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Vom Wesen des wirkenden Wortes

Vom Wesen des wirkenden Wortes: Zu den Veröffentlichungen aus dem Vortragswerk Rudolf Steiners

Schmidt-Nummer: S-5348

Online seit: 28th February, 2016

Zu den Veröffentlichungen aus dem Vortragswerk Rudolf Steiners

Die Gesamtausgabe der Werke Rudolf Steiners (1861-1925) gliedert sich in die drei großen Abteilungen: Schriften Vorträge Künstlerisches Werk (siehe die Übersicht am Schluß des Bandes).

Von den in den Jahren 1900 bis 1924 sowohl öffentlich wie für die Mitglieder der Theosophischen, später Anthroposophischen Gesellschaft zahlreichen frei gehaltenen Vorträgen und Kursen hatte Rudolf Steiner ursprünglich nicht gewollt, daß sie schriftlich festgehalten würden, da sie von ihm als «mündliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollständige und fehlerhafte Hörernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich veranlaßt, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe betraute er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Stenographierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die für die Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fällen die Nachschriften selbst korrigieren konnte, muß gegenüber allen Vortragsveröffentlichungen sein Vorbehalt berücksichtigt werden: «Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.»

Über das Verhältnis der Mitgliedervorträge, welche zunächst nur als interne Manuskriptdrucke zugänglich waren, zu seinen öffentlichen Schriften äußert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie «Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist am Schluß dieses Bandes wiedergegeben. Das dort gesagt gilt gleichermaßen auch für die Kurs zu einzelen Fachgebieten, welche sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissenschaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemäß ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamtausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nähere Angaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise.


XXXX Vom Wesen des wirkenden Wortes: Inhalt

INHALT

Zu dieser Ausgabe 9

erster vortrag, Stuttgart, 11. Juli 1923 11

Über den Fortgang der Arbeit der Christengemeinschaft seit ihrer Begründung. Symptome für unterschwellige Wirkungen der Geistesströmungen der Gegenwart. Über ahrimanische Kräfte, die der Mensch heute durch die äußere Kultur aufnimmt und ihre Unschädlichmachung. Beantwortung von Teilnehmerfragen. Das richtige Darinnenstehen im Kultus. Der Kultus als Sprache der übergeordneten Welten. Tägliches Sich-Beschäftigen mit der Menschenweihehandlung. Das Sich-Durchringen zum Priesterbewußtsein.

zweiter vortrag, 12. Juli 1923 25

Schwierigkeiten in der Auffassung des Verhältnisses der Bewegung für religiöse Erneuerung zur anthroposophischen Bewegung. Innere Wahrheit ist notwendig gegenüber der inneren unbewußten Unwahrhaftigkeit in der heutigen Zeit. Von der Notwendigkeit einer Erkenntnisrichtung, die das Geistige wieder innerhalb des Naturwissens geltend macht. Verhältnis der Menschen zum Kultischen. Beantwortung von Teilnehmerfragen.

dritter vortrag, 13. Juli 1923 45

Impulse für ein Sichfühlen in der spirituellen Welt. Das Walten des Sprachgenius. Unser Verhältnis zur Sprache. Das Wort «Mensch». Dreistufige Meditation über «das Wesen, das ich mit dem Wort 'Mensch' bezeichnen will». Erleben der Wahrheit des Wortes. Priester und Sprachgenius.

vierter vortrag, 14. Juli 1923 60

Das Neue Testament als übersinnliche Offenbarung. Über Übersetzungen der Evangelien. Beispiel für eine neue Art der Übersetzung: Johannes 17, 1-9. Geistige Entwickelungstatsachen der Menschheit: Nach dem Mysterium von Golgatha ist die Art, wie das Gottesbewußtsein zu den Menschen kommen sollte, eine andere als früher.

ORIGINALHANDSCHRIFTEN RUDOLF STEINERS

Verzeichnis der Originalhandschriften Rudolf Steiners . . 73

Faksimiles von Originalhandschriften Rudolf Steiners . . 74

*

Hinweise

Textunterlagen 159

Hinweise zum Text 159

Namenregister 161

Rudolf Steiner über die Vortragsnachschriften 163

Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe ... 165


XXXX Vom Wesen des wirkenden Wortes: Zu Dieser Ausgabe

ZU DIESER AUSGABE

Der vorliegende Band in der Reihe «Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken» ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil umfaßt vier Vorträge, die Rudolf Steiner im Juli 1923 für die Priester der zehn Monate vorher begründeten «Christengemeinschaft» in Stuttgart gehalten hat.

Im zweiten Teil sind Originalhandschriften Rudolf Steiners (leicht verkleinert) wiedergegeben. Es handelt sich hierbei um Ergänzungen dessen, was an Wortlauten für kultische Handlungen schon während des zweiten und dritten Vortragskurses übermittelt worden war. Die Originale der Handschriften befinden sich im Archiv der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung.


XXXX Vom Wesen des wirkenden Wortes: Erster Vortrag

ERSTER VORTRAG

Stuttgart, 11. Juli 1923

Die herzlichen Worte, die soeben [von Herrn Dr. Rittelmeyer] gesprochen worden sind, gehen hervor aus derjenigen schönen Kraft, die ja zur Begründung dieser religiösen Gemeinschaftsbildung geführt hat, und das Wesentliche, was durch diese religiös wirkende Gemeinschaft fließen soll, hängt ja von dem ganzen Ernste und von der, ich möchte sagen Vertiefung dieses Ernstes ab, wie er ursprünglich in den Absichten derjenigen lag, die den Anstoß gegeben haben zu der Begründung dieser religiösen Gemeinschaftsbewegung. Es muß gesagt werden, daß auch im wesentlichen alles das, was im Verlaufe dieses Jahres innerhalb dieser religiösen Gemeinschaft selber geschehen ist, durchaus im Sinne einer Fortsetzung dieses Ernstes geschehen ist, und daß man wohl jetzt schon, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, sagen kann: die ursprünglichen Absichten haben sich bewährt, durchaus bewährt.

Es trat ja zum Beispiel auch dann diese Bewegung stark hervor, wenn der äußere Eindruck des Rituals ich meine das im edelsten Sinne des Wortes innerhalb unserer gesamten Geistesbewegung wirkte. Es ging ein starker Strom von innerer, wahrhaftig gemeinter und auch wahrhaftig wirkender Andacht aus von der Art, wie wir vor kurzem eines der ältesten Mitglieder unserer anthroposophischen Bewegung, Hermann Linde, zur Einäscherung führen konnten. Die Eindrücke, welche gerade bei dieser Gelegenheit von der Kultushandlung ausgegangen sind, zeigten durchaus, daß das, was beabsichtigt werden soll, wirklich auch auf einem guten Wege der Verwirklichung ist; und das kann ja auf den verschiedensten Gebieten bis jetzt gesagt werden.

Ich habe sogar die Empfindung, daß es mit dem objektiven Werdegang dieser religiösen Gemeinschaftsbestrebung schneller gegangen ist als mit dem, was die innere Befriedigung, die innere Harmonisierung in den Seelen der einzelnen Träger dieses religiösen Gedankens ist. Die Sache geht nun ihren guten Gang. Sie selbst werden sich auf der einen Seite von diesem guten Gang von der Sache hingerissen fühlen können, auf der anderen Seite werden Sie mit manchen inneren seelischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, und da wäre es von ganz besonderer Bedeutung, wenn gerade bei dieser Zusammenkunft solche seelischen inneren Schwierigkeiten zum Besprechen kommen könnten, wenn also gerade heute diese erste Zusammenkunft dazu benutzt werden könnte, daß Sie die Schwierigkeiten geltend machen, die Sie selbst haben, so daß wir dann in den nächsten Tagen versuchen können, in bezug auf diese inneren Schwierigkeiten eine gewisse Harmonisierung herbeizuführen.

Es ist durchaus begreiflich, daß diese inneren Schwierigkeiten da sind, denn Sie müssen ja, gerade weil Sie Vertreter der wichtigsten spirituellen Bestrebung sind, stets vor Augen haben, daß die Realitäten im geistigen Leben stark wirken. Auch wenn man das nicht gewahr wird, Realitäten sind da. Das, was an der Oberfläche des Geschehens geschieht, wurzelt, gerade wenn es für das Geistige geschieht, in tiefen Untergründen, die gut oder böse sein können. Es darf nie aus den Augen verloren werden, wenn man in der Gegenwart auf religiösem Gebiete wirken will, daß die religiös orientierten Geistes- oderUngeistesströmungen gerade in der Gegenwart eine außerordentlch rege Tätigkeit entwickeln.

Gerade während wir uns hier besprechen, ist zum Beispiel eine Versammlung im Gange von Vertretern der römischen Kirche an einem bestimmten Ort in Europa, die wahrscheinlich eine außerordentlich große Wirkung haben wird; wenigstens ist eine außerordentlich große Wirkung von ihr beabsichtigt. Es ist ja heute so, daß, viel mehr als man da oder dort ahnt, die Herzen der Menschen sich religiös verödet fühlen. Die Herzen der Menschen fühlen sich namentlich deshalb religiös verödet, weil allzuwenig zu ihnen in der Sprache gesprochen wird, die unmittelbar wirklich aus dem Geiste heraus kommt. Und für ganz breite Schichten der Menschheit ist es einfach unmöglich, daß man sie über diese Verödung der Herzen hinausbringt, wenn man sie nicht tatsächlich mit einer Sprache erfaßt, die nicht irdisch ist, das heißt mit der Sprache, die in der Kultushandlung gegeben ist, die eine übersinnliche Sprache ist. Sie müssen nicht aus den Augen verlieren, wie ungeheuer wirksam gerade heute das ist, was von der römischkatholischen Kirche in der Messe gegeben wird, was sie in einem heute ja veralteten, doch gerade auf die Seele stark wirkenden Kultus hat, und noch mehr durch die Art, wie da gesprochen werden kann.

Man muß sich immer klar darüber sein, wieviele Kräfte in der Menschheit so liegen, daß sie gerade nach dieser Seite hin in die Irre geführt werden können. Bedenken Sie, wenn Sie heute fragen, welches das so ziemlich verbreitetste Gedichtwerk in Mitteleuropa ist, so müssen Sie ein Werk nennen, das in den Kreisen, die man heute gewöhnlich meint, wenn man vom Fortgang in der Geschichte spricht, oft gar nicht bekannt ist, nicht einmal dem Namen nach, «Dreizehnlinden» von Weber, das rasch viele Auflagen erlebt hat. Warum ist das so? Aus dem Grunde, weil das Werk von römisch-katholischem Geiste durchweht ist. ... [Lücke im Text des Stenographen.]

Diese Tatsachen sind die äußeren Symptome für eine starke geistige Strömung, die speziell römisch-katholische, die eben nach außen wirkt. Das ist sehr stark im Anzug. Nun vergessen Sie nicht, diese Kräfte gehen durch die menschliche Seele hindurch, gehen auch durch Ihre Seelen hindurch, und manches von dem, was Sie vielleicht nur einem subjektiven Bedürfnisse zuschreiben, rührt objektiv von den Geistesströmungen in der Gegenwart her. Und da wäre es von großer Bedeutung, wenn heute von Ihnen diese subjektiven Bedürfnisse formuliert würden, so daß wir sie in den nächsten Tagen in unsere Besprechung einfließen lassen können. Sie dürfen nicht vergessen, in einer solchen Bewegung, wie es die Ihrige ist, muß es sich darum handeln, daß Sie mit dem real-konkreten Geiste der Gegenwart wirken. Was wissen die Leute heute von dem realen Geiste der Gegenwart? Eine der wichtigsten Tatsachen für das innere Wirken des Geistigen in der Gegenwart kommt dadurch zustande, daß man in Amerika anfängt etwas einzusehen, was in der Anthroposophie schon angedeutet worden ist, was aber natürlich nicht gehört wird. Nun fängt man an, mit äußerlichen Mitteln einige Einsicht zu gewinnen.

Vergleichen Sie die Welt von heute mit der von vor hundert Jahren. Sie werden sagen, wenn man die Welt von heute mit der von vor hundert Jahren vergleicht, so ist im Ganzen ein Unterschied zwischen heute und der Zeit vor hundert Jahren da; aber einer der gewaltigsten Unterschiede, der nicht aufgezählt wird, das ist der, daß wir heute unsere Atmosphäre durchzogen haben von lauter Telegraphendrähten, Telephondrähten und so weiter. Nun, in Europa scheint das Durchwachsensein mit Drähten noch ein Kinderspiel zu sein gegenüber Amerika. Deshalb ist dort eine Spur von Einsicht vorhanden, was das für den Menschen bedeutet. Man ahnt dort endlich, daß der Mensch nicht unbeeinflußt bleibt von dem, was in den Telegraphendrähten lebendig durch die Luft schwirrt, daß der Mensch ein richtiger Induktionsapparat wird. Bedenken Sie, daß ein entgegengesetzter Strom in Ihren Nerven und wiederum ein gleichgerichteter Strom in Ihrem Blutsystem wirkt. Das alles trägt die Menschheit heute in sich, aber davon spricht man kaum. Das sind im eminentesten Sinne ahrimanische Kräfte, die der Mensch heute durch die äußere Kultur aufnimmt, die er auch gar nicht ablehnen kann. Man macht sich ja Gedanken über das Mögliche und Unmöglichste, aber gerade über die stärksten Realitäten macht sich die heutige Menschheit am wenigsten Gedanken. Man sollte zum Beispiel auch einmal darüber sprechen, inwiefern der Unterschied zwischen Goethe und den heutigen Menschen darin besteht, daß Goethe noch nicht von Telegraphendrähten umwickelt war. Sehen Sie, was heute die Verödung der Menschenseele ist, das ist wesentlich mit alldem zusammenhängend.

Wenn Sie sich nun umsehen, wie die höchsten geistigen religiösen Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden, so müssen Sie sich die Frage stellen: Sind in diese Befriedigungen schon die Impulse aufgenommen, die damit rechnen, daß der Mensch durch sein Seelisch-Geistiges diese Dinge in sich unschädlich machen kann? Das sind sie nicht! Die Befriedigungen der religiösen Bedürfnisse gehen in Zeiten zurück, in denen es dies alles noch nicht gab, was ich Ihnen eben geschildert habe. Heute gibt es eine Befriedigung der religiösen Bedürfnisse, die nur für diejenigen Menschen gelten konnte, die nicht in einer solchen Kultur lebten, wie wir sie heute haben. Die Anthroposophie will hier so eingreifen, daß ein neuer Impuls entstehen kann, der in der Lage ist, die Menschen unabhängig zu machen von dem, wovon sie äußerlich nicht unabhängig werden können. Das muß hingenommen werden, was äußerlich da ist. Aber es muß auf der anderen Seite der Gegenpol dazu [geschaffen werden]. Das bedeutet, daß Sie ein starkes Bewußtsein aufnehmen müssen von der Bedeutung Ihrer Bewegung und mehr und mehr von rein geistigen Impulsen aus diese Bewegung machen müssen. An die wichtigsten Dinge muß gerade dabei gedacht werden, wenn es sich darum handelt, die Frage zu beantworten: Was sollen wir tun? Die richtige Anwendung des Kultus und der Predigt ergeben schon den nötigen starken Impuls, wenn diese religiöse Bewegung auf Anthroposophie aufgebaut ist. Aber ein Bewußtsein davon muß in jedem einzelnen von Ihnen vorhanden sein, daß man heute in der Art in der Welt steht, daß man drinnensteht in diesen Einflüssen. Jeder von Ihnen sollte möglichst viel dazu beitragen, den Starkmut des Bewußtseins nach dieser Richtung hin zu erhöhen, zu kräftigen.

Wir dürfen nicht vergessen, daß nach und nach in der Menschheit alles abstrakt und intellektuell geworden ist, und daß der Intellektualismus heute vollkommen in der Abendröte steht. Wir dürfen heute die Dinge nicht mehr nur verstehen wollen, sondern wir müssen unsere Herzen öffnen für die Realitäten aus der geistigen Welt. Das bloße Verstehen, wie dies oder jenes aufzufassen ist, ist sehr schön, es ist aber nicht dasjenige, was heute eine Bewegung tragen kann. Sehen Sie, eines muß besonders eingesehen werden: daß diejenigen Bewegungen, die heute regsam sind und mit starkem Willen ausgestattet sich dahin rüsten, mit Altem die Menschheit zu übersäen, ungeheuer stark sind und tief wurzeln namentlich im mitteleuropäischen und westlichen Volkstum; die römisch-katholische Kirche ist nur eine Phase davon. Gerade die Intellektuellen, weil sie heute bei der Verödung der Herzen angekommen sind, laufen heute in Scharen wieder zu den bestehenden Kirchen hin, namentlich zur katholischen.

Sie sind nur erst eine kleine Bewegung und gering an der Zahl. Aber wenn Sie das Bewußtsein davon in sich tragen, daß Sie in der Wahrheit wirken, dann werden Sie sich eben sagen: Bei geistigen Bewegungen kommt es nicht auf die äußere Größe noch auf die Zahl an, sondern auf die innere Kraft. Diese wird wirken, wenn sie von starkem Bewußtsein dessen, was sie ist, getragen wird. Das ist es aber, was Sie haben müssen: Starkes Bewußtsein der Wahrheit, sich nicht entmutigen lassen, weil die Wahrheit heute am meisten gehaßt wird. Wenn Sie irgendeinen sektiererischen Irrtum verbreiten wollten, so würden Sie es leicht haben, man würde dann keine Ängstlichkeit Ihnen gegenüber haben. Aber gerade wenn Sie die Wahrheit verbreiten wollen, dann spüren die Menschen das, und da werden Sie die stärksten Widerstände finden.

Es handelt sich darum, daß man heute die zwei großen Gegensätze durchschaut. Ich möchte nicht bei jeder Gelegenheit den Jesuitismus erwähnen, auch nicht in dem gewöhnlichen Sinne, ich erwähne ihn hier nur als Repräsentant dessen, was die alte Geistigkeit über die Gegenwart verbreiten will, gegenüber dem, was moderne Kultur in die Gegenwart hereingebracht hat. Diese Strömung verspricht sich die Ausrottung der modernen Kultur. Sie dürfen nicht glauben, daß der Wille bei dieser Bewegung klein ist. Sie zweifelt nicht, daß es ihr gelingen wird, eine Menschheit ohne die modernen Kulturmittel zu haben, und das trägt diese Bewegung. Sie sieht in den modernen Kulturmitteln den Teufel und will ihn mit den Mitteln der alten Kultur überwinden. Doch Ahriman kann nicht ausgerottet werden, aber er kann geläutert, gereinigt, geedelt werden. Es muß mit der modernen Kultur gerechnet werden. Das wissen auch die Gegner; deshalb haben sie eine ganz ausgesprochene Angst gerade vor Ihrer Bewegung, weil sie die Wahrheit ist. Von dem Irrtum würde man sagen: der wird schon wieder aufhören -, aber gegenüber der Wahrheit greift der Gegner zu großen und kleinen Mitteln.

Nun sagten Sie, von Dornach ist manches ausgegangen, was mit Ihrer Bewegung zusammenhängt. Aber, in durchaus nicht irgendwie auch nur im geringsten schlimm gemeinten Sinne möchte ich es sagen: Auch das Schicksal des Goetheanums ist nicht ohne Zusammenhang damit, daß Ihre Bewegung von ihm ausging. An der Stelle, wo Ihre Handlung angeregt wurde, ist der zündende Funke gelegt worden. Man muß nicht glauben, daß [von den Gegnern] mit geringen Mitteln gearbeitet wird. Trotzdem müssen wir uns klar darüber sein, daß ein [Ihre Bewegung] fördernder Impuls eigentlich nicht im Äußeren liegen kann, und auch ein ihn tötendes Element kann nicht im Äußeren liegen. Einzig und allein darauf muß es ankommen, daß die Bewegung ihre Impulse im Innern der Seelen haben muß. Dann können die äußeren Dinge vielleicht einmal tragisch verlaufen, aber sie werden dann kein Hindernis dafür sein, daß die Impulse, die vertieft erst gefaßt worden sind, sich wirklich ausleben werden, wie sie es tun müssen. Es war ein guter Impuls, der den Anstoß gegeben hat zu dieser religiösen Bewegung; er wird sich ausleben und Frucht tragen, wenn er in dem gleichen guten Sinne weitergetragen wird. Und so werde ich an die einzelnen Impulse anknüpfen, wenn von Ihrer Mitte ausgehend vorgebracht wird, was Sie gern besprochen haben möchten.

Von den Teilnehmern werden folgende Fragen vorgebracht:

  1. Wie verhält sich unser Kultus zu dem Kultischen, was in der Zukunft kommen wird? Wie wirken wir in der rechten Weise mit der anthroposophischen Bewegung zusammen? Wie können wir das Rechte tun zur moralischen Unterstützung der Gesamtbewegung?

  2. Ich bitte um Aufklärung über die Weltvorgänge, in denen besonders das Ruhrgebiet steht.

  3. Es gelingt mir nicht, ein objektives Gleichmaß in die Kulthandlung zu bringen. Es ist verschieden, wie ich sie ausübe. Ich habe manchmal starke Zweifel, ob ich eine Kulthandlung vollzogen habe. Man kann die Menschenweihehandlung lesen so, daß man eigentlich körperlich mit dem Nervensystem beteiligt ist, aber es ist dann nichts Aufbauendes.

Rudolf Steiner: Es wäre schon notwendig, daß gerade zu dieser letzten wichtigen Frage Sie oder jemand anderes sich genauer aussprechen würde. Sie haben zum Beispiel den Satz ausgesprochen, es sei Ihnen nicht immer klar, ob Sie eine Kulthandlung wirklich vollzogen haben. Das ist eine berechtigte Frage. Aber man muß auf diese Dinge schon genauer eingehen. Es wird nicht gut sein, wenn Sie das Nervensystem in diese Sache hineinbringen. Denn natürlich muß die Kulthandlung auf einem solchen Niveau liegen, daß alles, was von ihr ausgeht, nicht auf dem Niveau des Nervensystems ist, von dem sich ja schon viel zu viel geltend macht. Das Nervensystem muß natürlich stärker beeinflußt werden, aber nicht in solcher Weise. ... [Vom Stenographen gekennzeichnete Lücke.] Sie müssen in Ihrem subjektiven Erleben dem objektiven Erleben nachkommen, das durch den Kultus fließt.

Es darf keine Unklarheit darüber herrschen, daß von einem Verhältnis des Kultus zu etwas anderem nicht gesprochen werden sollte. Der Kultus, der sich ergibt, wenn man die geistige Welt fragt, ist der Kultus, der bei Ihnen lebt. Es ist nicht so, daß das irgendeine äußerliche besondere Form ist, sondern es ist der Kultus, der schon seine Zukunft finden wird, aber durch das Leben. Das richtige Darinnenstehen im Kultus hängt innig mit dem Priesterbewußtsein zusammen. Das Priesterbewußtsein kann nur dadurch entstehen, daß innerlich äußerste Ehrlichkeit vorhanden ist. Deshalb wäre es gut, wenn das, was subjektiv in den Seelen lebt, was die einzelnen Persönlichkeiten erleben, indem sie den Kultus ausüben, bei dieser Gelegenheit herauskäme. Dann erst, wenn Sie Ihre subjektiven Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, werden wir fruchtreich sprechen können. ... [Vom Stenographen gekennzeichnete Lücke.]

Worauf es ankommt, ist, daß der Kultus die Sprache der übergeordneten Welten sein soll. Die Menschensprache ist von vorneherein eine irdische Sprache, weil sie zu ihrem Ausdrucksmittel die geformte Luft hat. Es ist natürlich töricht, vorauszusetzen, daß abgeschiedene Geister in irgendeiner Menschensprache reden könnten. Die Medien in Deutschland lassen die Geister deutsch reden, in England englisch, in Frankreich französisch, als ob die Menschen nach dem Tode Deutsche, Engländer oder Franzosen wären. Der Geist redet nicht mehr in Menschensprache und kann auch nicht die Luft erfüllen. Was die Sprache durchströmen kann als Geist, liegt ganz in der Art, wie gesprochen wird. In dem Augenblick, wo man das Gefühl hat, man spricht mit Ehrerbietung, kann man durch die Sprache etwas Geistiges mitteilen. Was aber heißt das: Ehrerbietung? Ehrerbietung ist etwas, was unsere Philosophen ganz verlernt haben. Sie reden, als ob sie die Dinge, die sie besprechen, greifen und berühren würden. Wer über geistige Dinge sprechen will, muß sich bewußt sein, daß das Denken wie ein ätherisches Tasten ist und daß man die Gedanken ehrerbietig formen muß, so wie man ja auch in der physischen Welt das, was mit Ehrfurcht berührt werden soll, nur an der Oberfläche berühren würde. Dieses innere Gefühl der Ehrerbietung beim Reden ist natürlich der Anfang. Dadurch bekommt das Reden nicht nur Inhalt, sondern Physiognomie, es wird bewußt; dann erfüllt man sich nach und nach mit dem Sprachgenius. Dadurch fängt man an, das Reden selber als ein lebendiges Geistiges zu haben. Das muß beim Kult im höchsten Maße vorhanden sein. Dann steht man richtig drinnen in der Handlung, so daß man weiß: Du sprichst nicht dein Subjektives aus, sondern du bist ein Werkzeug der geistigen Welt.

Darauf beruht das starke Verständnis, das dem Kultus entgegengebracht werden kann. Dazu trägt das Wie des Sprechens sehr wesentlich bei. Das Wie aber kommt mit dem Bewußtsein, daß man Werkzeug ist für die geistige Welt. Jede einzelne Kulthandlung ist die Fortsetzung desjenigen, was aus dem Worte fließt. In der Kulthandlung setzt sich das fort, indem das Wort Gebärde wird. Dann ringt sich das Bewußtsein durch: Du selbst magst denken wie du willst über die Sache, [darauf kommt es nicht an,] aber es kommt darauf an, daß du sagst, was die Götter wollen. Dann kommt man durch das Bewußtsein dazu, den Impuls der Weihehandlung in alles einzelne hineinwirken zu lassen, was man den ganzen Tag hindurch tut.

Welches ist dieser Impuls? Der Impuls, der von der Menschenweihehandlung ausgeht, liegt im wesentlichen darin, daß auf der einen Seite da ist die Opferung. In der Opferung bringen wir das Irdische dar der geistigen Welt; wir legen es nieder an den Stufen der geistigen Welt. Bei der Kommunion empfangen wir es wieder, aber jetzt aus der geistigen Welt heraus. Aus dem Irdischen haben wir es hingegeben. Was ist dazwischen vorgegangen? Die Transsubstantiation; es ist vorgegangen eine Wechselwirkung mit der geistigen Welt. Das gibt ein Bewußtsein, das eigentlich jedesmal in der Menschenweihehandlung empfinden läßt das Darinnenstehen in der geistigen Welt. Erhöht wird das dadurch, daß das Evangelium vorausgeht. Wenn das Evangeliumlesen die entsprechende Vorbereitung ist, und wenn dann empfunden wird dieses Durchstoßen zur geistigen Welt zwischen Opferung und Kommunion, dann trägt man die richtige Empfindung weg von der Menschenweihehandlung.

Da liegt natürlich der Anlaß dazu, sich wenigstens implicite jeden Tag mit der Weihehandlung zu befassen. Dem katholischen Priester ist vorgeschrieben, jeden Tag die Messe zu lesen; dadurch empfängt er eine starke Kraft. Dies muß nicht unbedingt immer ausgeführt werden, aber sich jeden Tag mit der Messe implicite beschäftigen, das ist notwendig. Durch dieses Gefühl kommt man in Zusammenhang mit der geistigen Welt. Das ist von ungeheurer Wichtigkeit.

Es fällt ja noch etwas anderes jeweils zwischen zwei Tage hinein für den Priester: er schläft zwischen zwei Tagen. Nun, was bedeutet das Schlafen? Die heutige Wissenschaft hat ja die Eigentümlichkeit, die wichtigsten Dinge des Lebens [so zu sehen, daß sie] äußerlich stimmen, aber innerlich nicht. Was sie über den Schlaf sagt, ist Illusion. Im Schlafe ist das Geistig-Seelische des Menschen, sind das Ich und der Astralleib vom physischen und Ätherleib getrennt. Zwischen Einschlafen und Aufwachen arbeiten physischer und Ätherleib auf der Stufe des Pflanzlichen. Was von dem Menschen über dem Pflanzlichen ist, ist im Schlafe ja heraus; also der Mensch sinkt als physische Wesenheit auf die Pflanzenstufe herab. Das bedeutet, daß sich da Prozesse abspielen, die von niedererer Art sind als die normalen Prozesse im vollbewußten menschlichen Leben. Da «kocht» es, da wirken Wärme und Kälte, da wirken untergeordnete Naturkräfte, die beim Wachen nicht in der gleichen Weise wirken. Wir haben nur dann das richtige Gefühl beim Aufwachen das muß natürlich ins Geistige hinaufgenommen werden, sonst kann es gefährlich werden —, wenn wir uns sagen: Unser Ich und unser Astralleib waren in der göttlichen Welt, unseren Körper haben wir den niederen Welten überlassen gehabt; wir nehmen den Körper von den Welten zurück, die unterhalb der eigentlichen Menschenwelt liegen. Das dürfen wir nie vergessen; von einem ahrimanischen Niveau nehmen wir unseren Körper zurück, er ist voll von ahrimanischen Bildungen, die wir im Wachen wieder ausrotten müssen. Die ersten Stunden des Wachens müssen so verlaufen, daß wir imstande sind, das auszurotten, was sich namentlich an Salzen über Nacht in unserem Körper abgelagert hat. Wenn wir das nicht tun können, so werden wir im Physischen voller Rheumatismus, Gicht und so weiter, auf seelischem Gebiete voller Lüsternheitsgedanken. Das kommt von dem, was der Mensch auf diesem Niveau während des Schlafes durchgemacht hat.

Weil der Mensch jeden Tag [während des Schlafes] herunterrückt unter das menschliche Niveau, muß der Priester über dieses Niveau zu einem höheren Niveau hinaufrücken. Das geschieht, wenn der Priester die Kulthandlung ausübt. Man braucht nicht, wie in der katholischen Kirche, täglich die Messe auszuüben, aber man muß leben in der Menschenweihehandlung. Das wirkt ebenso stark wie die täglich gelesene Messe. Dann wird es objektiv stark. Das sind die Dinge, die wir in der Realität betrachten müssen. Es ist eine wesentliche Sache, daß die Menschen jede Nacht schlafen. Die Menschenweihehandlung ist so wichtig wie das Schlafen. Wenn Sie sich jeden Tag mit der Weihehandlung beschäftigen, so heben Sie sich dadurch heraus aus dem unteren Niveau des Schlaflebens. Der evangelische Sinn weiß von diesen Dingen nichts; er will nicht den Priester herausheben, läßt ihn drinnenstehen im nächtlichen Schlafleben. Aber dieses Heraufheben des Menschen aus dem nächtlichen Schlafleben, dieses bewußte Entgegenarbeiten dem Heruntergehen des Menschen in das untermenschliche Bewußtsein, das macht gerade den Priesterberuf aus.

Wo ist das Niveau, in dem wir sind als Menschen? Das menschliche Niveau liegt zwischen dem Pflanzlichen und Tierischen, wie auch zwischen Luft und Wasser. Im Schlafe sinken wir ins Pflanzliche hinunter, am Tage steigen wir ins Tierische herauf. Der Mensch ist zunächst mineralisch, pflanzlich, tierisch, aber noch nicht eigentlich Mensch. Das Menschliche wird erst in der Zukunft ausgebildet. Wenn wir die Messe durchmeditieren, gehen wir nicht ins Tierische, sondern wir gehen ins Göttliche hinauf, das sonst nur unbewußt in uns wirken kann. Würden wir nur das in uns herumtragen, was heutiges Tagesbewußtsein ist ja, sehen Sie, dann würden wir nicht so ausschauen, wie wir jetzt ausschauen: wir würden unsere Leiber nur bis zum Diaphragma, bis zum Zwerchfell ausgebildet haben, die Männer würden Stierköpfe haben, und Sie die Frauen würden einen Löwenkopf haben. Durch das, was wir in unserem heutigen Tagesbewußtsein haben, sind wir noch nicht imstande, einen physischen Menschenkopf zu haben den bildet uns die Gottheit. Daher wird ja auch beim Embryo der Kopf in hohem Grade ausgebildet. Während des gewöhnlichen Wachens können wir nicht ganz unsere Menschenform umfassen, aber Sie lernen die Menschenform, wie sie eine göttliche ist, wirklich erfühlen auf der Erde. Sie bekommen erst das Recht, sich mit menschlicher Physiognomie hineingestellt zu fühlen in die Welten, wenn Sie in der Messe sich herauserheben aus der Tierheit. Dann entstieren, dann entlöwen Sie sich. Das gibt eine menschlich-göttliche Physiognomie.

Das macht die katholische Kirche so stark, daß sie sich an das heranmacht, wo das Göttliche im Menschen spricht. Wenn man anfängt, der praktisch Ausübende des Kultus zu werden, dann muß man die Sache unendlich viel ernster fassen können als im gewöhnlichen Sinne; bis zum äußersten Ernst muß man sie fassen und sich sagen: Wir tragen gar nicht den Menschenkopf, wenn wir als gewöhnliche Menschen herumgehen, denn da [in den Menschenkopf] wirken die Götter hinein.

Daher ist «Menschenweihehandlung» kein schlechter Ausdruck, sondern ein guter, ein sehr guter. So wie Ihr Haupt hineingestellt ist in die Welt, ist es nicht durch Sie geworden, sondern von Gott geschaffen. Weihen heißt, das, was fest ist, flüssig machen, das, was der Mensch hat, eintauchen in das Geistige. So daß wir sagen können: Ich erwerbe mir das Recht, im Göttlichen zu leben, durch die Menschenweihehandlung und die Meditation und lasse die Mitglieder der Gemeinde zunächst nur teilnehmen an Menschenweihehandlung und Meditation. Das widerspricht nicht dem Sozialen und auch nicht dem evangelischen Bewußtsein, sondern es ist erst ein rechtes Hineinstellen in die Wirklichkeit. Erst dadurch widerspricht man diesen, daß man sich abwendet von den Dingen der gewöhnlichen Welt; aber dadurch, daß man sich ihnen bewußt gegenüberstellt, überwindet man sie. Das ist immer mehr anzustreben, daß man sich hindurchringt, die Dinge zu verstehen, denn der Ansatz zum Priesterbewußtsein kann nicht von heute auf morgen gegeben werden, dazu muß man sich erst durchringen.

Es wird nach einer Sprachübung gefragt.

Rudolf Steiner: Die katholische Kirche sieht auf die Sprache sehr, sie läßt Übungen machen. Der Jesuit muß sogar rezitieren und skandieren lernen, er muß lernen, wie man einen Vordersatz und einen Nachsatz gestalten muß, wie man im ersten Satz vorbereiten muß, wenn man im zweiten überzeugen will, und das endet dabei, daß man das, was man im gewöhnlichen Sinne Eloquenz nennt, nicht vernachlässigen darf. Das geht darauf hinaus, daß die Sprache etwas Objektives wird. Die Sprache bei den meisten Menschen ist nur ein Ausleben der rein physischen Organe, des Kehlkopfes und der Schleimhäute. Die Sprache, die den Kultus ausüben soll, muß frei sein von diesem Individuellen, sie muß hinaufkommen bis zu der Macht, die Luft vibrieren zu lassen, ohne daß der Schleim sich da hineinmischt. Das ist etwas, was man in der heutigen Zeit nicht so ohne weiteres kann, sondern das man üben muß. Die Berliner Universität hatte einmal einen Professor für Eloquenz, Curtius war es; aber so wenig lag das im Zeitbewußtsein, daß er nie diesen Lehrauftrag erfüllte, sondern griechische Kunstgeschichte vorgetragen hat.


XXXX Vom Wesen des wirkenden Wortes: Zweiter Vortrag

ZWEITER VORTRAG

Stuttgart, 12. Juli 1923

Meine lieben Freunde! Vielleicht wird sich gerade manche Frage vertiefen, wenn wir zuerst jetzt anknüpfen an einiges von dem, was gestern vorgebracht worden ist. Es war ja zunächst von Dr. Rittelmeyer schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß doch noch gewisse Schwierigkeiten bestehen in der Auffassung des Verhältnisses dieser christlich-religiösen Bewegung zur Anthroposophie. Diese Schwierigkeiten sind ja solche, die man eigentlich nicht gerade, ich möchte sagen, durch eine Definition versuchen soll zu bewältigen, sondern die sich eigentlich nur bewältigen lassen durch die Praxis, und dann auch durch ein gewisses Studium der Seelenverhältnisse der gegenwärtigen Menschheit. Die Seelenverhältnisse der gegenwärtigen Menschheit haben sich ja wirklich erst herausgebildet im Verlaufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte, und es wird noch viel zu wenig Rücksicht darauf genommen, wie schwierig diese Seelenverhältnisse eigentlich sind. Und so müssen Sie sich schon klar darüber sein, daß heute mit aller Energie und aus dem besten Willen heraus eine religiöse Bewegung begonnen werden könnte, auch kraftvoll wirken könnte, und dennoch gegenüber anderen Zeitströmungen nach und nach die Herzen der Menschen verlieren würde, wenn nicht zu gleicher Zeit die Bedürfnisse der Menschheit befriedigt würden, die für ältere, aber verhältnismäßig gar nicht so alte religiöse Strömungen gar nicht vorhanden waren.

Man darf sich ja nicht der Illusion hingeben, daß es in der Wirklichkeit jemals möglich sein werde, eine religiöse Bewegung abgesondert von dem ganzen übrigen Kulturleben zu führen, namentlich nicht abgesondert von dem, was sich wissenschaftliches Kulturleben nennt. Sie müssen sich klar darüber sein, daß heute eine mit höchster Autorität ausgerüstete atheistische Wissenschaft da ist. Nun werden Sie vielleicht sagen können: Ja, diese atheistische Wissenschaft ist als Wissenschaft da, aber neben dem, daß der eine oder andere Mensch die zeitgenössische Wissenschaft treibt, kann er ja doch noch erfüllt sein von einer zwar nicht zeitgemäßen, aber doch noch vorhandenen inneren Frömmigkeit; so daß es heute Leute geben könnte, die sich ganz hineinfügen in den gegenwärtigen atheistischen Wissenschaftsbetrieb und die sagen: das ist eben ein anderes Feld, aber wenn ich nicht auf diesem Felde tätig bin, finde ich mich hinein in ein religiöses Leben.

Sehen Sie, diese seit Jahrhunderten angestrebte, auch innere Trennung des Wissenschaftlichen und des Religiösen, diese Trennung kann eben eine noch so starke rein religiöse Bewegung gar nicht irgendwie bewältigen. Denn eine religiöse Bewegung muß, ebenso wie eine wissenschaftliche Bewegung, vor allen Dingen innerlich wahr sein. Nun könnte es vielleicht sogar trivial erscheinen, wenn wir jetzt, nachdem wir so vieles miteinander besprochen haben, was der religiösen Bewegung Inhalt gibt, wieder zurückkommen auf das Elementare: die Bewegung muß wahr sein. Aber wir dürfen nicht unterschätzen, wie stark heutzutage die Unwahrheit, die innere, die unbewußte Unwahrheit zivilisatorischer Impulse geworden ist. Und dasjenige, was die ersten Initiatoren dieser religiösen Bewegung damals gefühlt haben, als sie die Anregung gegeben haben zu dieser religiösen Bewegung, das war im wesentlichen diese innere unbewußte Unwahrhaftigkeit der heutigen Zeit. Und gerade in diesem Augenblick erscheint es mir dringend notwendig, daß wir uns mit dieser inneren Unwahrhaftigkeit beschäftigen.

Sehen Sie, aus einer kulturhistorischen Unbequemlichkeit heraus hat sich allmählich die Ansicht gebildet, man müsse Wissenschaft Wissenschaft sein lassen, darum habe der Theologe sich nicht zu bekümmern. Der Theologe habe sich sein eigenes Wahrheitsprinzip herauszubilden, nach dem er das Ethische und den religiösen Inhalt getrennt von aller Wissenschaftlichkeit behandelt und gewissermaßen von dem Ewigen, dem Religiösen her auf die Menschheit losgehe, während er sich nicht darum kümmert, was die Wissenschaft treibt. Nun ist gerade dieses Sichverselbständigen des religiösen Lebens gegenüber dem übrigen Kulturleben durchsetzt von tiefer innerer Unwahrhaftigkeit. Denn derjenige, der Wissenschaft treibt, so wie sie heute getrieben wird, darf, wenn er ehrlich und wahr ist, eben nur Atheist sein, weil die Art und Weise des Denkens über die Welt, wie sie heute von Physik, Chemie und so weiter getrieben wird, gar keine Möglichkeit gibt, aufzusteigen zu irgendwelchen ethischen Idealen. Es gibt nur eine Wahrheit für eine solche Wissenschaft wie die heutige, nämlich diese: Die Welt ist innerlich überall kausal bedingt. Die Weltkausalität ist aber neutral gegenüber den ethischen und religiösen Idealen, ganz neutral. Da müssen wir die Wahrheit suchen, und da gibt es doch nichts anderes, als stehen zu bleiben bei dem Ausspruch des Astronomen: Ich habe das ganze Weltall durchforscht und nirgends einen Gott gefunden; ich brauche daher diese Hypothese nicht. Etwas anderes gibt es für die Wissenschaft nicht, wenn man ehrlich ist.

Davon hängt es ab, daß aufgrund einer solchen wissenschaftlichen Denkweise die Frage «Lassen wir dann die Moral, das Ethische zunächst ganz fallen?» so beantwortet wird: «Täten wir das, so würden die Menschen in das Chaos hineintreiben; daher ist es notwendig, die Menschen von außen zu zähmen durch Staatsgesetze oder dergleichen». Wir hätten dann eben gezähmte Menschen, wobei das Prinzip des Zähmens für die Menschen nichts anderes wäre als eine Art höhere Zähmung, wie man es bei den Tieren anwendet. Die Religion hätte [für eine solche Denkweise] nur dann eine Berechtigung, wenn man sie betrachtete lediglich als ein Mittel, das bewirkt, die Menschen zu einem gezähmteren gegenseitigen Verhalten zu bringen. Religion wäre nur ein Mittel zum Zweck; das allein läßt die naturwissenschaftliche Denkungsweise der Gegenwart zu. Und ein gut Teil von dem, was die Menschheit so heruntergebracht hat, liegt eben darin, daß man nicht einen redlichen Abscheu vor einer solchen Denkungsweise hat, die nur die Hälfte, nämlich die naturwissenschaftliche Denkweise hinnimmt, im übrigen aber eine Theorie erfindet, wie man die Menschheit zähmt. Wenn man nur auf diese Weise von religiösen und ethischen Impulsen spricht, dann muß man sich eben auch klar sein, daß man dann nur von Zähmungsregeln sprechen kann. Man fährt durchaus in der tiefen Unwahrhaftigkeit fort, wenn man sich diese Dinge nicht gesteht. Auf der anderen Seite kann man aber auch nicht aufhalten, was die atheistische Naturwissenschaft macht. Denken Sie, wie stark heute Bestrebungen auftauchen, menschliche Einrichtungen so zu treffen, daß sie weitreichend auf ein bloß physisch gedachtes Vererbungsprinzip aufbauen, zum Beispiel die Gesetze für die Eheschließung zu schaffen, wo nicht die inneren Herzensverhältnisse entscheiden, sondern zum Beispiel der Mediziner. Diese Dinge lassen sich natürlich wegreden, aber in der Realität läßt sich das nicht aufhalten.

Für den, der heute auf dem Boden einer religiösen Erneuerung stehen will, ist es daher notwendig, sich klar darüber zu sein, daß er zugleich einig sein muß mit einer Erkenntnisrichtung, welche den Geist wiederum in das Naturwissen hineinträgt, die den Geist geltend macht innerhalb des Naturwissens, so daß bis in die Physik hinunter der Geist geltend gemacht wird. Das ist ja richtig angestrebt worden, indem die religiöse Bewegung auf Anthroposophie baut. Aber dieses Bauen auf die Anthroposophie muß ein ganz innerliches, wahrhaftiges sein. Deshalb ist es nötig, daß man sich das Verhältnis zwischen der religiösen Erneuerung und der Anthroposophie auch in der richtigen Weise vorstellt.

Nicht wahr, die Anthroposophie will und kann nicht anders, als eine Erkenntnisbewegung sein. Sie muß, so sehr dadurch auch das Verhältnis zu ihren Anhängern leidet, in allen Einzelheiten vollbewußt so arbeiten, daß sie eine Erkenntnisbewegung ist. Die religiöse Erneuerung ist eben eine religiöse Bewegung mit dem entsprechenden religiösen Kultus. Und wenn beide Bewegungen aus ihren eigenen Impulsen arbeiten, so kann ja nichts anderes Zustandekommen als eine gegenseitige Befruchtung. Es kann im Grunde genommen niemals eine Störung auftreten. Man muß allerdings, auch wenn man sich klar ist, daß ja im großen und ganzen eine Störung nicht auftreten kann, die Zeitverhältnisse gründlich berücksichtigen. Die anthroposophische Bewegung hat natürlich heute deshalb einen schwierigen Stand, weil sehr viele Menschen, die lechzen nach einer Vergeistigung der Weltanschauung, auch erkenntnismäßig eigentlich doch auf eine leichtere und bequemere Weise zu ihren Erkenntnissen kommen möchten, als Anthroposophie sie ihnen geben kann. Man möchte nicht gern jene intensive innere Mitarbeit haben, welche in der Anthroposophie notwendig ist, und dadurch treten zuweilen wirklich recht absurde Anschauungen und Gedanken auf. Es ist ja so Sie brauchen sich nur an den gestrigen Vortrag zu erinnern -, daß für den, der heute wirklich ehrlich sich hineinstellen will in die Anthroposophie, ein so gründliches Umdenken notwendig ist, daß dadurch die Anthroposophen sich ganz radikal unterscheiden von den Menschen, die keine Ahnung haben, daß ein solches Umdenken und Umempfinden möglich ist.

Was aber gibt Gemeinschaft? Menschliche Gemeinsamkeit des Denkens und Empfindens! Man kann sich kaum denken, daß die Leute, wenn der anthroposophische Impuls in ihnen ehrlich arbeitet, sich nicht in einer solchen Gemeinsamkeit fühlen, wie sie überhaupt noch nicht da war in der Welt. Denn so gründlich brauchte man noch nie umzudenken, selbst nicht in den alten Mysterien; da war noch vieles ähnlicher dem populären Denken. Es ist ein so starkes Band da, daß alles Rufen und Schreien nach Gemeinsamkeit, das namentlich unter den Jüngeren vielfach auftritt, im Grunde genommen schon einen Zug von Absurdität hat. Aber vergessen Sie nicht, daß wir nicht in einem Atelier sind und uns aus Plastilin Menschen formen können, sondern daß die Menschen da sind mit all ihren Absurditäten, die man absolut berücksichtigen muß, über die man nicht hinaus kann, wenn man real wirken will. Es handelt sich darum, daß man wirklich diese Dinge tief ernst und wahr nimmt. Aber an sie denkt man heute auf den verschiedensten Gebieten nicht. Vielleicht verstehen Sie mich besser, wenn ich ein populäres Beispiel nehme.

Wir haben in der Waldorfschule jetzt zwölf Klassen, sie hat also eine Schülerschaft bis zum 18., 19. Jahr hinauf. Sie möchten ja alle auch Pädagogen sein. Nun, die allererste Anforderung an Erziehung und Unterricht ist ja diese, daß der zu Erziehende, wenn er noch ein Kind, ein Knabe oder ein junges Mädchen ist, nicht mitdiskutiert über die Erziehungsund Unterrichtsgrundsätze, daß diese das Mysterium der Unterrichtenden und Erziehenden bleiben. So wie die Dinge aber heute betrieben werden, geht alles an die Kinder der Waldorfschule heran; die erzählen einem unter Umständen, wie sie erzogen werden, die pädagogischen Grundsätze und so weiter und wissen manchmal besser als die Lehrer selbst, was Waldorfschulpädagogik ist. Ja, wenn die Dinge so sind, dann kann man nicht vorwärtskommen.

Aber andererseits ist es heute nicht möglich, auf eine äußerliche Weise Dinge zu sekretieren; das geht auch wieder nicht. Wir haben zum Beispiel neulich in einer Delegiertenversammlung bloß über den Modus gesprochen, wie man Geld bekommen will für den Neuaufbau [des Goetheanums]. Darauf erschien ein gehässiger Artikel in einem Genfer Journal, wo man in wüster Weise angegriffen wird, daß man den armen Schweizern eine Million Franken aus der Tasche ziehen will. Ein äußerliches Sekretieren der Dinge geht also nicht. Aber es muß dazu kommen, daß man innerlich auf die Menschen bauen kann, daß also auch dann, wenn nicht Grundsätze des Geheimhaltens gegeben werden, unter den maßgebenden Persönlichkeiten sich ein Takt herausbildet, über eine Sache nur in einer bestimmten Weise zu reden und nicht zum Beispiel einem fünfzehnjährigen Menschen die pädagogischen Grundsätze der Waldorfschule zu erzählen wie einem Dreißigjährigen. Das muß sich nach und nach herausbilden. Es ist wirklich so, daß alle möglichen absurden Nebenimpulse auftreten, weil die Dinge nicht tief und stark genug ernst genommen werden.

So tritt der Impuls auf, gemeinschaftsbildend zu sein innerhalb der anthroposophischen Bewegung. Erkenntnisbewegung ist die anthroposophische Bewegung. Auf Gemeinsamkeit des Wollens, Fühlens und Denkens ist sie gegründet. So daß man eigentlich denken könnte, die religiöse Bewegung würde einfach das, was auf dem Boden der anthroposophischen Bewegung da ist, aufnehmen und nun in der Art, die ja nun einmal für die religiöse Bewegung gegeben ist, dies wiederum aus den ureigensten Impulsen weiterbilden.

Als es noch keine religiöse Bewegung gegeben hat, haben Menschen, die in der anthroposophischen Bewegung standen, noch einen Ersatz gesucht dafür in allerlei esoterischen Kreisen, die aber so aufgebaut waren, daß sie im wesentlichen Erkenntniskreise waren, und das, was da kultusähnlich war, diente auch nur der Erkenntnis. Daher konnte auch aus diesen Kreisen nichts herübergenommen werden m die religiöse Erneuerungsbewegung. Und wenn man die Dinge, die dort in den Zeiten, in denen das noch ging, als kultähnliche Dinge da wären, nicht durchdrungen hätte mit dem Erkenntnisimpuls, so wären sie äußerlich aufgefaßt worden, und das durften sie ihrer Eigenart nach nicht sein.

Dagegen ist die Sache bei der religiösen Bewegung so, daß im Kult selbst schon ein unmittelbarer Inhalt liegt, und zwar in jeder Kulthandlung, so daß auch derjenige, der zum Beispiel es ablehnt, vom Kult aus nach einer Erkenntnis zu streben, doch in der Teilnahme am Kult ein entsprechendes Leben hat, weil der Kult, wie er in dieser religiösen Bewegung wirken soll, unmittelbar die Sprache der geistigen Welt ist, heruntergetragen in irdische Form, so daß die Teilnahme am Kultus etwas ganz Positives ist.

Betrachten wir den Mittelpunkt des Kultus von diesem Standpunkt aus. Wenn man die Menschenweihehandlung ansieht, so haben wir zunächst als den vorbereitenden Teil das Evangelienlesen. Nun, da liegt ja natürlich noch eine Schwierigkeit, weil wir wirklich nötig haben, die Evangelien doch noch besser zu bekommen, als sie heute da sind. Es handelt sich schon darum, daß das Evangelienwort eben anders aufgenommen wird als irgendein anderes Wort, das im Verlaufe der menschlichen Zivilisationsentwickelung erflossen ist und von Menschen kommt. Das Evangelienwort, wenn es für wahr genommen wird, enthält in sich wirklich das, was man so bezeichnen kann, daß man sagt: Der, der das Evangelienwort vorliest, spricht, der ist ein Sprachrohr für etwas, was aus den geistigen Welten in die physische Welt hereinkommt, so daß der vorbereitende Teil, das Evangelienlesen, immerhin einen Kontakt der ganzen Gemeinde mit der geistigen Welt hervorruft.

Dann kommt die eigentliche Opferhandlung, die drei Teile hat: Opferung, Transsubstantiation, Kommunion. Nun kann man eben keine richtige Auffassung von dieser Trinität haben, wenn man sich nicht klar ist, daß in diesem Momente, wo die Transsubstantiation sich vollzieht, tatsächlich für diejenigen, die auch nur anwesend teilnehmen, Naturordnung und ethische Ordnung in eines zusammenfließen, so daß also da eine ganz andere Weltordnung jedesmal vor die Gemeinde hingestellt wird, jedesmal der Mensch hinaufversetzt wird in das Göttliche, und das Geistige sich hinuntersenkt in das Menschliche. Wenn man dies real nimmt, so muß man sagen, da geht etwas vor, was ganz unabhängig ist von dem, was der Mensch erkennt daran. Es genügt für das, was dabei vorgeht, das bloße Fühlen. Für die Erkenntnis kann niemals das bloße Fühlen genügen. Für das, was in der Wandlung vorgeht, genügt das bloße Fühlen, so daß also tatsächlich es ein Arbeiten, ein Tätigsein mit der Gemeinde zusammen ist, was sich da vollzieht, wenn der Priester vor der Gemeinde die Menschenweihehandlung ausübt. Das ist etwas, was durchaus für sich genommen werden muß, und daher sollte Sie niemals die Frage irgendwie in Disharmonie versetzen: Kann irgendein Rituales, das heute gefunden wird aus der geistigen Welt und alle unsere Ritualien sind gefunden in der geistigen Welt, sind gewissermaßen für heute von Gott verordnet -, kann das einmal geändert werden oder aufhören? Sehen Sie, diese Ritualien irgendwie so zu beurteilen, daß man sagt: Ja, es soll sich einmal ein anderer Zustand entwickeln, wo die Menschen ein unsichtbares Ritual haben -, diese Fragen sind nicht berechtigt.

Das Verhältnis muß so gedacht werden: Die Menschen werden ja immer den Weg von der Zeremonie zur Predigt suchen; in die Predigt kann nur das befruchtend einfließen, was aus der Anthroposophie, aus der Geist-Erkenntnis kommt. Nun wird es so sein in der Zukunft, daß derjenige, der in höchstem Maße ein Erkenner auf geistigem Gebiete ist, es niemals ablehnen wird, Gemeinschaft zu halten mit denjenigen, die zunächst zum Kultus kommen. Er hat auch gar kein anderes Verhältnis zum Kultus als der, ich möchte sagen naive Mensch. Also es kann gar nicht die Frage entstehen: Treiben wir einen Kultus für die jetzige Zeit und muß das einmal durch einen anderen ersetzt werden? Indem der Kultus begründet ist, ist er begründet und wird sich fortsetzen; er ist anderen Gesetzen unterworfen als solchen, die man geltend macht, wenn man fragt: Soll einmal ein unsichtbarer Kultus kommen? Der Kultus ist unterworfen den großen kosmischen Weltimpulsen, die alles, was in der Welt entsteht, mitändern. Aber die Änderungen in der Zukunft werden ganz andere Änderungen sein als die in der Vergangenheit.

Nehmen Sie die Messe der römisch-katholischen Kirche heute. Sie haben da gegeben einen synthetischen Zusammenfluß aller entsprechenden Kulte des Altertums, vertieft im christlichen Sinne. Das ist gerade das Wunderbare, daß in der katholischen Kirche alles alte Mysterienwesen zusammengeflossen ist. Aber es kamen bestimmte Zeiten in der christlichen Entwickelung diese Zeiten begannen eigentlich schon im 3., 4. Jahrhundert -, in denen kein Verständnis mehr da war für das, was im Meßopfer waltete, und so wurde es zunächst ein leeres Formelwesen; es pflanzte sich traditionell, ich möchte sagen aus Pietät fort. Dann aber, ziemlich bald, bekamen die Leute den Mut zum Nichtverstehen und fingen an, allerlei zu verbessern. So haben wir heute in dem katholischen Meßopfer etwas, was nach und nach einfach auch durch das Absterben der Sprache im Grunde etwas ganz Unverständliches geworden ist. Es wird zelebriert in der alten Sprache, ohne daß es zum Verständnis gebracht werden könnte. Und daher ist dieses katholische Meßopfer etwas wie ein Leichnam, zwar von etwas ungeheuer Großem und Gewaltigem, aber eben ein Leichnam, der aber doch als Leichnam noch eine ungeheuer starke Kraft hat. Im Ganzen ist ja das Merkwürdige innerhalb der katholischen Kirche, daß die Priesterschaft philosophisch außerordentlich gebildet ist, theologisch aber außerordentlich ungebildet. Die katholische Theologie hat gar keine Lebendigkeit, so daß eigentlich bis zu den höchsten Spitzen hin auch die katholische Theologie etwas außerordentlich Ungebildetes ist. Seit dem Mittelalter hat sie gar keine weitere Entwickelung mehr genommen. Das alles macht eben, daß im Grunde die religiösen Bedürfnisse der Menschheit gar nicht mehr mit der Lehre, mit der Predigt befriedigt werden können, sondern lediglich mit dem Kultus, weil dieser doch die ungeheure Kraft der Gemeinschaftsbildung für sich hat. Da ist das gegeben, was Ihnen gegenüber dieser neuen Kulthandlung ein Ewigkeitsgefühl geben kann, so daß keine Disharmonie auf Ihren Seelen zu lasten braucht.

Es behaupten nun Anthroposophen, daß gewisse Vorgeschrittene den Kultus entbehren könnten. Diese Frage würde eigentlich gar nicht entstehen können, wenn man sich richtig einstellte. Ich weiß gar nicht, aus welchen Untergründen heraus sie eigentlich entstehen konnte. Denn, tritt heute der Fall eines Begräbnisses ein, dann ist doch eben die religiöse Gemeinschaft für das Kultische aufgerufen. Und so ist sie aufgerufen durch die Menschenweihehandlung für das Ganze des Menschen und nicht etwa bloß in der Absicht, das sei ein Temporäres, das müsse einmal durch etwas anderes abgelöst werden. Das ist ein Ewiges, soweit auf der Erde von etwas Ewigem gesprochen werden kann. Also dieser Zwiespalt, der bei vielen von Ihnen entstanden zu sein scheint, daß die Anthroposophie den Kultus gewissermaßen als etwas weniger Bedeutungsvolles hinstellt oder daß etwas anderes in der Zukunft an die Stelle der gegenwärtigen Bewegung treten müsse, dieser Zwiespalt kann nur auf einem Gefühlsmißverständnis beruhen. Sobald Sie sich klar machen, daß naturgemäß der, der Anthroposophie sucht, sich einfach mehr auf die Erkenntnisseite verlegt und daß man es ihm überlassen muß, inwiefern er den Kultus sucht, und andererseits, daß Leute, die zum Kultus kommen, auch nach der Erkenntnnisseite hinstreben werden, weil der Intellekt heute so stark ist, daß sie also von diesem Kultus aus sich der Anthroposophie nähern werden -, sobald Sie sich das klarmachen, müssen Sie sich sagen, daß das in gewissem Sinne nur eine Art Arbeitsteilung ist. Auf diesem Felde sollte eigentlich ein innerer Zwiespalt gar nicht entstehen.

Nun möchte ich aber doch nach diesen Bemerkungen Sie bitten, das eine oder andere noch zu äußern, da ich weiß, daß noch vieles auf dem Grunde Ihrer Seelen ist.

Es wird eine [vom Stenographen nicht mitgeschriebene -] Frage gestellt über den im Dornacher Vortrag vom 31. Dezember 1922 besprochenen Spruch:

Es nahet mir im Erdenwirken
In Stoffes Abbild mir gegeben
Der Sterne Himmelswesen
Ich seh' im Wollen sie sich liebend wandeln.
Es dringen in mich im Wasserleben
In Stoffes Kraftgewalt mich bildend
Der Sterne Himmelstaten
Ich seh' im Fühlen sie sich weise wandeln.

Rudolf Steiner: Dasjenige, was ich damals gesprochen habe, ist eine Art kosmischer Kommunion. Wenn diese meditativ ausgeführt wird, so wird sie unter Umständen, wie die Dinge heute liegen der Zeit nach, dem Menschen eine gewisse Befriedigung geben können. Er wird auf diese Weise eine Art Kommunion empfangen können. Aber das schließt doch nicht aus, daß selbst derjenige, der auf diese Art eine Kommunion für seine Erkenntnis empfängt, wenn er sonst in seiner ganzen Seelenverfassung heute dazu neigt, die Kommunion auch auf andere Weise empfangen kann. Man sollte nicht die Unterschiede betonen, denn beide Dinge widersprechen einander ja nicht. Empfinden Sie darin einen stärkeren Widerspruch als gegenüber dem, was ja auch in der alten, noch richtig aufgefaßten katholischen Kirche war? Da hatten Sie die Priesterkommunion und hatten natürlich die Laienkommunion wobei ich nicht sagen will, daß alle Anthroposophen Priester sein sollen. Sie hatten die, die die Kommunion geben und nehmen konnten, und Sie hatten die, die die Kommunion nehmen konnten, aber nicht geben konnten. Wenn Sie diesen Unterschied auffassen, werden Sie sich sagen müssen: Derjenige, der die Kommunion geben kann, der kann ja unmöglich, ohne daß er nun für sich in dem inneren Erlebnis noch etwas dazu hat, die Kommunion ebenso nehmen wie der Laie. Er muß noch etwas dazu haben. Daher mußte der Priester, der auch kommunizierte, noch etwas dazu haben, eine innere Kommunion, und die hatte er ja auch. Nun, dazumal handelte es sich darum, streng festzuhalten an dem Unterschied zwischen Priestertum und Laientum. Es gab nur diese zwei Klassen. Aber über diese Zeiten ist die Entwickelung hinweggeschritten, diese Zeit ist nicht mehr da.

Heute muß gewissermaßen vieles von dem, was in älteren Zeiten nur dem Priester zugänglich war, auch dem Laien zugänglich gemacht werden. Unsere ganze moderne Theologie, die ganze Literatur ist ja auch jedem zugänglich. Dasselbe kann auch für unseren Fall geltend gemacht werden. Sie können heute die Theologie als Laie studieren. Wenn sich eine Erkenntnisbewegung geltend macht wie die anthroposophische, so ist selbstverständlich, daß die Teilnehmer an einer solchen mit Dingen bekannt gemacht werden, die natürlich ehedem in erster Linie für den zelebrierenden Priester gewesen waren. Aber heute ist das eben anders: Wir können nicht Grenzen machen. Wenn wir heute noch das alte Prinzip hätten, so würde es so sein, daß eine religiöse Bewegung da wäre und innerhalb der religiösen Bewegung die Priesterschaft; die würde dann die Anthroposophie für sich haben, müßte dann aber alles tun auf dem Felde der profanen Technik, was die Zeitentwickelung fordert ... [vom Stenographen gekennzeichnete Textlücke]. Wenn Sie das berücksichtigen, so werden Sie verstehen, daß diese Kommunion, die der Priester hat, auch entwickelt wird von demjenigen, welcher der anthroposophischen Bewegung angehört. Aber es liegt kein Grund vor zu sagen: Auf der einen Seite haben wir eine priesterliche, auf der anderen Seite haben wir eine kosmische Kommunion. Beides hat ja ein und denselben Boden, nur eine andere Form. Beides ist etwas, was ganz selbständig neben dem anderen steht. Also wenn Sie die Sache ganz gründlich durchempfinden, dann werden Sie keine Schwierigkeiten haben.

Ein Teilnehmer: In dem Bericht über die Delegiertenversammlung vom Februar 1923 wird gesagt, daß das Kultische hereingenommen ist von dem vorgeburtlichen Leben. In einem Kurs, den wir in Dornach hörten, ist geschildert, wie unser Kultus ein Aufstieg des Menschen ist in das Leben nach dem Tode.

Rudolf Steiner: Das ist etwas, das in der Art angesehen werden muß wie alle Dinge, die etwas mit der geistigen Welt zu schaffen haben; da muß man die Begriffe ganz genau fassen lernen. [Um die Begriffe genau zu fassen,] wurde schon in der Scholastik Dialektik getrieben. Aber soweit sind wir noch nicht, weder auf dem Gebiete der Anthroposophie, noch auf dem der religiösen Bewegung. Sehen Sie, die Art, wie in dem Menschen der Kultus wirkt, wie er real wirkt, also den Menschen in der Seele so ergreift, daß er den Weg durch die Pforte des Todes hindurchfindet durch den Christus, diese Wirkung ist die eine Seite [des Kultus]. Und die andere Seite ist die, wodurch das geschieht, daß der Mensch in dem Kultus das hat, was wie eine kosmische Erinnerung an das vorgeburtliche Leben ist. Nehmen wir zur Erläuterung ein Beispiel aus dem gewöhnlichen Leben. Wodurch hat auf einen Menschen heute eine Begegnung großen Eindruck gemacht? Weil ihm entgegentritt eine von ihm in der Jugend schon verehrte Persönlichkeit. Doch nun kommt noch etwas anderes hinzu. Es ist etwas anderes, wenn ich das schildere, was im Gemüt dieses Menschen erkeimt ist für die Zukunft; hierdurch ist er vielleicht ein ganz anderer geworden, findet sich vielleicht in die Lebensverhältnisse ganz anders hinein als in der Jugend. Wenn man an dem Kult teilnimmt, so wird man für sein Zukunftsleben ergriffen. Das kommt daher, daß dieser aus dem vorgeburtlichen Leben stammt. Das wirkt so stark auf den Menschen.

Ein Teilnehmer: Erreicht man durch das Meditieren der Messe mehr, als wenn man die Messe zelebriert? Dann würde es soweit kommen, daß wir das Lesen der Messe nicht mehr brauchen.

Rudolf Steiner: Logisch ist das nicht ganz unrichtig, aber in facto ist es nicht so. Wenn einer die Messe liest, und wenn er sie dann meditativ erlebt und hat dabei eine Wirkung für sich, so ist diese Wirkung, weil sie auf starker innerer Aktivität beruht, eigentlich stärker. Aber diese innere Aktivität kann man nicht immer aufwenden. Wenn man die Messe acht Tage lang nicht gelesen hat, so erlahmt die Kraft. Es ist schon richtig; wenn einer das kann, dann gut, aber wenn er sozusagen nicht ganz besondere innere Vorbedingungen hat, dann erlahmen diese Kräfte. Es trifft das nicht zu, daß die innerlich meditierte Messe so stark wirkt wie die gelesene Messe, und es darf nicht etwa ein Ideal werden für den Priester, die Messe nicht zu lesen. Denn dann könnte er ja sagen: Ich sehe davon ab, mit meiner Gemeinde zu wirken, ich will allein vorwärts kommen. — Dann könnte er sich ein solches Ideal vorstellen, [die Messe nicht zu lesen, sondern zu meditieren,] aber die Kraft, die der Priester haben soll, wenn er die Messe lesen will, die soll er nicht dadurch abschwächen, daß er sich ein solches Ideal vorstellt.

Ein Teilnehmer: Wie bringt man die Menschen an die Menschenweihehandlung heran? Sind wir verwiesen an die Menschen, die gefühlsmäßig aus rückständigen religiösen Gefühlen herankommen, für die der Weg des Erkennens verschlossen ist? Wie sollen wir an die Arbeiter herankommen, wenn wir nicht über den Denkweg gehen?

Rudolf Steiner: Aber Sie haben ja nicht nur den Kultus, sondern in weitestem Sinne die Predigt, Vorträge, auch Predigt im terminologischen Sinne. Es ist gar nicht zu sehen, was da für eine Schwierigkeit auftreten sollte. Die heutigen jüngeren intellektuellen Leute, die aus dem Nichts heraus arbeiten, wollen gar nicht ein abgesondertes Intellektuelles, sondern streben stark nach dem Kultus hin. Und das, was da eintreten könnte, was auf äußerem Gebiete zu einer Synthese führen müßte zwischen religiöser Bewegung und Anthroposophie, das will ich nachher charakterisieren. Auf der einen Seite wird heute der Intellekt gar nicht angeregt ohne den Kultus. Der Kultus ruft erst wieder den Intellekt in den Menschen herein. Die Menschen hören heute auf, denken zu können, wenn man den Kultus nicht hat. Das Aufhören des Denkens ist eine Zeitgefahr. Auf der anderen Seite sehe ich nicht, worin die Begrenzung liegen soll von dem, was Sie in Kult und Predigt an die Menschen herantragen. Eine Begrenzung kann nur da sein, wo Sie sich selbst künstlich eine solche setzen. Sie wollen keine Anthroposophie lehren, sagen Sie. Aber das können Sie gar nicht halten, denn das müssen sie ja tun! Natürlich muß man die Anthroposophie den Leuten nicht an den Kopf werfen. Die Schwierigkeit tritt gerade dann auf, wenn Sie sagen: Anthroposophie wollen wir ganz gewiß nicht lehren.

Ein Teilnehmer: Ich würde zum Beispiel nicht vom Ätherleib sprechen.

Rudolf Steiner: Das hängt von der Erkenntnis der Gemeinde ab. Ich könnte mir gut eine Gemeinde vorstellen, die ganz ehrlich dem Kult gegenübersteht und doch das Erkenntnisbedürfnis haben kann. Ich sehe nicht ein, warum Sie da nicht über den Ätherleib sprechen sollten.

Ein Teilnehmer: Wir haben lauter Menschen, die ein Erkenntnisbedürfnis haben; sie finden sich zur Anthroposophie durch den Kultus. Wir haben die Leute nicht, die nicht die Anthroposophie, sondern den Kult allein wollen. Können wir eine Möglichkeit finden, die Menschen zu befriedigen, die nicht zur Anthroposophie wollen?

Rudolf Steiner: Die Frage ist nun die: Wie würden Sie jemanden charakterisieren, der heute von Ihnen geführt werden sollte, der aber so geführt werden soll, daß ganz abgesehen wird von der Anthroposophie? Wie müßte der beschaffen sein? Die Sache ist die: Wenn man die Menschen richtig anfaßt, wenn man an die richtige Menschlichkeit herangeht, dann wollen die Menschen die Anthroposophie, wie zu allen Zeiten das Entsprechende von der Menschenseele gesucht worden ist. Die Anthroposophie nicht zu wollen, das ist nur bei verbildeten Menschen der Fall. Vor vierzig Jahren konnten Sie auf dem Lande noch elementarisch gesunde Menschen kennenlernen, die sagten Ihnen die höchste Weisheit. [Die folgenden Sätze sind vom Stenographen nur lückenhaft festgehalten.] Unter ihren Kissen hatten sie irgend etwas verborgen Jakob Böhme zum Beispiel -, das finden Sie heute nicht mehr.

Die in den Großstädten verbildeten Leute können an so etwas nicht mehr heran. Daher kann ich mir nicht vorstellen, daß die einen anderen Weg brauchen können als den anthroposophischen. Nur müssen Sie nicht von dem ausgehen, was von der Anthroposophie im Buche steht, sondern von dem, was Sie an dem Buche erlebt haben. Es ist zum Beispiel der Begriff des Ätherleibes ungemein leicht dem naiven Menschen beizubringen. In gewissen Gegenden nennen die Leute das, was morgens in den Augen ist, «Nachtschlaf»; da sind Sie schon im Ätherleib drinnen, denn in der Tat ist da Ätherleibswirksamkeit drinnen. Man hat überall Anknüpfungspunkte. Wenn Sie die berücksichtigen und berücksichtigen, daß wir unsere Bücher geschrieben haben für Leute von heute, die durch diese vertrackte Schulbildung hindurchgegangen sind, so haben Sie solche Anknüpfungspunkte. Sie befriedigen die Menschen mehr, wenn Sie vom Worte loskommen und aus dem Erleben selbst geben.

Ein Teilnehmer: Kann man den Unterscheid zwischen kosmischer Kommunion und Kultus nicht so formulieren, daß dieser ein Sakramentaler ist?

Rudolf Steiner: Das ist etwas, was man deshalb schwer sagen kann, weil das Erleben bei der wirklichen kosmischen Kommunion schon ein Sakramentales ist. Das ganze anthroposophische Denken ist eigentlich etwas Sakramentales, wie ich das schon ausgesprochen habe in meiner Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Das Denken ist eine Kommunion des Menschen. Die Erkenntnis, wenn sie wirkliche Erkenntnis ist, wird zum Sakrament. Es kommt mehr darauf an, daß wir die Dinge zusammenzubringen versuchen, als sie zu unterscheiden, denn in der Wirklichkeit bringen sie sich ja zusammen.

Es wird eine Frage gestellt nach dem genauen Wortlaut eines Satzes aus Rudolf Steiners Dornacher Vortrag vom 30. Dezember 1922 [vom Stenographen nur mit Stichworten festgehalten].

Rudolf Steiner: «Anthroposophie braucht keine religiöse Erneuerung» -, so haben Sie den Satz ganz richtig formuliert. Was würde es für die Anthroposophie bedeuten, die ja in sich selbst begründet sein muß, wenn sie die religiöse Erneuerung brauchte! Umgekehrt: die religiöse Erneuerung braucht die Anthroposophie! Daß da in dem Vortrag gesagt wurde, die Anthroposophen brauchten keinen Kultus, das ist ja an die Anthroposophen gerichtet, nicht an die religiöse Erneuerungsbewegung. Solche Dinge mußten gesagt werden, weil zahlreiche Menschen glaubten, sie müßten sich aus Prinzip orientieren, ob sie sich für eine Teilnahme an der religiösen Bewegung entscheiden sollen. Da waren Mitglieder der anthroposophischen Bewegung, die viel älter waren als Dr. Rittelmeyer; wenn diese nun fragten, ob sie teilnehmen sollen an dem Kult, so mußte man ihnen sagen: Das müßt ihr nun doch endlich selbst wissen; ihr müßtet Dr. Rittelmeyer beraten können! Man darf aber nicht sagen, man könne zur Anthroposophie nur kommen durch die religiöse Bewegung, das wäre sehr falsch. Mein damaliger Vortrag war an die Anthroposophen gerichtet. Also es ist doch selbstverständlich, daß die Anthroposophen, wie sie in der letzten Zeit geworden sind, Ratgeber beim Kultus sein könnten. Das andere wiederum ist Gift für die Anthroposophie: wenn man sagt, man könne nicht zu anthroposophischem Verständnis [des Christus] kommen, wenn man nicht durch den Kult dazu kommt. Es ist nötig, daß man das dazunimmt, daß diese Rede an die Anthroposophen gerichtet war. Das Mißverständnis bestand darin, daß beide Seiten Auffassungsfehler gemacht haben in der Handhabung. Es waren in der religiösen Bewegung viele, die nicht wußten, wie sie sich verhalten sollten.

Marie Steiner: Es war bei manchen Anthroposophen Schlagwort, «Dr. Steiner wünscht es, daß die religiöse Bewegung an die Stelle der Anthroposophie trete»; das sei Dr. Steiners Meinung. Ähnlich war es beim Anfang der Dreigliederungsbewegung, wo es auch hieß, diese solle an die Stelle der Anthroposophie treten. Es waren schon Anzeichen vorhanden, daß man glaubte, die Anthroposophie müsse abbauen. Es wurden Zyklen beim Verlag abbestellt und dergleichen.

Rudolf Steiner: Das sind Dinge, die in der äußeren Praxis liegen, die nicht zu inneren Schwierigkeiten führen.

Ein Teilnehmer weist darauf hin, daß Rudolf Steiner an einer Stelle des Vortrages vom 30. Dezember 1922 gesagt habe, daß es viele Menschen gäbe, die erkenntnismäßig eingestellt sind und andere Menschen mit dumpfem religiösem Trieb [Wortlaut vom Stenographen nur stichwortartig festgehalten].

Rudolf Steiner: Ja, das ist nicht zu leugnen, es gibt Menschen mit durchaus denkerischem Erkenntnistrieb, andererseits gibt es solche Menschen mit einem dumpfen religiösen Trieb. Wenn ich also gesagt habe, die Anthroposophie könne nichts machen gegenüber den Menschen mit dumpfem religiösem Trieb, sondern nur die religiöse Bewegung, so ist das richtig. Aber das heißt nicht, daß die religiöse Bewegung besonders und allein auf diese Art Menschen angewiesen ist, sondern das heißt, die Anthroposophie kann mit diesen Menschen nichts machen. An diese Menschen kommt man nur mit dem Kult heran, nicht mit der Anthroposophie. Die Menschen mit dumpfem religiösem Trieb sind zu ergreifen durch den Kult und werden vielleicht in einem neuen Leben sehr denkerische Menschen.

Ein Teilnehmer: Die Leute sagen, die Anthroposophen haben die Universität, ihr habt die Kinderschule. Mit solchen Dingen haben wir es zu tun.

Rudolf Steiner: Ich habe in diesen Tagen ein großes Plakat aus Österreich bekommen, darauf stand lauter dummes Zeug, wie der Betreffende in die geistige Welt kommt, was er den Menschen offenbaren wird und so weiter; aber dann stand auf der zweiten Seite: Mein Geistsystem umfaßt auch alle die Dinge, die einseitig als Anthroposophie, Theosophie und so weiter aufgetreten sind. Nach solchen Dingen kann man die inneren Schwierigkeiten nicht beurteilen. Solche Menschen muß man nicht tragisch nehmen. Da kann man sich doch nicht aufregen.

Ein Teilnehmer: Daß solche Aussprüche nicht getan werden, dafür müßten doch die Zweigleiter eintreten.

Rudolf Steiner: Das sind äußerliche Dinge. Die Zweigleiter haben gar nichts mit dem zu tun, was die Mitglieder außerhalb des Zweiges tun.

Ein Teilnehmer: Es wurde direkt gesagt, die zwei Wege widersprechen sich. Das macht den Leuten Angst und sie bleiben weg.

Rudolf Steiner: Das sind keine inneren Schwierigkeiten, das ist die äußere Handhabung, die Lebenspraxis. Daß solche Dinge vorkommen, ist nicht zu verhindern. Man kann nicht etwas, was mit tiefem Ernst verbunden ist, trivial charakterisieren; da muß man scharf formulieren, mit ernsten Worten, und die werden leicht falsch ausgelegt. Was der eine oder andere Zweigleiter sagt, ist ganz unwesentlich. Sonst müßten wir es ja als eine Aufgabe betrachten, lauter Zweigleiter zu haben, die unfehlbar sind. Ihre geistigen Mittel liegen darin, die Leute aufzuklären.

Emil Bock: In gewisser Weise war bei uns im Anfang eine Unklarheit. Wir suchten unser Arbeitsfeld woanders als auf anthroposophischem Gebiet. Wir haben vielleicht das, was aus oppositionellen Gründen heraus gesprochen wurde, als Anlaß benutzt, uns etwas zu sehr herauszuhalten aus der anthroposophischen Arbeit. Manche von uns hatten ja auch keine Zeit mehr dazu. Dadurch ist es ja dann dazu gekommen, daß, als diese Schwierigkeiten bei den Anthroposophen eintraten, wir nicht als Anthroposophen mitsprechen konnten. Wir hatten uns selbst durch den Lauf der Dinge etwas herausgestellt aus den anthroposophischen Reihen. Nun bitten wir Sie, helfen Sie uns, den richtigen Weg in die anthroposophische Arbeit wieder zu finden, denn wir haben das starke Bedürfnis, nicht aus den anthroposophischen Reihen durch unsere Arbeit herauszufallen und sehen ein, daß wir damals deshalb uns die Möglichkeit entzogen haben, zur Klärung richtig beizutragen, daß man in uns nicht die Anthroposophen, sondern die religiösen Erneuerer sah. Wir möchten nicht schlechte Vertreter der Anthroposophie sein.

Rudolf Steiner: Diese Gefahr war ja anfangs vorhanden. Die Sache ist abhängig davon, daß das richtige Urteil herrscht. Es ist durch vieles möglich, daß das Urteil sich rektifiziert. Dr. Rittelmeyer ist ja im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft sehr aktiv tätig bei anthroposophischen Aktionen, seit Monaten schon. Er wird sehr stark in Anspruch genommen. Aber es ist schon so, daß die Kraft eines jeden stark in Anspruch genommen wird. Ich werde nie wieder bei einer solchen Gelegenheit, wo die sozialen Verhältnisse durch den Kult geheiligt werden sollen, etwas vornehmen, ohne daß der Vertreter der religiösen Bewegung mitwirkt. Bei Begräbnissen spreche ich nicht mehr allein, ohne einen Priester. Der Kult muß verrichtet werden [durch den Priester]. So muß ein richtiges Urteil allmählich sich herausbilden. Beim Diskutieren mißverstehen sich die Menschen, aber die Tatsachen sprechen selbst.

Wichtig ist, daß die religiöse Bewegung nicht die Anthroposophie verleugnet. Sie irren, wenn Sie glauben, daß Sie dadurch weiterkommen. Besser ist, klar und sicher auf dem Boden der Anthroposophie zu stehen. Man soll alles offen aufklären. Sie dürfen nicht bei den Leuten die Meinung aufkommen lassen, Sie hätten mit Anthroposophie nichts zu tun. Die Waldorfschule hat mit der Anthroposophie alles zu tun. Irgendein Dozent hat gesagt, die Waldorfschule sei schon ganz schön, wenn sie nur ihre grundlegenden Ansichten fallen ließe. Das ist es, worauf ich den Ton lege: Wenn Anthroposophie die Grundlage der Waldorfschule ist, dann machen wir keine anthroposophische Sektenerziehung, sondern wir gehen durch Anthroposophie auf eine allgemeine Menschenerziehung aus.

Wir haben die Aufgabe, nicht die Mißverständnisse aufzuklären, sondern einfach die Wahrheit zu sagen.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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