VIERTER VORTRAG
Dornach, 1. März 1919
Im
Laufe dieser Betrachtungen habe ich darauf hingewiesen, wie im
Verlaufe der Menschheitsentwickelung sich zeigt, daß im
Innersten der menschlichen Seele, in dem unbewußten
Inneren der menschlichen Seele etwas ganz anderes
vorgehen kann, als mehr an der Oberfläche
dieser menschlichen Seele vorgeht. Der Mensch kann, wie wir
öfter vernommen haben, glauben, er strebe diesem
oder jenem nach, während er in Wahrheit in den
Tiefen seiner Seele Impulse hat, die ganz, ganz anderem
nachstreben. Diese Wahrheit kommt insbesondere
für unsere Zeit in Betracht. Wir sehen heute eine
ganze Menschenklasse in einer bestimmten Artung eines
Wollens, von der wir nun schon öfter gesprochen
haben. Gerade da zeigt es sich aber, wie an der
Seelenoberfläche, da, wo sich im
Bewußtseinszeitalter das Bewußtsein entwickelt, sich
etwas ganz, ganz anderes bildet, als unten in den Seelentiefen,
wo Impulse nach Verwirklichung streben, von denen heute eben im
Bewußtsein noch nichts Wirkliches vorhanden ist.
Wenn wir uns das moderne Proletariat mit Bezug darauf ansehen,
was ihm bewußt ist, so finden wir in diesem
Bewußtsein, was wir auch schon öfter
erwähnt haben, drei Dinge; drei Dinge, von denen
dieses proletarische Bewußtsein heute
ausgefüllt wird. Es ist erstens die materialistische
Geschichtsauffassung; zweitens die Anschauung, daß allem,
was in der Welt vorgeht, in Wahrheit bis jetzt
Klassenkämpfe zugrunde gelegen haben, daß
überall nur Klassenkämpfe sind und das,
wovon die Menschen glauben, daß es vorgeht, nur eine
Spiegelung von Klassenkämpfen sei; und das dritte
ist, was ich Ihnen ja auch schon öfter
charakterisiert habe, die Mehrwertlehre, die Lehre von dem
Mehrwert, der durch die unbezahlte Arbeitskraft der Arbeiter
geliefert wird, und der den Profit ausmacht, der von dem
Arbeitgeber dem Arbeiter abgenommen wird, ohne daß der
Arbeiter dafür irgendeine
Entschädigung erhält. Aus diesen drei
Gliedern setzt sich im wesentlichen das zusammen, was im
Bewußtsein des Proletariats die Impulse ausmacht, aus
denen die moderne soziale Bewegung ihre so oder so zu
beurteilenden Kräfte schöpft.
Damit ist dasjenige bezeichnet, was im Bewußtsein des
Proletariats lebt. Im Bewußtsein aber der
gegenwärtigen Menschheit, zu der im wesentlichen
gerade die Gefühle des Proletariats
hindrängen, in den tieferen Seelenschichten auch des
Proletariats leben drei andere Dinge. Nur weiß von diesen
drei anderen Dingen die Welt heute recht wenig. Die Welt strebt
wenig nach Selbsterkenntnis, und daher weiß sie nichts von
dem, was eigentlich in den Seelentiefen danach strebt,
geschichtlich verwirklicht zu werden. Diese drei anderen Dinge
sind: erstens eine der neueren Zeit angemessene Durchdringung
des geistigen Lebens, dasjenige was man
Geisteswissenschaft auf die eine oder andere Art nennen kann;
das zweite ist Freiheit des Gedankenlebens, Gedankenfreiheit;
das dritte ist im echten und wahren Sinne Sozialismus.
Nach diesen drei Dingen strebt auch das Proletariat. Aber es
weiß nichts davon. Und seine Instinkte folgen den anderen
drei Dingen, von denen ich gesagt habe, daß sie im
Oberflächenteil des Seelenlebens, im eigentlichen
Bewußtsein, tätig sind.
Nun
stellt sich gerade an diesem Unterschiede des bewußten
proletarischen Strebens und der unterbewußten
Impulse mit besonderer Deutlichkeit heraus, daß ein
völliger Gegensatz zwischen diesen beiden ist.
Nehmen Sie die materialistische Geschichtsauffassung. Sie ist
hervorgegangen aus dem Materialismus der neueren Zeit
überhaupt, der seit vier Jahrhunderten in der
Menschenentwickelung heraufgestiegen ist. Dieser
Materialismus hat bei den führenden Klassen der
Menschheit zuerst auf dem Felde der Naturwissenschaft sich
geltend gemacht, hat sich dann über die Wissenschaft
überhaupt ausgedehnt, und beim modernen Proletariat,
das im Grunde genommen nur das Erbe der
bürgerlichen, wissenschaftlich orientierten
Vorstellungsart angenommen hat, hat sich der Materialismus dann
umgewandelt in die materialistische Geschichtsauffassung. Diese
materialistische Geschichtsauffassung geht davon aus,
daß eigentlich alles geistige Leben nur gewissermaßen
der Rauch ist, der aufsteigt aus den Vorgängen des
Wirtschaftslebens, aus alldem, was sich im Gebiete des
ökonomischen Lebens der Menschheit abspielt.
Wirklich im geschichtlichen
Verlaufe des Menschenlebens ist nur das, was eben im Gebiete
der Warenerzeugung, der Produktion, des Handels, der Konsumtion
vorgeht, und je nach dem die Menschen in der einen oder
anderen Weise in einem Zeitalter gewirtschaftet haben, je nach
dem haben sie dies oder jenes religiös geglaubt,
diese oder jene Kunstform gepflegt, das oder jenes als ihr
Recht, als ihre Sittlichkeit angesehen. Das geistige Leben ist
im wesentlichen eine Ideologie, das heißt, es hat keine in
ihm selbst liegende Wirklichkeit, ist ein Spiegelbild
desjenigen, was sich als Wirtschaftskämpfe
draußen abspielt. Es kann wiederum zurückwirken
auf die Wirtschaftskämpfe, was die Menschen in ihre
Vorstellungen aufgenommen haben, was sie
künstlerisch empfinden, was sie im sittlichen
Wollen zum Ausdruck bringen. Aber letzten Endes ist alles
geistige Leben eine Spiegelung des
äußeren wirtschaftlichen Lebens. Das ist im
wesentlichen, was man materialistische
Geschichtsauffassung nennt. Wenn auch das menschliche
Leben nur eine Spiegelung von rein äußerlichen,
materiellen wirtschaftlichen Kräften ist, und wenn
hinzukommt, daß die Welt überhaupt nur
Sinnliches ist, und die Gedanken der Menschen nur etwas sind,
was das Sinnliche abspiegelt, und wenn dann der Mensch
nur in solchen Vorstellungen leben will, nur solches als
wirklich empfinden will, was in der Sinnenwelt sich zeigt, sich
offenbart — dann ist dies eine Abkehr von allem
wirklichen Geistesleben, dann bedeutet das, daß der
Mensch darauf verzichtet, etwas als einen
selbständigen, in sich ruhenden Geist
anzuerkennen.
So
hat die neuere Zeit ihre Bemühung darauf gerichtet,
immer mehr und mehr Beweise dazu heranzutragen, um behaupten zu
dürfen, daß es einen selbständigen,
im Übersinnlichen lebenden Geist, ein
Geistiges überhaupt, nicht gibt. Das spielt
sich ab an der Oberfläche des menschlichen
Seelenlebens. Das macht im wesentlichen den Inhalt des neueren
Bewußtseins aus, nachdem die Menschheit in das
Zeitalter des Bewußtseins eingetreten ist. In den
alleruntersten Gründen des Seelenlebens aber strebt
gerade die neuere Menschheit nach dem Geist hin. Sie hat, man
möchte sagen, ein innerstes, tiefstes
Bedürfnis nach Geist. Ein Blick auf die
Entwickelung der Menschheitsgeschichte zeigt dieses.
Wir
blickten oftmals zurück auf die besondere Geistesart
der ersten nachatlantischen Kulturperiode, auf die besondere
Geistesart der indischen Kulturperiode; nun haben wir von den
verschiedensten Gesichtspunkten aus diese indische
Kulturperiode charakterisiert. Das, was wir über sie
kennengelernt haben, wird dem, der unbefangen die Dinge
anzuschauen vermag, sagen können, daß eine
solche Art, geistig zu leben, wie sie in der uralten, nur
von der Geisteswissenschaft aufzufindenden indischen
Kulturperiode liegt, daß eine solche Artung des
Geisteslebens beruht auf den unbewußten Intuitionen; wohl
gemerkt auf unbewußten Intuitionen, denn es war ja
atavistisches Geistesleben. So daß wir sagen
können: in dieser ersten nachatlantischen
Kulturperiode haben wir unbewußte Intuitionen als Quelle
des Geisteslebens.
Wenn wir dann weitergehen und uns das urpersische Geistesleben
ansehen und wiederum fragen: Woraus fließt es? — so
werden wir finden, dieses urpersische Geistesleben, es
fließt aus unbewußten Inspirationen.
Das
dritte, das ägyptisch-chaldäische
Geistesleben, fließt aus unbewußten
Imaginationen. Dieses
ägyptisch-chaldäische Geistesleben ragt
ja schon herein in die ersten historischen Zeiten, und man kann
da schon, wenn man nur die Geschichte unbefangen genug
betrachtet, darauf kommen, daß man es in der alten
Wissenschaft der Ägypter, in der alten Wissenschaft
der Chaldäer mit unbewußten, aber im
Seelenleben lebenden Imaginationen zu tun hatte.
Nun
kam das griechisch-lateinische Geistesleben. Im
griechisch-lateinischen Geistesleben blieben schon noch
die Imaginationen, aber die Imaginationen durchdrangen sich mit
Begriffen, mit Ideen. Das war das Wesentliche, was das
griechische Leben auszeichnete, daß die Griechen in der
Menschheitsentwickelung als erste das hatten, was
früher nicht in dieser Menschheitsentwickelung als
seelischer Impuls vorhanden war. Die Griechen hatten bereits
Ideen, Begriffe. Das Genauere habe ich in meinen
«Rätseln der Philosophie»
dargestellt. Aber alle Begriffe der Griechen waren durchzogen
von Bildlichkeit, von Imaginationen. — Das merkt man
heute nicht, insbesondere in jenem sonderbaren Griechentum, von
dem unsere Gymnasial- und Universitätsbildung
spricht, merkt man das nicht. — Wenn der Grieche zum
Beispiel das Wort «Idee» aussprach, so
war das, was er dabei ins Seelenauge faßte, nicht etwas so
abstrakt Begriffliches, wie es bei uns heute der Seele
vorschwebt, wenn wir das Wort Idee aussprechen. Der Grieche
hatte, wenn er das Wort Idee aussprach, die Vorstellung,
daß vor ihm gewissermaßen etwas Visionäres
schwebt, das aber doch deutlich in einen Begriff gefaßt
ist. Es war etwas Anschauliches. Idee ist zugleich Gesicht. Im
Griechischen würde man von
«Ideologie» nicht eigentlich haben
sprechen können, obwohl das Wort dem Griechischen
nachgebildet ist; jedenfalls nicht so haben sprechen
können, daß man dasselbe dabei empfunden
hätte, was man heute empfindet, wenn man von
Ideologie spricht; denn dem Griechen waren seine Ideen etwas
Wesenhaftes, etwas vom Bilde Durchzogenes.
Nun
ist das Eigentümliche, daß in unserer
fünften nachatlantischen Zeit zunächst
die Imaginationen verlorengegangen sind und daß die
Begriffe für die Bewußtseinsseele geblieben
sind. Unser neueres Geistesleben ist so nüchtern, so
trocken, aus diesem Geistesleben ist alles Bildhafte
herausgepreßt worden und geblieben ist die Abstraktion,
die die Leute, die gebildet sein wollen, ganz besonders lieben.
Die neuere Zeit lebt ja gewissermaßen von Abstraktion und
will alles, alles auf irgendeinen abstrakten Begriff gebracht
haben. Gerade in dem, was man bürgerlich praktisches
Leben nennt, gerade da herrscht der abstrakte Begriff im
allerumfänglichsten Sinne. Aber schon macht sich
wiederum geltend — und das charakterisiert gerade unsere
Gegenwart und wird die nächste Zukunft im
besonderen Maße charakterisieren —, schon
macht sich wieder geltend, daß die Tiefen der
menschlichen Seelen, die unterbewußten Impulse der
menschlichen Seelen wiederum nach Imaginationen streben. So
daß man sagen kann: Begriffe, die nach Imaginationen
streben.
Diesem Streben nach Imaginationen kommt unsere
Geisteswissenschaft entgegen. Aber eben der weitaus
überwiegende Teil der Menschheit weiß noch
nichts von dem, was da in seiner Seele drunten ist. Daher
sieht er dasjenige, was Geistesleben ist, in den bloßen
Begriffen, in den bloßen Vorstellungen und ist mit diesen
Vorstellungen ziemlich hilflos. Denn Begriffe als solche
haben für sich keinen eigentlichen Inhalt. Und es
ist das Schicksal der leitenden Kreise bisher gewesen,
daß sie immer mehr und mehr eine gewisse Vorliebe
für rein begriffliches Denken entwickelt haben. Aber
diese Vorliebe für rein begriffliches Denken
erzeugte etwas anderes. Hilflos ist dieses rein begriffliche
Denken; es erzeugt das Streben nach einer Anlehnung an
diejenige Wirklichkeit, die man nicht ablehnen kann, weil sie
sich eben den Sinnen anpaßt: an die äußere
sinnliche Wirklichkeit. Dieser Glaube an die bloß
äußere sinnliche Wirklichkeit ist im
wesentlichen entstanden aus der begrifflichen Hilflosigkeit der
modernen Menschheit.
Auf
allen Gebieten des geistigen Lebens drückt sich
diese Hilflosigkeit des Begriffslebens aus. In der
Wissenschaft will man vor allen Dingen experimentieren, damit
durch das Experiment irgend etwas herauskomme, was der
Sinnenwelt sonst nicht gegeben ist, weil, wenn man die
Sinneswelt bloß vorstellungsgemäß
verarbeitet, man über diese Sinneswelt nicht
hinauskommt. Denn die Begriffe selbst enthalten keine
Realität.
In
der Kunst gewöhnte man sich immer mehr und mehr, das
Modell anzubeten, sich rein zu halten an dasjenige, was das
äußere Objekt gibt. Und es ist im wesentlichen
wiederum das Schicksal gewesen der bisher leitenden Kreise der
Menschheit, in der Kunst immer mehr und mehr hinzutreiben nach
einer Art bloßen Studiums der äußeren
sinnlichen Wirklichkeit. Man strebte immer mehr und mehr da
hin, die äußere sinnliche Wirklichkeit
aufzufassen. Etwas aus dem Geiste heraus zu schöpfen
und es durch die Mittel der Kunst hinzustellen, das ging immer
mehr und mehr verloren. Man strebte nur nach
Naturalismus, nach einer Nachahmung desjenigen, was die
Natur als solche in der Außenwelt darstellt, weil aus dem
abstrakten Geistesleben nichts hervorquoll, was
selbständig für sich gestaltet werden
konnte.
Nehmen Sie die Entwickelung der neueren Künste, so
werden Sie das überall bewahrheitet finden. Diese
neueren Künste strebten, soweit das nur irgend
sein kann, immer mehr und mehr nach Naturalismus hin,
nach einer Darstellung dessen, was man
äußerlich sieht und wahrnimmt. Das gipfelte
zuletzt in dem, was man Impressionismus nannte. Diejenigen, die
vor dem Impressionismus gestrebt haben nach
Künstlerischem, versuchten, irgendein
äußeres Objekt in der Kunst wiederzugeben. Aber
da kamen diejenigen, die die letzten Konsequenzen aus alle dem
zogen und sagten: Ja, wenn ich nun wirklich einen
Menschen oder einen Wald vor mir habe und diesen Menschen
oder diesen Wald male, so gebe ich ja gar nicht das wieder, was
mein Eindruck ist; denn ich stehe vor einem Wald, ich stehe vor
einem Menschen — und in dem Augenblicke, wo ich vor dem
Wald stehe, da bescheint ihn die Sonne in einer gewissen Weise,
aber nach wenigen Augenblicken ist die Sonnenbeleuchtung eine
ganz andere. Was soll ich denn dann eigentlich festhalten, wenn
ich naturalistisch sein will? Ich kann ja gar nicht festhalten,
was mir die Außenwelt zeigt, denn diese Außenwelt hat
ja alle Augenblicke ein anderes Gesicht. Ich will einen
Menschen malen, der lächelt — aber das
nächste Mal macht er ein griesgrämiges
Gesicht! Was soll ich denn nun eigentlich machen? Soll ich
über das lächelnde das
griesgrämige Gesicht darübersetzen? Wenn
ich darstellen will, was äußere Objekte sind in
ihrem Bleiben in der Zeit, so müßte ich schon
die Objekte selber zwingen. Naturobjekte lassen sich nicht
zwingen, aber die menschlichen Objekte
müßte man schon zwingen, wenn sie Modell
sitzen, möglichst die Pose des Ausdrucks zu
behalten. Aber dann machen sie, wenn man versucht, die Natur
nachzuahmen, den Eindruck, wie wenn sie vom Starrkrampf
befallen wären, wenn man sie naturalistisch
machen will. So geht es also nicht. — Und so wurden sie
Impressionisten, welche nur den unmittelbaren,
vorübergehenden Eindruck festlegen wollten.
Dann muß man aber nicht mehr ganz und gar naturalistisch
sein, sondern muß schon allerlei Mittel anwenden, wodurch
man nicht die Natur nachahmt, sondern den Schein
hervorruft, den die Natur in einem Augenblicke als
Offenbarung auf einen macht. Und da entstand die Klippe; man
wollte gerade, um recht naturalistisch zu sein,
impressionistisch werden; und siehe da, man konnte im
Impressionismus nicht mehr naturalistisch sein. Jetzt
wendete sich das Ganze um. Jetzt versuchten einige nicht
mehr Impressionen zu geben, nicht mehr den
äußeren Eindruck festzuhalten, sondern gerade
das, was in ihrem Inneren aufstieg, und sollte es noch so
primitiv sein; das Innere, das da aufsteigt, das suchten
sie festzuhalten. Und diese wurden Expressionisten.
Denselben Gang könnten wir auf dem Gebiete des
sittlichen, ja sogar des Rechtslebens darlegen;
überall dieses Streben aus der Vorliebe
für das abstrakte Geistesleben heraus. Man muß
nur die Entwickelung der neueren Menschheit daraufhin in
der richtigen Art ansehen, dann wird man schon darauf kommen,
daß überall dieses Streben nach Abstraktion
drinnensteckte. Was ist beim modernen Proletariat daraus
geworden? Dieses moderne Proletariat ist, als es an die
Maschine gestellt wurde, eingespannt wurde in den modernen,
seelenlosen Kapitalismus, eben mit seinem ganzen Schicksal nur
im Wirtschaftsleben gewesen. Dieselbe Vorstellungsrichtung,
welche die Angehörigen der bürgerlichen
Kreise zum Naturalismus gebracht haben, haben das Proletariat
zu der Lehre gebracht, die sich in der materialistischen
Geschichtsauffassung ausdrückt. Überall,
wo man hinblickt, sieht man, daß das Proletariat eben nur
die letzten Konsequenzen desjenigen gezogen hat, was sich
innerhalb der bürgerlichen Kreise ausgebildet hat
— die letzten Konsequenzen, vor denen dann diese
bürgerlichen Kreise so furchtbar
zurückschaudern.
Wie
hat man es innerhalb der Bürgerkreise mit dem
Religiösen gehalten? Mit dem Religiösen
hat man es zum Beispiel auf einem Gebiete in
Bürgerkreisen so gehalten: Man hatte
früher wenigstens atavistisch dunkle
Vorstellungen von dem Christus-Mysterium. Man hatte sich
verschiedene Vorstellungen darüber ausgebildet, wie
in dem Jesus der Christus drinnen lebte. Im Laufe des 19.
Jahrhunderts erst hat es sich herausgebildet, daß man aus
dem abstrakten Geistesleben heraus sich keine Vorstellung mehr
machen konnte, wie in dem Jesus der Christus gelebt hat. So
beschränkte man sich auf das, was sich innerhalb der
Sinneswelt abgespielt hat im Beginne der christlichen
Entwickelung, auf die bloße Jesulogie. Der Jesus wurde
immer mehr und mehr als äußerer Mensch
betrachtet. Der Christus, der der
übersinnlichen Welt angehört,
verschwand immer mehr und mehr. Das abstrakte Seelenleben fand
keinen Weg zu dem Christus, begnügte sich mit dem
Jesus. Was machte daraus das proletarische Bewußtsein? Das
proletarische Bewußtsein sagte: Wozu brauchen wir dann
überhaupt noch eine besondere
religiöse Anschauung über den Jesus? Die
Bürgerlichen haben ja den Jesus bereits zu dem
schlichten Mann aus Nazareth gemacht. Der ist unseresgleichen
selbstverständlich, wenn er der schlichte Mann aus
Nazareth ist. Wir sind abhängig vom
Wirtschaftsleben, warum soll der nicht vom
Wirtschaftsleben abhängig gewesen sein? Hat noch
irgend jemand ein Recht, ihm eine besondere andere Mission
zuzuschreiben, ihn den Begründer eines ganz neuen
Menschheitszeitalters zu nennen, da er ja doch nur der
schlichte Mann aus Nazareth war, der eben seinerzeit aus den
wirtschaftlichen Vorgängen heraus, in die er
versetzt war, das behauptet hat, was er eben behauptet hat?
— Die wirtschaftlichen Vorgänge muß man
studieren in der Zeit, als das Christentum begonnen hat; und
die Art und Weise, wie ein schlichter Handwerker, der dem
Handwerk entlaufen ist und im Herumziehen allerlei Ideen
entwickelt hat im Sinne der Wirtschaftsordnung des
damaligen Palästina, das muß man studieren;
daraus wird man dann ersehen, warum der Jesus gerade das
behauptet hat, was er behauptet hat. Letzte Konsequenz
der modernen protestantischen Theologie, das ist auch die
materialistische Jesus-Lehre des modernen Proletariats, die
eben keine den Menschen noch tragende Kraft mehr hat.
Mit
Bezug auf das zweite, auf die Gedankenfreiheit, die innerliche
Gedankeninitiative, ist es wiederum das unterbewußte
tiefere Seeleninnere der modernen Menschheit, was danach
strebt. Dasjenige, was auf der Oberfläche des
Seelenlebens im Bewußtsein lebt, macht sich vor, daß
es gerade nach dem Gegenteile zu streben habe, und strebt auch
nach dem Gegenteile. Daher rumort das Unterbewußte in
einer radikalen Opposition, die eben in unseren furchtbaren
Gegenwartskämpfen zum Ausdrucke kommt.
Autoritätsfrei wollten die leitenden
Bürgerkreise der neueren Zeit werden. Sie sind
hineingeplumpst in alle möglichen Arten von
Autoritätsglauben. Vor allen Dingen sind sie
hineingeplumpst in einen blinden Autoritätsglauben
gegenüber all dem, was irgendwie in die
Sphäre des Staates einbezogen ist, der die
höchste Autorität für das
Bürgertum geworden ist.
Was
spielt eine größere Rolle in diesem modernen
Bürgertum als das
«fachmännische Urteil»! Der
Mensch fragt nach dem fachmännischen Urteil und
führt dieses Fragen nach dem
fachmännischen Urteil eben auch in sein
äußeres Leben ein. Derjenige, der abgestempelt
mit dem Diplom der Universität in das Leben
hinaustritt, der weiß die Dinge; den frägt man
mit Bezug auf das, was Gott mit der Menschheit vorhat,
wenn er ein Theologe ist. Man frägt ihn mit Bezug
auf das, was im Menschenleben Recht ist, wenn er ein Jurist
ist; man frägt ihn, was dem Menschen Heilung bringen
kann, wenn er ein Mediziner ist, und man frägt
ihn über alle möglichen Dinge der Welt,
wenn er aus irgendeiner Ecke der philosophischen
Fakultät heraus kommt. Die moderne Menschheit, ein
kleiner Kreis wenigstens, hat immer gelächelt, wenn
der Blick auf ein Buch des ehrwürdigen
Philosophen der vorkantischen Zeit, Wolf, fiel.
Und dieses Buch trägt den Titel so
ungefähr: «Uber die Natur,
über die Menschenseele, über den Staat,
über die Geschichte und über alle
vernünftigen Dinge überhaupt.»
Uber ein solches Buch lächelt man. Aber daß in
den geistigen Laboratorien, die der Staat aufgerichtet
hat für die Menschen, alles dasjenige gebraut werde,
was der Inhalt der Vernunft sein soll für die
Menschen, daran glauben die leitenden Kreise in der neueren
Zeit mit aller Festigkeit. Das heißt, diese leitenden
Kreise haben keineswegs danach gestrebt, daß jeder
sein eigenes Bewußtsein habe, sondern sie haben danach
gestrebt, das Bewußtsein zu uniformieren, es so
einzurichten, daß es im Grunde im weitesten Sinne ein
Staatsbewußtsein ist.
«Staatsbewußtsein» ist das moderne
Bewußtsein viel mehr geworden, als die Menschen eigentlich
glauben. Die Menschen denken sich den Staat als ihren Gott, der
ihnen das gibt, was sie brauchen. Sie brauchen sich nicht
weiter mit den Dingen zu beschäftigen, denn der
Staat sorgt ja dafür, daß alle
vernünftigen Zweige des Lebens geregelt
werden.
Ausgeschlossen von dem Staatsleben war das Proletariat mit
Ausnähme der paar Gebiete, in die man es in
das Staatsleben in demokratischen Staatsgebilden
hineingelassen hat. Das Proletariat war ganz — selbst mit
dem, was den ganzen Menschen nach sich zieht, mit seiner
Arbeitskraft — in das Wirtschaftsleben eingespannt. Das
Proletariat zog nun wiederum nur für sein
Leben die letzte Konsequenz. Der moderne bürgerliche
Mensch hat ein Staatsbewußtsein, wenn er das auch nicht
immer zugibt, aber er macht sehr gerne Staat mit diesem
Staatsbewußtsein. Man braucht wahrhaftig nicht bloß
auf seine Karten drucken zu lassen «Reserveleutenant
und Professor», um mit dem
Staatsbewußtsein Staat zu machen, man kann es in ganz
anderer Form machen. Aber das Proletariat hatte kein
Interesse am Staat. Es war in das Wirtschaftsleben eingespannt.
Daher fühlte es nun wiederum so, daß sein
Fühlen die letzte Konsequenz des
bürgerlichen Fühlens wurde, aber
entsprechend seinem Leben. Sein Bewußtsein wurde das
Klassenbewußtsein des Proletariats. Und so sehen wir
eigentlich, weil nun diese Klasse des Proletariats nichts zu
tun hat mit dem Staate, dieses Klassenbewußtsein auf
Internationalismus gebaut. Also diese Dinge sind notwendig. Zu
dem modernen Staate konnte nur der Bürgerliche
hinneigen, weil der moderne Staat für den
Bürgerlichen sorgt, und der
Bürgerliche für sich gesorgt haben will.
Der Staat aber sorgte nicht für den Proletarier. Der
fühlte sich nur in der Welt drinnenstehend, insofern
er seiner Klasse angehörte. Und die proletarische
Klasse ist überall in der gleichen Art vorgegangen
durch alle Staaten durch. Daher bildete sich dieses
internationale Proletariat heraus, dieses internationale
Proletariat, welches sich fühlte im bewußten
Gegensatz gegen alles dasjenige, was bürgerlich war,
und was mit derselben Kraft des Bewußtseins nach dem
Staate und nach den Staatsfaktoren hinstrebte. Und es gab eine
außerordentlich suggestive Ausbildung dieses
Klassenbewußtseins im Proletariat in der modernen Zeit.
Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen proletarische
Versammlungen besucht haben. Wie schlössen
diese proletarischen Versammlungen denn immer? Sie
schlössen immer damit, daß man in
proletarischer Konsequenz das nachgemacht hat, was so
viele bürgerliche Veranstaltungen aus ihren
bürgerlichen Interessen heraus angegeben
haben. Womit schloß man zum Beispiel in Mitteleuropa die
bürgerlichen Versammlungen? Mit dem Kaiserhoch! Oder
man begann damit. Jede Proletarier-Versammlung
schloß: «Es lebe die internationale
revolutionäre Sozialdemokratie!» Man
muß nur bedenken, was für eine ungeheure
suggestive Kraft dieses von Woche zu Woche vom Proletarier
gehörte Wort bedeutet, und wie das ein
Einheitsbewußtsein durch die Massen treibt, so
daß jede Gedankenfreiheit selbstverständlich
ausgetrieben wird. Es saß das fest in der Seele. Es gab
ja, wenn auch immer weniger, aber es gab in früheren
Zeiten von Bürgerlichen einberufene Versammlungen,
zu denen auch Sozialdemokraten eingeladen wurden. Der
Vorsitzende sagte dann am Schluß: Ich bitte die Herren
Sozialdemokraten zuerst hinauszugehen, denn ich werde jetzt die
Versammlung auffordern, sich von den Sitzen zu erheben
und das Kaiserhoch auszubringen. — Es hat in
früheren Zeiten proletarische Versammlungen
gegeben, wobei Bürgerliche zu den Diskussionen
zugelassen waren. Der proletarische Vorsitzende hat am
Schluß gesagt: Ich bitte die Herren der
bürgerlichen Klasse jetzt sich hinauszubegeben, denn
es wird das Hoch auf die internationale
revolutionäre Sozialdemokratie ausgebracht. —
So ist zusammengeschweißt worden, was die Seelen
durchzog als das sie uniformierende
Klassenbewußtsein. Das Gegenteil von dem, was gerade in
den Herzen tiefer unten sitzt, das Gegenteil von der Sehnsucht
nach individueller Gedankenfreiheit, nach einer individuellen
Formung des Bewußtseins! Das ist das zweite.
Das
dritte, was in den Tiefen der modernen Seele drängt,
sich zu verwirklichen, das ist der Sozialismus — der
Sozialismus, der einfach dadurch zu kennzeichnen ist, daß
man sagt: Die moderne Seele strebt im Zeitalter des
Bewußtseins dahin, daß der einzelne sich
fühlen möchte in dem sozialen Organismus
drinnen. Man will schon den sozialen Organismus als solchen
begründen, man will sich als Mensch als Glied dieses
sozialen Organismus fühlen, man will drinnenstehen
in irgendeiner Weise. Das heißt, man will von einem
solchen Bewußtsein sich durchdringen, daß man
immer die Empfindung als Mensch hat: was ich tue, tue ich so,
daß ich weiß, wieviel Anteil an mir der soziale
Organismus hat, und wie wiederum ich Anteil habe an dem
sozialen Organismus. Der Mensch lebt ja im sozialen Organismus
drinnen. Aber, wie gesagt, heute ist noch die Empfindung
für den sozialen Organismus nur in den
unterbewußten Seelenregionen vorhanden.
Wenn heute ein Maler ein Bild malt, wird er mit Recht sagen:
Dieses Bild muß mir bezahlt werden, denn ich habe
meine Kunst in dieses Bild hineingelegt. — Was ist
seine Kunst? — Seine Kunst ist etwas, was die
Gesellschaft, was der soziale Organismus ihm erst
möglich gemacht hat. Gewiß, es hängt
von seinem Karma, von seinen früheren Erdenleben ab;
aber daran glauben die Leute heute auch nicht, wobei sie sich
freilich in Selbsttäuschung befinden. Aber insofern
wir nicht den Anteil betrachten, den unsere durch die Geburt
aus höheren Regionen herabsteigende
Individualität uns an unserem Können
gibt, insofern sind wir ja ganz abhängig, in dem was
wir können, von dem sozialen Organismus. Aber der
moderne Mensch beachtet das in seinem Bewußtsein
nicht. Und so ist statt des sozialen Empfindens
zunächst im Bewußtsein seit vier
Jahrhunderten immer mehr und mehr eine egoistische, eine
antisoziale Denkart entstanden; die antisoziale Denkart, die
sich namentlich darin ausdrückt, daß jeder
eigentlich zunächst an sich denkt und so viel als
möglich herauszubekommen versucht aus dem
sozialen Organismus. Das Gefühl, alles wieder
zurückgeben zu müssen an den
sozialen Organismus, was man von ihm bekommen hat, das haben
heute wenige. Gerade in den leitenden bürgerlichen
Kreisen ist mit Bezug auf das Geistesleben
allmählich der denkbar größte
Egoismus heraufgestiegen, der Egoismus, der den bloßen
geistigen Genuß als etwas besonders Berechtigtes
für den Menschen ansieht, der sich diesen geistigen
Genuß verschaffen kann. Man hat aber keinen Anspruch auf
geistigen Genuß, der einem durch den sozialen Organismus
bereitet wird, wenn man nicht an dem Orte, an den man in der
Welt gestellt ist, ein entsprechendes Äquivalent
dem sozialen Organismus wiederum zurückgeben will.
Das muß man sich klarmachen.
Nun
hat wiederum das Proletariat, das ja nicht hat teilnehmen
dürfen an dem geistigen Teil des sozialen
Organismus, das im Wirtschaftsleben und in dem
seelenlosen Kapitalismus eingespannt ist, es hat nur die letzte
Konsequenz dieses bürgerlichen Egoismus gezogen in
der Mehrwertslehre. Der Arbeiter sieht, er produziert ja
eigentlich dasjenige, was in der Fabrik, an der Maschine
hergestellt wird, also will er auch haben, was dafür
einkommt. Er will nicht, daß ein Teil davon abgezogen wird
und woanders hingeht. Und weil er nichts anderes sieht als den
Kapitalisten, der ihn an die Maschine stellt, so glaubt er
selbstverständlich, daß aller Mehrwert an den
Kapitalisten geht, und muß sich zunächst
kämpfend gegen den Kapitalisten wenden.
Objektiv betrachtet steckt natürlich in dem,
was dem sogenannten Mehrwert entspricht, etwas ganz
anderes noch. Was ist Mehrwert? Mehrwert ist alles
dasjenige, was durch Handarbeit produziert wird, ohne daß
dafür diese Handarbeit eine Entschädigung
bekommt. Denken Sie sich, es gäbe keinen Mehrwert,
alles würde den Bedürfnissen des
Handarbeiters zufließen. Was gäbe es dann
nicht? Selbstverständlich keine geistige Kultur,
überhaupt keine weitere Kultur; es gäbe
nur Wirtschaftsleben, es gäbe überhaupt
nur, was durch Handarbeit zutage gefördert werden
kann. Es kann sich gar nicht darum handeln, daß der
Mehrwert der Handarbeit zufließt, sondern nur darum,
daß der Mehrwert in einem Sinne, mit dem der Handwerker
einverstanden sein kann, verwendet werde. Das wird aber nur
geschehen, wenn man den Handwerker dazu heranzieht,
Verständnis zu haben für die Wege, die
der Mehrwert nimmt.
Hier berührt man den Punkt, wo am meisten
gesündigt worden ist von der bürgerlichen
Ordnung der neueren Zeit. Man hat die Maschinen, die
Fabriken begründet, man hat den Handel
begründet, das Kapital auch in Zirkulation gebracht,
man hat den Arbeiter an die Maschine gestellt, in die
kapitalistische Wirtschaftsordnung eingespannt. Da hatte
er arbeiten sollen. Aber man hat nicht darauf gesehen,
etwas anderes vom Arbeiter zu brauchen, als seine Arbeitskraft.
In einem gesunden sozialen Organismus muß vom Arbeiter
nicht nur die Arbeitskraft gebraucht werden, sondern auch die
Ruhe, dasjenige, was an seiner Kraft übrigbleibt,
wenn er gearbeitet hat. Und nur diejenigen Kapitalisten
sind eigentlich berechtigt, welche ebenso Interesse haben
an Ersparnis, an der nötigen Ersparnis der
Arbeitskraft des Proletariers, wie sie ein Interesse haben an
der wirtschaftlichen Verwendung der Arbeitskraft. Diejenigen
Kapitalisten haben nur eine Berechtigung, die dafür
sorgen, daß der Arbeiter nach einer bestimmten Arbeitszeit
irgendwie an das herankommen kann, was allgemein menschliches
geistiges und sonstiges Bildungsgut ist.
Dazu muß man dieses Bildungsgut erst haben. Die
bürgerliche Gesellschaftsklasse hatte dieses
Bildungsgut entwickelt; daher konnte sie gut allerlei
populäre Bildungsanstalten begründen. Was
hat man nicht alles getan an solchen Volksküchen des
geistigen Lebens! Was ist auf diesem Gebiete alles
gegründet worden. Aber zu welchem Bewußtsein
konnte der Proletarier bei diesen Volksküchen des
geistigen Lebens kommen? Zu keinem anderen, als daß
ihm da die Bürgerlichen etwas abgeben, was sie
unter sich ausgekocht haben. Da hatte er natürlich
das Mißtrauen: Aha, die wollen mich bürgerlich
machen, indem sie mir ihre Milch der frommen Denkungsart da in
der Volksküche einflößen. Diese
ganzen bürgerlichen Wohlfahrtsbewegungen, sie
sind durch die Art, wie sie waren, vielfach Schuld an den
Tatsachen, die heute so schreckhaft an dem Horizont des
sozialen Lebens auftauchen. Was heute auftritt, stammt
eben aus viel ernsteren Untergründen, als man
gewöhnlich meint. Den Mehrwert will ich haben!
— das ist das egoistische Prinzip, das als letzte
Konsequenz des bürgerlichen Egoismus, der nun
auch den Mehrwert haben wollte, erscheint. Wiederum zieht das
Proletariat die letzte Konsequenz. Und statt des
Sozialismus, der in den Untergründen der Seelen ist,
erscheint auf der Oberfläche des Seelenlebens im
Bewußtsein die Mehrwertslehre, die im eminentesten
Sinne antisozial ist. Denn wenn jeder das einheimst, was der
Mehrwert ist, so heimst er es ein für seinen
Egoismus.
Und
so haben wir heute, meine lieben Freunde, einen Sozialismus,
der nicht sozialistisch ist, so wie wir heute ein Streben haben
nach einem Bewußtseinsinhalt, der kein
Bewußtseinsinhalt ist, sondern der das Ergebnis des
wirtschaftlichen Zusammenhanges einer Menschenklasse ist,
und sich ausdrückt im Klassenbewußtsein des
Proletariats. Und so haben wir heute ein Geistesstreben,
welches den Geist verleugnet und seine letzte
Konsequenz in der materialistischen Geschichtsauffassung
gefunden hat.
Diese Dinge müssen durchschaut werden, sonst
versteht man nicht, was in der Gegenwart lebt. Und wie wenig
waren die Bürgerkreise geneigt, nach dieser Richtung
hin wirklich ein Durchschauen der Verhältnisse
auszubilden, wie wenig sind sie heute noch, nachdem die
Tatsachen so deutlich, so brennend sprechen, geneigt, sich
dieses Bewußtsein anzueignen.
Es
wird auf keinem anderen Wege möglich sein, statt des
antisozialen Strebens im Proletariat von heute ein
wirklich soziales Streben herauszubringen, als daß man
versucht, das Wirtschaftsleben auf seine gesunde
selbständige Basis zu stellen als ein Glied des
sozialen Organismus, das seine eigene Gesetzgebung und
seine eigene Verwaltung hat, in das sich nicht mehr der Staat
hineinmischt. Mit anderen Worten, es muß angestrebt
werden, daß der Staat auf keinem Gebiete selbst
Wirtschafter ist. Dann kann sich das, was in den Tiefen der
Menschenseelen ersehnt wird, wirklicher Sozialismus im
Wirtschaftsleben ausbilden. Und es muß angestrebt
werden, daß von diesem Wirtschaftsleben abgesondert ist
das Leben des eigentlichen politischen Staates, der nun
seinerseits weder einen Anspruch macht auf das Wirtschaftsleben
noch auf das eigentliche Geistesleben, auf das Kulturleben,
Schulleben und so weiter. Wenn dieses Staatsleben keinen
Anspruch macht nach beiden Seiten hin, wenn es das bloße
Rechtsleben verkörpert, dann bringt es das zum
Ausdruck, was hier in der physischen Welt das
Verhältnis begründet von Mensch zu
Mensch, jenes Verhältnis, das alle Menschen gleich
vor dem Gesetze macht. Nur ein solches Staatsleben entwickelt
eine wirkliche Freiheit des Gedankens. Und als ein drittes
Glied des gesunden sozialen Organismus muß sich das
auf sich gestellte Geistesleben ausbilden, das auch aus der
Wirklichkeit des Geistes heraus schöpfen kann, das
zu wirklicher Geisteswissenschaft vordringen muß. —
Was in den Tiefen der Menschenseelen heute erstrebt wird, ist
schon der gesunde soziale Organismus, der aber dreigliedrig
sein muß.
So
kann man auch die Dinge betrachten, wie wir sie heute
betrachtet haben. Und Geisteswissenschaft soll in diesem
Sinne, wie ich oft betont habe, ernst und tief genommen werden,
nicht als etwas, das man nur so wie eine
Sonntagnachmittagspredigt hinnimmt; denn das ist
bürgerlich. Bürgerlich ist es, neben
seinem Wirtschaftsleben, das man zur Not nur für den
kleinen Kreis selbst besorgt, wenigstens selbst zu besorgen
glaubt, und neben dem Staatsleben, für das man den
Staat sorgen läßt, auch so ein bißchen
Geistesleben zu entwickeln, je nachdem man sich für
aufgeklärt hält, indem man zum Pfarrer
geht, oder indem man sich der Theosophie widmet oder
dergleichen. Es ist gut bürgerlich. Und eminent
bürgerlich hat gerade die theosophische Bewegung das
Geistesleben in der neueren Zeit hingestellt. Man kann sich
nichts Bürgerlicheres denken als diese moderne
theosophische Bewegung. Sie ist so recht aus dem
Bedürfnisse des Bürgertums als eine
sektiererische Geistesbewegung hervorgewachsen. Das war der
Kampf, seit wir versucht haben, aus dieser theosophischen
Bewegung etwas herauszuarbeiten, was durchdrungen sein sollte
vom modernen Menschheitsbewußtsein und als Bewegung in die
Menschheit hineingestellt werden sollte. Immer war der
Widerstand des bürgerlichen sektiererischen
Elementes da, das tief verankert ist im
Oberflächenteil der menschlichen Seele. Aber
man muß darüber hinauskommen. Das
anthroposophische Streben muß als ein solches erfaßt
werden, welches von der Zeit gefordert wird, welches uns nicht
kleine, sondern große Interessen geben soll, welches uns
nicht bloß dazu anleitet, uns in kleinen Zirkeln
zusammenzusetzen und Zyklen zu lesen. Es ist ja gut, wenn man
Zyklen liest; ich bitte Sie, durchaus jetzt nicht daraus die
Schlußfolgerung zu ziehen, daß nun keine Zyklen in
der Zukunft gelesen werden sollen; aber man soll dabei nicht
stehenbleiben. Man soll das, was in den Zyklen steht, wirklich
ins Menschenleben einführen — aber nicht
so, wie sich manche es vorstellen, sondern so, daß man
zunächst das Verhältnis zum
Bewußtsein der neueren Zeit sucht. Nicht darauf kommt es
an, wenn ich so etwas sage, daß jetzt daraus das
Bewußtsein erwächst: also wir sollen nicht
sektiererisch Zyklen lesen, lesen wir also keine mehr; sondern
darauf kommt es an, daß wir erst recht Zyklen lesen, aber
dann auch sehen, daß das, was in den Zyklen enthalten ist,
auch wirklich in unsere Lebenskraft übergeht. Dann
wird das die beste soziale Nahrung für die in der
Gegenwart strebenden Seelen sein. Denn so ist schon alles
gedacht, und so ist schließlich auch unser Bau gedacht,
namentlich in dem, was künstlerisch mit ihm
angestrebt wird. Er ist gedacht durchaus im Sinne der neueren
Zeit, und er kann in einer anderen als in dieser Art in der
Gegenwart ganz und gar nicht gedacht werden. Ich weiß
nicht, ob Sie sich schon überlegt haben, wie gerade
dieser Bau auch in sozialer Beziehung ein Produkt der
allerallerneuesten Zeit ist, und wie zu ihm gehört,
daß man auch im Sinne dieser allerallerneuesten Zeit
strebt. Denken Sie sich doch einmal: ein Bau, dessen Inneres
gar keinen Zweck hat, oder wenigstens ein
größerer Teil des Inneren gar keinen Zweck hat,
wenn er für sich selbst dastehen soll. Er muß
im Zusammenhange mit der ganzen übrigen
Weltordnung stehen, wenn er überhaupt einen
Sinn haben soll; selbst bei Tag würde es oben in der
Kuppel stockfinster sein, die finsterste Nacht
würde sein, wenn nicht von außen das
elektrische Licht hineinkäme. Ganz angewiesen auf
das, was draußen geschieht, ist gerade dieser Bau mit
Bezug auf so wichtige Dinge, daß man in ihm etwas
sieht. Er ist so recht herausgeboren aus dem
Allerallerneuesten. Daher muß er sich auch im
Zusammenhange entwickeln mit dem, was aber auch jetzt
innerlich, nicht an der Oberfläche der Seele, die
allerneueste Zeit gerade als Geistiges anstreben
muß.
So
könnten Sie sich vieles überlegen, was
mit diesem Bau im Zusammenhange steht. Der Bau ist schon
ein Repräsentant des modernsten Geisteslebens, und
wird nur dann richtig verstanden, wenn man den Gedanken hat,
daß er wie eine Art Kometenstern ist, der aber einen
Schwanz nachziehen muß. Der Schwanz besteht darin,
daß nun wirklich das, was
gefühlsmäßig von der Anthroposophie
ausstrahlt, in den Menschenseelen lebt. Aber es
möchte leicht geschehen, daß viele sich so
ähnlich zu diesem Bau stellen mit Bezug auf das, was
ich eben gesagt habe, wie sich manche Katholiken, gerade
führende Katholiken, zur modernen Astronomie
gestellt haben, als sie die Kometen zu gewöhnlichen
Weltenkörpern gemacht haben, während sie
vorher als Zuchtruten galten, die von irgendeinem sinnlich
gedachten Geist zum Himmelsfenster herausgehalten werden. Da
kam eine Zeit, wo die katholisch orientierten Führer
nicht mehr ableugnen konnten, daß es mit den Kometen eine
ähnliche Bewandtnis habe, wie mit den anderen
Himmelskörpern; da kamen sie auf ein
Auskunftsmittel. Einige ganz Gescheite sagten: Nun ja, der
Komet besteht aus dem Kern und aus dem Schwanz; für
den Kern können wir nicht ableugnen, daß
er ein Himmelskörper ist wie ein anderer, aber der
Schwanz ist es nicht, der hat noch denselben Ursprung, den man
früher gedacht hat. — So könnte es
auch sein, daß die Menschen das Bewußtsein bekommen:
Nun ja, den Bau wollen wir noch gelten lassen; aber all die
vertrackten Empfindungen, die sich an den Bau als Schwanz
angliedern sollen, von denen wollen wir nichts wissen.
Aber dieser Bau gehört als ein Komet mit seinem
Schwanz zusammen, und es wird notwendig sein, daß alles,
was mit ihm in Verbindung steht, auch mit ihm in Verbindung
empfunden wird.
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