Wir haben ihn auch auf die gleichwertige Abstraktion gebracht.
[Es wird an die Tafel geschrieben.]
2.—
|
Fr. Butter
|
2 000 000.—
|
Fr. Raffaelsche Madonna
|
2.50
|
Fr. Zahnbürste
|
–70
|
Fr. Philosophisches Werk
|
10.—
|
Fr. Pudertigel
|
10 000.—
|
Fr. Dichter
|
3.—
|
Fr. Tägliche Arbeitskraft
|
Nun
ich könnte auch da mancherlei Beispiele anführen; aber ich habe
schon gesagt: Die Bourgeoisie dachte ja über diese Dinge nicht
sehr tief nach. Der Dichter hält sich natürlich in seinem
Oberstübchen –
ich meine jetzt dasjenige, das in einer Etage weit oben gelegen ist
– für etwas ganz Besonderes, aber im sozialen Leben, da
war er halt eben zehntausend Franken wert. Aber er achtete es nicht,
wenn er nicht gerade dem Proletariat angehörte. Er achtete das
nicht. Aber der Proletarier achtete das. Der zog nämlich aus
alledem die Konsequenz: Du hast nicht Butter, du hast nicht Puder, du
hast kein philosophisches Werk, aber du hast deine Arbeitskraft; die
bietest du dem Fabrikanten an, und die ist für den Fabrikanten,
sagen wir, täglich drei Franken wert: Tägliche Arbeitskraft.
Daß
ich hierher geschrieben habe «Dichter», das müssen Sie
mir verzeihen aus dem Grunde, weil man die Erfahrung machen konnte,
daß der Dichter eben noch um ein Stückchen schlechter
behandelt worden ist im Laufe der letzten Jahrzehnte als der
Proletarier mit seiner täglichen Arbeitskraft. Denn der letztere
konnte sich noch besser wehren als der Dichter, und die zehntausend
Franken für den Dichter waren in der Regel nicht mehr wert als
die drei Franken Arbeitslohn für die proletarische Arbeitskraft,
mit Ausnahme von einzelnen natürlich, wie es ja selbstverständlich
war, daß solche Dichter wie zum Beispiel –
ich weiß nicht, ob sich viele noch an sie erinnern – die
selige Martin, die ja ganz großartig verdient hat mit dem
«Geheimnis der alten Mamsell», was ein Roman ist, über
den die beste Kritik wohl die wäre, wie einmal einer gesagt hat:
O Buch, wärest du doch das Geheimnis der alten Mamsell geblieben!
Nun,
der Arbeiter dachte nach über das, was er dadurch geworden ist,
daß er in die Abstraktion der Preise hineingestellt worden ist,
respektive seine Arbeitskraft da hineingestellt worden ist. Und was ist
denn etwas im Wirtschaftsleben dadurch, daß es einen Preis hat? Es
ist eine Ware. Als Ware im wirtschaftlichen Leben muß alles
gelten, wofür eben ein Preis bezahlt werden kann. Ich sagte, das
Leben der Bourgeoisie verläuft mit einer gewissen
Gleichgültigkeit gegenüber solchen Sachen. Aus dem
Proletariat aber kamen diese Begriffe herauf, und dadurch entstand der
Begriff: Wir selber sind mit unserer Arbeitskraft zu einer Ware geworden.
Das
ist etwas, was nun mit den drei anderen Begriffen zusammengewirkt hat. Und
wer eigentlich das moderne Leben richtig versteht, der weiß, wenn er
die vier Begriffe Ideologie, Klassenbewußtsein, Mehrwert,
Arbeitskraft als Ware richtig versteht, so daß er sich mit
diesen vier Begriffen erfahrungsgemäß hineinstellen kann in
das Leben, daß er mit diesen vier Begriffen zunächst die
Bewußtseinsrealität trifft, die gerade bei der aktiven
Bevölkerung, bei derjenigen Bevölkerung, die bewußt
eine Umwandelung der sozialen Verhältnisse will, vorhanden ist.
Und so hat man denn die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie man
diese vier Begriffe zu behandeln hat.
Wenn
man nun eine Zuhörerschaft hat gemischt aus
Proletariern und bourgeoiser Bevölkerung, da wird man nötig
haben, so zu sprechen, daß man zunächst bemerklich macht,
wie der Proletarier notwendigerweise zu diesen Dingen kommen
mußte, wie der Proletarier durch das moderne Leben nichts hat
kennen lernen können als die Vorgänge des
Wirtschaftslebens. So ist es ja geworden, sagen wir seit der Mitte
des 15. Jahrhunderts. Da fängt es langsam an. Denn gehen wir
zurück hinter diese Mitte des 15. Jahrhunderts, so sehen wir,
wie im Wesen der Mensch noch zusammenhängt mit seinem Produkte.
Wer einen Schlüssel macht, legt seine Seele in diesen
Schlüssel hinein. Wer einen Schuh macht, legt seine Seele in den
Schuh hinein. Und ich bin ganz gewiß, daß bei den Menschen,
bei denen sich diese Dinge in gesunder Weise fortentwickelt haben,
keine Verachtung irgendeiner solchen Sache vorhanden war. Ich bin
völlig davon überzeugt – nicht nur subjektiv
überzeugt, sondern solche Dinge kann man schon beweisen, wenn es
darauf ankommt –: Jakob Böhme hat ganz gewiß
ebensogerne seine Stiefel gemacht wie seine philosophischen Werke,
seine mystischen Werke geschrieben, oder Hans Sachs zum Beispiel.
Diese Dinge – daß das eine verachtet wird, was materiell
ist, das andere überschätzt wird, was geistig ist –,
die sind auch erst mit dem Intellektualismus und seinen Abstraktionen
auf allen Gebieten heraufgekommen. Es ist eben dieses eingetreten,
daß der Mensch durch das moderne wirtschaftliche Leben, in das
die Technik sich hineinergossen hat, von seinem Produkte getrennt
worden ist, so daß ihn keine wirkliche Liebe mehr mit dem
Produzieren verbinden kann. Es werden die Leute, die noch für
gewisse Berufszweige mit dem Produzieren Liebe entwickeln, immer
seltener und seltener. Nur bei den sogenannten geistigen
Berufszweigen ist diese Liebe noch vorhanden. Daher das
Unnatürliche in der sozialen Verteilung und selbst Gliederung in
der neueren Zeit. Man muß schon nach dem Osten hinübergehen
– heute wird es vielleicht auch nicht mehr möglich sein,
aber vor Jahrzehnten war es so –, um da noch Berufsfreude zu
finden. Ich muß gestehen, ich war tief entzückt, geradezu
ergriffen, als ich vor Jahrzehnten in Budapest einen Haarschneider,
den ich in Anspruch nahm zum Haarschneiden, kennenlernte, und der
immer herumtanzte um mich und, nachdem er wiederum etwas mit der
Schere heruntergekriegt hatte, sagte, indem er den Spiegel nahm: Ein
wunderbarer Schnitt, den ich da mache! Ein wunderbarer Schnitt, den
ich da mache! – Bitte, suchen Sie sich heute in der
eigentlichen Zivilisation noch solchen begeisterungsfähigen
Haarschneider!
Was
also eingetreten ist, ist die Trennung des Menschen von
seinem Produkte. Es ist ihm gleichgültig geworden. Er wird an
die Maschine hingestellt. Was interessiert ihn diese Maschine! Sie
interessiert ja höchstens –
nicht einmal mehr den Konstrukteur, sondern höchstens den
Erfinder, und das Interesse, das der Erfinder daran hat, ist meistens
kein wirklich soziales. Denn das soziale Interesse fängt erst
dann an, wenn man den möglichen Wert für die Rendite
herausfinden kann, nun ja, wenn man also die Geschichte auf den Preis
reduziert hat.
Dasjenige
aber, was vorzugsweise der moderne Proletarier kennengelernt hat, das
ist das Wirtschaftsleben. In das ist er hineingestellt. Soll er an das
geistige Leben herangehen, so hängt ihm das nirgends mit seinem
unmittelbaren seelischen Leben zusammen. Es bewegt nicht die Seele.
Er nimmt es als etwas Fremdes auf, als Ideologie. Es liegt im
modernen geschichtlichen Prozeß, daß sich diese Ideologie
entwickelt hat.
Gelingt
es Ihnen aber erst, eine Empfindung in dem
Proletarier hervorzurufen, daß das so ist, dann haben Sie den
Anfang dessen erreicht, was Sie erreichen sollen. Denn der
Proletarier hört Sie heute zunächst mit dem Gefühl an:
Es liegt ja in einer absoluten Naturnotwendigkeit, daß alle
Kunst, alle Wissenschaft, alle Religion, alles Ideologie ist. Weit,
weit entfernt liegt es ihm, daran zu denken, daß er mit dieser
Anschauung ja eben gerade nur das Produkt der neuzeitlichen
Entwickelung geworden ist. Es ist sehr schwer, ihm das begreiflich zu
machen. Merkt er es, dann kehrt er mit seiner ganzen Denkweise um,
dann wird es ihm schrecklich, daß alles nur eine Ideologie sein
soll, dann wird er sich des ganz Illusionären dieser Anschauung
bewußt. Er ist sozusagen derjenige, der am besten dazu
vorbereitet ist, über die Tatsache, daß alles zur Ideologie
geworden ist, Ekel zu empfinden; aber Sie müssen bis zur
Empfindung kommen. Die Gedanken, die Sie darüber entwickeln oder
bei sich selber entwickelt haben, die interessieren den Zuhörer
nicht. Sie bringen ihn in der Weise, wie ich es geschildert habe, zum
Fühlen der Sache. Denn es handelt sich darum, daß man die
Sache für die Proletarier auf diese Weise, indem man einzelnen
seiner Sätze diese Färbung gibt, zurechtrückt.
Für
die Bourgeoisie muß man die Sache wieder anders zurechtrücken,
denn, was für die Proletarier sehr gut ist, das ist für die
Bourgeoisie auf diesem Gebiete sehr schlecht. Und es handelt sich
nicht darum, daß man bloß richtig redet, sondern bei der
heutigen Mannigfaltigkeit des Lebens handelt es sich darum, daß
man gut redet, in dem gestrigen Sinne, und daß man auch, soweit
es geht, für den Bourgeois redet. Diesem Bourgeois muß man
nun klarmachen, daß er ja dadurch, daß er gegenüber
dem, was heraufgezogen ist, gleichgültig war, die Sache hat
kommen machen. Durch seine Betätigung oder vielmehr
Nichtbetäti-gung ist die Sache so geworden, daß sie
für den Proletarier Ideologie geworden ist. Dem Bourgeois
muß man dann begreiflich machen: Religion war einmal etwas, was
den ganzen Menschen mit innerer Glut erfüllte, aus dem alles
hervorgegangen ist, was der Mensch im Grunde genommen in der
äußeren Welt auszuführen hat. Sitte war dasjenige, was
den Menschen für das soziale Leben heilig war. Kunst war etwas,
wodurch sich der Mensch hinweghalf über die Härten und
Schweren des physischen Lebens und so weiter. Aber wie ist im
Verlaufe der letzten Jahrhunderte der Wert dieser geistigen
Güter hinuntergesunken! So wie der Bourgeois sie hält, so
kann sie der Arbeiter nicht mehr anders denn als Ideologie empfinden.
Nehmen
wir einmal den Fall an, der Arbeiter käme aus
irgendeinem Grunde ins Kontor des Unternehmers. Er hat so seine
Ansichten über den ganzen Gang des Unternehmens. Nehmen wir an,
der Buchhalter, zu dem er gerufen worden ist, oder der Unternehmer
selbst ist eben hinausgegangen. Da liegt ein großes Buch, in das
vieles eingetragen ist. Über die Art und Weise, wie diese Zahlen
dadrinnen sprechen, hat der Arbeiter so seine Ansichten. Die hat er
sich ja eben entwickelt. Nun, weil der Buchhalter oder der
Unternehmer gerade draußen ist und er um eine halbe Minute zu
früh gekommen ist, da blättert er um und schlägt die
erste Seite auf. Da steht: «Mit Gott!» Da wird er
aufmerksam, daß nun wahrhaftig dieses religiöse Element,
daß da auf der ersten Seite «Mit Gott!» steht, nun
wirklich die reine Ideologie ist, denn daß nun wirklich nicht
viel «mit Gott» ist, was auf den folgenden Seiten des
Buches steht, davon ist der Arbeiter ganz überzeugt. Das liegt
ganz in dem Stile, wie er sich die Weltverhältnisse
überhaupt denkt: So viel ist von dem wahr, was die Leute
Religion, Sitte und so weiter nennen, wie in diesem Buche von dem
wahr ist, was auf der ersten Seite steht: «Mit Gott». Ich
weiß nicht, ob in der Schweiz in diesen Büchern auch auf
der ersten Seite steht «Mit Gott!»; aber es ist sehr
verbreitet, daß man sein Kassabuch, Journal und so weiter
«Mit Gott» hat.
Es
handelt sich also darum, daß man dem Bourgeois klarmacht: Er ist der
Veranlasser, daß beim Proletariat die Auffassung entstanden ist
von der Ideologie.
Dann
hat jeder seinen Teil. Dann ist man so weit, daß man nun
auseinandersetzen kann, wie das geistige Leben wiederum Realität
gewinnen muß, weil es ja zur Ideologie wirklich geworden ist. Wenn
man vom Geiste nur Ideen hat, nicht den Zusammenhang mit dem wirklichen
geistigen Sein und Wesen, dann ist es eben eine Ideologie. So bekommt
man von da aus die Brücke zu dem Gebiet, auf dem man eine
Vorstellung hervorrufen kann von der Realität des geistigen
Lebens. Und dann wird es einem möglich, darauf hinzuweisen, wie
das geistige Leben eben eine in sich geschlossene Realität,
nicht ein Produkt des wirtschaftlichen Lebens, nicht eine bloße
Ideologie ist, sondern ein in sich selbst gegründetes Reales
ist. Ein Empfinden muß man dafür hervorrufen, daß das
geistige Leben ein in sich begründetes Reales ist. Ein in sich
begründetes Reales ist etwas anderes als ein in sich bloß
abstrakt Begründetes, denn das abstrakt Begründete muß
von woanders aus begründet sein.
Der
Proletarier sagt: Die Ideologie ist von dem
wirtschaftlichen Leben aus begründet. – Insofern aber der
Mensch sich in seinem geistigen Leben nur abstrakten Ideen hingibt,
ist das eben auch durchaus etwas Rauchartiges, etwas
Illusionäres. Erst wenn man durch dieses Rauchartige, durch
dieses Illusionäre, durch die Idee zu der Realität des
Geisteslebens durchdringt, wie es durch Anthroposophie geschieht,
erst dann kann wiederum das geistige Leben als ein reales empfunden
werden. Wenn das geistige Leben nur eine Ideologie ist, so
strömen eben diese Ideen herauf aus dem wirtschaftlichen Leben.
Da muß man sie organisieren, da muß man ihnen eine
künstliche Wirksamkeit und Organisation verschaffen. Das hat ja
auch der Staat getan. In dem Zeitalter, wo das geistige Leben in
Ideologie verdunstete, hat der Staat es in die Hand genommen, um der
Sache wenigstens die Realität, die man nicht in der geistigen
Welt selber erlebt hat, zu geben.
So muß man
versuchen, begreiflich zu machen, wie dasjenige, was der Staat
unberechtigterweise dem geistigen Leben gegeben hat, da es Ideologie
geworden ist, Realität hat. Es muß ja doch eine
Realität haben. Wenn man eben keine eigenen Beine hat und doch
gehen will, muß man sich künstliche machen lassen. Es
muß ja etwas, um zu existieren, Realität haben. Aber das
geistige Leben soll seine eigene Realität haben. Das muß
man empfinden, daß das geistige Leben seine eigene Realität
haben muß.
Zunächst
werden Sie allerdings paradox wirken, sowohl bei der
bürgerlichen wie bei der proletarischen Bevölkerung. Und
Sie müssen ein Bewußtsein davon hervorrufen, daß Sie
paradox wirken. Das können Sie dadurch, daß Sie eben gerade
bei den Leuten, die Ihnen zuhören, eine Vorstellung davon
hervorrufen, daß Sie schon ebenso denken, wie der Proletarier,
indem Sie aus seiner Sprache heraus reden, wie der Bürgerliche,
indem Sie aus seiner Sprache heraus reden. Dann aber, nachdem Sie
solches entwickelt haben, was mit Hilfe jener Erinnerung, die man an
Erfahrungen im Leben haben kann, möglich ist, nachdem Sie so
etwas in der Vorbereitung durchgemacht haben, kommen Sie dazu, zu den
Menschen so zu sprechen, daß nach und nach ein Verständnis
für die Dinge hervorgerufen werden kann, für die es eben
hervorgerufen werden muß.
Reden
kann man nicht durch eine äußerliche Anleitung lernen. Reden
muß man gewissermaßen dadurch lernen, daß man das hinter
dem Reden liegende Denken und das vor dem Reden liegende Erfahren zu
dem Reden in ein richtiges Verhältnis zu bringen versteht.
Nun
habe ich eben heute versucht, Ihnen zu zeigen, wie der
Stoff zunächst behandelt werden muß. Ich habe an Bekanntes
angeknüpft, um Ihnen zu zeigen, wie der Stoff nicht aus
irgendeiner Theorie heraus geschöpft werden darf, wie er aus dem
Leben heraus gefaßt werden muß, wie er zubereitet werden
muß, um ihn dann rednerisch zu behandein. Was ich heute
gesprochen habe, das sollte eigentlich jeder in seiner Art nun selber
machen als Vorbereitung für das Reden. Dadurch, daß man
solche Vorbereitung macht, wird die Rede eindringlich. Dadurch,
daß man denkerische Vorbereitungen macht – Vorbereitungen
zur Gliederung der Rede, wie ich im Anfange der heutigen
Ausführungen gesagt habe: von einem Gedanken, der dann gestaltet
wird zur Komposition –, dadurch wird die Rede
übersichtlich, so daß der Zuhörer sie auch als Einheit
bekommen kann. Durch das, was der Redner mitbringt an Denken, soll er
nicht in seine eigenen Gedanken hineinwirken. Denn wenn er seine
eigenen Gedanken gibt, sind sie, wie ich schon gesagt habe, so,
daß sie keinen einzelnen Menschen interessieren. Erst dadurch,
daß man sein eigenes Denken verwendet, um die Rede zu gliedern,
dadurch wird sie übersichtlich, und durch das
Übersichtliche verständlich.
Durch
die Erfahrungen, die der Redner überall
zusammensuchen soll – die schlechtesten Erfahrungen sind noch
immer besser als gar keine! – wird die Rede eindringlich. Wenn
Sie zum Beispiel irgend jemandem erzählen, was Ihnen passiert
ist, meinetwillen als Sie durch ein Dorf gingen, wo Ihnen beinahe
einer eine Ohrfeige gegeben hat, so ist es noch immer besser, wenn
Sie aus einer solchen Erfahrung heraus das Leben beurteilen, als wenn
Sie bloß theoretisieren. Heraus aus der Erfahrung die Dinge
holen, durch die die Rede Blut bekommt, denn durch das Denken hat sie
nur Nerven. Blut bekommt sie durch die Erfahrung, und durch dieses
Blut, das aus der Erfahrung kommt, wird die Rede eindringlich. Zum
Verstande der Zuhörer reden Sie durch die Komposition, zum
Herzen der Zuhörer reden Sie durch Ihre Erfahrung. Das ist es,
was man wie eine goldene Regel betrachten soll. Nun, wir können
Schritt für Schritt vorwärtsgehen. Ich wollte zunächst
heute mehr im groben zeigen, wie man den Stoff allmählich
umwandeln kann zu dem, was er dann in der Rede zu sein hat. Dann
morgen um drei Uhr wieder Fortsetzung.
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